Silver Dragons - Ein brandheißes Date - Katie MacAlister - E-Book

Silver Dragons - Ein brandheißes Date E-Book

Katie MacAlister

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Beschreibung

May Northcott ist eine Doppelgängerin, ein magisches Wesen, das sich unsichtbar machen und in der Welt der Schatten wandeln kann. Sie ist an den Dämon Magoth gebunden, der ihre Fähigkeiten dazu benutzt, um Diebstähle zu begehen und magische Gegenstände in seinen Besitz zu bringen. Bei einem ihrer Diebeszüge begegnet May dem gut aussehenden Gabriel Tauhou, dem Anführer der Silberdrachen. Dieser erkennt sofort, dass May seine Seelengefährtin ist. Doch obwohl sich auch May zu ihm hingezogen fühlt, sträubt sie sich zunächst gegen ihre Gefühle. Da erteilt ihr Magoth den Auftrag, ein wertvolles Artefakt aus Gabriels Hort zu stehlen ...

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Seitenzahl: 411

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Inhalt

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Nachbemerkung der Autorin

Impressum

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Margarethe van Pée

 

Ich bin allen Lesern, die sich die Zeit genommen haben, mir mitzuteilen, wie viel Spaß ihnen meine Anderwelt macht, zutiefst dankbar. Vor allem danke ich denjenigen, die sich für Bücher über die silbernen Drachen eingesetzt haben. Dieser erste Roman hierzu ist all diesen Fans gewidmet. Ich hoffe, es gefällt euch, Gabriel einmal mit anderen Augen zu sehen.

1

»Guter Zwilling ruft bösen Zwilling. Das Wiesel kräht um Mitternacht. Alles klar?«

»Oh, um Himmels willen … ich habe zu tun! Hör auf, mir alberne verschlüsselte Nachrichten zu senden! Wenn du etwas zu sagen hast, sag es, ansonsten Funkstille! Kapiert?«

»Du verstehst überhaupt keinen Spaß mehr. Früher warst du für jeden Scherz zu haben, aber in der letzten Zeit hast du dich verändert. Liegt es an der Menopause, May?«

Cyrenes Frage erschreckte mich so sehr, dass ich im dunklen Flur innehielt und überrascht einen Blick in den Spiegel an der Wand gegenüber warf.

Kein Spiegelbild war zu sehen.

»Bekommst du noch deine Periode? Hast du nachts Hitzewallungen? Wächst dir ein Schnurrbart?«

»Gott steh mir bei«, murmelte ich und versuchte die vorlaute Stimme zu ignorieren, die mir fröhlich ins Ohr zwitscherte, während ich weiter durch den dunklen, verlassenen Raum schlich. Einen Moment lang dachte ich daran, den Miniatursender, über den Cyrene mit mir Kontakt hielt, einfach abzuschalten, aber die lebenslange Erfahrung mit meinem Zwilling sagte mir, dass der Gedanke einfach nur töricht war.

»Mann, du bist aber wirklich schlecht gelaunt heute«, stellte sie leicht mürrisch fest.

Ich blieb kurz stehen, um eine schöne mattgrüne Vase zu bewundern, die in einer Vitrine stand, bevor ich zur gegenüberliegenden Tür huschte. »Deine Bemerkung war ja auch mehr als daneben. Du bist schließlich die Ältere von uns, und im Zweifelsfall kommst du eher in die Menopause als ich.«

»So viel bin ich auch nicht älter. Gerade mal ein paar Jahre. Tausend, wenn’s hochkommt. Was machst du gerade?«

Ich versuche, nicht wahnsinnig zu werden, hätte ich am liebsten gesagt, aber ich hielt mich zurück. Solange Cyrene versuchte zu helfen, war sie zu ertragen, aber wenn sie verletzt, deprimiert oder unglücklich war, konnte das fatale Auswirkungen haben, die ich mir im Moment gar nicht erst ausmalen wollte. »Ich bin in der Bibliothek und nähere mich dem Büro. Dort könnte es im Übrigen zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen geben, also sollte von jetzt an Funkstille herrschen. Klar?«

»Du hast gesagt, ich könnte dir helfen.« Ich presste die Lippen zusammen, als ich ihre störrische Stimme vernahm.

»Du hilfst mir, indem du die Vorderseite des Hauses bewachst.« Ich schlich zur Tür und betrachtete sie eingehend. Soweit ich sehen konnte, war sie nicht mit Bannzaubern belegt. Ich hob die Hand und legte meine Finger leicht auf das Holz. Nichts löste meinen empfindlichen Gefahrensinn aus.

»Ich bin auf der anderen Straßenseite!«

Der Türknopf ließ sich leicht drehen und die Tür ging beinahe geräuschlos auf, was für die sorgsame Pflege des Hauspersonals sprach. »Da kannst du besser sehen.«

»In einem Baum!«

»Die Höhe ist nur von Vorteil. Hmm.« In dem kleinen Zimmer stand eine weitere hübsche, antike Glasvitrine. Sie war innen beleuchtet, und der gelbe Lichtschein fiel auf den dicken Teppich. Mehrere Kunstobjekte standen in dem Schrank, aber meine Aufmerksamkeit galt nur der schlanken Glasphiole, die als Einziges auf dem mittleren Regal stand.

»Was hmm? Ich glaube, ich fange mir Käfer ein. Im Baum sind sicher welche. Was nun? Hast du das Zeug gefunden?«

»Den Liquor Hepatis? Ja. Und jetzt sei still. Ich muss herausfinden, wie der Schrank gesichert ist.«

»Es ist so aufregend«, flüsterte Cyrene. »Ich war noch nie bei einem deiner Aufträge dabei. Es ist allerdings ein bisschen langweilig, nur zuzuschauen, und ich weiß auch gar nicht, ob es wirklich nötig ist. Du hast doch gesagt, der Magier ist irgendwo in England. Außerdem ist er doch nur ein Magier!«

Die Verachtung in ihrer Stimme war sogar über das Funkgerät deutlich zu vernehmen.

»Ich habe noch nie verstanden, was du gegen Magier hast. Sie sind Menschen wie du und ich«, murmelte ich, während ich die elektronische Alarmanlage begutachtete.

»Bah, sie tun immer so großartig mit ihrer Magie und den tiefen, dunklen Geheimnissen des Universums. Phh! Es geht doch nichts über einen netten, elementaren Zauber. Magier werden einfach überschätzt. Nun greif doch einfach hinein und nimm dir das Ding!«

»Überschätzt oder nicht, Magoth hat zwar gesagt, dass der Magier weg ist, aber seine Leute sind hier, und nicht einmal ein Magier würde so etwas Wertvolles wie ein Arkanum der Seele unbewacht zurücklassen«, antwortete ich. Ich schaltete den Alarm aus. Normalerweise verabscheuen Magier moderne Sicherheitsmaßnahmen und verlassen sich lieber auf ihre eigenen geheimen Ressourcen. Und der Eigentümer der Vitrine vor mir bildete da keine Ausnahme.

Ich lächelte über die Zauber, die zur Abschreckung von Eindringlingen ins Holz gewoben waren. Auf mich hatten sie jedoch keine Wirkung, und als ich das aluminiumbeschichtete Tuch über die winzige, hoch in einer Ecke des Zimmers angebrachte Kamera gehängt hatte – schließlich sollten ja keine Aufnahmen von mir für die Nachwelt erhalten bleiben –, öffnete ich den Schrank einfach und griff nach der Phiole.

Etwas blitzte für den Bruchteil einer Sekunde links von dem Liquor Hepatis auf. Meine Hand zuckte zurück, und ich kniff die Augen zusammen.

»Hast du daran gedacht, etwas über die Kamera zu hängen?«, ließ Cyrene sich plötzlich vernehmen. »Du willst ja schließlich nicht gesehen werden.«

»Ich bin kein Klingone, Cy«, sagte ich geistesabwesend und musterte das Bord, auf dem die Glasphiole stand. War das gerade nur eine Reflexion gewesen? Oder ein Lichtspiel der Glasprismen? Oder hatte der Magier etwas mit der Phiole gemacht, das über meine Erfahrungen hinausging?

»Nein, aber man kann dich sehen, wenn du etwas tust, was Konzentration erfordert. Jedenfalls behauptest du das – obwohl ich dich nicht sehen konnte, als du bei der Party in Marrakesch jongliert hast.«

»Die Diskussion darüber, ob ich als Partytrick einsetzbar bin, werden wir auf ein anderes Mal verschieben müssen«, murmelte ich und schüttelte den Kopf über meine albernen Gedanken. Der Eigentümer dieses Hauses mochte ja ein Magier sein, aber wenn er darauf vertraute, dass er die Fähigkeit besaß, seinen Liquor Hepatis zu sichern, so irrte er sich gewaltig. Erneut griff ich danach und erhaschte wieder einen Schimmer von etwas, das sich so gerade eben außerhalb meines Sichtfeldes befinden musste. »Agathos daimon!«

»Was?«

»Agathos daimon! Das bedeutet …«

»Du liebe Güte, das weiß ich doch. Du sagst es ja schließlich oft genug. Wobei ich nicht begreife, warum du nicht einfach fluchen kannst wie jeder andere normale Mensch. Was ist denn jetzt schon wieder los?«

Ich drehte den Kopf zur Seite und sah aus den Augenwinkeln eine kleine lavendelblaue Steindose, die hinter der Phiole stand. Als ich jedoch versuchte, sie zu fixieren, verschwand sie wieder.

»Hier ist noch etwas anderes. Etwas … Bedeutsames.«

»Wie bedeutsam? Kann ich jetzt vom Baum herunterkommen? Ich werde bei lebendigem Leib aufgefressen.«

»Nein. Du bleibst da, bis ich aus dem Haus heraus bin.« Ich ergriff die Phiole, steckte sie in die Innentasche meiner Lederweste. Dann warf ich noch einen Blick auf die Vitrine, aber es war nichts zu sehen. Erneut wandte ich den Kopf und tastete mit den Fingern blindlings über das Glasbord. Sie schlossen sich um ein kleines, kaltes Viereck, und in diesem Moment gingen alle Lichter im Zimmer an.

»Bei den Tränen des Agamemnon!«, kreischte Cyrene mir ins Ohr. »Da ist jemand. Ein Auto steht vor dem Haus, und in mehreren Zimmern ist gerade das Licht angegangen …«

»Danke für die Warnung«, flüsterte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Draußen ertönten Stimmen. Verzweifelt blickte ich mich nach einer dunklen Ecke um, in der ich mich verstecken konnte, aber es war viel zu hell im Raum.

»Entschuldige! Ich habe gerade Käfer von meinem Arm gepflückt und nicht auf das Auto geachtet, das vor dem Haus gehalten hat. Was ist los? Warum sind alle Lichter an? Oh, nein – ich glaube, einer der Männer ist ein Magier. Er ist … ja, er ist ein Magier! Wahrscheinlich der Eigentümer! Mayling, du musst sofort da raus.«

Sie sagte mir nichts, was ich nicht schon wusste. Als ich sah, dass der Türknopf sich drehte, rammte ich schnell einen Stuhl darunter, damit die Tür sich nicht öffnen ließ.

»Mayling!«, schrie Cyrene in mein Ohr. Sie war so aufgeregt, dass sie mich unwillkürlich bei dem Spitznamen nannte, den sie mir gegeben hatte.

Ich rannte zum Fenster. Hoffentlich entkam ich in die Dunkelheit, bevor die Tür sich öffnete. Aber ich war gerade auf den Tisch neben dem Fenster gesprungen, als die Tür in tausend Teile zerbarst und sich in Asche verwandelte, die langsam zu Boden rieselte.

»Mayling!« Cyrene brüllte so laut, dass mir fast das Trommelfell platzte. Die Gestalt eines Mannes erschien im Türrahmen. Anscheinend hörte er meinen Zwilling, denn er hielt einen Moment lang inne.

»Mei Ling!«, schrie er dann und kam in den Raum gerannt. Er hielt meinen Spitznamen für meinen richtigen Namen, was nicht zum ersten Mal geschah. »Es ist die Meisterdiebin Mei Ling!«

Ich war instinktiv zum Schatten verblichen, als ich die Männerstimmen gehört hatte, aber im Raum war es zu hell, als dass ich unsichtbar bleiben konnte. Sobald der Mann zum Fenster blickte, würde er mich sehen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste durch die Scheibe springen.

»Agathos daimon«, wiederholte ich leise, hielt schützend die Hände vors Gesicht und warf mich durch das Glas.

»Da!«, schrie der Mann. »Da ist sie! Ich habe gehört, wie jemand ihren Namen gerufen hat. Draußen auf dem Fensterbrett ist die Meisterdiebin Mei Ling!«

Die warme Dunkelheit des griechischen Märzabends umhüllte mich und machte mich so gut wie unsichtbar, als ich über das schmale Sims an einem Regenrohr nach unten rutschte.

»Wo bist du? Ist alles in Ordnung? Mayling!«

»Mir geht es gut. Ich bin aus dem Haus heraus, aber hör auf, so zu schreien, sonst finden dich die Leute des Magiers noch!«, zischte ich ins Mikrofon. »Kannst du vom Baum klettern, ohne dass man dich sieht?«

»Oh, Gott sei Dank, dir geht es gut. Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen! Ja, ich glaube, ich kann herunterkommen. Da ist ein guter Ast … uummph!«

Gegenüber der eleganten Villa in Nea Makri, einem kleinen Ferienort außerhalb von Athen, fiel ein schwarzer, andeutungsweise menschlicher Schatten zu Boden. Ich eilte um die Ecken des Platzes herum zu meinem Zwilling, wobei ich sämtliche Lichtkegel aus den umliegenden Häusern mied.

Cyrene blickte zu mir hoch. »Ich bin heruntergefallen.«

»Das habe ich gesehen. Alles in Ordnung?«

Sie nickte, und ich zog sie rasch hoch. »Was schreien die da?«, fragte sie mit einem Blick zu dem Haus hinüber. »Ich kann nichts verstehen.«

»Es sind vermutlich nur Flüche. Oh, und natürlich mein Spitzname. Also, nicht mein Spitzname, sondern der andere Name.«

»Was für ein anderer Name?«, fragte sie, während ich sie hastig in die dunkle Seitenstraße hineindirigierte, wo wir den Leihwagen geparkt hatten. »Ach, du meinst, den asiatischen Namen, den jemand erfunden hat.«

»Und zwar deshalb, weil sie gehört haben, wie du in Dresden meinen Spitznamen gerufen hast, als ich der Schwesternschaft der Najaden geholfen habe, den gestohlenen Gegenstand zurückzuholen. Zum Glück haben sie nach einer Asiatin Ausschau gehalten und nicht auf mich geachtet.«

Schuldbewusst verzog sie das Gesicht. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Leute das für deinen richtigen Namen halten würden. Außerdem ist das doch mindestens zehn Jahre her. Das muss doch mittlerweile längst in Vergessenheit geraten sein.«

»Kaum. Der Ruhm von Mei Ling scheint unvergänglich …«

Wir blieben vor dem Auto stehen. Ich wollte gerade den Autoschlüssel aus der Tasche ziehen, als ich überrascht feststellte, dass ich etwas in der Hand hielt.

»Was ist los?«, fragte sie. »Grundgütiger! Du blutest ja! Bist du durchs Fenster gesprungen?«

»Ja.« Ich öffnete meine Faust und starrte auf … nichts.

»Wir verschwinden besser«, sagte sie, nahm den Schlüssel und schloss die Tür auf. »Ich fahre. Mach dich klein, damit dich niemand sieht! Ja, ich weiß, mit dem Umhang sieht dich sowieso keiner, aber das Blut tropft überallhin. Gut, dass du mein Zwilling bist, sonst müsstest du ins Krankenhaus.«

»Wenn ich nicht dein Zwilling wäre, hätte ich erst gar nicht durchs Fenster springen müssen«, konterte ich. Ich fuhr mit dem Finger über die Umrisse der kleinen Steindose. »Was auch immer der Magier hier gemacht hat, es muss ziemlich mächtig sein. Ich kann sie immer noch nicht sehen.«

»Was kannst du nicht sehen?«, fragte sie und betrachtete meine Handfläche. »Die Schnitte? Sie heilen gleich.«

»Darüber mache ich mir keine Gedanken – ich bin schon erstochen, erschossen und beinahe ausgeweidet worden, und ich weiß sehr wohl, wie schnell bei mir alles heilt. Es ist das hier«, sagte ich und duckte mich, als Cyrene mich ins Auto schob.

»Was denn?«, fragte sie und ließ den Motor an. »Zum Hotel?«

»Ja, bitte. Es ist eine Dose. Sieh sie dir mal an.«

»Wenn ich fahre, kann ich mir nichts ansehen – oh! Es ist eine Dose!«, rief sie aus.

»Ich glaube, sie ist aus Kristall. Ich glaube …« Meine Finger, die über die unsichtbare Dose strichen, mussten einen kleinen, versteckten Knopf gedrückt haben, denn plötzlich ging mir das Herz auf. Ein goldener Schimmer, den ich eher spürte als sah, breitete sich von der Dose aus, ein Licht von so wundersamer Schönheit, dass es mich mit überwältigendem Glück zu erfüllen schien.

Fluchend trat Cyrene auf die Bremse und hielt an.

»Was zum … was ist das? Grundgütiger, es ist … es ist …«

»Es ist Quintessenz«, sagte ich und atmete schwer, während das glitzernde Strahlen sich bis tief in meine Knochen senkte.

»Was?«

»Quintessenz. Das fünfte Element.«

Langsam schloss ich den Deckel der Dose, und das Licht verschwand so abrupt, dass sich mir das Herz zusammenzog.

»Wie in dem Film mit Bruce Willis, meinst du?«

»Was?« Ihre Worte drangen nicht gleich durch den Nebel, der sich mit dem Verlust des Lichts über mich gesenkt zu haben schien. »Nein, so nicht. Das ist doch nur Hollywood. Das fünfte Element ist etwas, das Alchimisten unbedingt erlangen wollen. Es ist die essenzielle Präsenz.«

»Essenzielle Präsenz von was?«, fragte sie und fädelte sich vorsichtig wieder in den Verkehr ein, nur um gleich darauf wieder rechts heranzufahren, weil Streifenwagen mit heulenden Sirenen und Blaulicht aus einer Seitenstraße geschossen kamen.

»Von allem. Sie ist über uns und unter uns, die Verkörperung der Kraft, die wir Leben nennen. Es ist die reinste Essenz des … Seins.«

»Ist sie wertvoll?«, fragte Cyrene berechnend.

Meine Finger schlossen sich fester um die Dose. »Unbezahlbar. Nein, mehr noch. Sie ist von unschätzbarem Wert. Jeder Alchimist würde töten, um in ihren Besitz zu gelangen.«

»Hm …«

Ich wusste, was sie dachte. Cyrene hatte einen kostspieligen Geschmack, aber nicht die Fähigkeit, Geld zu sparen. Sie würde bestimmt vorschlagen, wir sollten die Quintessenz meistbietend versteigern, aber das durfte ich nicht zulassen. »Nein«, sagte ich.

Ihre Lippen, die sie erst kürzlich hatte aufspritzen lassen, verzogen sich zu einem Schmollmund, der erwachsene Männer in die Knie gehen ließ. »Warum nicht? Ich wette, wir würden eine Menge Geld dafür bekommen.«

»Sie gehört nicht mir.« Ich strich ehrfürchtig über den Kristalldeckel.

»Na ja, klar wird Magoth sie haben wollen, aber deswegen hat er dich doch nicht hierher geschickt, oder? Er braucht ja nicht zu wissen, dass wir sie haben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn Magoth auf die Idee kommt, dass ich auch nur in der Nähe von Quintessenz gewesen bin … er wird außer sich vor Wut sein, und du kannst dir nicht einmal im Entferntesten vorstellen, zu was ein wütender Dämonenfürst fähig ist. Er wird mir schreckliche Dinge antun. Und dir im Übrigen auch.«

Sie warf mir einen raschen Blick zu. »Mir? Was kann mir ein Dämonenfürst schon tun? Ich bin unsterblich.«

»Ich auch, und doch könnte er mich auslöschen wie ein Kerzenlicht.«

»Du hast anscheinend nie gelernt, dass Dämonenfürsten Elementarwesen wie Najaden zum Beispiel nicht töten können«, wies sie mich zurecht. »Das weiß doch jeder.«

»Und wenn schon. Glaubst du im Ernst, du könntest Magoths Zorn entkommen?«

»Äh …« Sie überlegte einen Moment und presste dabei die Lippen zusammen. »Nein.«

»Das habe ich auch nicht angenommen. Nein, lieber Zwilling, diese kleine Dose geht nicht an Magoth … und wir werden sie auch nicht verkaufen. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als sie dem Magier zurückzugeben.«

»Das ist doch wirklich zu schade«, sagte sie und bog in die Tiefgarage ein, die unter unserem bescheidenen Hotel lag. »Vielleicht merkt er ja gar nicht, dass sie nicht mehr da ist. Behalt sie doch einfach ein bisschen und warte mal ab, ob er überhaupt weiß, dass du sie hast.«

»Hast du mit deinem gesunden Menschenverstand auch deine Moral verloren?«, fragte ich.

Cyrene parkte das Auto und verdrehte übertrieben die Augen. »Mit meiner Moral ist alles in Ordnung. Du brauchst gar nicht so ein Gesicht zu machen. Ich finde, wir sollten noch einmal in Ruhe darüber reden. Die Dose ist unsichtbar, vielleicht hat der Magier sie ja einfach vergessen.«

Ich beugte mich vor und blickte ihr direkt in die blauen Augen. »Sie ist unbezahlbar, Cyrene. Buchstäblich … unbezahlbar.«

Ein gieriger Ausdruck huschte über ihr Gesicht.

»Selbst wenn ich für mich selbst stehlen würde – und ich kann nur wiederholen, dass ich das nicht tue, da du das ja immer zu vergessen scheinst, wenn die Versuchung lockt –, so kann ich diese Dose auf keinen Fall behalten. Sie ist einfach zu wertvoll. Dieser Magier wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie wiederzubekommen, und ehrlich gesagt habe ich keine Lust, dass schon wieder jemand hinter mir her ist.«

Seufzend stieg sie aus dem Auto. »Du nimmst das Leben viel zu ernst. Wir müssen mal was an deinem Sinn für Humor tun.«

»In meinem Job bleibt nicht viel Zeit für Humor. Und apropos, ich frage mich, was der Magier im Schilde führt, schließlich haben seine Leute meinen Namen gehört«, sagte ich und stieg langsam aus. An den Stellen, wo das Blut getrocknet war, fühlte sich meine Haut heiß und gespannt an. Die Schnitte waren zwar größtenteils verheilt, aber ich sah trotzdem immer noch ziemlich mitgenommen aus.

Cyrene schlug die Hand vor den Mund. »Oh, May! Es tut mir leid! Daran habe ich gar nicht gedacht – glaubst du, sie bringen Mei Ling mit dir in Verbindung?«

Ich lächelte schief. »Ich wüsste nicht, wie sie darauf kommen sollten. Sie haben mich nicht zu Gesicht bekommen, und sie glauben, es war Mei Ling, die berüchtigte internationale Meisterdiebin und nicht einfach nur eine Doppelgängerin aus Kalifornien.«

Cyrene verzog das Gesicht. »Ich und meine große Klappe.«

»Nun ja, es ist gar nicht mal so schlimm. Wenn sie alle nach einer Asiatin Ausschau halten, dann richtet sich ihre Aufmerksamkeit weniger auf mich. Ich kann mich übrigens so im Hotel nicht sehen lassen, ich gehe als Schatten auf mein Zimmer. Kommst du zurecht?«

Sie hatte den leidenden Blick, den sie mir zuwarf, schon seit einem guten Jahrhundert drauf, aber meine Lippen zuckten trotzdem. »Ich bin kein hilfloses Etwas, May! Ich bin absolut in der Lage, ein Hotel zu betreten und auf mein Zimmer zu gehen, ohne Mördern, Dieben, Anarchisten oder sonstigen Verbrechern in die Hände zu fallen, vielen Dank!«

»Entschuldigung!«, sagte ich.

»Ehrlich! Du behandelst mich, als wäre ich ein Kind und du meine Mutter, dabei ist es genau andersherum. Ich bin fast zwölfhundert Jahre alt! Und nur weil ich ab und an ein wenig Hilfe brauche, bedeutet das noch lange nicht, dass ich ohne dich zu nichts in der Lage bin …«

Empört marschierte sie zum Aufzug. Ich folgte ihr in einigem Abstand und ging die Treppe hinauf, die nur selten benutzt wurde. Eine einzige Frage beschäftigte mich.

Wie um alles in der Welt sollte ich dem Magier die Quintessenz zurückbringen, ohne erwischt zu werden?

 

2

 

»Guten Morgen! Ist Magoth da?«

»Ja.« Der weibliche Dämon blickte von seinem Laptop auf und beäugte mich verächtlich. Mit einem spitzen Stiletto schob sie sich eine Strähne ihres blonden Haars hinter das Ohr. »Sie sind aber kein Dämon.«

»Äh … nein. Ich bin eine Doppelgängerin. Ich glaube, wir kennen uns noch nicht – ich bin May Northcott.«

»Sobe«, antwortete der Dämon. »Ich habe noch nie einen Doppelgänger gesehen. Sind Sie ein dunkles Wesen?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich bin ein Zwilling, das Schattenbild einer normalen Person. Na ja, keiner Sterblichen – sie ist eine Najade.«

»Ein Zwilling?« Sobes Gesichtsausdruck wurde noch säuerlicher. »Wie geht das?«

»Oh, auf die übliche Art.« Ich versuchte, fröhlich und munter zu klingen, was mir jedoch so gut wie nie gelang. Es lag mir einfach nicht. »Jemand beschließt, dass er eine genaue Kopie von sich will. Er ruft einen Dämonenfürsten an, opfert einen seiner Charakterzüge und – puff! – ein Doppelgänger erscheint, und dann gibt es ein großes Fest, das meistens in einer Orgie endet.«

Sobe schürzte die Lippen. Mein Humor verfehlte bei Dämonen offensichtlich seine Wirkung.

»Ich verstehe. Und was tun Sie hier, wenn Sie der Zwilling einer Najade sind?«

»Das ist eine lange Geschichte, die Sie wahrscheinlich zum Gähnen langweilig finden würden«, erwiderte ich. Ich hatte auf jeden Fall nicht vor, sie einem wildfremden Dämon anzuvertrauen. »Belassen wir es einfach bei der Tatsache, dass ich ab und zu für Magoth arbeite. Wie geht es ihm heute?«

»Dem Meister? Er hat gelacht. Zweimal.«

Ich zuckte zusammen.

Sobe nickte und blickte auf ihren Bildschirm. »Sie haben keinen Termin, Doppelgängerin. Wenn Sie für ihn arbeiten, dann wissen Sie doch, wie er sein kann, wenn man ohne Termin bei ihm auftaucht.«

»Ich werde erwartet«, antwortete ich leichthin. Wenn ich zu Magoth befohlen wurde, wurde mir immer übel. Er mochte ja der geringste aller Dämonen sein, aber meine Treffen mit ihm waren stets geprägt von … nun ja, Furcht.

»Es ist Ihr Leben«, sagte Sobe achselzuckend und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Laptop zu.

Ich straffte die Schultern und klopfte leise an der Tür zu seinem Büro. Magoth war schon an seinen guten Tagen nicht leicht zu ertragen … aber ein glücklicher Magoth war wirklich ein schlechtes Zeichen.

»Entrez!«

Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich die Tür öffnete. Leise Musik drang aus unsichtbaren Lautsprechern, als ich den schmalen Gang entlangging, der zu Magoths Wohnräumen führte, die er auch als Büro nutzte.

»Ah, was für eine Freude, dich wiederzusehen. Du siehst hinreißend aus, wie immer.« Magoth trug ein blaues, zu drei Vierteln offenes Hemd, eine enge schwarze Lederhose und eine Bullenpeitsche um die Taille.

Als ich die Peitsche sah, zog ich eine Augenbraue hoch. »Hast du wieder Indiana-Jones-Filme gesehen?«

Seine schwarzen Augen funkelten schalkhaft. »Ich erlaube mir nur ein paar Fantasien. Apropos …« Er warf sich auf eine weiße Ledercouch und klopfte einladend auf den Platz neben sich. »Komm, setz dich zu Papa!«

»Werden wir uns jemals ohne sexuelle Belästigung unterhalten?«, fragte ich und setzte mich so weit wie möglich von ihm entfernt auf einen Stuhl.

»Süße«, gurrte er und legte sich auf den Rücken. »Komm. Und das meine ich wörtlich.«

Ich kniff die Lippen zusammen und rührte mich nicht.

»Hey, Kleines.« Er knöpfte sein Hemd bis zum letzten Knopf auf und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. »Möchtest du eine Zuckerstange?«

Ich hob das Kinn.

Seine Finger glitten zu seinem Hosenbund, und er schürzte die Lippen. »Wenn mein süßer kleiner Schatz Daddy nicht sofort etwas zu naschen gibt, dann muss ich glauben, dass sie mir böse ist.«

»Ach, du liebe Güte … Magoth!«, rief ich empört.

Seufzend richtete er sich auf. Sein offenes Hemd gewährte mir ungehinderte Sicht auf seinen männlichen Brustkorb. Als Dämonenfürst konnte Magoth jede beliebige Gestalt annehmen, aber seltsamerweise hatte ich ihn, seit ich an ihn gebunden war, nur in seiner wahren Gestalt gesehen – ein schwarzhaariger, unglaublich gut aussehender Mann mit dunklen Augen, der aus jeder Pore Sex ausstrahlte. »Wenn ich es nicht besser wüsste, meine Liebe, würde ich schwören, dass du keine Gefühle hast. Wem tut es denn schon weh, wenn man sich ein bisschen Freude gönnt?«

»›Wehtun‹ ist das Schlüsselwort«, erwiderte ich und verschränkte die Arme. Ganz gleich, wie menschlich er aussah, er war und blieb ein Dämonenfürst.

Magoth stützte sich auf einen Arm. Unter seiner engen Lederhose zeichneten sich deutlich seine muskulösen Schenkel ab. Er lächelte. »Solange du es nicht ausprobiert hast, weißt du gar nicht, ob es dir gefällt.«

Ich hielt den Mund. Magoth konnte Stunden damit zubringen, mich in seine Arme zu locken. Je eher ich ihn zum Geschäftlichen bringen konnte, desto besser.

Magoths Augen funkelten, und dann stand er plötzlich vor mir und zog mich in seine Arme. »Soll ich dir zeigen, wie schmal der Grat zwischen Schmerz und Lust ist?«, murmelte er. Sein Atem strich kalt über meine Haut, als er an meinem Kinn knabberte.

Seine Finger hinterließen eine eisige Spur auf meinem Rücken, und einen Augenblick lang ließ ich mich in eine erotische Vision von verschlungenen Gliedmaßen, heißen Leibern und schmerzender Lust ziehen.

»Es gibt so viel zu lernen, und ich möchte gern dein Lehrmeister sein, meine süße May. Ich werde dir zeigen, was du dir bisher nicht einmal in deiner Fantasie vorstellen konntest, und dich in ekstatische Höhen versetzen«, murmelte er an meinem Hals, während er mir mit seinem Oberschenkel die Beine auseinanderdrückte.

Seine Worte hüllten mich in einen Zauber ein, erfüllten meinen Kopf mit Bildern, die mich erregten und zugleich abstießen. »Ja, gib dich der Lust hin«, drängte er und schob mich zur Couch. »Ich bin ein ausgezeichneter Liebhaber, meine süße May. Du wirst es nicht bereuen.«

Die erotischen Bilder tanzten in meinem Kopf und verführten mich ebenso wie seine Worte und seine Berührungen. Ich sank zurück, seine eisigen Finger glitten über die Knöpfe meiner Bluse, und er senkte den Kopf über meine Brust. Meine Haut begann schmerzlich zu prickeln, als er sich an meinen harten Nippeln rieb.

»Ja, mein Liebling. Lass mich gewähren«, schnurrte er, und eine Hand glitt zwischen meine Beine.

Es war die kalte Berührung in meiner heißen Mitte, die den Zauber durchbrach. Ich riss die Augen auf.

»Nein!«, schrie ich und schob ihn von mir. Rasch stand ich auf und raffte meine Bluse zusammen.

Er saß auf dem Boden und blickte mich an. Einen Moment lang war sein Gesicht hart, dann jedoch grinste er. »Dieses Mal hätte ich dich beinahe gehabt.«

Ich schwieg und knöpfte mit zitternden Händen meine Bluse zu.

»Ich komme jedes Mal ein Stückchen weiter«, fügte er hinzu. Er setzte sich wieder auf die Couch und verzog leicht das Gesicht, als er die nicht zu übersehende Ausbuchtung in seiner Hose zurechtrückte. »Warum machst du es uns beiden nicht leichter und ergibst dich in das Unvermeidliche?«

»Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich an dieser Art von Beziehung zu dir nicht interessiert bin«, erwiderte ich. Ich ergriff meine Tasche und setzte mich wieder auf meinen Stuhl. Das Ganze hatte mich mehr mitgenommen, als ich zugeben wollte. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass er früher oder später erreichen würde, was er wollte.

»Wäre das denn so schlimm?«, fragte er und lehnte sich zurück.

»Hör auf, meine Gedanken zu lesen!«, erwiderte ich.

»Ich kann keine Gedanken lesen, meine Süße, dafür aber sehr gut Gesichtsausdrücke deuten, und dir sieht man deine köstliche Rechtschaffenheit förmlich an. Wirklich, ich kann es kaum erwarten, dass du dich mir hingibst«, sagte er lächelnd.

Mir war klar, dass ich ein gefährliches Spiel trieb, aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich musste die Frage einfach stellen. »Warum gerade ich?« Ich machte eine vage Geste. »Warum begehrst du mich so sehr, wenn du doch so viele andere haben könntest?«

Zu meiner Überraschung wischte er die Frage nicht mit einem höhnischen Grinsen vom Tisch. Er blickte einen Moment lang nachdenklich vor sich hin, dann schnipste er mit den Fingern. Ein Dämon erschien, verbeugte sich und präsentierte ihm mit gesenktem Blick eine silberne Dose. Magoth wählte eine schlanke, braune russische Zigarette aus der Dose, erlaubte dem Dämon, sie anzuzünden, und entließ ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Genau diese Frage habe ich mir auch gestellt, als dein Zwilling dich zum ersten Mal zu mir gebracht hat. Wie du weißt, habe ich ihre besonderen Vorzüge genossen.«

Ich wandte den Blick ab. Er kannte die Regeln ebenso gut wie ich – über Cyrene redete ich nicht.

»Daher sollte man doch annehmen, dass ich keinen Grund mehr hätte, die Freuden zu kosten, die du anzubieten hast … und doch hast du etwas, etwas … Einzigartiges … das mich anspricht. Es ist, als ob nur du dieses besondere Verlangen in mir stillen könntest. Ich fühle mich auf besondere Weise zu dir hingezogen.«

Unbehaglich rutschte ich hin und her. Ich blickte an seinem Ohr vorbei, damit mich sein wissender Blick nicht wieder in den Bann zog. »Ich bin Cyrenes Zwilling. Du weißt ebenso gut wie ich, dass Doppelgänger identische Kopien ihrer Zwillinge sind. Zwischen Cyrene und mir gibt es keinen Unterschied – abgesehen von der Tatsache, dass sie eine Najade ist und ich nicht, sind wir absolut gleich.«

»Nein«, sagte er langsam. Er zog an seiner Zigarette, und sein Blick glitt liebkosend über mich hinweg. »Das seid ihr eben nicht. Und das fasziniert mich nur noch mehr …«

Ich räusperte mich. Hätte ich doch bloß den Mund gehalten. Ich musste ihn unbedingt von diesem Thema ablenken. Ich zermarterte mir das Hirn, aber mir fiel nichts ein. Da ich nichts zu verlieren hatte, griff ich auf das Naheliegende zurück. »Ich nehme an, du hast mich nicht ohne Grund rufen lassen?«

Er schwieg einen Moment, um mich wissen zu lassen, dass er den Themenwechsel nur zuließ, weil er es so wollte. »Ich habe heute früh eine interessante Neuigkeit erfahren.«

»Es muss etwas Wichtiges gewesen sein, sonst hättest du mich doch nicht nach Paris beordert. Was ist passiert?«, fragte ich vorsichtig und rieb mir verstohlen die Arme. Im Zimmer wurde es kalt. Trotz der Frühlingssonne, die durch die Fenster schien, bildete mein Atem kleine Wölkchen vor meinem Mund, wenn ich sprach.

Seine Lippen zuckten. »Anscheinend hat eine gewisse Person einen Preis auf deinen Kopf ausgesetzt.«

»Schon wieder. Na toll.« Ich schloss einen Moment lang die Augen. Bedauern, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, meine ständigen Gefährten, hinterließen einen bitteren Geschmack in meinem Mund.

»Dr. Kostich scheint äußerst aufgebracht über den Verlust eines kostbaren Gegenstandes zu sein, der gestern am späten Abend aus seinem Haus in Griechenland gestohlen wurde.«

»Dr. Kostich?« Der Name löste einen leisen Alarm bei mir aus.

»Er ist ein Erzmagier, einer der mächtigsten Männer überhaupt«, sagte Magoth. Seine Stimme triefte vor Vergnügen.

»Agathos daimon«, stöhnte ich und sank in mich zusammen, als mir klar wurde, warum mir der Name so bekannt vorkam. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, warum er mich denn gerade zu einem Erzmagier geschickt hatte, dem Leiter des Komitees, das das Au-delà (Anderwelt) regierte, wenn er doch wusste, dass es schlimme Konsequenzen haben würde. Aber die Antwort lag auf der Hand – in Magoths Augen war das Endresultat das Risiko wert.

»Ja. Anscheinend hast du dir einen sehr gefährlichen Feind gemacht.« Sein Blick nahm einen berechnenden Ausdruck an. »Er hat einen hohen Preis auf deinen Kopf ausgesetzt.«

Ich schluckte. »Geld?«

»Unter anderem. Ein paar Millionen Dollar.« Er wedelte mit der Hand. »Und eine Gefälligkeit.«

Mein Herz sank, und meine Zunge lag schwer wie Blei in meinem Mund. »Eine … eine Gefälligkeit?«

»Ja. Offenbar hat Dr. Kostich es nicht besonders gerne, wenn jemand seine Wertsachen stiehlt. Er hat die Diebesfänger losgeschickt, und er hat nicht nur eine Belohnung ausgesetzt, sondern auch seine Dienste angeboten.«

Ach du lieber Gott! Eine Gefälligkeit – für Gefälligkeiten von Magiern töteten Leute. Kriege waren deshalb ausgebrochen, Leben aufs Spiel gesetzt worden, alles nur wegen einer solchen Gefälligkeit. Und hier bot dieser Magier – nein, Erzmagier, der Mächtigste der Mächtigen – nicht nur ein paar Millionen Dollar zu meiner Ergreifung an, sondern auch noch die Erfüllung eines Wunsches. »Ich bin tot«, murmelte ich und ließ den Kopf in meine Hände sinken.

»Glücklicherweise ist das nicht der Fall. Ich frage mich jedoch …« Magoth kniff die Augen zusammen und schnipste die Asche seiner Zigarette in einen umgedrehten Totenschädel, der zum Aschenbecher umfunktioniert worden war. »… warum regt Kostich sich eigentlich über den Verlust seines Liquor Hepatis so auf?«

Mit gespielter Gelassenheit begegnete ich seinem bohrenden Blick. »Ich dachte, Liquor Hepatis sei wertvoll.«

Er zog erneut an seiner Zigarette. »Das ist es, mein Liebling, das ist es. Vor allem das, was Kostich besaß – es war die reinste Form, das Arkanum der Seele. Nur ein Meister-Alchimist kann es herstellen, und es dauert viele Jahre, bis es so rein ist wie das, welches jetzt in deinem Besitz ist?«

Das war sowohl eine Frage als auch eine Aufforderung. Schweigend holte ich das Fläschchen aus meiner Innentasche und stand auf, um es ihm zu geben. Er ergriff die Phiole, aber bevor ich auch nur zurückweichen konnte, packte er meine Hand und zog mich auf seinen Schoß.

»Hör auf, dich zu wehren; deine Tugend ist nicht in Gefahr. Jedenfalls im Moment nicht«, fügte er grinsend hinzu. Dann drehte er meine Hand um, um meine Handfläche zu betrachten.

Ich erschauderte, weil eine solche Kälte von ihm ausging.

»Du verbirgst etwas vor mir«, sagte er mit leiser, sanfter Stimme, die schön geklungen hätte, wäre da nicht dieser drohende Unterton gewesen.

»Das könnte ich doch gar nicht«, antwortete ich. »ich bin an dich gebunden. Ich muss deine Befehle befolgen.«

Sein Zeigefinger glitt über meine linke Brust. »Ich höre dein Herz rasen, süße May. Wovor fürchtest du dich?«

»Ich mag es nicht, wenn du mich festhältst«, sagte ich. Hoffentlich stellte ihn diese wahrheitsgemäße Antwort zufrieden.

»Hm.« Sein Finger fuhr über meine Lippen. Ich wandte den Kopf zur Seite und versuchte mich aus seinem Griff zu winden. Zu meiner Überraschung ließ er mich los.

»Diese Täuschung, die ich bei dir spüre, ist neu und faszinierend, aber leider kann ich sie nicht weiter zulassen«, sagte er in aller Ruhe, während ich mit bebenden Händen meine Tasche ergriff.

»Wenn ich die Macht hätte, dir nicht zu gehorchen, wäre ich dann hier?«

Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, seine Augen waren halb geschlossen. »Du verbirgst tatsächlich etwas vor mir, May Northcott.«

Die Härchen auf meinen Armen richteten sich auf, als er mich bei meinem vollen Namen nannte. Sagen konnte ich nichts mehr, deshalb schüttelte ich nur den Kopf.

Anmutig erhob er sich und trat mit einem Ausdruck auf mich zu, den andere vielleicht als charmant wahrgenommen hätten. Aber mich ängstigte er damit zu Tode. »So ein hübsches Gesicht. Du bist so verführerisch, und doch glaube ich, dass du dir dessen gar nicht wirklich bewusst bist. Nun, diese Zeit wird kommen, und ich freue mich schon darauf, dich die Lust zu lehren, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.«

»Wenn das alles ist, gehe ich besser«, stammelte ich und wich zurück zur Tür.

»Weißt du, was ich tun werde, wenn du versuchst, etwas vor mir zu verbergen?«, fragte er.

Ich wollte gerade den Türknopf drehen, hielt aber inne. Mein Magen zog sich zusammen. »Mich töten?«

»Ts. Was du von mir denkst!«, sagte er mit gespielter Empörung. »Süße May, ich bin ein Liebhaber, kein Krieger. Ich würde dich nicht töten, obwohl ich zugeben muss, dass der Gedanke, dir eine Lektion zu erteilen, mir …« Er schloss die Augen und atmete tief ein. »… mir großes Vergnügen bereitet.«

Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was er mit »Lektion erteilen« meinte. Ich war entsetzt, und vermutlich sah man mir das an.

Magoth lachte. »Leider muss dieses Vergnügen noch warten. Daran solltest du denken, wenn ich dir jetzt eine Frage stelle – hast du bei Dr. Kostich etwas gesehen, das ich gerne haben möchte?«

Vor Erleichterung wäre ich beinahe ohnmächtig geworden. Fast hätte ich schon alles zugegeben, nur um dem grauenhaften Schicksal zu entkommen, das er für mich vorgesehen hatte, aber seine eigene Wortwahl rettete mich. Ich hob das Kinn, blickte ihm direkt in die Augen und sagte absolut aufrichtig: »Nein, ich habe nichts gesehen, das du gerne haben möchtest.«

Er drückte seine Zigarette auf dem Teppich aus. »Lass es mich anders formulieren – was hast du über den Erzmagier Kostich herausgefunden?«

»Nicht viel«, antwortete ich. Meine Finger schlossen sich fester um den Türknopf, während ich in meiner Erinnerung nach interessanten Einzelheiten des vergangenen Abends forschte. »Er bevorzugt anscheinend griechische und römische Antiquitäten, besitzt zwei echte Renoirs und einen falschen, der in einem Empfangsraum hängt, und glaubt offensichtlich, dass er seine wertvollsten Objekte mit Arkana-Magie schützen kann.«

Magoth zündete sich eine weitere Zigarette an und betrachtete einen Moment lang die Flamme, bevor er das Feuerzeug zuschnappen ließ. »Wo war die Phiole?«

»In einer Vitrine in seinem Arbeitszimmer.«

»Was war sonst noch in der Vitrine?«

»Das Einzige, was ich gesehen habe, waren zwei alte Gefäße, Goldschmuck, der etruskisch zu sein schien, und eine Fruchtbarkeitsstatue.«

Er schwieg einen Moment lang und warf mir einen verstohlenen Blick zu. Mir hob sich der Magen bei dem Gedanken, was er mit mir machen würde, wenn er herausfände, dass ich meine Worte sorgsam wählte, um nicht lügen zu müssen.

»Nun gut«, sagte er schließlich. »Wenn du sicher bist, dass ich dich nicht dazu überreden kann, hierzubleiben und die Belohnung zu genießen, die nur ich dir geben kann, dann darfst du gehen.«

Ich unterdrückte einen Jubelschrei und verneigte mich stattdessen zum Zeichen meines Gehorsams.

»Ich werde dich in ein paar Tagen erneut brauchen, wenn ich diesen Liquor Hepatis in Seelenbalsam verwandelt habe. Komm das nächste Mal nackt, ja?«

Ich warf ihm einen verwirrten Blick zu.

Er grinste. »Es war einen Versuch wert. Bis zum nächsten Mal, meine Schöne.«

Ich verneigte mich noch einmal und ging aus dem Zimmer.

»Alles noch heil?«, fragte Sobe und blickte überrascht von ihrem Laptop auf. Sie zog ihre perfekt geformten Augenbrauen in die Höhe. Es irritierte mich immer wieder, dass jemand, der nicht menschlich war, so viel besser aussah als ich. Der äußeren Erscheinung nach war Sobe eine attraktive Blondine, in jeder Hinsicht perfekt. »Das hat ja nicht lange gedauert.«

Ich verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln und sagte, ich käme schon in ein paar Tagen wieder.

»Dann müssen Sie nach Madrid kommen. Wir reisen nämlich morgen nach Spanien«, antwortete der Dämon und blätterte durch den Terminkalender. »Dort werden wir die nächsten zwei Wochen sein. Anschließend eine Woche in Amerika und einen Monat in Brasilien.«

»Ich finde Sie schon«, erwiderte ich und ergriff die Sachen, die ich im Vorzimmer gelassen hatte.

Sobe bedachte meine verschlissene Reisetasche mit einem wehmütigen Blick. »Ich beneide Sie fast. Sie kommen an alle möglichen Orte und bekommen viele Dinge zu sehen. Wir reisen zwar auch, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir müssen uns immer nur auf die Abaddon-Seite beschränken, und ich habe irgendwie nie Zeit, mir die Welt der Sterblichen anzuschauen. Wohin fahren Sie jetzt?«

»Zurück nach Griechenland.«

»Wirklich?« Der Dämon sah mich so neugierig an, dass ich annahm, er hätte mein Gespräch mit Magoth belauscht.

»Mein Zwilling ist da«, erklärte ich und zwang mich zu einem Lächeln. »Sie möchte ein bisschen Urlaub machen, und da Magoth mich ein paar Tage lang nicht braucht, kann ich mich wohl auch ein wenig in die Sonne legen.«

»Es wundert mich, dass Ihnen das gefällt«, sagte Sobe langsam. »Ich dachte, Ihre Art hat es nicht so mit der Sonne.«

»Mit den richtigen Vorsichtsmaßnahmen ist alles zu ertragen«, erwiderte ich leichthin und schwenkte eine Flasche Sunblocker. Dann ging ich, bevor sie noch mehr neugierige Fragen stellen konnte. Als Dämon konnte sie mir in die sterbliche Welt nur folgen, wenn sie sehr mächtig war, allerdings hatten die meisten Dämonen Wohnsitze, die ein Stück in unsere Welt hineinragten, damit ihre Untergebenen zu ihnen gelangen konnten. Als ich die Treppe von Magoths Pariser Haus herunterlief, atmete ich erleichtert auf und winkte sofort einem Taxi.

Magoth hatte nichts dagegen, wenn seine Bediensteten mich durch ein Portal oder einen Riss im Stoff der Realität kommen ließen, aber wenn ich gehen wollte, war ich dafür selbst zuständig. Ich musste Paris aus eigener Kraft verlassen, und der Beamte am Flughafen war zwar irritiert, dass ich keine ausreichenden Einreisepapiere besaß, aber schließlich ließ er mich doch passieren, und so saß ich schließlich im Flugzeug nach Griechenland.

»… und hier bin ich wieder, und ich lebe noch, ohne dass Magoth mir meine Seele, meinen Verstand oder sonst was genommen hat«, sagte ich ein paar Stunden später zu Cyrene.

Sie stand am Fenster unseres Hotelzimmers und drehte sich zu mir um, das Gesicht vor Angst ganz verzerrt. »Oh, May, es tut mir so leid, dass du das alles durchmachen musstest! Mir wird es ganz übel, wenn ich nur daran denke, dass ich jemals eingewilligt habe, dich an ihn zu binden! Er sah nur so unglaublich gut aus, er war so überwältigend sexy, und ich hatte ja keine Ahnung …«

Ich hob die Hand, um sie zu unterbrechen. »Ich habe dir das nicht erzählt, damit du dich schlecht fühlst. Ich weiß nur zu gut, dass dir nicht klar war, worauf du dich einlassen würdest, als Magoth dich überredet hat, mich zu erschaffen. Also hör auf, dir Vorwürfe zu machen! Ich komme schon klar. Eigentlich bin ich ihm immer einen Schritt voraus, du brauchst also nicht so zu tun, als sei ich der Märtyrer.«

Das stimmte im Großen und Ganzen, aber wie meine Beinahe-Verführung bewiesen hatte, blieb mir für die Zukunft nicht viel Hoffnung. Der Gedanke quälte mich.

»Ich werde nie den Ausdruck auf deinem Gesicht vergessen, als du erschaffen wurdest«, sagte Cyrene, »und Magoth dir sagte, ich hätte dich ihm geschenkt. Ich dachte, mir würde das Herz brechen.«

Ihr Schmerz war echt, so echt wie die Tränen, die über ihre Wangen rollten.

»Oh, Cy«, sagte ich und umarmte sie. »Ich weiß doch, dass dich keine Schuld trifft. Ich habe niemals angenommen, dass du mich willentlich an ihn gebunden hast, also brauchst du dir auch keine Vorwürfe zu machen.«

»Aber er lässt dich Dinge tun, die du hasst! Du musst für ihn stehlen, und ich weiß doch, wie sehr du das verabscheust.«

Es dauerte weitere zehn Minuten, in denen Cyrene mich abwechselnd um Verzeihung bat (die ich vor Jahrzehnten schon gewährt hatte) und heftig schluchzte. Schließlich jedoch trocknete sie ihre Tränen und war endlich in der Lage, ein einigermaßen normales Gespräch zu führen.

»May …« Sie drehte die Telefonschnur zwischen ihren Fingern hin und her, während ich auspackte.

»Hm?«

»Du weißt doch noch, wie ich dich letzte Woche angerufen habe?«

»Ja. Du warst schrecklich aufgeregt, als du sagtest, du würdest nach Griechenland fahren. Warte mal gerade! Ich kann meine Handcreme nicht finden, und die Luft hier ist so trocken, dass ich das Gefühl habe, mir schält sich die Haut.«

Sie ergriff meine Kosmetiktasche, während ich in den Sachen kramte, die ich in meine Reisetasche geworfen hatte. »Weißt du noch, wie ich sagte, dass ich ein bisschen Hilfe bräuchte?«

»Ja«, erwiderte ich. Am Boden der Reisetasche stieß ich auf die Tube mit Ingwer-Orangen-Handlotion und rieb mir die Hände damit ein. Mir fiel auf, wie unglücklich Cyrene wirkte und ihre Augen (an den Augen kann man uns auseinanderhalten: ihre sind leuchtend blau, meine jedoch blau mit einem schwarzen Ring um die Iris) meinem Blick auszuweichen schienen. »Oh, Cy«, seufzte ich und setzte mich auf die Bettkante. »In was für Schwierigkeiten steckst du jetzt wieder?«

»Dieses Mal ist es nicht meine Schuld!«, rief sie aus und setzte sich neben mich. »Ich schwöre es! Und … und ich habe es echt versucht, auf mich aufzupassen, weil ich doch weiß, wie sehr du es verabscheust, die Dinge für mich wieder in Ordnung zu bringen.«

Ich tätschelte ihr die Hand. Mein Magen schnürte sich zusammen. Cyrene zog die Probleme an wie Dung die Fliegen. »Es macht mir nichts aus, dir zu helfen, das weißt du doch.«

»Ja, und ich bin dir auch dankbar dafür. Deshalb war ich ja auch so aufgeregt, als du den Auftrag hier in Griechenland bekommen hast – ich dachte, es wäre endlich eine Gelegenheit für mich, dir auch einmal zu helfen.«

»Das ist sehr großzügig von dir«, erwiderte ich und hob die Sachen auf, die ich auf meiner Suche nach der Handcreme aus der Reisetasche geworfen hatte. »Und was für Probleme hast du jetzt?«

Sie schwieg. Ihr Gesicht war vor lauter Unglück zu einer Maske erstarrt. »Ich … ich … ich muss jetzt ein Bad nehmen.«

Ich packte sie am Arm, als sie an mir vorbei ins Badezimmer huschen wollte. »Oh nein! Ich kenne deine stundenlangen Badeorgien. Dieses Mal entkommst du mir nicht.«

»Ich bin eine Najade! Ich kann doch nichts dafür, wenn ich mich im Wasser besser fühle.«

»Du machst es nur noch schlimmer, wenn du mir nicht alles sagst. Na los, spuck es schon aus!«

Seufzend ließ sie den Kopf hängen. »Ich … ich werde erpresst.«

»Oh, Cy, nicht schon wieder!«, sagte ich. »Ich dachte, nach dem letzten Mal …«

»Das hat nichts damit zu tun«, erwiderte sie rasch. »Na ja, jedenfalls nicht wirklich. Ehrlich, es gibt so gut wie keine Verbindung zu diesem unglückseligen Vorfall.«

»Außer dir kenne ich keine einzige Frau, die eine Geiselnahme in einem Aquarium als ›unglückseligen Vorfall‹ bezeichnen würde. Wie viele Fische hast du dieses Mal gekidnappt?«

»Gar keinen!«, protestierte sie und blickte mich treuherzig an. »Ich habe dir doch versprochen, dass ich nie mehr versuchen würde, Meerestiere zu befreien, und dieses Versprechen habe ich auch gehalten. Es ist nur … ich … möglicherweise haben wir ein paar Helikopter und ein oder zwei Schiffe in die Luft gejagt.«

Mir fiel der Unterkiefer herunter. »Was?«

»Sie haben Jagd auf Robbenbabys gemacht«, erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Schreckliche, böse, grausame Leute, die unschuldige, süße Robbenbabys getötet haben.«

»Oh, mein Gott«, sagte ich und hockte mich auf den Boden. »Wie viele Menschen hast du getötet?«

»May!«, keuchte sie entsetzt. »Keinen einzigen! Wofür hältst du mich? Wir haben die Helikopter und Schiffe in die Luft gejagt, als sie leer waren.«

»Na, dem Himmel sei Dank!« Ich entspannte mich ein wenig. »Ich nehme an, ›wir‹ sind in diesem Fall mal wieder deine üblichen Kampfgefährtinnen?«

Sie hob das Kinn. »Die anderen Najaden und ich haben nur das Beste für den Planeten im Sinn.«

»Hmm. Und wer erpresst dich?«, fragte ich, um schneller zum Kern der Sache zu kommen.

»Ich glaube, einer von den Leuten aus der Pelzindustrie. Als ich letztes Wochenende in London war, bekam ich die Nachricht, dass es Videoaufnahmen über mich und die anderen Najaden am Flughafen in Nova Scotia gäbe, wie wir Helikopter bombardieren.«

Stöhnend rieb ich mir die Stirn.

»Der Erpresser sagte, er würde das Band und die anderen Beweise der Menschenpolizei übergeben, wenn ich auf seine Forderungen nicht einginge.«

»Heiliges Kanonenrohr!« Ich schloss die Augen. »Und welche Forderungen stellt er?«

Sie schwieg beängstigend lange.

»Er will dich«, sagte sie schließlich.

»Mich?«, fragte ich verwirrt.

»Ja, dich. Er sagte, er wüsste, dass du meine Doppelgängerin bist, und …«

»Was?«, fragte ich entsetzt. Mir drehte sich der Kopf. »Niemand weiß, dass ich deine Doppelgängerin bin. Niemand außer Magoth und einigen seiner Dämonen. Wie sollte er es herausgefunden haben?«

»Oh, May …« Ihre Unterlippe bebte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Seufzend legte ich den Arm um sie und setzte mich mit ihr aufs Bett. »Erzähl mal von Anfang an. Was genau hat der Erpresser gesagt?«

»Er hatte in Chicago zu tun, und da hat er dich gesehen.«

»In Chicago?« Vor vier Wochen hatte Magoth mich nach Chicago geschickt, um ein Arkanum zu stehlen – ein altes Buch, in dem es um Rituale ging, die Magier vor Jahrhunderten angewandt hatten. »Magoth hat mich wegen dieses Arkanums dorthin geschickt. Ich habe es aber nicht bekommen – es war weg, als ich zu der Bibliothek des Orakels kam, in der es sich befunden hatte. Hat er gesagt, für wen er arbeitet?«

Cyrene schüttelte schniefend den Kopf und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. Ich stand auf und brachte ihr eine Packung Taschentücher. »Er hat nur gesagt, er arbeitet für einen Schreckenslord.«

»Ein Schreckenslord?« Ich runzelte nachdenklich die Stirn. »Das ist doch ein anderer Name für einen Dämonenfürsten, oder?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube schon.«

»Das muss Asmodeus sein«, sagte ich. »Magoth beklagt sich doch ständig darüber, dass Asmodeus ihm bei allen guten Dingen zuvorkommen will. Ich wette, dieser Erpresser arbeitet für Asmodeus, und er sollte auch das Arkanum stehlen, und zwar nur, um mir zuvorzukommen. Das erklärt allerdings nicht, woher er weiß, dass ich eine Doppelgängerin bin.«

»Er hat gesagt, er hat dich schattengehen gesehen.«

»Na großartig!«, sagte ich. Nur Doppelgänger konnten schattengehen, und wenn dieser Dämon gesehen hatte, wie ich aus den Schatten geglitten war, dann war es ein Leichtes für ihn, zwei und zwei zusammenzuzählen. »Dann ist er mir vermutlich ins Hotel gefolgt?«

»Ja. Das war das Wochenende, an dem ich wegen des Wicca-Festivals in Chicago war. Anscheinend hat er uns gesehen, als wir zum Abendessen gegangen sind, und … na ja, den Rest kannst du dir denken.«

»Ja, das war einfach.« Mein Magen zog sich vor Wut zusammen.

Zögernd fuhr Cyrene fort: »Er sagte, er könne deine Dienste brauchen, und wenn ich dich nicht dazu brächte zu tun, was er verlange, dann würde er dafür sorgen, dass ich in ein Gefängnis der Sterblichen käme. Mayling, ich will nicht ins Gefängnis, ganz zu schweigen von einem Gefängnis der Sterblichen.«

Ich verkniff mir die Bemerkung, dass sie sich das vor der Bombardierung der Helikopter und Schiffe hätte überlegen sollen. Dafür war es jetzt eh zu spät. Natürlich war Cyrene zu weit gegangen – selbst Najaden mussten sich an Grenzen halten –, aber ich war so unvorsichtig gewesen, dass man mich gesehen hatte, und deshalb war die Situation jetzt gefährlich eskaliert.

»Bist du mir böse?«, fragte Cyrene leise.