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Wohlfühlroman für alle, die an die große Liebe und tierische Verkuppler unterm Weihnachtsbaum glauben Als Laura plötzlich vor Valentin steht, spürt sie sofort, dass sich ihre einst enge Freundschaft verändert hat. Seine Karriereträume haben sie weit auseinander getrieben. Doch das Schicksal geht manchmal seltsame Wege: Tante Clementines kleine »Pfoten-Villa«, die für beide immer ein zweites Zuhause war, steht vor dem Aus. Gerade im Winter brauchen die Tiere mehr denn je einen sicheren Unterschlupf. Laura und Valentin müssen sich zusammenraufen, um den Gnadenhof zu retten. Unterstützt werden sie dabei von der eigenwilligen Schweinedame Rosalinde, die ihre ganz eigenen Pläne für die beiden zu haben scheint. Doch ist in Valentins hektischem Leben überhaupt noch Platz für ein Wunder?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Diana Steigerwald
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Cover & Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Nachwort
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Laura
»Wir können Frau Grunau anrufen, die Blutwerte ihrer Katze sind eingetroffen und haben sich verbessert. Das Mittel schlägt an.« Ich legte meiner Tierarzthelferin den Ausdruck aus dem Labor auf den Tresen, woraufhin sie zum Telefon griff.
»Erledige ich gleich, Frau Dr. Erle.«
Hinter mir erklang das Bimmeln der Eingangstür, und Familie Bergmann betrat die Praxis.
Die kleine Jana hüpfte fröhlich auf und ab, ihre Wangen gerötet. »Hallo Frau Dr. Erle, wir möchten Freddy abholen.«
Ich lächelte. »Hallo Jana. Ich bringe ihn euch. Die Operation ist gut verlaufen.« Routiniert durchquerte ich den Flur zum Aufwachraum. Die Nachmittagssonne fiel durch das Fenster und tauchte die Praxis in warmes Licht.
Ich öffnete die Tür. Beugte mich zu dem Transportkorb hinunter und hielt verwundert inne. Freddy lag reglos in seiner Box. Dabei war die OP einige Stunden her, und bei der letzten Überprüfung hatte er sogar schon auf seine Umgebung reagiert.
»Freddy?«, rief ich besorgt, doch eine Reaktion blieb aus. Ich öffnete die Box, strich vorsichtig über sein Fell und kontrollierte seinen kleinen Körper. Keine Atmung und kein Puls.
Tränen stiegen mir in die Augen, als ich mir der Situation bewusst wurde. Wie konnte das sein? Es hatte keine Komplikationen gegeben, war eine Routine-Operation gewesen. Wir hatten Backenzähne aufgrund starker Zahnfleischentzündungen ziehen müssen.
Ich schluckte.
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die vorherigen Bluttests waren bei Freddy unauffällig gewesen, deswegen hatte ich der Zahn-OP zugestimmt, obwohl er in die Jahre gekommen war. Eine Narkose war besonders bei älteren Tieren mit einem gewissen Risiko behaftet, aber Freddy war kerngesund gewesen.
Meine Assistentin kam herein.
»Die Bergmanns fragen, wo Sie bleiben …« Keuchend hielt sie inne, als sie Freddy sah.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Ich schniefte. »Ich fürchte, Freddy hat verspätet auf das Narkosemittel reagiert und einen Kreislaufstillstand erlitten.«
»Aber wir haben ihn doch gründlich untersucht und überwacht.«
Solche Vorfälle waren selten, konnten aber trotzdem vorkommen. Dennoch machte ich mir Vorwürfe.
Hatte ich eine Vorerkrankung übersehen? Beim Abhorchen war mir nichts aufgefallen, aber in dem Alter konnte der Hund durchaus eine Herzrhythmusstörung entwickelt haben.
»Wir sollten es der Familie mitteilen, Frau Dr. Erle.«
Meine Knie wurden weich, mein Mittagessen wollte sich einen Weg nach oben bahnen. Der Geschmack von Gemüsecurry legte sich auf meine Zunge. Aber das Würgen blieb aus.
Was machte ich denn jetzt? Nicht nur die beiden älteren Bergmanns warteten draußen. Auch die kleine Jana, die ihren Hund über alles liebte.
Mein Körper verkrampfte sich, reglos starrte ich auf den Hund vor mir.
»Wie soll ich ihnen diese Nachricht übermitteln? Es war nur eine Zahnoperation. Der Patient war gesund und stabil. So etwas darf nicht passieren!«, rief ich und wich zurück, während mich schreckliche Schuldgefühle überfluteten wie ein Wasserfall. Rücklings stolperte ich aus dem Aufwachraum und stieß mit der Familie des Hundes zusammen, die wohl nicht länger auf ihren Liebling hatte warten wollen.
»Es tut mir leid. Freddy hat es nicht geschafft«, wisperte ich.
Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Schmerz, Tränen schossen hervor.
»Ich will zu Freddy!«, rief Jana, als hätte sie meine Worte überhört. »Du hast versprochen, dass ihm nichts passiert!«
»Es tut mir leid …« Die Übelkeit nahm zu, Blut rauschte in meinen Ohren.
»Das muss ein Irrtum sein«, sagte Herr Bergmann.
»Unser Freddy gehörte doch zur Familie. Wie konnten Sie uns das antun?«, zischte Frau Bergmann.
»Selbst eine versierte Fachkraft wie Frau Dr. Erle kann solche Fälle nicht verhindern«, erklärte meine Tierarzthelferin ruhig, doch die Wut der Familie nahm zu.
Ich konnte ihren Schmerz verstehen und wünschte mir mehr als alles andere, dass ich ihnen ihren geliebten Hund hätte mitgeben können.
Der Raum fing an, sich zu drehen, und wurde schneller, je lauter die Stimmen an mein Ohr drangen. Mein Kreislauf wollte nachgeben. Die Stimmen um mich herum klangen wie aus weiter Ferne, ich drohte zu stürzen. Ich streckte den Arm aus, um mich irgendwo festzuhalten …
Es folgte ein Klirren, das mich schweißgebadet aufschrecken ließ.
Ich schnappte nach Luft und blickte mich um. Erkannte die Umrisse meines Schlafzimmers. Die alte Kommode, der noch viel ältere Kleiderschrank mit seinen dunklen Astansätzen, die ein Fleckenmuster bildeten.
Ich schüttelte mich, versuchte, mich zu beruhigen und mir klarzumachen, dass ich sicher war. Dass ich in meinem Bett saß und nicht in der Praxis war.
Mein Herzschlag wurde ruhiger. Bis zu dem Moment, in dem mein Blick über das Nachtschränkchen glitt und ich merkte, dass etwas Wichtiges fehlte. Das Klirren!
Hatte ich etwa im Traum …? Ich beugte mich über das Bett, schaute auf den Boden. O nein! Ich schlug mir die Hand vor Schreck vor den Mund. Vallis Schneekugel. Das Geschenk, das mir mein bester Freund vor zehn Jahren zu Weihnachten übergeben hatte, war zerbrochen. Ich musste die Kugel in meiner Panik vom Tisch gefegt haben. Ein nasser Fleck hatte sich auf dem Teppich gebildet, ringsherum war der Kunstschnee verstreut.
Ich stieg vorsichtig aus dem Bett, organisierte mir ein Tuch aus der Küche, Handfeger sowie Schippe, kniete mich dann auf den Boden und versuchte, den Teppich zu trocknen, die Scherben einzusammeln und den Schnee aufzufegen. Nachdenklich musterte ich die zwei großen Glasstücke, mehr Teile waren es nicht, vielleicht konnte ich sie kleben? Immerhin hatte das kleine Häuschen, das sich im Innern der Kugel befunden hatte und nun auf dem losen Sockel steckte, keinen Schaden genommen. Andächtig hob ich es auf und stellte es auf das Nachtschränkchen.
Just in der Sekunde bimmelte mein Handy mit der Erkennungsmelodie meiner Mutter. Da ich sie nicht warten lassen wollte, brach ich die Reinigungsarbeit ab, schnappte mir das Gerät vom Nachttischchen und ging ran.
»Ja?«, fragte ich.
»Guten Morgen, Laura, ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«
»Nein, das nicht.« Mein Albtraum hatte das übernommen. Ich trocknete die feuchte Stelle weiter ab.
»Ein Glück. Wie geht es dir? Hast du schon mal aus dem Fenster geschaut?«
»Wieso?« Ich legte das Tuch beiseite und klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, um die Reste vom Glitzerschnee zusammenzufegen. Doch das war schwerer als gedacht, denn der Teppich bildete Widerstand. Da entdeckte ich eine weitere kleine Scherbe, hob sie mit den Fingern auf.
»Es hat über Nacht in Darlingerode geschneit. Richtig viel. Bei euch in Wernigerode sieht es sicher genauso aus, schau mal raus …«
»Au!«, zischte ich. Ein Blutstropfen quoll aus meiner Fingerspitze, ich steckte sie in den Mund. Die Scherbe landete neben den anderen beiden auf dem Nachtschränkchen.
»Was ist los, Schatz?« Mama klang besorgt.
»Nichts, alles gut …«, murmelte ich mit dem Finger im Mund.
»Du kannst mir nichts vormachen, Liebling, dich bedrückt etwas.«
Wieso hatten Mütter immer einen sechsten Sinn?
»Die Schneekugel …« Ich zog den Finger hervor, betrachtete ihn. Er blutete kaum noch. »Sie ist zerbrochen.«
»Die von Valli?«
»Ja.«
»Ach, das ist aber schade.«
»Ich werde sie reparieren …«, sagte ich und lächelte. Natürlich war es schade, dass die Kugel zerbrochen war, aber die Erinnerung daran, wie Valli sie mir geschenkt hatte, war dafür wieder aufgeflammt. Sie war zugleich ein Weihnachts- als auch ein Abschiedsgeschenk gewesen, weil er nach Berlin gezogen war, um dort eine Ausbildung zum Veranstaltungstechniker zu beginnen.
Wie stolz ich auf ihn gewesen war, und nicht nur ich, sondern ganz Darlingerode, unser Heimatdörfchen. Eigentlich hatte er nach seinem Abschluss in den Harz zurückkehren wollen, stattdessen hatte er sich in die Metropole verliebt und war dort sesshaft geworden. Anfangs war er mindestens einmal im Jahr zu Besuch zu uns zu kommen. Bis er schließlich vor vier Jahren eine eigene Eventagentur gegründet hatte, die, so viel hatte ich mitbekommen, ein großer Erfolg war. Er steckte Herz und Seele hinein, allerdings forderte sie all seine Zeit. Dieses Jahr hatte ich noch gar nichts von ihm gehört, weswegen mir nun die Idee kam, nach Berlin zu fahren und ihn zu besuchen. Am besten vor den Feiertagen, denn zu Weihnachten fanden sicher viele Events statt, die er begleiten musste. Vielleicht kam ich so auch auf andere Gedanken?
Mama räusperte sich. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich ihr nicht mehr zugehört hatte.
»Weswegen hast du eigentlich angerufen? Sicher nicht nur wegen des Wetters«, hakte ich nach.
»Hulki.« Mehr musste Mama nicht sagen. Ich ahnte, worum es ging. Hulki, der Kater, der meinen Eltern zugelaufen war, war ein verfressener Kerl, der gern über die Stränge schlug. Ich hatte Mama unzählige Male erklärt, dass sie ihn auf Diät setzen, zumindest die Futtermenge reduzieren sollte. Aber hörte sie auf mich?
»Gestern Abend hat er sich übergeben. Ich dachte, er hätte sein Futter zu schnell gegessen. Aber in der Nacht ging es weiter, und jetzt ist er ganz schlapp.«
Klang ernst. Ich schnappte mir die Schippe mit dem Glitzerschnee und schüttete ihn in den Mülleimer in der Küche. Ich wollte ihn nicht für die Reparatur verwenden, zu viele Teppichfussel hingen dazwischen.
»Kannst du bitte nach der Arbeit bei uns vorbeikommen und ihn dir ansehen, Liebes?«
»Ich denke, es ist besser, wenn du ihn zum Tierarzt bringst. Es hört sich nicht an, als hätte er sich wie sonst nur überfressen. Er könnte sich einen Infekt zugezogen haben.«
»Aber du bist Tierärz…«
»Mama«, sagte ich scharf, und für einen Sekundenbruchteil blitzte das Bild von Freddy auf, der sich nicht mehr regte … Ich hatte die Konsequenzen daraus gezogen. War gerade dabei, mir etwas Neues aufzubauen. Etwas, wobei ich weniger Schaden anrichten konnte.
»Du weißt, dass ich seit drei Monaten nicht mehr praktiziere.«
Mama seufzte.
»Was geschehen ist, ist furchtbar … aber gehört zu dem Beruf dazu.«
Nein. Ich hätte es besser wissen und auf die OP verzichten müssen. Die Angst, es könnte sich wiederholen … saß tief.
»Dr. Meier ist ein kompetenter Tierarzt. Du hast gesagt, dass Hulki ihn mag. Bring ihn zu ihm«, meinte ich sanfter.
»Na gut. Ich hoffe, ich bekomme ihn in die Transportbox.«
»Das schaffst du.« Hulki war zwar ein richtiger Muskelprotz von einem Kater, aber er war eine ruhige Seele, die sich selbst auf dem Untersuchungstisch kooperativ verhielt.
»Ich rufe Dr. Meier gleich an, vielleicht können wir schon vormittags hin. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Super! Drück den kleinen Kerl von mir.«
»Mach ich. Danke, Laura.«
Schon hatte sie aufgelegt.
Mein Blick glitt zur Wanduhr. Ich sollte mich auch ranhalten, um zehn wollte ich meine allererste Kundin in meinem Büro in Darlingerode empfangen. Nach einer Umschulung hatte ich vor einer Woche mein kleines Unternehmen offiziell eröffnet. Mit eigener Webseite, Onlineberatungen und Terminen vor Ort. Es hatte eine kleine Einweihungsfeier mit selbst gebackenem Kuchen von Mama gegeben. Heute würden gleich zwei Klientinnen zu mir fahren, was eine Feuerprobe wäre. Ziemlich aufregend.
Aber bevor ich aufbrach, brauchte ich frische Luft. Ich zog die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster, um einen Blick hinaus zu werfen. Auf Wernigerode. Seit ich nach meinem Studium aus Hannover in meine Heimatregion zurückgekehrt war, war Die bunte Stadt am Harz mein Zuhause geworden. Die Straßen waren voller Schnee, die Geschäfte bereits geöffnet und emsige Menschen überall, die durch die Gassen eilten. Mama hatte recht. Es sah wundervoll aus. Versöhnte mich mit dem holprigen Start des Tages. Ein paar Läden hatten sogar schon ihre Weihnachtsdekoration angebracht. Das Jahr war so schnell vorübergegangen.
Aber so war das mit der Zeit. Sie glitt einem durch die Finger, ohne dass man es merkte, und dann stand plötzlich das nächste Jahr vor der Tür. Doch wenn alles klappte, würde ich noch vor Jahresende in Berlin sein. Bei Valli. Ich war mir sicher, er würde sich freuen, und schloss das Fenster mit einem warmen Gefühl in der Brust, nahm mir vor, ihn bald anzurufen und alles zu klären.
Eilig verschwand ich unter der Dusche, machte mir anschließend ein kleines Frühstück und rannte im dicken Mantel aus dem Haus. Dort musste ich das Eis von den Scheiben kratzen, ehe ich in meinen Käfer stieg und losdüste. Nach Darlingerode, zu dem Ort, in dem ich groß geworden war und wo ich nun auf eine Zukunft als Tierverhaltensberaterin hoffte.
Laura
Der Verkehr war an diesem Morgen zäh in Wernigerode, doch bald wurde die malerische Kulisse mit ihren Fachwerkhäusern im Rückspiegel kleiner. Die Straße führte mich hinaus in die weite Harzlandschaft mit ihren Hügeln und Wiesen, die nun leuchteten, als hätte sich über Nacht eine kuschelige weiße Decke darüber ausgebreitet.
Vier Kilometer später tat sich Darlingerode mit seinen hübschen Gassen und den schmuckvollen Giebeldächern auf, und das Gefühl, heimzukommen, schlich sich in meine Brust. Hier war ich aufgewachsen. Ich genoss den Anblick, bis mein Wagen überraschend stotterte.
Und dann blieb ich mitten auf der Hauptstraße von Darlingerode mit meinem Käfer liegen.
Die kaputte Tankanzeige hatte mich wieder einmal getäuscht, mir vorgemacht, ich hätte genügend Sprit für die Fahrt. Verärgert schlug ich mit der flachen Hand gegen die Anzeige. Und mit einem Mal glitt der Pfeil nach unten.
Ein Auto hupte hinter mir, fuhr schließlich um mich herum. Mist, was machte ich nun? Zurücklaufen und einen Kanister mit Benzin organisieren? Ich schaute in den Rückspiegel, sah eine junge Frau, deren roter Pony unter ihrer Wollmütze hervorragte und bis zu ihren Augen reichte. Hinter ihr tat sich die verschneite Hauptstraße auf. Die Tankstelle lag genau zwischen Wernigerode und Darlingerode. Und gerade schneite es noch mehr. Unter anderen Umständen hätte ich den Anblick der durch die Luft tanzenden Flockenparade geliebt. Angesichts des Fußmarschs, den ich vor mir hatte, wollte jedoch keine Freude aufkommen.
Plötzlich klopfte jemand an die Scheibe. Keuchend drehte ich den Kopf und linste in Stefans lächelndes Gesicht. Der Kerl trug allen Ernstes nur ein Shirt und eine Jeanslatzhose. Keinen Mantel. Nicht mal einen Pullover.
Schnell kurbelte ich das Fenster herunter.
»Bist du etwa liegen geblieben, Laura?«
»Sieht so aus, oder?« Ich lachte leise. Was für ein Tag. Und er hatte gerade erst begonnen! »Bin auf dem Weg zum Büro. Sag mal, ist dir denn nicht kalt, Stefan?« Ich bekam beim Anblick meines ehemaligen Klassenkameraden Schüttelfrost.
»Nö. Ich geh doch gleich wieder ins Haus.« Er deutete hinter sich, wo seine Schreinerwerkstatt mit Wohnetage lag. Ein hübsches Fachwerkhaus mit dunklen Außenbalken und einem Spitzdach. Unten befanden sich riesige Schaufenster, in denen verschiedene Möbel ausgestellt waren. Hergestellt von Stefan, der mein Malheur offenbar von dort beobachtet hatte.
»Kann ich dir helfen?«
»Du könntest mich zur nächsten Tankstelle fahren.« Das würde mir einiges erleichtern.
»Ich weiß was Besseres.«
Er strahlte von einem Ohr zum anderen, wodurch seine Wangen im kantigen Gesicht sich rundeten.
Schon hielt er einen Kanister hoch.
»Wow. Stefan, wie konntest du denn wissen, dass …«
»Mir ist vor Kurzem was Ähnliches passiert, daher hab ich immer einen Kanister für den Notfall parat.«
Verschmitzt lächelte mich der breitschultrige Kerl an, der mich an Kristoff aus dem Film Die Eiskönigin erinnerte.
»Vielen Dank, Stefan, du bist mein Retter!« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich hätte eine Ewigkeit zur Tankstelle gebraucht und wäre womöglich zu spät zu meinem ersten Termin gekommen.
»Alte Schulfreunde halten zusammen«, erklärte er und lächelte so freundlich, dass die Kälte, die durchs offene Beifahrerfenster drang, abklang. Die Kids in meiner Klasse hatten Stefan belächelt, weil er recht leichtgläubig war. Doch er hatte was drauf, wie die hervorragenden Möbel in seinem Schaufenster bewiesen, und er gehörte zu den nettesten Menschen, die ich kannte.
»Komm, ich helfe dir«, sagte ich voller Tatendrang, stieg aus, schraubte den Verschluss am Wagen auf, und er gab das wertvolle Benzin mit einem Trichter hinein.
»Man muss immer einen gefüllten Tank haben.«
»Da sagst du was. Leider ist meine Anzeige kaputt, und die Leute von der Werkstatt haben zigmal versucht, sie zu reparieren. Eine Zeit lang funktioniert sie, dann wieder nicht.«
Stefan war sehr sorgsam, sodass kein Tropfen danebenging, und schließlich schraubte er den Kanister wieder zu. Ich hingegen schraubte den Verschluss am Wagen zu.
»Danke, Stefan. Ehrlich.«
»Gerne, Laura. Für dich immer. Ich kann mir die Anzeige mal ansehen, wenn du magst.«
Überrascht hob ich eine Braue. »Kennst du dich damit aus?«
»Ich kann vieles reparieren. Kann nicht schaden, einen Blick drauf zu werfen. Ich komme nachher zum Hof und kümmere mich darum.«
»Das ist nett. Ich danke dir. Nun geh lieber rein, sonst ziehst du dir noch eine Erkältung zu.« Er war inzwischen von oben bis unten eingeschneit. Auf seinem Kopf hatte sich eine Haube wie aus Zuckerguss gebildet.
Stefan lachte. »Keine Sorge, Laura, ich bin widerstandsfähig.« Schon marschierte er zu seinem Haus zurück, drehte sich an der Tür um, über der in dicken Lettern Stefans Schreinerwerkstatt hing, und winkte.
Ich hob den Arm zum Gruß, stieg in den Wagen und fuhr weiter.
Laura
Ich parkte am Straßenrand und atmete tief ein. Mein Blick glitt durch die Windschutzscheibe zu der alten Villa, die nicht nur mein Beratungsbüro beherbergte, sondern auch Teil des Gnadenhofs von Darlingerode war. Schneeflocken legten sich sanft über die Dachschiefer, gleich einer dicken Wolldecke. Im Harz konnten wir uns nicht über zu wenig Schnee im Winter beklagen. Ich schnallte mich ab, öffnete die Tür und schlug sie nach dem Aussteigen sanft hinter mir zu.
Mit den Moon Boots stapfte ich durch die weißen Massen, weil der Weg zum Haus bisher nicht freigeschaufelt worden war. Ich näherte mich dem Eingangstor, über dem ein farbenfrohes Schild hing.
Willkommen in der Kleinen Pfoten-Villa
Lustige Tiere schauten mich an. Valli und ich hatten einst dieses Schild für seine Tante Clementine und seinen Onkel Oskar gemalt, die damals gemeinsam den Gnadenhof geleitet hatten. Meine Liebe zu Tieren war immer schon groß. Vallis ebenso. Es war ein wunderschöner Sommertag gewesen, daran erinnerte ich mich noch.
Aber dieser Sommer war lange vorbei und heute vieles anders.
Die alte Villa, vor über hundert Jahren die Herberge vornehmer Leute, wirkte so müde, wie ich mich fühlte. Die Fassade blätterte ab, als hätte das Haus Falten bekommen.
Ich schob das quietschende Tor auf, schloss es behutsam hinter mir, damit keines der Tiere versehentlich entwischte. Ein wahres Wintertraumland erstreckte sich hier. Aus Schneetürmen und Kristallbäumen. Es war ein idealer Platz für die zehn Hunde, die zusammen mit ein paar Katzen, Kleintieren sowie einem Shetland Pony und einer Zwergziege auf dem Hof der Pfoten-Villa lebten. Die Anzahl der Tiere, die hier ihren Lebensabend verbrachten, war klein, weil unsere Aufnahmekapazitäten begrenzt waren. Die Villa mochte auf den ersten Blick imposant wirken, Hof und Stall boten hingegen wenig Raum, sodass der Fokus auf der Aufnahme von alten oder kranken Haustieren lag, die nur schwer ein Zuhause fanden. Daher auch der Name Kleine Pfoten-Villa.
Seit Oskars Ableben führte Clementine den Gnadenhof allein. Das war nicht leicht für die ältere Frau. Dennoch gab sie ihr Bestes. Und da sich mein Beratungsbüro in der Villa befand, lieh ich ihr oft meine helfenden Hände.
Clementine war ein Original. Sie sorgte für artgerechte Lebensbedingungen, kannte jeden ihrer Schützlinge beim Namen und die persönliche Hintergrundgeschichte. Für sie waren sie Familienmitglieder und wurden als solche behandelt. Eine Einstellung, die ich teilte.
Gerade kam Therri aus dem Geräteschuppen neben dem Haus, mit einer Schneeschaufel in der Hand. Sie war eine kleine Frau mit dunklem Pixiecut, die nie gute Laune zu haben schien. In ihrem lilafarbenen Mantel wirkte sie ungewöhnlich blass. Dass sie am liebsten woanders wäre, merkte ich ihr jeden Tag an.
»Guten Morgen, Theresa«, rief ich.
Energisch stapfte sie an mir vorbei, offenbar in der Absicht, den Weg freizuschaufeln.
Kein Wort, nur ein Nicken und ein unübersehbares Augenrollen. Ob sie sich je hier eingewöhnen würde? Für sie wäre es ebenfalls angenehmer. Neun Wochen würde sie Sozialstunden auf dem Hof ableisten. Das war eine lange Zeit. Insbesondere, wenn man sich unwohl fühlte.
Ich kämpfte mich durch den Schnee bis zur Haustür, die ich aufschloss, und trat ein. Der Geruch von frischem Hühnchen mit Reis stieg mir in die Nase.
»Guten Morgen«, rief ich in den Flur hinein.
Keine Antwort. Dafür Stimmen. Von Clementine und Noah, einem ehrenamtlichen Helfer, der bereits zum Inventar gehörte.
Sie waren wohl vertieft in ein Gespräch.
Ich klopfte mir Schnee vom Mantel, zog ihn aus und hängte ihn an einem Garderobenhaken auf.
Mein Blick wanderte zu der Holztreppe, die an der Diele vorbei in den oberen Stock führte. Auf jede der acht Stufen hatte sich eine Katze gelegt, als hätten sie sich abgesprochen. Eine schwarze thronte auf der obersten Stufe, danach folgte eine mit Frack-Muster, die Tigerkatzen mit und ohne weiße Maserungen, der rot-weiße Kater und am Schluss die kleine Colourpointdame, die der Meme-Legende Grumpy Cat zum Verwechseln ähnlich sah und deswegen von allen Grumpy genannt wurde. Neugierig glänzende Augenpaare schauten mich an. Ich musste schmunzeln, denn es sah zu niedlich aus. Gewiss hoffte jede der Fellnasen auf ein Leckerli.
Ich strich Grumpy über das samtweiche Köpfchen und folgte dem Duft von Reis und Hühnchen durch den Flur, der sich zu einer Einbuchtung mit Tisch und Stühlen erweiterte. Dort saßen Clementine, Noah und eine Teenagerin, die mir unbekannt war, am Tisch.
»Also, wie läuft das hier genau?«, fragte diese, während Noah ihr einen Stapel Papiere abnahm, diese kurz durchging und an Clementine weiterreichte, die ihre Lesebrille aus den grauen Haaren zog, um sie sich auf die Nase zu setzen.
»Morgens und abends Stallreinigung und Fütterung, das hat oberste Priorität. Wir haben zwar nur ein Pony und eine Ziege, aber die verdienen eine optimale Pflege.« Clementine sah von den Unterlagen auf und deutete hinter sich, wo ein genauer Ablaufplan an der Wand hing. Die Namen der Helferinnen und Helfer, die die jeweilige Aufgabe übernahmen, waren mit Magneten befestigt. »Dazwischen dreimal täglich Auslauf für die Hunde, Reinigung der Katzentoiletten und Kleintierzimmer. Alle Tiere brauchen ihre festen Routinen.«
»Ich werde dich in den ersten Tagen einarbeiten«, erklärte Noah.
Ohne ihn funktionierte auf dem Hof nichts. Ich war noch klein gewesen, als Noah angefangen hatte, hier zu arbeiten. Stets hatte er Valli und mich mit kindergerechten Aufgaben betraut wie der Katzenfütterung. So hatten wir früh gelernt, mit Tieren umzugehen.
»Alles klar. Meine Schwester lebt in Hannover und arbeitet dort in einer Tierarztpraxis, da habe ich einiges mitbekommen. Aber ich freue mich, wenn ich mein Wissen auf dem Gnadenhof vertiefen kann.« Der Blick der jungen Frau glitt an Clementine vorbei zu mir.
Grüßend hob ich die Hand.
»Wir freuen uns sehr, Lotta, dass du bei uns dein Praktikum machen möchtest. Deine Einarbeitung ist auch für uns wichtig. Denn das Veterinäramt schaut genau hin – zu Recht. Um einen Gnadenhof zu betreiben, braucht man einen Sachkundenachweis, regelmäßige Fortbildungen, und alle Helferinnen und Helfer müssen entsprechend geschult sein«, erklärte Clementine und gab Lotta die Unterlagen zurück. Mir fiel auf wie dünn und sehnig Clementines Arm war, als sie diesen ausstreckte. Die harte Arbeit zerrte an allen.
»Genau«, sagte Noah. »Hier haben wir zudem bestimmte Herausforderungen, denn die Tiere bleiben bis zum Schluss bei uns. Das bedeutet auch viel Pflege für die Älteren und Kranken. Ein Netzwerk aus Tierärzten, anderen Höfen, sogar eine Kooperation mit dem Tierheim von Wernigerode.«
»Allein die Dokumentation …« Clementine seufzte.
Noah schob seinen Stuhl zurück. »Komm, ich führ dich mal rum.«
Ich räusperte mich, um auf mich aufmerksam zu machen. »Guten Morgen, ich sehe, wir haben ein neues Gesicht.«
»Ach, Laura! Wie schön!« Clementine erhob sich, stützte sich an der Stuhllehne ab. »Darf ich euch bekannt machen? Laura hilft uns, wo sie kann, und bietet hier Tierverhaltensberatungen an.«
Die Schülerin reckte sich über den Tisch, um mir die Hand zu reichen. Ich nahm sie an.
»Szarlota Kowalcyk. Short Lotta.«
»Laura Erle, sag einfach Laura. Freut mich.«
»Sie macht hier ihr Schulpraktikum. Es geht ab dem zweiten Januar los.«
»Ich darf schon jetzt ein paarmal in der Woche kommen und helfen. Sieht so aus, als könntet ihr mich brauchen.«
Sympathisch, diese Lotta, dachte ich. Sie hatte die Lage erfasst. Hier brauchten wir stets helfende Hände.
»Das stimmt, wir sind für jede Hilfe dankbar. Nun komm mal mit.« Noah stakste mit seinen langen Beinen voran und warf sein schulterlanges dunkles Haar zurück.
Lotta kam hinter dem Tisch hervor, nickte mir zu und folgte ihm nach draußen.
»Ein liebes Mädchen«, schwärmte Clementine.
Ich nickte. Den Eindruck hatte ich auch. Abermals stieg mir der Duft aus der Küche in die Nase.
»Was kochst du denn gerade?« Was immer es war, umhüllt von diesem Geruch würde es ein interessantes Mittagessen werden.
»Ach, du liebe Güte. Das hätte ich fast vergessen. Das ist das Futter für unsere Kummermäuse.«
Kummermäuse – so nannte Clementine liebevoll die kranken Tiere in der Villa. Dass immer irgendwer krank war, hatte ich schnell auf dem Gnadenhof gelernt.
Clementine griff nach ihrem Stock und humpelte in die Küche.
Ich folgte ihr zum Herd, wo sie den Stock an den Schrank lehnte und mit beiden Händen versuchte, den schweren Topf von der Platte zu ziehen.
»Komm, wo soll der Topf denn hin?« Ich umfasste die Griffe, aber Clementine schob mich sanft beiseite.
»Ich schaffe das, Kind. Du weißt, Clementine Hagedorn gibt niemals auf. Möge kommen, was wolle.«
Sie griff erneut nach dem Topf und hievte ihn in die Höhe. Bonny, die Hütehündin, erhob sich von ihrer Decke und beobachtete angespannt die Situation.
Clementine keuchte leise auf, platzierte den Topf auf einem Untersetzer auf der Arbeitsfläche und hielt sich das Kreuz. »Geht doch.«
»Ich hätte es wirklich machen können.«
»Du bist nicht immer da. Es ist besser, selbstständig zu bleiben.«
Punkt für sie.
»Jetzt muss das Frühstück für die Kummermäuse nur noch abkühlen.«
»»Was haben die Kummermäuse denn?«»
»Ein Magen-Darm-Infekt grassiert derzeit.« Gewissenhaft spülte Clementine den Kochlöffel unter dem Hahn ab.
»Mamas Kater hat sich auch einen eingefangen.«
»Das ist die Jahreszeit«, sagte Clementine.
Mit der Hand strich ich über Bonnys Kopf, die mir zum Dank mit ihrer Zunge über die Handinnenfläche schleckte.
»Da bleibt mir nur, gute Besserung zu wünschen. Wie viele Patienten hast du denn?«
»Drei Katzen und zwei Hunde.«
Clementine griff nach ihrem Stock, setzte sich auf den Stuhl am Fenster und hielt sich das Knie, rieb an diesem, als versuchte sie, die Durchblutung anzuregen.
»Die Knie-Arthrose, mh?« Zu dieser Jahreszeit war sie besonders schlimm.
»Halb so wild, Unkraut vergeht nicht.«
Eines musste ich ihr lassen, sie hatte zwar ihre Probleme, aber sie machte stets weiter.
Ich deutete mit dem Daumen hinter mich in den Flur, Mein Büro befand sich direkt neben Clementines Arbeitszimmer unter der Treppe. Der alten Zeiten willen und weil ich mit anpackte, durfte ich den Raum mietfrei für Beratungen nutzen.
»Heute erwarte ich gleich zwei Klientinnen. Premiere.« Darauf war ich stolz. Jeder fing klein an, doch leistete ich gute Arbeit, würde sich das herumsprechen.
»Zwei …« Aus Clementines Mund klang es weniger begeistert. »Das ist immerhin ein Anfang.« Zustimmend schaute mich Bonny an.
»Die Nachfrage an Tierverhaltensberatung ist groß und nimmt stetig zu. Ich konnte sogar ein paar Online-Klienten auftun.«
»Ein paar …«
»Du weißt, dass ich erst vor wenigen Monaten …« Ich ließ den Satz offen. Wir beide wussten, dass ich meinen Job als Tierärztin in einer angesehenen Praxis in Wernigerode gekündigt hatte. Und das aus gutem Grund.
»Nun starte ich durch«, sagte ich, um dem Thema eine positive Wendung zu geben.
Clementine bedachte mich mit ihrem Blick, der eindeutig verriet, dass die Kündigung ihrer Meinung nach ein Fehler gewesen war.
»Laura, du weißt, ich wünsche dir nur das Beste und unterstütze dich, wo ich kann. Aber dieser Vorfall sollte dich nicht daran hindern, das zu tun, was du liebst …«
Schon tauchten die traurigen Augen des kleinen Mädchens vor mir auf. Wie sehr es gelitten hatte, als ich ihm sagen musste, dass der geliebte Familienhund die Routineoperation nicht überstanden hatte … So etwas vergaß man nicht. Ich zumindest nicht. Denn es war mein Fehler gewesen. Ich hatte das Narkoserisiko für den Hund unterschätzt …
Es klingelte an der Tür. Genau zur richtigen Zeit.
»Das ist meine Klientin!« Wie von der Tarantel gestochen eilte ich zum Eingang, öffnete und stolperte beinahe in Stefans Arme.
Überrascht wich zu zurück. »So schnell sieht man sich wieder.«
Wenigstens trug er nun Mütze, Schal und Mantel.
»Ein Kunde hat abgesagt. Soll ich mir deine Anzeige angucken?«
»Stefan, das wäre wunderbar! Ich sag nur Clementine Bescheid.« Für den Fall, dass die Klientin ausgerechnet jetzt hereinschneite.
»Lass mal, Laura. Gib mir nur den Schlüssel. Ich mach das.«
»Ernsthaft?«
»Na klar.«
Ich nickte, kramte in meiner Hosentasche und holte den Autoschlüssel hervor, den ich in Stefans riesige Hand legte.
»Ich krieg das schon hin«, versicherte er mir, als hinter ihm eine Frau mittleren Alters in einem dicken Mantel auftauchte.
»Guten Morgen, bin ich hier richtig, bei Tierverhaltensberaterin Laura Erle?«
»Ja, ganz recht. Das bin ich. Kommen Sie herein.«
Die Frau schob sich an Stefan vorbei, der mir zuwinkte und dem freigeschaufelten Weg zur Straße folgte. Ich schloss die Tür und atmete durch, ehe ich mich umwandte. Jetzt wurde es ernst. Mein erstes Beratungsgespräch.
Ich war gut vorbereitet, hatte mich die letzten Wochen und Monate auf diese neue Herausforderung eingestellt und Onlineannoncen geschaltet. Es war sogar ein Artikel in der Lokalpresse über meine Beratungsstelle erschienen. Es war ein Neubeginn, auf den ich mich sehr freute. Und doch war ich nervös, jetzt, da meine Klientin plötzlich vor mir stand.
Es würde sich zeigen, ob all die Arbeit sich gelohnt hatte. Ob ich mich etablieren konnte. Würde ich ihr helfen können? Würde sie mit meinen Vorschlägen etwas anzufangen wissen?
Die kleine Grumpy tapste auf meine Klientin zu, strich ihr vertrauensvoll um die Beine.
»Wie entzückend!«, rief sie. Und ich atmete auf.
Das Eis schien gebrochen. Unauffällig hielt ich Grumpy den Daumen hoch, die daraufhin gutmütig die Augen zusammenkniff.
»Hängen Sie Ihre Sachen gern an der Garderobe auf.« Ich wies auf einen Haken, aber die Dame hatte nur Augen für die Colourpointkatze. Sanft kraulte sie das Köpfchen, lauschte dem erfreuten Schnurren. Grumpy war alles, nur nicht grumpy. Sie ging neugierig auf die Menschen zu, obwohl sie, wie viele unserer Tiere, schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Aber Clementine vermochte es, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der sich die meisten Tiere früher oder später wohlfühlten. Grumpy hatte genug, schenkte der Frau einen liebevollen Blick und trabte die Treppe hoch in den ersten Stock. Mit einem Lächeln hängte meine Klientin ihre Jacke auf, danach führte ich sie in mein Büro. Auf meinem Tisch stand eine mir unbekannte Tasse mit dem Motivationsspruch »Kaffee rein, Tiger raus!«. Wie süß, sie musste von Clementine stammen. Ein Geschenk zur Premiere. Glaubte sie also doch an mich. Lächelnd widmete ich mich dem Fall meiner Klientin.
Laura
»Auf Wiedersehen und vielen Dank, Frau Erle, für die Unterstützung.«
»Sehr gern. Sollten Sie weitere Tipps benötigen, melden Sie sich einfach bei mir.«
»Das werde ich.«
Ich nickte der Dame zu, und erneut gaben sie und Stefan sich die Klinke in die Hand.
Es war ein erfolgreiches Gespräch gewesen, ich hatte ihr einige Tipps für das Zusammenleben mit ihrem ängstlichen Hund geben können und erste Erfahrungen gesammelt. Es hatte mir Spaß gemacht und mich darin bestätigt, dass in der Verhaltensberatung meine Zukunft lag. Ich half Menschen und Tieren zwar nicht mehr als Veterinärin, aber als Beraterin.
Stefan drückte mir den Autoschlüssel in die Hand.
»Habs repariert!« Er lächelte stolz. Seine Wangen wirkten trotz seiner länglichen Gesichtsform und dem markanten Kinn so rund wie die des Weihnachtsmanns. Und strahlten mindestens genauso rot.
»Wirklich?«
»Ja, war nicht schwer. Jetzt geht die Anzeige wieder.« Er zwinkerte.
»Wenn das wahr ist, solltest du einen Zweitjob als Automechaniker anstreben.«
Da die Leute meiner Werkstatt immer wieder Probleme mit der Reparatur der Anzeige gehabt hatten, fiel es mir schwer zu glauben, dass es Stefan nun geglückt war. Ich zog mir den Mantel über und trat hinaus.
»Das musst du mir zeigen.«
»Gern, Laura.«
Wir liefen den Weg hinunter, Stefan hielt mir das Tor auf und folgte mir zur Straße, wo mein Käfer unter einer üppigen Tanne stand, die aussah, als würde sie ein glitzerndes Hochzeitskleid tragen. Auf dem Autodach hatte sich eine flauschig aussehende Schneedecke gebildet.
Ich schloss auf, setzte mich hinters Steuer und startete den Motor. Tatsache! Die Anzeige hatte sich verändert, zeigte einen gefüllten Tank an.
Stefan ließ sich neben mir in den Beifahrersitz sinken. »Siehst du, das ist in etwa die Menge, die wir nachgefüllt haben. Es geht wieder, und das sollte auch so bleiben.«
»Fantastisch! Wie hast du das hinbekommen?«
Er senkte den Blick und zuckte mit den Schultern. »Hab ein Händchen dafür, das ist alles.«
Ich war schwer beeindruckt.
»Sollte die Anzeige doch noch mal kaputt gehen, kommst du wieder zu mir.«
Ich nickte. Kramte nach meinem Portemonnaie, aber Stefan schüttelte den Kopf.
»Nicht doch, wir sind alte Schulfreunde.«
Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus.
»Was kann ich dir dann Gutes tun, Stefan?« Dank musste sein.
Er fuhr sich mit seiner großen Hand über das Gesicht. Dabei linste er durch die Windschutzscheibe, die schon wieder eisig war.
»Sag mal …« Er nickte zu einem der Plakate, die an den Laternenpfählen wehten, als wollten sie uns zuwinken. Chorabend der Harzer Herzstimmen auf dem Weihnachtsmarkt stand dort in bunten Lettern.
»Hast du … vielleicht Lust, mit mir dahin zu gehen?« Seine sonst kräftige Stimme war kaum hörbar.
