Eine gebrochene Frau - Simone de Beauvoir - E-Book

Eine gebrochene Frau E-Book

Simone de Beauvoir

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Beschreibung

«Ich habe in diesem Buch drei Frauen sprechen lassen, die sich aus ausweglosen Situationen mit Worten zu befreien versuchten: Diese Geschichten haben keine Moral; Lektionen werden nicht erteilt; ich wollte etwas ganz anderes. Man lebt nur ein Leben, aber durch intensives Mit-Erleben, Nach-Erleben gelingt es einem manchmal, in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Ich wollte meine Leser an den Erfahrungen teilnehmen lassen, die ich auf diese Weise gemacht habe. Ich fühle mich mit allen Frauen verbunden, die ihr Leben auf sich nehmen und für ein glückliches Leben kämpfen.»

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Simone de Beauvoir

Eine gebrochene Frau

Aus dem Französischen von Ulla Hengst

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Das Alter der VernunftMonologEine gebrochene Frau
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Das Alter der Vernunft

Ist meine Uhr stehengeblieben? Nein. Aber es sieht aus, als seien die Zeiger erstarrt. Nicht hinschauen. An etwas anderes denken, an irgendetwas, vielleicht an den Tag, der hinter mir liegt und dessen gewohnten ruhigen Verlauf nicht einmal die Erregung des Wartens beeinträchtigen konnte.

Leise Rührung, als ich erwachte und André mit der Schlafbinde über den Augen im Bett liegen sah, zusammengerollt, die Handfläche gegen die Wand gestemmt: eine kindliche Geste, mit der er in den Wirren des Traums die Zuverlässigkeit der Welt zu erproben schien. Ich setzte mich auf die Bettkante und berührte leicht seine Schulter. Er streifte die Maske ab, und auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

«Es ist acht Uhr.»

Ich stellte in der Bibliothek das Frühstück zurecht, und dann, während ich auf André wartete, las ich in einem Buch, das ich gestern bekommen und bereits flüchtig durchgeblättert hatte. Immer wieder dieses Geschwätz über Kontaktarmut! Man muss nur wollen, dann gelingt es einem schon irgendwie, sich anderen Menschen mitzuteilen. Nicht allen natürlich, aber zwei oder drei genügen ja. Ich behellige André nicht gern mit meinen alltäglichen Sorgen, Verstimmungen und Kümmernissen, und auch er erzählt mir bestimmt nicht jede Kleinigkeit, aber im Großen und Ganzen kennt jeder von uns den anderen wie sich selbst.

Nachdem ich unsere Tassen gefüllt hatte, tranken wir den sehr heißen, sehr starken chinesischen Tee und sahen dabei die Post durch. Die Julisonne flutete ins Zimmer. Wie oft hatten wir uns wohl schon an diesem Tischchen gegenübergesessen und sehr starken, sehr heißen Tee getrunken? Und so wird es immer sein, dachte ich, morgen, in einem Jahr, in zehn Jahren … Dieser Augenblick barg die Süße einer Erinnerung und die Heiterkeit eines Versprechens. Wie alt waren wir – dreißig Jahre oder sechzig? André ist vorzeitig ergraut; früher betonte das silberne Haar die jugendliche Frische des Teints und wirkte wie eine Koketterie. Auch jetzt noch scheint es eine Koketterie zu sein. Die Haut ist zwar spröde geworden, rissig wie altes Leder, aber der Mund und die Augen lächeln so strahlend wie eh und je. Selbst wenn die Fotos im Album mich Lügen strafen, mein Blick erkennt an ihm keine Spuren des Alters: Für mich ist sein Gesicht unverändert. Ein langes Leben mit Freude und Trauer, mit Wutausbrüchen, Umarmungen und Geständnissen, mit düsterem Schweigen, mit überströmender Begeisterung, und manchmal habe ich das Gefühl, die Zeit sei nicht weitergegangen. Die Zukunft erstreckt sich noch immer ins Unendliche.

«Gutes Gelingen», wünschte mir André, als er aufbrach.

«Auch für dich: gutes Gelingen.»

Er erwiderte nichts. Bei Untersuchungen, wie er sie durchführt, lässt es sich nicht vermeiden, dass man von Zeit zu Zeit auf der Stelle tritt; er findet sich damit nicht mehr so leicht ab wie früher.

Ich öffnete die Balkontür. Auf Paris lastete die dumpfe Sommerhitze, die Luft roch nach Asphalt und Gewitter. Mein Blick folgte André. Vielleicht existiert er für mich gerade dann mit bestürzender Deutlichkeit, wenn ich beobachte, wie er sich von mir entfernt: Die hochgewachsene Gestalt wird immer kleiner, jeder ihrer Schritte zeichnet den Rückweg auf, schließlich verschwindet sie in der Ferne, und die Straße scheint leer zu sein, ist aber in Wirklichkeit ein Kraftfeld, das André zu mir zurückleiten wird wie zu seinem natürlichen Standort. Diese Gewissheit ist noch erregender als seine Gegenwart.

Lange blieb ich auf dem Balkon stehen. Von meinem sechsten Stockwerk aus sehe ich ein großes Stück von Paris; ich kann auch den Flug der Tauben über den Schieferdächern verfolgen und habe jene falschen Blumentöpfe vor Augen, die nichts anderes als Schornsteinaufsätze sind. Riesige Kräne – fünf, neun, zehn, ja insgesamt zähle ich zehn –, einige rot, andere gelb, recken ihre eisernen Arme in den Himmel; zur Rechten versperrt mir eine hohe Mauer mit kleinen Öffnungen den Blick: ein Neubau. Ich entdecke prismenförmige Türme, Wolkenkratzer, die gleichsam über Nacht entstanden sind. Wann ist aus dem unbebauten Gelände am Boulevard Edgar-Quinet ein Parkplatz geworden? Die Jugend dieser Landschaft ist augenfällig, und doch erinnere ich mich nicht, dass es hier jemals anders ausgesehen hat. Wie gern würde ich die beiden Ansichten – das Vorher und das Nachher – nebeneinander betrachten und erstaunt feststellen, was sich da alles verändert hat. Aber nein. Ich gewöhne mich so schnell an die wechselnden Bilder, dass die Welt für mich immer gleichzubleiben scheint: Sie offenbart sich meinen Augen in einer ewigen Gegenwart.

Auf dem Schreibtisch luden mich Notizen und weißes Papier zum Arbeiten ein, doch die vier Worte, die in meinem Kopf einen Freudentanz aufführten, ließen nicht zu, dass ich mich konzentrierte. Heute Abend kommt Philippe. Fast einen Monat hatte ich ihn nicht gesehen. Ich ging in sein Zimmer, in dem noch so viele Sachen von ihm herumliegen: Bücher, Papiere, ein alter grauer Pullover, ein lila Schlafanzug. Ich kann mich nicht entschließen, dieses Zimmer neu einzurichten, nicht nur aus Mangel an Zeit und Geld, sondern auch – und vor allem –, weil ich nicht glauben will, dass Philippe mir nicht mehr gehört. Schließlich kehrte ich in die Bibliothek zurück, wo ein großer Strauß frischer, ländlich naiver Rosen seinen Wohlgeruch verströmte. Ich wunderte mich, dass mir diese Wohnung je hatte öde und leer erscheinen können. Es fehlte nichts. Mein Blick freute sich an den kräftigen und den zarten Farben der auf den Sofas verstreuten Kissen. Die polnischen Puppen, die slowakischen Räuber, die portugiesischen Hähne saßen artig auf ihren Plätzen. Philippe kommt … Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Wenn man traurig ist, kann man weinen. Aber was lässt sich gegen erwartungsfrohe Ungeduld tun?

Ich beschloss, ins Freie zu gehen, den Duft des Sommers zu atmen. Ein großer Neger in einem stahlblauen Regenmantel und mit einem grauen Filzhut auf dem Kopf fegte lässig den Bürgersteig; früher hatte das ein fahlbrauner Algerier besorgt. Auf dem Boulevard Edgar-Quinet geriet ich in den Sog der einkaufenden Frauen. Da ich vormittags nur selten das Haus verlasse, kam mir der Markt geradezu exotisch vor (so viele Märkte unter so vielen morgendlichen Himmeln). Eine kleine alte Frau, das strähnige Haar straff nach hinten gekämmt, die Hand um den Henkel ihres leeren Korbes gekrallt, humpelte von einem Stand zum anderen. Früher habe ich mich nie um alte Leute gekümmert; für mich waren sie Tote, deren Beine noch funktionieren. Jetzt sehe ich, dass sie Männer und Frauen sind, die mir nur ein paar Jahre voraushaben. Diese kleine Alte war mir zum ersten Mal beim Fleischer begegnet, wo sie um Abfälle für ihre Katzen bat. «Für ihre Katzen», sagte der Mann lachend, als sie gegangen war. «Die hat gar keine Katzen. Sie will sich aus dem Zeug eine Suppe kochen.» Anscheinend fand er das sehr komisch. Heute beobachtete ich, wie die Alte unter den Fleischbänken die weggeworfenen Bröckchen und Fetzchen aufhob, bevor der große Neger alles in den Rinnstein fegen konnte. Das Leben mit hundertachtzig Francs im Monat fristen – mehr als eine Million Menschen müssen das tun, und weitere drei Millionen sind kaum weniger benachteiligt.

Ich schlenderte über den Markt, kaufte Obst und Blumen. Im Ruhestand leben – früher hat dieses Wort mich erschreckt; es erschien mir als ein Synonym für unnützer Esser, und der Gedanke, tagaus, tagein müßig zu gehen, beängstigte mich. Sehr zu Unrecht, wie ich jetzt weiß. Manchmal wird mir die Zeit zwar ein bisschen lang, aber niemals so sehr, dass es mich stört. Und wie angenehm ist es, ungebunden, frei von beruflichen Verpflichtungen zu sein. Hin und wieder überkommt mich allerdings ein Gefühl staunender Verwunderung. Ich erinnere mich an meine erste Stellung, an die erste Schulklasse, die ich unterrichtete, an die welken Blätter, die in der herbstlichen Kleinstadt unter meinen Füßen raschelten. Damals war der Tag der Pensionierung noch weit entfernt; eine Zeitspanne, die fast das Zweifache meines bisherigen Lebens betrug, trennte mich von ihm, und in meinen Augen war er ebenso unwirklich wie der Tod. Und nun liegt dieser Tag schon ein Jahr zurück. Ich habe auch andere Grenzen überschritten, aber sie waren nicht so scharf gezogen. Diese hier ist hart und unnachgiebig wie ein eiserner Vorhang.

Als ich nach Hause kam, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, denn ohne Arbeit wäre mir sogar dieser heitere Vormittag fade erschienen. Gegen dreizehn Uhr ging ich in die Küche, um dort den Tisch zu decken. Es ist haargenau Großmutters Küche in Milly – ich möchte wieder einmal nach Milly fahren – mit dem Bauerntisch, den Sitzbänken, dem Kupfergeschirr und der Balkendecke. Nur steht bei uns statt der altmodischen Kochmaschine ein moderner Gasherd, und wir haben einen Frigidaire. (Wann sind die ersten Frigidaires in Frankreich aufgetaucht? Unseren habe ich vor zehn Jahren gekauft, aber damals waren sie schon keine Seltenheit mehr. Wann also? Vor dem Krieg? Gleich danach? Auch wieder etwas, woran ich mich nicht mehr erinnere.)

André kam später als sonst; er hatte mir morgens schon gesagt, dass er an einer Versammlung teilnehmen werde, bei der es um die force de frappe gehe, um Frankreichs atomare Abschreckungsstreitmacht.

«Nun, wie war es?», fragte ich.

«Wir haben ein neues Manifest formuliert. Aber ich mache mir keine Illusionen. Dieser Aufruf wird genauso wenig Widerhall finden wie die früheren. Die Franzosen nehmen das alles nicht ernst. Weder die force de frappe noch die Atombombe im Allgemeinen, noch sonst etwas. Manchmal habe ich nicht übel Lust, Frankreich den Rücken zu kehren. Man könnte nach Kuba gehen. Oder nach Mali. Nein, ganz im Ernst, davon träume ich. Dort hätte man wenigstens die Möglichkeit, sich nützlich zu machen.»

«Aber dann könntest du deine Arbeiten nicht weiterführen.»

«Das wäre kein großes Unglück.»

Ich stellte Schinken, Salat, Käse und Obst auf den Tisch. «Bist du wirklich so mutlos? Es ist doch schon öfter passiert, dass ihr nicht weiterkamt.»

«Ja.»

«Also?»

«Du willst mich nicht verstehen.»

Er sagt jetzt oft, dass er zu alt ist, um neue Ideen zu haben, und dass alle guten Einfälle von seinen Mitarbeitern stammen. Ich glaube ihm das nicht.

«Ach, ich weiß schon, worauf du hinauswillst», erwiderte ich. «Aber das kann ich einfach nicht ernst nehmen.»

«Es stimmt trotzdem. Meine letzte brauchbare Idee habe ich vor fünfzehn Jahren gehabt.»

Fünfzehn Jahre. Das ist die längste Periode des Leerlaufs, die er je hatte. Nun, ich bin sicher, dass sie nötig war: Er brauchte sie, damit neue Einfälle reifen konnten. Ich denke an die Verse von Valéry:

Aus jedem Atom Schweigen

kann eine reife Frucht hervorgehen.

Die lange schöpferische Pause wird sicherlich die schönsten Früchte zeitigen. Noch ist es nicht beendet, jenes Abenteuer, an dem ich von Anfang an so leidenschaftlich teilgenommen habe: Zweifel, Fehlschläge, immer von neuem wiederholte Versuche, dann ein Lichtschimmer, eine Hoffnung, eine Hypothese, die sich bestätigt, und schließlich, nach Wochen und Monaten angstvoller Geduld, der Rausch des Gelingens. Obgleich ich nicht viel von Andrés Arbeit verstehe, hat mein beharrliches Vertrauen dazu beigetragen, ihm den Rücken zu stärken. Ich vertraue ihm nach wie vor. Warum gelingt es mir nicht mehr, ihm neuen Mut einzuflößen? Ich kann und will nicht glauben, dass ich nie wieder sehen werde, wie seine Augen in heißer Freude über eine Entdeckung aufleuchten.

«Warum solltest du keine Inspirationen mehr haben?», sagte ich.

«Weil man in meinem Alter geistige Gewohnheiten entwickelt, die sich hemmend auf die Erfindungsgabe auswirken. Und ich spüre, wie ich von Jahr zu Jahr unwissender werde.»

«Darüber lass uns in zehn Jahren reden. Es kann leicht sein, dass du deine bedeutendste Entdeckung mit siebzig machst.»

«Bestimmt nicht. So optimistisch kannst auch nur du sein.»

«Und nur du kannst so pessimistisch sein.»

Wir lachten. Dabei ist das überhaupt nicht lächerlich. Andrés Misstrauen gegen sich selbst entbehrt jeder Grundlage; in diesem Fall fehlt ihm das kritische Urteilsvermögen. Gewiss, Freud hat in einem seiner Briefe geschrieben, von einem gewissen Alter an vermöge man nichts mehr zu erfinden, und das sei betrüblich. Aber Freud war damals viel älter, als André es heute ist. Diese resignierte Haltung ist also ganz ungerechtfertigt, doch sie macht mir deswegen nicht weniger Kummer. Ich sehe in ihr das Zeichen einer allgemeinen Krise, in der sich André befindet. Merkwürdigerweise bedrückt es ihn sehr, dass er die sechzig überschritten hat. Ich bin noch unternehmungslustig; er nicht. Früher interessierte er sich für alles; jetzt muss ich schon mit Engelszungen reden, damit er mich ins Kino, zu einer Ausstellung oder zu Freunden begleitet.

«Wie schade, dass du nichts mehr für Ausflüge übrig hast», sagte ich. «Gerade jetzt ist das Wetter so schön. Vorhin dachte ich noch, wie herrlich es wäre, wieder einmal nach Milly zu fahren und im Wald von Fontainebleau spazieren zu gehen.»

«Über dich kann man nur staunen», erwiderte er lächelnd. «Du kennst ganz Europa, und wohin zieht es dich? In die Umgebung von Paris!»

«Warum nicht? Die Stiftskirche von Champeaux ist doch nicht weniger schön, weil ich die Akropolis gesehen habe.»

«Nun gut, sobald das Labor schließt, also in vier, fünf Tagen, werden wir uns in den Wagen setzen und einen ganzen Tag durch die Gegend fahren.»

Wir könnten mehr als einen Ausflug machen, denn wir bleiben ja noch bis Anfang August in Paris. Aber wird er Lust dazu haben?

«Morgen ist Sonntag», sagte ich. «Hast du da keine Zeit?»

«Leider nein. Du weißt ja, abends ist diese Pressekonferenz über die Apartheid, und man hat mir entsetzlich viele Dokumente geschickt, die ich vorher noch durchsehen muss.»

Spanische politische Gefangene, portugiesische Häftlinge, verfolgte Iraner, kongolesische, angolanische, kamerunische Rebellen, venezolanische, peruanische, kolumbianische Widerstandskämpfer – André ist stets bereit, ihnen nach Kräften zu helfen, und dafür lässt er alles über sich ergehen: Versammlungen, Aufrufe, Flugblätter, Massenkundgebungen und Delegationen.

«Du übernimmst dich. Das ist doch zu viel.»

«Wieso zu viel? Was soll ich denn sonst tun?»

Ja, was soll man tun, wenn die Welt ihren Glanz verloren hat? Da bleibt einem nichts anderes übrig, als die Zeit totzuschlagen. Auch ich bin vor zehn Jahren durch eine depressive Periode hindurchgegangen. Mein Körper ekelte mich an. Philippe war zu einem jungen Mann herangewachsen, und nach dem Erfolg meines Buches über Rousseau fühlte ich mich wie ausgehöhlt. Ich hatte Angst vor dem Altwerden. Dann aber begann ich mit einem Essay über Montesquieu, Philippe erwarb die agrégation, und ich konnte ihn überreden, eine Dissertation in Angriff zu nehmen. Man übertrug mir Kurse an der Sorbonne, die für mich noch interessanter waren als der Schulunterricht. Mit der Zeit fand ich mich auch mit meinem Körper ab. Mir war, als sei ich zu neuem Leben erwacht. Und heute würde ich mit Leichtigkeit mein Alter vergessen, wenn sich André des seinen nicht so überaus bewusst wäre.

Nach dem Essen ging André wieder ins Labor, und ich blieb noch eine Weile auf dem Balkon stehen. Ich beobachtete, wie sich vor dem blauen Hintergrund des Himmels ein mennigroter Kran langsam drehte. Dann folgte mein Blick einem schwarzen Insekt, das in den Azur eine breite Furche zog, die mich an gefrorenen Schaum erinnerte. Die ewige, sich ständig erneuernde Jugend der Welt hält mich in Atem. Dinge, die ich geliebt habe, sind verschwunden. Viele andere wurden mir geschenkt. Gestern Abend ging ich den Boulevard Raspail entlang, der Himmel war purpurrot, und ich hatte das Gefühl, auf einem fremden Planeten zu sein, wo das Gras violett ist und der Boden blau. Durch das Laub der Bäume schimmerte eine rötliche Lichtreklame. Der sechzigjährige Andersen entdeckte verwundert, dass es möglich war, Schweden in weniger als vierundzwanzig Stunden zu durchqueren – in seiner Jugend hatte die Reise eine Woche gedauert. Ich habe mit fassungslosem Staunen etwas Ähnliches erlebt: Paris–Moskau in dreieinhalb Stunden!

Ein Taxi brachte mich zum Park Montsouris, wo ich mit Martine verabredet war. Als ich den Garten betrat, schlug mir der Duft frisch gemähten Grases entgegen und weckte Erinnerungen: die Almwanderungen, die André und ich mit umgehängtem Rucksack unternommen haben und die mir wiederum all die Wiesen meiner Kindheit ins Gedächtnis zurückriefen, denen der gleiche erregende Geruch entströmte. Spieglungen, Echos, bis ins Unendliche vervielfältigt: Mir wurde bewusst, wie herrlich es ist, eine lange Vergangenheit hinter sich zu haben. Ich kann mir nicht alles im Einzelnen vorerzählen – dazu würde die Zeit nicht ausreichen –, aber ich erlebe oft, dass die Vergangenheit unversehens durch das gegenwärtige Geschehen hindurchschimmert, ihm Glanz und Farbe verleiht, so wie die Spiegelbilder von Klippen und Sandstrand das Wasser des Meeres zum Schillern bringen. Früher schwelgte ich in Plänen, wiegte mich in Hoffnungen; jetzt dämpft der Schatten vergangener Tage meine Gemütserregungen, meine Freuden.

«Guten Tag.»

Martine saß auf der Terrasse des Gartencafés und trank Zitronenlimonade. Dichtes schwarzes Haar, blaue Augen, ein kurzes, gelb und orange gestreiftes Kleid mit einem Hauch Lila dazwischen: eine schöne junge Frau. Vierzig Jahre. Ich weiß noch, wie ich als Dreißigjährige lächelte, weil Andrés Vater eine Vierzigerin als «schöne junge Frau» bezeichnete. Nun hatte ich dieselben Worte auf Martine angewandt. Sie sah mich strahlend an.

«Haben Sie mir Ihr Buch mitgebracht?», fragte sie.

«Ja, hier ist es.»

Sie blickte auf die Widmung. «Oh, vielen Dank», sagte sie gerührt und fügte hinzu: «Ich wollte, ich könnte es sofort lesen. Aber so kurz vor den Ferien weiß man ja nicht, wo einem der Kopf steht. Ich muss wohl oder übel bis zum 14. Juli warten.»

«Ich möchte gern Ihre Meinung hören.»

Auf Martines Urteil gebe ich sehr viel; mit anderen Worten, wir stimmen fast immer überein. Ich würde sie ganz und gar als Gleichgestellte betrachten, wenn sie mir nicht noch immer ein wenig von der Ehrerbietung bezeigte, die eine Schülerin ihrer Lehrerin entgegenbringt. Dabei ist sie jetzt ebenfalls Lehrerin, verheiratet und glückliche Mutter.

«Heutzutage ist es schwierig, Literaturunterricht zu geben. Ohne Ihre Bücher wäre ich verraten und verkauft.» Dann, zaghaft: «Sind Sie mit diesem hier zufrieden?»

Ich sah sie lächelnd an. «Ehrlich gesagt, ja.»

In ihren Augen stand eine Frage, die sie nicht auszusprechen wagte. Ich kam ihr zuvor. Martines Schweigen ermuntert mich eher zum Reden, als unüberlegte Fragen es tun könnten.

«Sie wissen ja, was ich mir vorgenommen hatte: Ausgehend von einer Betrachtung der seit dem Krieg erschienenen kritischen Werke, wollte ich eine neue Methode entwickeln, die es ermöglicht, tiefer als je zuvor in das Werk eines Autors einzudringen, es exakter zu erforschen. Ich hoffe, das ist mir gelungen.»

Es war mehr als eine Hoffnung: eine Überzeugung, die mein Herz mit Freude erfüllte. Wie schön war dieser Tag, wie liebte ich diese Bäume, diese Rasenflächen, diese Alleen, in denen ich so oft mit Studienkameraden und Freunden spazieren gegangen war. Manche von ihnen sind tot, andere haben sich mir entfremdet. Aber im Gegensatz zu André, der mit niemandem mehr zusammenkommt, habe ich noch Verbindung zu früheren Schülerinnen und jungen Kolleginnen; mit ihnen verkehre ich lieber als mit Frauen meines Alters. Ihre Wissbegierde stachelt die meine an; sie nehmen mich mit in ihre Zukunft, die jenseits meines Grabes liegt.

Martine strich mit der flachen Hand liebevoll über das Buch. «Ach was, hineinschauen werde ich heute Abend auf jeden Fall. Hat es schon jemand gelesen?»

«Nur André. Aber für Literatur bringt er ja nicht viel Begeisterung auf.»

Er kann sich für gar nichts mehr begeistern. Und er betrachtet meine Arbeit ebenso pessimistisch wie die seine. Wenn er es mir auch nicht sagt, so ist er im Grunde doch überzeugt, dass ich nichts Bedeutendes mehr schreiben werde. Mich stört das nicht, denn ich weiß, dass er sich irrt. Dieses letzte Buch ist mein bisher bestes, und der zweite Band wird noch besser werden.

«Und Ihr Sohn?»

«Ich habe ihm einen Fahnensatz geschickt. Er kommt heute Abend zurück, und dann wird er mir sagen, wie ihm das Buch gefällt.»

Wir sprachen noch eine Weile von Philippe, von seiner Dissertation, über Literatur. Auch Martine liebt die Worte und die Menschen, die sich ihrer zu bedienen wissen. Es ist nur schade, dass ihr Beruf und der Haushalt sie förmlich auffressen. Sie brachte mich in ihrem kleinen Austin nach Hause.

«Wann werden Sie wieder einmal nach Paris kommen?», erkundigte ich mich.

«Nicht so bald. Ich will von Nancy aus gleich ins Departement Yonne fahren, um mich gründlich auszuruhen.»

«Werden Sie in den Ferien auch ein bisschen arbeiten?»

«Ich möchte schon. Aber es ist immer dasselbe: Die Zeit reicht nicht aus. Ja, wenn ich Ihre Energie hätte …»

Mit Energie hat das gar nichts zu tun, dachte ich beim Aussteigen. Ich könnte einfach nicht leben, ohne zu schreiben. Warum ist das so? Und warum habe ich alles darangesetzt, aus Philippe einen Intellektuellen zu machen, während André ihn widerspruchslos irgendeinen anderen Weg hätte einschlagen lassen? In meiner Kindheit, in meiner Jugend haben mich die Bücher davor bewahrt, zu verzweifeln; auf diese Weise bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Kultur den höchsten aller Werte darstellt, und von diesem Glauben kann mich nichts abbringen.

In der Küche war Marie-Jeanne eifrig dabei, das Abendessen zu bereiten; natürlich sollte es nur Gerichte geben, die Philippe gern isst. Ich vergewisserte mich, dass alles glattging; dann las ich die Zeitungen und löste ein schwieriges Kreuzworträtsel, für das ich eine Dreiviertelstunde benötigte. Manchmal macht es mir Spaß, über so einem Karomuster zu brüten, in dem jedes gesuchte Wort virtuell schon vorhanden, fürs Erste aber noch unsichtbar ist. Um eines nach dem anderen erscheinen zu lassen, benutze ich mein Gehirn wie einen Entwickler; es ist, als präparierte ich sie aus dem Papier heraus.

Nachdem auch das letzte Kästchen ausgefüllt war, nahm ich mein hübschestes Kleid aus dem Schrank: grauer und rosafarbener Foulard. Mit fünfzig Jahren fand ich meine Sachen immer zu trübselig oder zu auffallend; inzwischen weiß ich, was ich tragen darf und was nicht. Das Auswählen ist für mich kein Problem mehr. Allerdings auch kein Vergnügen. Die enge, fast zärtliche Beziehung, die ich früher zu meinen Kleidern hatte, gibt es nicht mehr. Trotzdem habe ich es mir nicht versagen können, mit Befriedigung meine Figur zu betrachten. Seit Philippe eines Tages bemerkte: «Hör mal, du wirst aber ganz schön rundlich», habe ich streng Diät gehalten, und ich überprüfe mein Gewicht regelmäßig auf einer Waage, die ich eigens für diesen Zweck gekauft habe. (Philippe scheint übrigens gar nicht bemerkt zu haben, dass ich wieder schlank geworden bin.) Nie hätte ich gedacht, dass ich mich einmal für mein Gewicht interessieren würde. Und jetzt … Je weniger ich mich in meinem Körper wiedererkenne, desto mehr fühle ich mich verpflichtet, ihn mit Sorgfalt zu behandeln. Ich bin für ihn verantwortlich, und ich pflege ihn hingebungsvoll, aber ein wenig verdrossen, als wäre er ein alter, schwächlicher und etwas heruntergekommener Freund, der auf mich angewiesen ist.

André brachte eine Flasche Mumm mit, die ich kalt stellte. Wir plauderten ein Weilchen, dann ging er zum Telefon, um seine Mutter anzurufen. Das tut er oft. Sie ist noch sehr rüstig und eine eifrige Kämpferin in den Reihen der Kommunistischen Partei, aber sie zählt immerhin vierundachtzig Jahre, und da sie ganz allein in ihrem Haus in Villeneuvelès-Avignon lebt, ist André ein bisschen besorgt um sie. Ich hörte ihn am Telefon lachen, lebhaft sprechen, protestieren, doch er verstummte rasch: Manette redet wie ein Wasserfall, sobald sich Gelegenheit dazu bietet.

«Na, was hat sie dir alles erzählt?»

«Sie ist fester denn je überzeugt, dass fünfzig Millionen Chinesen demnächst in die Sowjetunion einfallen werden. Oder dass sie irgendwo eine Bombe zur Explosion bringen, nur um des Vergnügens willen, einen Dritten Weltkrieg zu entfesseln. Und von mir behauptet sie, ich sei ein Anhänger der Chinesen. Ich hab’s nicht geschafft, ihr das auszureden.»

«Wie geht es ihr denn? Langweilt sie sich auch nicht?»

«Sie freut sich auf unseren Besuch, aber Langeweile – das Wort kennt sie nicht.»

Manette ist Lehrerin gewesen und hat drei eigene Kinder großgezogen. Für sie bedeutet der Ruhestand ein Glück, das sie noch immer nicht ausgeschöpft hat. Wir haben von ihr gesprochen und von den Chinesen, über die wir genauso wenig wissen wie alle anderen Leute auch. Dann hat André nach einer Zeitschrift gegriffen. Und ich kann den Blick nicht von meiner Armbanduhr wenden, deren Zeiger scheinbar erstarrt sind.

 

Unversehens war er da. Ich bin jedes Mal von neuem überrascht, wenn ich feststelle, dass die einander so unähnlichen Züge meiner Mutter und Andrés auf seinem Gesicht harmonisch zu einer Einheit verschmolzen sind. Er nahm mich fest in den Arm, und während er ein paar fröhliche Begrüßungsworte sagte, fühlte ich den weichen Stoff seines Jacketts wie eine Liebkosung an meiner Haut. Dann machte ich mich los, um Irène zu umarmen; sie lächelte so eiskalt, dass ich erstaunt war, als meine Lippen eine warme, samtige Wange berührten. Irène – immer vergesse ich sie; immer ist sie da. Blond, blaugraue Augen, weichlicher Mund, spitzes Kinn und eine zu breite Stirn, die ihrem Gesicht einen unentschlossenen und zugleich trotzigen Ausdruck verleiht. Aber schon im nächsten Moment hatte ich sie aus meinem Gedächtnis verbannt und war mit Philippe allein. Wie damals, als ich ihn noch jeden Morgen mit einem Kuss auf die Stirn weckte.

«Nehmen Sie wirklich keinen Whisky? Nicht wenigstens ein Tröpfchen?», hörte ich André fragen.

«Nein, danke. Ich möchte lieber ein Glas Orangensaft.»

Wie vernünftig sie ist! Mit welcher vernünftigen Eleganz sie sich kleidet und frisiert: ein sachliches Schneiderkostüm, ein unauffälliges Make-up, eine glatte Ponyfrisur, die ihre große Stirn kaschiert. Es passiert mir oft, dass ich in irgendeiner Frauenzeitschrift blättere und plötzlich denke: Ach, das ist ja Irène. Es kommt aber auch vor, dass ich sie nicht gleich erkenne, wenn ich sie unversehens treffe. «Sie ist bildhübsch», behauptet André. An manchen Tagen gebe ich ihm recht und bewundere ihre zierlichen Ohren, die zarten Nasenflügel, die makellose Haut, deren Perlmuttschimmer durch die dunklen Wimpern noch hervorgehoben wird. Aber sobald sie den Kopf bewegt, scheinen ihre Gesichtszüge zu verrutschen: Man nimmt nur noch diesen Mund, dieses Kinn wahr. Irène – warum gerade sie? Warum hat Philippe stets den eleganten, distanzierten, snobistischen Typ bevorzugt? Zweifellos wollte er sich beweisen, dass er imstande war, auch solche Frauen zu erobern. Sein Herz war dabei nicht im Spiel. Ich dachte, wenn es ihm einmal ernst wäre … Und ich dachte, damit hätte es wohl noch gute Zeit. Dann sagte er eines Abends: «Ich habe eine große Neuigkeit für dich», sagte es mit der Miene eines etwas überreizten Kindes, das an einem Feiertag zu viel umhergetollt ist, zu viel gespielt und gelacht hat. In meiner Brust ertönte jener bewusste Gongschlag, ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, und musste alle Kraft aufbieten, um das Zittern meiner Lippen zu unterdrücken. Ein Winterabend, die Vorhänge waren zugezogen, das Lampenlicht fiel auf die Regenbogenfarben der Kissen, und plötzlich klaffte da dieser trennende Abgrund. «Irène wird dir gefallen, sie ist eine berufstätige Frau.» Berufstätig? Nun ja, sie arbeitet von Zeit zu Zeit als Skriptgirl. Ich kenne diese jungen Frauen von heute: Sie haben einen Beruf, der eigentlich keiner ist, sie geben sich gebildet, treiben Sport, kleiden sich gut, führen ein mustergültiges Familienleben, erziehen die Kinder, wie es sich gehört, pflegen gesellschaftlichen Verkehr, kurzum, sie sind in allen Sätteln gerecht. Und im Grunde geht ihnen nichts unter die Haut. Mich überläuft es kalt, wenn ich sie sehe.

Philippe und Irène waren Anfang Juni, als die Universitätsferien begannen, nach Sardinien gefahren. Während wir aßen (an demselben Tisch, an dem ich so oft mit Philippe gesessen und ihm zugeredet habe: «Komm, iss deine Suppe auf; nimm doch noch ein bisschen Fleisch; trink etwas, bevor du zur Vorlesung gehst»), erzählten die beiden von dieser Reise, die ihnen Irènes Eltern großzügigerweise zur Hochzeit geschenkt hatten – nun ja, sie können es sich leisten. Irène war schweigsam wie eine intelligente Frau, die auf den geeigneten Augenblick wartet, um eine geistreiche und überraschende Bemerkung anzubringen; sie gab auch tatsächlich von Zeit zu Zeit einen Satz von sich, der aber – jedenfalls meiner Meinung nach – durch nichts überraschte als durch seine Dummheit oder seine Banalität.

Nach dem Essen kehrten wir in die Bibliothek zurück. Philippe warf einen Blick auf den Schreibtisch.

«Wie sieht es denn mit deiner Arbeit aus?»

«Ganz gut. Du hast die Fahnenabzüge wohl nicht gelesen?»

«Stell dir vor, ich bin nicht dazu gekommen. Tut mir sehr leid.»

«Ach, dann liest du eben das Buch. Ich habe ein Exemplar für dich.» Seine Gleichgültigkeit betrübte mich ein wenig, aber ich ließ mir nichts anmerken. «Und du», fragte ich, «wirst du jetzt ernstlich darangehen, deine Dissertation zu schreiben?»

Er antwortete nicht. Der Blick, den er mit Irène wechselte, kam mir irgendwie sonderbar vor.

«Was ist denn? Wollt ihr etwa noch mal verreisen?»

«Nein.» Er schwieg eine Weile und sagte dann in leicht gereiztem Ton: «Mama, du wirst wütend auf mich sein, und bestimmt macht ihr mir Vorwürfe, aber ich habe auf der Reise einen Entschluss gefasst. Als Assistent arbeiten und gleichzeitig eine Dissertation schreiben – das ist einfach nicht zu schaffen. Andererseits habe ich an der Universität keine Aufstiegsmöglichkeiten, wenn ich nicht promoviere. Ich werde also umsatteln.»

«Was redest du da?»

«Ich will nicht an der Universität bleiben. Zum Glück bin ich noch jung genug, etwas Neues anzufangen.»

«Aber das ist doch nicht möglich», rief ich entrüstet. «Jetzt, so kurz vor dem Ziel, willst du aufgeben?»

«Du musst mich verstehen, Mama. Früher war der Lehrberuf eine sehr schöne Sache. Inzwischen aber hat sich manches geändert. Ich bin keineswegs der Einzige, dem es nicht gelingt, sich in ausreichendem Maße um seine Studenten zu kümmern und gleichzeitig für sich selbst zu arbeiten. Bei dem Andrang, der an den Universitäten herrscht …»

«Das ist richtig», meinte André. «Dreißig Schüler, das ist dreißigmal einer. Fünfzig sind ein lärmender Haufen. Aber es wird sich gewiss eine Lösung finden lassen, die dir gestattet, mehr Zeit für dich zu erübrigen, damit du deine Dissertation beenden kannst.»

«Nein», sagte Irène in schneidendem Ton. «Der Lehrberuf und die wissenschaftliche Forschung werden viel zu schlecht bezahlt. Ich habe einen Vetter, der als Chemiker in einem Institut achthundert Francs im Monat verdiente. Er ist dann in die Industrie gegangen – eine Farbenfabrik –, und da bekommt er dreitausend.»

«Es ist nicht nur eine Frage des Geldes», warf Philippe ein.

«Natürlich nicht. Man muss alle Umstände sehr genau in Betracht ziehen.»

In vorsichtig formulierten Sätzen ließ sie durchblicken, was sie von uns hielt. Oh, sie machte es sehr taktvoll – mit jenem Takt, der zu dick aufgetragen ist, als dass er von Herzen kommen könnte. (Ich möchte um Himmels willen niemanden kränken, bitte, tragen Sie mir nichts nach, das wäre ungerecht; aber es gibt Einiges, was ich Ihnen unbedingt sagen muss, und wenn ich mich nicht zu beherrschen wüsste, würde ich noch viel mehr sagen.) Wir erfuhren also Folgendes: André ist zweifellos ein großer Gelehrter, und was mich betrifft, so habe ich es für eine Frau recht weit gebracht. Aber wir leben von der Welt abgeschnitten, vergraben in Laboratorien und Bibliotheken, während die Intellektuellen der jungen Generation den direkten Kontakt mit der Gesellschaft erstreben. Dynamisch, wie Philippe nun einmal ist, wäre unsere Lebensweise für ihn ein Ding der Unmöglichkeit; es gibt andere Berufe, in denen er viel besser zeigen kann, was in ihm steckt.

«Eine Dissertation – so etwas ist heutzutage doch überholt», schloss Irène.

Warum sagt sie manchmal derartige Ungeheuerlichkeiten? So dumm ist sie nämlich gar nicht. Sie ist da, sie zählt mit, sie hat den Sieg zunichte gemacht, den ich mit Philippe, gegen ihn, für ihn errungen hatte. Der Kampf war lang und für mich oft sehr schwer. «Ich werde mit diesem Aufsatz nicht fertig, ich habe Kopfschmerzen, schreib mir einen Entschuldigungszettel.» – «Nein.» Das weiche Jungengesicht verkrampfte sich, wirkte plötzlich alt, die grünen Augen funkelten mich wütend an. «Nie willst du mir einen Gefallen tun.» André suchte zu vermitteln. «Ausnahmsweise …» – «Nein.» Wie verzweifelt war ich in jenen Osterferien, die wir in Holland verbrachten, aber ohne Philippe. «Du brauchst die Zeit für deine Abschlussarbeit. So etwas kann man nicht in aller Eile zusammenschreiben.» Ich höre ihn noch voller Hass schreien: «Na schön, dann bleibe ich eben hier. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass ich auch nur einen Strich mache.» Später dann seine Erfolge, unsere Verbundenheit. Und jetzt hat sich Irène zwischen uns gestellt. Sie nimmt ihn mir ein zweites Mal weg.

Da ich in ihrer Gegenwart nicht heftig werden wollte, zwang ich mich, Philippe in ruhigem Ton zu fragen: «Wie sehen denn deine Pläne aus?»

Irène wollte antworten, aber er schnitt ihr das Wort ab. «Mein Schwiegervater sagt, er hätte für mich Verschiedenes in Aussicht.»

«Auf welchem Gebiet? Kaufmännisch?»

«Das weiß ich noch nicht.»

«Anscheinend hast du vor eurer Reise mit ihm gesprochen. Hättest du uns nicht auch um Rat fragen können?»

«Ich wollte erst mit mir ins Reine kommen.»

Nur mühsam konnte ich meine Wut unterdrücken. Unbegreiflich, dass Philippe mich nicht ins Vertrauen gezogen hatte, sobald der Gedanke, die Universität zu verlassen, in seinem Kopf aufgetaucht war!

«Mein Entschluss passt euch natürlich nicht», sagte Philippe aggressiv. Das Grün seiner Augen nahm jene Gewitterfärbung an, die ich so gut kenne.

«Ich habe nichts dagegen», erwiderte André. «Man soll niemand hindern, das zu tun, was er tun möchte.»

«Und du, Mama? Nimmst du es mir übel?»

«Ich wundere mich nur. Geldverdienen ist doch nun wirklich kein erhabenes Ziel.»

«Ich sagte ja schon, dass es mir gar nicht so sehr um das Geld geht.»

«Um was denn sonst? Drück dich deutlich aus.»

«Das kann ich jetzt noch nicht, denn es wird von den Vorschlägen meines Schwiegervaters abhängen. Aber ich werde nur zustimmen, wenn etwas mich ernstlich interessiert.»

Ich debattierte noch eine Weile mit ihm, bemühte mich, so ruhig wie möglich zu sprechen, versuchte ihn von der Wichtigkeit seiner Dissertation zu überzeugen, erinnerte ihn an die Essays und Abhandlungen, die zu schreiben er sich vorgenommen hatte. Er antwortete mir sehr höflich, aber meine Worte machten keinen Eindruck auf ihn. Nein, er gehörte mir nicht mehr. Sogar sein Äußeres hatte sich verändert: ein anderer Haarschnitt, Kleidung nach der neuesten Mode, ganz im Stil des distinguierten XVI. Arrondissements. Ich war es, die seinem Leben die Form gegeben hat. Jetzt stehe ich außerhalb, darf nur von weitem zuschauen. Ich weiß, das ist das Los aller Mütter, aber wen tröstet schon der Gedanke, dass es auch anderen so ergeht?

André begleitete die beiden zum Fahrstuhl. Ich ließ mich auf die Couch fallen. Wieder diese Leere … Das Wohlbehagen, das mich tagsüber erfüllt hatte, war nur der Gewissheit entsprungen, Philippe für ein paar Stunden bei mir zu haben. Ich hatte mich auf ihn gefreut, als käme er zurück, um nie mehr fortzugehen. Er wird immer wieder fortgehen, dachte ich nun. Und der Bruch zwischen uns lässt sich wohl kaum noch kitten. Ich werde nicht mehr an seiner Arbeit teilhaben, unsere Interessen werden nicht mehr die gleichen sein. Bedeutet ihm das Geld wirklich so viel? Oder hat er sich nur von Irène beeinflussen lassen? Liebt er sie so sehr? Man müsste über ihre gemeinsamen Nächte Bescheid wissen. Sicherlich vermag sie sowohl seinen Körper als auch seinen Ehrgeiz zu befriedigen; so kühl sie nach außen hin wirkt, halte ich sie doch leidenschaftlicher Ausbrüche für fähig. Ich unterschätze immer das Glück, das die körperliche Bindung einem Ehepaar schenkt. Für mich ist das Sexuelle bedeutungslos geworden, es existiert nicht mehr. Bisher habe ich diese Gleichgültigkeit als heitere Ruhe bezeichnet; nun aber ist mir plötzlich klargeworden, dass es sich um ein Gebrechen handelt, um den Verlust eines Sinnes: Ich bin blind für die Bedürfnisse, die Schmerzen, die Freuden derer, die diesen Sinn besitzen. Mir ist, als wüsste ich nichts mehr von Philippe. Nur eines ist sicher: Er wird mir sehr fehlen. Vielleicht ist es ihm zu verdanken, dass ich mich so einigermaßen mit meinem Alter abgefunden habe. Er übertrug seine Jugend auf mich. Er fuhr mit mir zum Vierundzwanzig-Stunden-Rennen nach Le Mans, er nahm mich zu Pop-Art-Ausstellungen mit, eines Abends sogar zu einem Happening. Mit seinem Ideenreichtum, seiner Munterkeit brachte er Leben in unser Haus. Werde ich mich an die Stille gewöhnen können, an den ruhigen, durch keine unvorhergesehenen Ereignisse gestörten Verlauf der Tage?

«Warum hast du mir nicht geholfen, Philippe zur Vernunft zu bringen?», fragte ich André, als er hereinkam. «Du hast sofort nachgegeben. Gemeinsam hätten wir ihn vielleicht überzeugen können.»

«Man soll den Leuten nicht in ihre Entscheidungen hineinreden. Philippe war niemals auf eine Universitätslaufbahn versessen.»

«Aber seine Dissertation interessierte ihn.»

«Bis zu einem gewissen Punkt – oder sagen wir lieber, bis zu einem recht ungewissen Punkt. Ich verstehe den Jungen.»

«Du verstehst alle und jeden.»

Früher war André gegen seine Mitmenschen ebenso unnachgiebig wie gegen sich selbst. Seine politische Überzeugung vertritt er auch jetzt noch mit allem Nachdruck, im Privatleben aber beschränkt sich die Unduldsamkeit auf seine Person; das Verhalten der anderen nimmt er hin, entschuldigt und erklärt es sogar. Mitunter reizt mich das so sehr, dass ich vor Wut rasen möchte.

«Findest du, dass Geldverdienen ein ausreichendes Lebensziel ist?», fragte ich nun auch ihn.

«Darauf könnte ich nur antworten, wenn ich genau wüsste, welche Ziele wir hatten und ob sie ausreichten.»

War es ihm wirklich ernst mit dem, was er sagte, oder machte er sich ein Vergnügen daraus, mich zu provozieren? Das kommt hin und wieder vor, wenn er meine Überzeugungen und Prinzipien zu einseitig findet. Im Allgemeinen lasse ich mich auch ganz gern von ihm necken und gehe auf seinen Ton ein. Diesmal aber war ich nicht in der Stimmung, zu scherzen. Meine Stimme wurde schrill vor Zorn.

«Warum haben wir so gelebt, wie wir es getan haben, wenn du der Meinung bist, man könnte ebenso gut anders leben?»

«Weil wir es nicht gekonnt hätten.»

«Und wir hätten es nicht gekonnt, weil wir unsere Lebensform für die beste hielten.»

«Nein. Für mich war Forschen und Entdecken von jeher eine Leidenschaft, eine Manie, vielleicht sogar eine Art Neurose. Ich ließ mich dabei durch keinerlei moralische Erwägungen leiten und war auch nie der Meinung, alle anderen müssten meinem Beispiel folgen.»

Insgeheim finde ich, dass alle anderen unserem Beispiel folgen müssten, aber ich wollte darüber keine Diskussion anfangen.

«Hier geht es nicht um ‹alle anderen›», sagte ich, «sondern um Philippe. Ich habe mich so sehr um seine geistige Bildung bemüht, und wozu? Damit er ein Kaufmann wird?»

«Eigentlich ist es recht lästig für einen jungen Mann, wenn er allzu erfolgreiche Eltern hat», meinte André nachdenklich. «Er bildet sich ein, dass er es ihnen auf ihrem Gebiet nicht gleichtun kann, und zieht es deshalb vor, sein Glück anderswo zu suchen.»

«Aber Philippe hat sich doch recht gut angelassen.»

«Ja, weil du ihm geholfen hast. Er arbeitete sozusagen in deinem Schatten. Ehrlich gesagt, ohne deine Hilfe wäre er wohl nicht weit gekommen, und er ist selbstkritisch genug, das einzusehen.»

Im Hinblick auf Philippe hat zwischen uns schon immer ein heimlicher Antagonismus bestanden. Vielleicht fühlte sich André enttäuscht, als Philippe erklärte, er wolle kein Naturwissenschaftler werden, sondern Literatur studieren. Auch der klassische Vater-Sohn-Konflikt mag dabei mitgespielt haben. Jedenfalls hat er Philippe stets für einen mittelmäßig begabten Jungen gehalten und ihn auf diese Weise in die Bahnen des Mittelmaßes gelenkt.

«Ich weiß», sagte ich, «du hast nie Vertrauen zu ihm gehabt. Und wenn er an sich zweifelt, dann nur weil er sich mit deinen Augen sieht.»

«Das kann sein», gab André zu.

«Nun, ob so oder so, verantwortlich für diese Geschichte ist vor allem Irène. Sie ist es, die ihn antreibt. Teils, weil sie einen gut verdienenden Mann haben will, und teils, weil sie ihn mir unbedingt entfremden möchte.»

«Ach was, aus dir spricht die eifersüchtige Schwiegermutter. Glaub mir, Irène ist ebenso viel wert wie eine andere.»

«Welche andere? Denk doch an die Ungeheuerlichkeiten, die sie sagt.»

«Ja, das passiert ihr. Aber manchmal ist sie auch absichtlich boshaft. Das deutet eher auf ein gestörtes affektives Gleichgewicht hin als auf einen Mangel an Intelligenz. Andererseits – wenn es ihr um das Geld ginge, hätte sie wohl kaum Philippe geheiratet, der ganz und gar nicht reich ist.»

«Sie hat begriffen, dass er es werden könnte.»

«Jedenfalls hat sie lieber ihn genommen als irgendeinen kleinen Snob.»

«Umso besser für dich, wenn sie dir gefällt.»

«Da wir Philippe lieben, sollten wir wohl auch den Menschen, an denen er hängt, etwas abgewinnen.»

«Das stimmt», sagte ich. «Aber bei Irène will es mir einfach nicht gelingen.»

«Du musst berücksichtigen, aus welchem Milieu sie kommt.»

«Ja, das Unglück ist nur, dass sie aus dem Milieu nicht herauskommt.»

Diese feisten, von Geld strotzenden Bourgeois, die über so viel Einfluss und so viel Macht verfügen, sind für mein Gefühl noch widerlicher als die frivole, mondäne Gesellschaftsschicht, gegen die wir in unserer Jugend rebellierten.

André und ich schwiegen eine Zeitlang. Draußen vor dem Fenster wechselte die Neonreklame von Rot zu Grün, die vielen Augen in der hohen Hausmauer leuchteten. Eine schöne Nacht. Mit Philippe hätte ich jetzt hinuntergehen können, um auf irgendeiner Caféterrasse ein letztes Glas zu trinken … Es war sinnlos, André einen kleinen Abendspaziergang vorzuschlagen, denn ich sah ihm an, wie müde er war.

«Ich möchte nur wissen, warum Philippe sie geheiratet hat», sagte ich schließlich.

«Ach, das sind Dinge, die ein Außenstehender nie begreift», antwortete er mit gleichgültiger Miene. Seine Gesichtszüge waren erschlafft, und er presste den Zeigefinger in Höhe des Zahnfleisches gegen die Wange – eine Angewohnheit, die er seit einiger Zeit hatte.

«Hast du Schmerzen?»

«Nein, warum?»

«Weil du immerzu dein Zahnfleisch betastest.»

«Ich vergewissere mich nur, dass es nicht druckempfindlich ist.»

Im vorigen Jahr hat er sich alle zehn Minuten den Puls gefühlt, nur weil sein Blutdruck etwas zu hoch war. (Durch ärztliche Behandlung wurde das bald in Ordnung gebracht.) Ich beobachtete, wie er dasaß, den Finger auf die Wange drückte und mit leerem Blick vor sich hinstarrte. Er spielte den Greis, und irgendwann würde er mich überzeugen, dass er tatsächlich vergreist war. Ja, eine Sekunde lang dachte ich voller Entsetzen: Philippe ist fort, und ich muss mein Leben an der Seite eines Greises beschließen. Ich war nahe daran, ihm zuzurufen: «Lass das! Ich kann es nicht ertragen.» Als hätte er mich gehört, blickte er lächelnd auf, war plötzlich wieder sein altes Selbst, und wir erhoben uns, um schlafen zu gehen.

Er schläft noch immer; gleich muss ich ihn wecken, und dann werden wir sehr starken, sehr heißen chinesischen Tee trinken. Aber dieser Morgen ähnelt dem gestrigen nicht. Ich muss mich von neuem mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich Philippe verloren habe. Ich hätte es wissen müssen. Er hat mich in dem Augenblick verlassen, als er mir seine Heirat ankündigte; eigentlich hat er mich schon hei seiner Geburt verlassen: Eine Amme hätte mich ohne weiteres ersetzen können. Wie anmaßend bin ich gewesen! Weil er anspruchsvoll war, glaubte ich, unentbehrlich zu sein. Weil er sich leicht beeinflussen ließ, glaubte ich, ihn nach meinem Bilde geschaffen zu haben. Wenn ich ihn in diesem Jahr mit Irène oder im Kreise ihrer Familie sah und er sich so ganz anders gab als bei mir, dann kam mir das wie Mimikry vor: Den wahren Philippe kannte nur ich. Er aber zog es vor, sich von mir zu entfernen, unser Bündnis zu zerstören, sich gegen das Leben zu sträuben, das ich ihm mit so viel Mühe aufgebaut hatte. Von nun an wird er ein Fremder sein.

Halt! Bin ich, die so oft von André des blinden Optimismus beschuldigt wird, vielleicht im Begriff, mich grundlos zu quälen? Ich stehe ja gar nicht auf dem Standpunkt, dass es außerhalb der Universität keinen vernünftigen Beruf geben könne oder dass die Promotion für einen gebildeten Menschen unerlässlich sei. Außerdem hat Philippe gesagt, er würde nur auf Vorschläge eingehen, die ihn wirklich interessieren … Aber ich misstraue den Stellungen, die ihm sein Schwiegervater vermitteln kann. Ich misstraue auch Philippe. Ich habe oft erlebt, dass er mir etwas verheimlichte oder mich belog, ich kenne seine Fehler, ich habe mich mit ihnen abgefunden, sie rühren mich sogar, wie ein körperliches Gebrechen mich rühren würde. Diesmal aber bin ich empört, weil er mich nicht in seine Pläne eingeweiht hat. Empört und besorgt. Bisher wusste er mich immer zu trösten, wenn er mir Kummer bereitet hatte; ich bin nicht sicher, ob ihm das auch in diesem Fall gelingen wird.

 

Warum kam André nicht? War er aufgehalten worden? Ich hatte vier Stunden hintereinander gearbeitet und mich dann auf die Couch gelegt, weil mir der Kopf so schwer war. Philippe hatte ganz gegen seine Gewohnheit seit drei Tagen nichts von sich hören lassen; sein Schweigen wunderte mich umso mehr, als er im Allgemeinen stets anruft oder mir ein paar Zeilen schreibt, wenn er fürchtet, mich gekränkt zu haben. Ich begriff sein Verhalten nicht, ich fühlte mich bedrückt, und meine Traurigkeit war wie ein Ölfleck, der sich immer weiter ausbreitet. Sie verdüsterte die Welt, die ihr dafür neue Nahrung lieferte. André … Er wurde von Tag zu Tag verdrießlicher. Als ich Vatrin zum Essen einlud, den einzigen Freund, mit dem er in letzter Zeit zusammenkam, sagte er ärgerlich: «Vatrin? Der langweilt mich.» Neuerdings findet er alle Leute langweilig. Mich auch? Vor vielen, vielen Jahren hat er einmal gesagt: «Mit dir werde ich niemals unglücklich sein.» Jetzt aber sieht er ganz und gar nicht glücklich aus. Er liebt mich eben nicht mehr so wie früher. Lieben – was bedeutet ihm das überhaupt? Er hält an mir fest wie an einer alten Gewohnheit, aber ich wecke keine Freude mehr in ihm. Und ich – so ungerecht es auch klingen mag – ich verüble ihm, dass er diese Gleichgültigkeit als normal und obendrein als sehr bequem anzusehen scheint.