In den besten Jahren - Simone de Beauvoir - E-Book

In den besten Jahren E-Book

Simone de Beauvoir

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Beschreibung

Eine bewegende Autobiographie über die prägenden Jahre einer Ikone des Feminismus und der Literatur In diesem fesselnden autobiographischen Werk nimmt Simone de Beauvoir die Leserinnen und Leser mit auf eine Reise durch das geistige Frankreich einer ganzen Epoche. Sie gewährt intime Einblicke in ihre Freundschaft mit Jean-Paul Sartre und ihre Entwicklung zur einflussreichen Schriftstellerin und Philosophin. De Beauvoir lässt das Paris der 1920er bis 1940er Jahre lebendig werden, als sie als junge Lyzeal-Lehrerin ihre Leidenschaft für Literatur und Philosophie entdeckte. Sie berichtet von Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten wie Albert Camus, Jean Genet, Jacques Prévert und Pablo Picasso, die die Avantgarde dieser Zeit prägten. In den besten Jahren ist ein intimes Porträt einer Frau, die sich mutig über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzte und zu einer Ikone des Existenzialismus und Feminismus wurde.

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Seitenzahl: 1101

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Simone de Beauvoir

In den besten Jahren

Aus dem Französischen von Rolf Soellner

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine ganze Epoche des geistigen Frankreich mit seiner literarischen, philosophischen und politischen Avantgarde wird hier lebendig: Camus, Genet, Prevert, Picasso. Es ist jenes glückliche Decennium, in dem sich die junge Lyzeal-Lehrerin mit Sartre befreundet und zur Schriftstellerin entfaltet.

Über Simone de Beauvoir

Simone de Beauvoir, geboren am 9. Januar 1908 in Paris, gilt als führende Repräsentantin des französischen Existentialismus in der Literatur und als eine der wichtigsten Vordenkerinnen der europäischen Frauenbewegung. Noch während ihres Philosophie-Studiums an der Sorbonne lernte sie Jean-Paul Sartre kennen, dem sie bald Lebensgefährtin und geistige Weggenossin wurde. Für ihren großangelegten Schlüsselroman «Die Mandarins von Paris» (rororo 10761), der die intellektuelle Elite im Frankreich der IV. Republik porträtiert, erhielt sie die höchste literarische Auszeichnung ihres Landes, den «Prix Goncourt». Simone de Beauvoir starb am 14. April 1986 in Paris.

 

Weitere Veröffentlichungen:

die biographischen Schriften:

Kriegstagebuch

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Der Lauf der Dinge

Ein sanfter Tod

Alles in allem

Amerika Tag und Nacht

Die Zeremonie des Abschieds

Briefe an Sartre 1 + 2

Eine transatlantische Liebe. Briefe an Nelson Algren

 

die Romane:

Sie kam und blieb

Das Blut der anderen

Alle Menschen sind sterblich

Die Mandarins von Paris

Die Welt der schönen Bilder

 

die Erzählungen und Essays:

Marcelle, Chantal, Lisa ...

Soll man de Sade verbrennen?

Auge um Auge

Eine gebrochene Frau

Mißverständnisse an der Moskwa

 

sowie die Studien über die Rolle der Frau:

Das andere Geschlecht

Das Alter

Inhaltsübersicht

WidmungPrologErster TeilZweiter TeilHinweise

Für Jean-Paul Sartre

Prolog

Ich habe mich auf ein unbesonnenes Abenteuer eingelassen, als ich anfing, von mir zu sprechen: Man kommt ins Erzählen und findet kein Ende. Meine ersten zwanzig Jahre hatte ich mir schon lange erzählen wollen; nie habe ich die Hilferufe vergessen, die ich als junges Mädchen an die Frau richtete, die mich – Leib und Seele – in sich aufnehmen würde: Nichts würde von mir zurückbleiben, nicht einmal eine Handvoll Asche. Ich beschwor sie, mich eines Tages dem Nichts wieder zu entreißen, in das sie mich stürzen würde. Vielleicht wurden meine Bücher nur geschrieben, damit diese alte Bitte Erhörung finde. Mit fünfzig Jahren hielt ich den Augenblick für gekommen; mein erinnerndes Bewusstsein hat für das Kind und das junge Mädchen – die beide auf dem Grunde der verlorenen Zeit ausgesetzt und mit ihr verloren sind – das Wort ergriffen. Ich habe ihnen eine Existenz in Schwarz und Weiß auf dem Papier geschaffen.

Weiter ging mein Vorhaben nicht. Als Erwachsene hörte ich auf, die Zukunft anzurufen; nachdem ich meine Memoiren beendet hatte, erhob sich keine Stimme aus meiner Vergangenheit, um mich zu einer Fortsetzung zu drängen. Ich hatte beschlossen, anderes zu beginnen. Und siehe da, es ging nicht. Unsichtbar steht unter der letzten Zeile ein Fragezeichen, das mich nicht mehr losgelassen hat. Die Freiheit: wozu? Diese Aufbruchswirren, dieser große Kampf, diese Flucht, dieser Sieg, welchen Sinn sollte mein späteres Leben ihnen verleihen? Mein erster Impuls war, mich hinter meinen Büchern zu verschanzen; aber nein, sie liefern keine Antwort: Sie selbst stehen ja in Frage. Ich hatte beschlossen zu schreiben, und ich habe geschrieben – so weit, so gut.

Aber was? Warum diese Bücher, nur diese und ausgerechnet diese? Wollte ich mehr erreichen oder weniger? Es gibt nichts Gemeinsames zwischen der leeren und unendlichen Hoffnung meiner zwanzig Jahre und einem abgeschlossenen Werk. Ich wollte zugleich viel mehr und viel weniger. Allmählich überzeugte ich mich, dass der erste Band meiner Erinnerungen unbedingt eine Fortsetzung forderte: sinnlos, die Vorgeschichte meiner schriftstellerischen Berufung zu erzählen und dann nicht zu versuchen, ihre Verwirklichung zu schildern.

Überdies interessiert mich nach reiflicher Überlegung dieses Projekt an sich. Mein Leben ist nicht abgeschlossen, doch es trägt bereits einen Sinn, den die Zukunft kaum noch ändern dürfte. Welchen? Aus Gründen, die ich im Laufe dieser Untersuchung klarlegen muss, hatte ich bisher vermieden, mir diese Frage zu stellen. Jetzt oder nie ist es Zeit für eine Antwort.

Man wird mir vielleicht entgegenhalten, das sei allein meine Sorge; aber nein! Samuel Pepys oder Jean-Jacques Rousseau, mittelmäßig oder überragend – wenn ein Individuum sich nur aufrichtig zur Diskussion stellt, ist jeder mehr oder weniger mitbetroffen. Es ist unmöglich, Licht in das eigene Leben zu bringen, ohne hier und da auch das Leben anderer zu erhellen. Außerdem werden Schriftsteller mit Fragen bestürmt: Warum schreiben Sie? Wie verbringen Sie Ihren Tag? Über den Geschmack an Anekdote und Klatsch hinaus scheint es, dass viele Leute wissen möchten, welche Lebensform die Schriftstellerei repräsentiert. Das Studium eines Einzelfalles macht es deutlicher als abstrakte und allgemeine Auskünfte: Das gibt mir den Mut, meinen Fall zu untersuchen. Vielleicht werden diese Darlegungen manche Missverständnisse beseitigen, die den Autor stets von seinem Publikum trennen, ein Übel, das ich häufig empfunden habe. Ein Buch erhält erst dann seinen Sinn, wenn man weiß, unter welchen Umständen, aus welcher Perspektive und von wem es geschrieben worden ist: Ich möchte diese Voraussetzungen, meine Voraussetzungen, in einem Gespräch mit dem Leser darlegen.

Ich muss jedoch gleich bemerken, dass ich nicht vorhabe, alles zu sagen. Ich habe meine Kindheit und meine Jugend geschildert, ohne etwas wegzulassen; aber wenn ich auch meine ferne Vergangenheit ohne Verlegenheit und ohne zu große Indiskretion bloßlegen konnte, so habe ich doch meinen reiferen Jahren gegenüber nicht diesen Abstand und verfüge auch nicht über die gleiche Freiheit. Es handelt sich hier nicht um Geschwätz über mich und meine Freunde; ich habe nichts übrig für Klatsch. Ich werde vieles entschlossen im Dunkeln lassen.

Andererseits ist mein Leben eng mit dem von Jean-Paul Sartre verbunden; er will seine Geschichte jedoch selbst erzählen, und ich lasse das auch seine Sache sein. Ich werde mich nicht über seine Ideen, seine Arbeiten verbreiten, ich werde von ihm nur das erzählen, was in meine eigene Existenz hineinspielt.

Manche Kritiker glaubten, ich wolle in meinen Memoiren jungen Mädchen eine Lektion erteilen. Vor allem wollte ich eine Schuld abtragen. Diese Bilanz ist in jeder Beziehung frei von moralischen Tendenzen. Ich beschränke mich darauf, auszusagen, was mein Leben gewesen ist. Ich setze nichts voraus, außer die Überzeugung, dass jede Wahrheit interessant und dienlich sein kann. Wozu, wem wird die Wahrheit dienen, die ich auf diesen Seiten auszudrücken versuche? Ich weiß es nicht. Ich wünschte, man nähme sie mit der gleichen Unbefangenheit auf[1].

Erster Teil

I

Als ich im September 1929 wieder nach Paris kam, berauschte mich vor allem meine Freiheit. Seit meiner Kindheit hatte ich von ihr geträumt, wenn ich mit meiner Schwester ‹große Mädchen› spielte. Ich habe schon gesagt, wie leidenschaftlich ich sie auch als Studentin ersehnte. Plötzlich besaß ich sie; bei jeder meiner Bewegungen staunte ich von neuem, wie leicht ich mich fühlte. Wenn ich morgens die Augen öffnete, strampelte und jauchzte ich vor Freude. Schon mit zwölf Jahren hatte ich darunter gelitten, zu Hause keinen Winkel für mich allein zu haben. Als ich in Mon Journal die Geschichte einer englischen Collegestudentin las, betrachtete ich sehnsüchtig den Farbdruck von ihrem Zimmer: ein Schreibtisch, ein Sofa, Regale voller Bücher; zwischen fröhlich getönten Wänden arbeitete sie, las sie und trank Tee, ganz ungestört: Wie ich sie beneidete! Zum ersten Mal hatte ich einen Blick in ein Leben getan, das glücklicher war als das meine. Und jetzt endlich besaß auch ich mein eigenes Reich! Meine Großmutter hatte aus ihrem Salon sämtliche Sessel, Tischchen und Nippsachen entfernt. Ich hatte Möbel aus rohem Holz gekauft, und meine Schwester half mir, sie braun zu beizen. Ich besaß einen Tisch, zwei Stühle, eine große Truhe, die als Sitzgelegenheit und Rumpelkammer diente, Regale für meine Bücher und ein Sofa, das zu der orangefarbenen Tapete passte, mit der ich die Wände verkleiden ließ. Auf meinem Balkon im fünften Stock thronte ich hoch über den Platanen der Rue Denfert-Rochereau und dem Löwen von Belfort. Als Heizung diente mir ein roter Petroleumofen, der sehr schlecht roch: Mir schien, als verteidige dieser Geruch meine Einsamkeit, und ich mochte ihn gern. Wie herrlich, meine Tür schließen zu können und geschützt vor allen Blicken meine Tage zu verbringen! Lange Zeit blieb mir die Ausstattung der Zimmer, die ich bewohnte, gleichgültig. Es hing wohl mit dem Bild in Mon Journal zusammen, dass ich Zimmer mit Diwan und Bücherbord bevorzugte; ich fand mich jedoch mit jeder Art von Behausung ab: Wenn ich nur die Tür hinter mir zumachen konnte, war ich überglücklich.

Ich bezahlte meiner Großmutter eine Miete, und sie behandelte mich mit derselben Diskretion wie ihre übrigen Pensionäre; niemand kontrollierte mein Kommen und Gehen. Ich konnte beim Morgengrauen nach Hause kommen oder die ganze Nacht im Bett lesen, bis Mittag schlafen, vierundzwanzig Stunden lang eingeschlossen bleiben oder plötzlich auf die Straße laufen. Mittags aß ich bei ‹Dominique› Borschtsch, und abends trank ich im ‹Coupole› eine Tasse Schokolade. Ich genoss die Schokolade, den Borschtsch, die lange Siesta, die Nächte ohne Schlaf, aber das Schönste war, dass ich mich meinen Launen ungehindert überlassen konnte. Vergnügt stellte ich fest, dass es mit dem ‹Ernst des Lebens›, von dem mir die Erwachsenen die Ohren vollgeschwatzt hatten, gar nicht so schlimm war. Es war nicht gerade ein Kinderspiel gewesen, die Examina zu bestehen; ich hatte gebüffelt und Angst gehabt, durchzufallen; ich musste Hindernisse überwinden, und ich hatte mich überanstrengt. Jetzt stieß ich nirgends auf Widerstände, ich fühlte mich in nie endenden Ferien. Einige Privatstunden und ein Lehrauftrag am Victor-Duruy-Lyzeum sicherten mir das tägliche Brot. Diese Pflichten waren mir nicht einmal lästig, denn ihre Erfüllung kam mir vor wie ein neues Spiel: Ich spielte ‹Erwachsen›. Herumlaufen, um Tapire[2] aufzutreiben, Besprechungen mit Direktorinnen und Eltern von Schülern, mein Budget aufstellen, borgen, zurückerstatten, rechnen, all diese Beschäftigungen machten mir Spaß, weil ich sie zum ersten Mal ausübte. Ich erinnere mich, mit welchem Hochgefühl ich meinen ersten Scheck in der Hand hielt. Ich hatte den Eindruck, irgendjemanden hinters Licht zu führen.

Kleider hatten mich nie besonders interessiert; dennoch fand ich Vergnügen daran, mich nach meiner Fasson anzuziehen. Ich trug noch Trauer um meinen Großvater und wollte niemanden schockieren; ich kaufte Mantel, Hut und flache Schuhe in Grau; dazu ließ ich mir ein Kleid machen und ein zweites schwarz-weißes. Nach all dem baumwollnen und wollnen Zeug, zu dem ich verurteilt gewesen war, wählte ich jetzt seidige Gewebe: Crêpe de Chine und einen sehr hässlichen Stoff, der in jenem Winter Mode war: Presssamt. Jeden Morgen schminkte ich mich ausgiebig und blindlings: einen roten Fleck auf jeden Backenknochen, viel Puder, Lippenstift. Ich fand es sinnlos, dass man sich sonntags kostbarer kleidete als in der Woche: Für mich war von jetzt an alle Tage Feiertag, und ich putzte mich zu jedem Anlass gleichermaßen heraus. Ich wusste wohl, dass Crêpe de Chine und Presssamt in den Schulkorridoren nicht recht am Platze waren, dass meine leichten Schuhe weniger schiefgelaufen wären, wenn ich sie nicht von morgens bis abends über das Pariser Pflaster geschleift hätte, aber das war mir egal. Kleider gehörten zu den Dingen, die ich nicht ernst nahm.

Ich richtete mich ein, ich staffierte mich aus, ich empfing Freunde, ich ging aus; aber das war nur ein Vorspiel. Erst als Mitte Oktober Sartre nach Paris kam, fing mein neues Leben wirklich an.

 

Sartre hatte mich im Limousin besucht; er war im Hotel ‹Boule d’Or› in Saint-Germain-les-Belles abgestiegen. Um Klatsch zu vermeiden, trafen wir uns in sicherer Entfernung vom Städtchen auf dem Lande. Ausgelassen lief ich morgens über die Rasenflächen des Parks, setzte über Zauntritte, rannte quer durch die taufeuchten Wiesen, wo ich so oft und zuweilen mit so viel Bitterkeit mit meiner Einsamkeit gekämpft hatte. Wir setzten uns ins Gras und plauderten. Anfangs vermochte ich mir nicht vorzustellen, dass uns diese Beschäftigung fern von Paris und unseren Freunden genügen könnte. «Wir bringen Bücher mit und lesen», hatte ich vorgeschlagen. Sartre war entrüstet gewesen. Auch alle meine Wanderpläne hatte er abgetan; er war allergisch gegen Chlorophyll, das Grün der Weiden ging ihm auf die Nerven, er hielt es nur aus, wenn er es vergaß. Schön. Wenn man mich nur ein wenig ermunterte, scheute ich mich nicht vor Worten. Wir setzten das Gespräch fort, das wir in Paris begonnen hatten, und bald wurde mir bewusst, dass mir die Zeit nicht lang würde, auch wenn wir es bis ans Ende aller Tage weiterführen sollten. Eben erst war der Tag angebrochen, und schon läutete die Mittagsglocke. Ich speiste im Kreise der Familie; Sartre aß Gewürzkuchen oder Käse, den meine Cousine Madeleine mit geheimnisvollem Getue in einem verlassenen Taubenschlag neben ‹dem Haus da unten› deponierte: Sie war romantisch veranlagt. Der Nachmittag verging im Flug, die Nacht fiel ein; Sartre kehrte in sein Hotel zurück; er aß in Gesellschaft von Handlungsreisenden. Ich hatte meinen Eltern gesagt, dass wir an einem Buch arbeiteten, an einer Kritik des Marxismus. Ich hoffte sie nachsichtig zu stimmen, wenn ich ihrem Hass gegen den Kommunismus das Wort redete, aber ohne Erfolg. Vier Tage nach Sartres Eintreffen sah ich sie am Rande der Wiese auftauchen, wo wir uns niedergelassen hatten; sie kamen auf uns zu, mein Vater mit entschlossener, wenn auch leicht verlegener Miene unter seinem vergilbten Strohhut. Sartre, der an jenem Tag ein knallrosa Hemd trug, sprang auf die Füße, seine Augen funkelten kampflustig. Mein Vater forderte ihn höflich auf, die Gegend zu verlassen: Die Leute tuschelten, und mein offensichtlich schlechtes Betragen schade dem Ruf meiner Cousine, die man verheiraten wollte. Sartre hielt lebhaft, aber ohne heftig zu werden, Widerpart, denn er war fest entschlossen, auch nicht eine Stunde früher abzureisen. Wir hielten nun unsere Zusammenkünfte noch ein wenig heimlicher ab, in den abgelegenen Kastanienwäldern. Mein Vater unternahm keinen zweiten Versuch, und Sartre blieb noch eine Woche im ‹Boule d’Or›. Danach schrieben wir uns täglich.

Als ich ihn im Oktober wiedertraf, hatte ich mich von meiner Vergangenheit gelöst[3]; vorbehaltlos stürzte ich mich in die Gegenwart. Sartre sollte bald zum Militärdienst eingezogen werden; bis dahin hatte er Ferien. Er wohnte in der Rue Saint-Jacques bei seinen Großeltern Schweitzer, und wir trafen uns jeden Morgen im graugoldenen Luxembourg-Park unter den blicklosen Augen steinerner Königinnen. Erst spät in der Nacht trennten wir uns. Wir durchwanderten Paris und setzten unsere Gespräche fort über uns selbst, unsere Beziehungen, unser Leben und unsere künftigen Bücher. Wir bestimmten unseren Standort. Heute erscheint mir an diesen Unterhaltungen weniger wichtig, worüber wir sprachen, als vielmehr die Dinge, die wir für erledigt hielten. Sie waren es nicht; wir täuschten uns beinahe in allem. Um uns zu definieren, müssen diese Irrtümer aufgezeigt werden, denn sie drückten eine Realität aus: unsere Situation.

Ich sagte es schon: Sartre lebte, um zu schreiben. Er war berufen, von allen Dingen Zeugnis abzulegen und sie, unter dem Primat der Notwendigkeit, denkend neu zu erschaffen. Meine Aufgabe war, mein Bewusstsein der vielfältigen Pracht des Lebens zu öffnen, und ich musste schreiben, um sie der Zeit und dem Nichts zu entreißen. Diese Aufgaben stellten sich uns mit einer Entschiedenheit, die uns die Erfüllung garantierte. Ohne es auszusprechen, schlossen wir uns dem kantschen Optimismus an: Du sollst, also kannst du; und in der Tat, wie könnte man auch das Wollen in Zweifel ziehen, wenn es sich einmal geformt hat und zutage tritt? Demnach sind Wollen und Glauben eins. Daher unser Vertrauen in die Welt und in uns selbst. Die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form lehnten wir ab; aber dieser Ablehnung haftete nichts Sauertöpfisches an: Sie enthielt einen unverwüstlichen Optimismus. Der Mensch musste neu geschaffen werden, und diese Erfindung würde zum Teil unser Werk sein. Unseren Beitrag dazu würden wir jedoch ausschließlich in Büchern leisten. Die öffentlichen Angelegenheiten waren uns zuwider. Wir erwarteten, dass die Entwicklung nach unseren Wünschen verlaufen würde, ohne dass wir uns einzumischen brauchten. Darin teilten wir in jenem Herbst des Jahres 1929 die Hochstimmung der gesamten französischen Linken. Der Friede schien endgültig gesichert. Die Ausbreitung der Nazipartei in Deutschland war nichts als eine belanglose Randerscheinung. Binnen kurzem würde der Kolonialismus ausgespielt haben: Gandhis aufrüttelnder Feldzug in Indien, die kommunistische Bewegung in Indochina garantierten dafür. Und die ungewöhnlich heftige Krise, die die kapitalistische Welt erschütterte, ließ voraussehen, dass diese Gesellschaft sich nicht mehr lange halten würde. Wir glaubten bereits im goldenen Zeitalter zu leben, das nach unserer Ansicht die verborgene Wahrheit der Geschichte darstellte, und die Geschichte würde sich damit begnügen, sie zu enthüllen.

Wir verkannten das Gewicht der Realität auf allen Gebieten. Wir rühmten uns einer radikalen Freiheit. An dieses Wort haben wir so lange und mit solcher Beharrlichkeit geglaubt, dass ich seine Bedeutung für uns genauer unter die Lupe nehmen muss.

Es beinhaltete eine reale Erfahrung. In jeder Betätigung manifestiert sich eine Freiheit, besonders in der geistigen, da sie der Wiederholung wenig Spielraum lässt. Wir hatten viel gearbeitet; rastlos hatten wir neu begreifen und erfinden müssen. Wir hatten von der Freiheit eine praktische, unverrückbare Vorstellung. Unser Fehler bestand darin, dass wir sie nicht in angemessenen Grenzen hielten; wir klammerten uns an das Bild der kantschen Taube: Die Luft, die ihr Widerstand leistet, hemmt nicht ihren Flug, sie trägt sie. Das Bestehende erschien uns als Werkstoff unserer Anstrengungen, nicht als ihre Voraussetzung: Wir glaubten von nichts abhängig zu sein. Genau wie unsere politische Blindheit erklärt sich dieser geistige Hochmut vor allem aus der Heftigkeit unserer Pläne. Schreiben, Erschaffen: Man würde sich kaum in ein solches Abenteuer stürzen, wenn man nicht glaubte, seiner selbst, seiner Ziele und seiner Mittel sicher zu sein. Unsere Kühnheit war nicht zu trennen von den Illusionen, die sie trugen, und die Umstände begünstigten beides. Kein äußeres Hindernis hatte uns jemals gezwungen, gegen unsere Neigungen zu handeln. Wir wollten erkennen und uns mitteilen: Bis zum Hals steckten wir in diesem Vorhaben. Unser Leben verlief so wunschgemäß, dass es uns schien, wir hätten es selbst gewählt: Wir schlossen daraus, dass es sich immer unserer Regie fügen würde. Das Glück, das uns so gute Dienste leistete, verbarg uns die Feindseligkeit der Welt. Zudem empfanden wir auch keine inneren Bindungen. Ich wahrte ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern, doch hatten sie jede Macht über mich verloren. Sartre hatte seinen Vater nie gekannt; weder seine Mutter noch seine Großeltern hatten in seinen Augen das Gesetz verkörpert. In gewissem Sinne besaßen wir beide keine Familie, und wir hatten diesen Zustand zum Prinzip erhoben. Ermutigt hatte uns dabei der kartesianische Rationalismus, den Alain uns nahegebracht hatte und den wir uns restlos zu eigen machten, weil er uns lag. Kein Bedenken, keine Rücksicht, keine seelische Bindung hinderten uns, alle Entschlüsse unter dem Primat der Ratio und unserer Wünsche zu fassen. Wir entdeckten nichts Undurchsichtiges, nichts Trübes in uns: Wir glaubten, reines Bewusstsein und reiner Wille zu sein. Diese Überzeugung wurde noch verstärkt durch die Leidenschaft, mit der wir auf die Zukunft setzten; auch bereits definierte Interessen legten wir nicht ad acta, da Gegenwart und Vergangenheit ständig ineinanderspielten. Wir zögerten nicht, alle Dinge und auch uns selbst in Frage zu stellen, sooft die Umstände es erforderten. Wir kritisierten und wir verurteilten uns bedenkenlos, weil jeder Wechsel uns als Fortschritt erschien. Da unsere Unwissenheit uns für die meisten Probleme, die uns hätten beschäftigen sollen, blind machte, begnügten wir uns mit derartigen Revisionen und hielten uns für kühne Geister.

Wir verfolgten unseren Weg ohne Zwang, ohne Fesseln, ohne Hemmung, ohne Furcht. Wie war es möglich, dass wir dabei nicht an Schranken stießen? Denn schließlich waren unsere Börsen sehr schmal. Ich verdiente gerade das Nötigste zum Leben, Sartre zehrte von einer kleinen Erbschaft, die seine Großmutter väterlicherseits ihm hinterlassen hatte. Die Kaufhäuser quollen über von unerreichbaren Dingen; die Stätten des Luxus waren uns verschlossen. Diesen Tabus setzten wir Gleichgültigkeit, ja Verachtung entgegen. Wir waren durchaus keine Asketen; aber damals wie heute – Sartre war mir darin ähnlich – hatten nur Dinge, die mir zugänglich waren, vor allem solche, die greifbar waren, das Gewicht der Realität. Ich gab mich so vollständig meinen Wünschen und Vergnügungen hin, dass nichts in mir übrig blieb, was sich an unerfüllbare Sehnsüchte hätte verschwenden können. Warum sollten wir bedauern, dass wir nicht im Auto fuhren? Am Kanal Saint-Martin oder auf den Kais von Bercy machten wir zu Fuß so viele Entdeckungen! Wenn wir in meinem Zimmer Brot und falsche Gänseleberpastete verzehrten, wenn wir in der Brasserie ‹Demory› zu Abend aßen, im dumpfen Bier- und Sauerkrautgeruch, den Sartre gern hatte, fühlten wir uns nicht im Geringsten benachteiligt. Abends, im ‹Falstaff› oder im ‹College Inn›, tranken wir wie Snobs unseren Bronx, Side-Car, Baccardi, Alexandra, Martini. Ich hatte eine Schwäche für die Met-Cocktails, die es im ‹Vikings› gab, für die Aprikot-Cocktails, die Spezialität des ‹Bec de Gaz› in der Rue Montparnasse. Was hätte die Ritz-Bar uns mehr bieten können? Wir feierten unsere Feste. Eines Abends aß ich im ‹Vikings› Huhn mit Preiselbeeren, während auf dem Podium ein Orchester den Modeschlager spielte: Pagan love song. Ich wusste, dass dieser Festschmaus mich nicht so in Hochstimmung gebracht hätte, wenn er keine Ausnahme gewesen wäre. Gerade die Bescheidenheit unserer Mittel trug zu meinem Glück bei.

Ohnehin sucht man in kostspieligen Dingen keinen unmittelbaren Genuss: Sie dienen nur als Mittler, erst angesehene Dritte verleihen ihnen Ansehen. Aufgrund unserer puritanischen Erziehung und der Festigkeit unseres geistigen Engagements konnten die Leute, die in Palasthotels ein und aus gingen, die Männer in Hispanos, die Frauen im Nerz, die Herzöge und Millionäre, uns nicht imponieren; ja, wir betrachteten diese oberen Zehntausend als den Abschaum der Menschheit, da sie sich an einem Regime mästeten, das wir verurteilten. Ihr Anblick flößte mir ironisches Mitleid ein; sie waren abgeschnitten von der Masse, in ihren Luxus und ihren Snobismus eingesperrt, und ich sagte mir, wenn ich an den exklusiven Portalen von ‹Fouquets› oder ‹Maxims› vorbeiging: Die Ausgeschlossenen sind sie. Im Allgemeinen existierten sie nicht für mich. Ihre Privilegien, ihr Raffinement vermisste ich so wenig wie die Griechen des 5. Jahrhunderts Kino und Radio. Gewiss, die Geldmauer setzte unserer Neugierde Schranken; aber wir waren darüber nicht böse, weil wir uns einbildeten, die betuchten Leute hätten uns nichts beizubringen. Ihre zeremoniösen Zerstreuungen verdeckten nur Leere.

Nichts grenzte uns also ab, nichts legte uns fest, nichts versklavte uns. Wir allein bestimmten unsere Bindungen an die Umwelt: Unser Lebensmark war die Freiheit. Tagtäglich übten wir sie bei einer Tätigkeit, die in unserem Leben breiten Raum einnahm: beim Spiel. Die meisten jungen Paare gleichen durch Spiele und Phantastereien die Dürftigkeit ihrer gemeinsamen Vergangenheit aus. Wir verfielen mit umso größerem Eifer darauf, als wir von Natur aus tatenlustig waren und vorübergehend im Müßiggang lebten. Komödien, Parodien, Fabeln, unsere Erfindungen hatten einen bestimmten Zweck: Sie bewahrten uns vor jenem tierischen Ernst, den wir genauso heftig wie Nietzsche ablehnten, und aus ähnlichen Gründen wie er. Sie nahmen der Welt die Schwere, projizierten sie ins Imaginäre und erlaubten uns, sie auf Distanz zu halten.

Sartre hatte von uns beiden die unerschöpflichere Phantasie. Er verfasste Klagelieder, Abzählverse, Epigramme, Madrigale, Kurzfabeln, alle Arten von Blitzgedichten, und manchmal sang er sie zu selbsterfundenen Melodien. Er verachtete weder Kalauer noch Knittelverse; er vergnügte sich mit Assonanzen und Alliterationen; so übte er sich im Umgang mit Worten, erforschte sie, vermaß sie und nahm ihnen gleichzeitig ihr alltägliches Gewicht. Von Synge hatte er den Mythos von ‹Baladin› entlehnt – dem ewig Reisigen, der die Mittelmäßigkeit des Lebens mit schönen Lügenmärchen maskierte. Götter, Menschen, Kobolde von James Stephens hatte uns den Mythos vom Leprechaun geliefert, dem Gnomen, der unter Baumwurzeln kauert und gegen das Unglück angeht, gegen die Langeweile, den Zweifel, indem er kleine Schuhe herstellt. Beide, der Abenteurer und der Sesshafte, erteilten die gleiche Lehre: Die Literatur geht über alles; aber diese Devise verlor durch sie an dogmatischer Schwere. Von den Büchern, die wir schreiben würden und die uns so sehr am Herzen lagen, gewannen wir einen gewissen Abstand, indem wir sie ‹unsere kleinen Schuhe› nannten.

Beide besaßen wir eiserne Gesundheit und heitere Gemütsart. Aber ich konnte Unannehmlichkeiten schlecht ertragen; mein Gesicht veränderte sich, ich verschloss mich, ich bockte. Sartre nannte mich ein Doppelwesen. Gewöhnlich war ich der Biber; aber gelegentlich machte dieses Tier einer reichlich unsympathischen jungen Frau Platz: Mademoiselle de Beauvoir. Sartre spann um dieses Thema Variationen, die mich immer wieder aufheiterten. Ihm dagegen geschah es häufig – morgens, wenn die Nebel sich noch nicht aus seinem Kopf verzogen hatten oder wenn die Umstände ihn zur Passivität zwangen –, dass er sich dem Willkürlichen ausgesetzt fühlte. Er zog sich ganz in sich zusammen, als wolle er weniger Angriffsfläche bieten. Er ähnelte dann dem Seeelefanten, den wir im Zoo von Vincennes gesehen hatten und dessen Schmerz uns so nahegegangen war. Ein Wärter hatte ihm einen Eimer voll kleiner Fische in den Schlund gekippt, dann war er dem Tier gegen den Leib gesprungen. Unter dem Ansturm der kleinen Fische hob der Seeelefant die winzigen, verstörten Augen zum Himmel: Es sah aus, als versuche seine ganze ungeheure Masse, sich durch diesen engen Spalt hindurch in eine flehentliche Bitte zu verwandeln; doch selbst dieser Ansatz zur Sprache war ihm versagt. Das Riesentier riss den Rachen auf, Tränen liefen über seine ölige Lederhaut, es wiegte den Kopf und sackte zusammen, besiegt. Wenn Traurigkeit Sartres Züge entstellte, behaupteten wir, die desperate Seele des Seeelefanten sei in ihn gefahren. Er führte die Metamorphose zu Ende: Er hob die Augen zum Himmel und riss den Rachen auf, ein stummes Flehen. Diese Pantomime machte ihn wieder vergnügt. So erschienen unsere Depressionen uns nicht als Tiefs, deren Zentrum im Körper lag, sondern als Masken, die wir aus Lust am Verdrehten anlegten und nach Gutdünken wieder fallen ließen. Während unserer ganzen Jugend und auch später noch führten wir Psychodramen auf, sooft wir uns unangenehmen oder schwierigen Situationen gegenübersahen: Wir transponierten sie, wir überspitzten sie, oder wir machten sie lächerlich: Wir sondierten sie gründlich, und das half uns, mit ihnen fertigzuwerden.

Auch unsere wirtschaftliche Lage meisterten wir auf diese Weise. Kaum waren wir wieder in Paris, als wir unserer Beziehung, noch eh wir ihren Charakter bestimmt hatten, einen Namen gaben: ‹Eine morganatische Ehe›. Als Paar verfügten wir über ein Doppelleben. Gewöhnlich waren wir M. und Mme M. Organatique, ein Beamtenpaar, nicht reich, ohne Ehrgeiz und mit wenigem zufrieden. Dann und wann putzte ich mich heraus, und wir gingen in ein Kino an den Champs-Elysées oder zum Tanzen ins ‹Coupole›, und dann waren wir die amerikanischen Milliardäre Mr. und Mrs. Morgan Hattick. Es handelte sich keineswegs um eine hysterische Farce, die uns vormachen sollte, dass wir ein paar Stunden lang die Freuden der Nabobs teilen durften, sondern es war eine Parodie, die uns in unserer Verachtung für die große Welt bestärkte. Unsere bescheidenen Galaabende genügten uns vollauf, der Reichtum hatte uns nichts zu bieten: Wir bestanden auf unserer Lebensform. Zugleich jedoch strebten wir aus ihr heraus. Die unvermögenden Kleinbürger M. und Mme M. Organatique, das waren nicht wir: Indem wir sie spielten, distanzierten wir uns von ihnen.

Wie schon gesagt, betrachtete ich auch meine täglichen Pflichten, meine Lehrtätigkeit, als Maskerade. Das Spiel nahm unserem Leben die Realität, sodass wir schließlich glaubten, nicht zu diesem Leben zu gehören. Wir fühlten uns keinem Ort, keinem Land, keiner Klasse, keinem Beruf, keiner Generation zugehörig. Unsere Wahrheit lag woanders. Sie stand in der Ewigkeit, und die Zukunft würde sie enthüllen: Wir waren Schriftsteller. Jede andere Bestimmung war nur eine Vorspiegelung. Wir gedachten, das Rezept der alten Stoiker zu befolgen, die ebenfalls alles auf die Freiheit gesetzt hatten. Mit Leib und Seele widmeten wir uns dem Werk, das uns brauchte, und machten uns von allem frei, was uns davon abhielt. Wir gingen nicht so weit, völlig auf diese Dinge zu verzichten, dazu waren wir viel zu gierig; aber wir behandelten sie als nebensächlich. Die Versuchung lag nahe, dies Détachement, die Sorglosigkeit und das Ungebundensein, die uns die Umstände gewährten, für souveräne Freiheit zu halten. Um diese Täuschung zu entlarven, hätten wir von uns selbst Abstand gewinnen müssen: Dazu hatten wir kaum die Fähigkeit und ganz und gar nicht die Neigung.

Zwei Disziplinen hätten uns aufklären können: der Marxismus und die Psychoanalyse. Wir kannten beide nur in groben Umrissen. Ich erinnere mich an einen sehr lebhaften Streit im ‹Balzar› zwischen Sartre und Politzer, der nachweisen wollte, dass Sartre den ‹Kleinbürger› nicht verleugnen könne. Sartre wehrte sich nicht gegen diese Einstufung; er wandte jedoch ein, dass sie nicht genüge, um seine Haltung zu definieren; er warf das heikle Problem des Intellektuellen bürgerlicher Herkunft auf, der nach Marx’ eigenen Worten imstande ist, sich über die Ansichten seiner Klasse zu erheben: unter welchen Umständen? Wie? Warum? Politzers schönes rotes Haar flammte, er redete und redete, doch gelang es ihm nicht, Sartre zu überzeugen. Sartre hätte sich auf jeden Fall auch weiterhin für die Freiheit eingesetzt, da er noch heute an sie glaubt. Aber eine ernsthafte Analyse hätte unsere Vorstellung von der Freiheit auf das rechte Maß zurückgeführt. Unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Geld war ein Luxus, den wir uns leisten konnten, weil wir immerhin so viel besaßen, dass wir keine Not litten und nicht gezwungen waren, Sklavenarbeit zu verrichten. Unsere geistige Aufgeschlossenheit verdankten wir der Bildung und den Möglichkeiten, die nur unsere Klasse bot. Und eben diese Zugehörigkeit zur Klasse der jungen, kleinbürgerlichen Intellektuellen verführte uns dazu, uns für klassenlos zu halten.

Warum gerade dieser Luxus und kein anderer? Warum blieben wir wachsam, anstatt uns von sicheren Gegebenheiten einlullen zu lassen? Die Psychoanalyse hätte uns Antwort geben können, wenn wir sie befragt hätten. Sie gewann in Frankreich an Boden, und einige ihrer Aspekte interessierten uns. In der Psychopathologie erschien uns – wie den meisten unserer Freunde – der ‹endokrine Monismus[4]› von George Dumas unannehmbar. Begeistert begrüßten wir jedoch den Gedanken, dass die Psychosen, die Neurosen und ihre Symptome eine Bedeutung haben, die auf die Kindheit des Betreffenden zurückgeht. Doch weiter gingen wir nicht; als Methode zur Erforschung des normalen Menschen lehnten wir die Psychoanalyse ab. Freud hatten wir kaum gelesen, nur Die Traumdeutung und Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Wir hatten die Bücher im Buchstaben, nicht im Geiste erfasst; sie stießen uns ab wegen ihres dogmatischen Symbolismus und der Assoziationstheorie, von der sie durchsetzt waren. Freuds Pan-Sexualismus schien uns an Wahnsinn zu grenzen, er verletzte unseren Puritanismus. Der Freudianismus, wie wir ihn begriffen, zerstörte durch die Rolle, die er dem Unbewussten zuwies, und durch die Starrheit seiner mechanistischen Erklärungen die menschliche Freiheit: Niemand wies uns eine annehmbare Auslegung, und wir waren nicht in der Lage, sie selbst zu entdecken. Wir blieben in unserer rationalistischen und voluntaristischen Einstellung befangen. Bei einem klar denkenden Menschen, so folgerten wir, siegt die Freiheit über Traumata, Komplexe, Erinnerungen und Einflüsse. Wir hatten uns gefühlsmäßig von unserer Kindheit gelöst, merkten daher lange Zeit nicht, dass diese Gleichgültigkeit sich eben aus unserer Kindheit erklärte.

Wenn Marxismus und Psychoanalyse uns so wenig berührten, während sehr viele junge Leute ihnen anhingen, lag das nicht nur an unserer spärlichen Kenntnis der Materie: Wir wollten uns einfach nicht aus der Entfernung betrachten, mit fremden Augen. Es ging uns vor allem darum, mit uns selbst übereinzustimmen. Statt unsere Freiheit theoretisch abzugrenzen, bemühten wir uns praktisch, sie zu bewahren; denn sie war in Gefahr.

In diesem Punkt bestand zwischen Sartre und mir ein großer Unterschied. Mir schien es wie ein Wunder, dass ich mich von meiner Vergangenheit losgerissen hatte, dass ich mir selbst genügte, über mich selbst entschied. Ich hatte ein für alle Mal meine Selbständigkeit erobert; nichts würde sie mir nehmen. Sartre dagegen trat nur in ein neues Stadium seiner Existenz ein, das er seit langem mit Widerwillen vorausgesehen hatte. Die erste Jugend, die keine Verantwortung kennt, lag hinter ihm; er trat in die abscheuliche Welt der Erwachsenen ein. Seine Unabhängigkeit war bedroht. Zunächst würde man ihn zu achtzehn Monaten Soldatendasein zwingen; danach erwartete ihn das Lehramt. Er hatte einen Ausweg gefunden; in Japan suchte man einen Lektor für Französisch, und er hatte sich für Oktober 1931 beworben. Er wollte zwei Jahre dort bleiben und hoffte, dann weitere Auslandsreisen unternehmen zu können. Seiner Meinung nach sollte der Schriftsteller, der Geschichtenerzähler, dem ‹Baladin› von Synge gleichen: Nirgends lässt er sich endgültig nieder. Und bei niemandem. Sartre war nicht zur Monogamie berufen; er war gern in Gesellschaft von Frauen, die er weniger komisch fand als Männer. Er war nicht bereit, mit dreiundzwanzig Jahren für immer auf die Freuden der Abwechslung zu verzichten. «Bei uns beiden», erklärte er mir unter Anwendung seines Lieblingsvokabulars, «handelt es sich um eine notwendige Liebe: Es ist unerlässlich, dass wir auch die Zufallsliebe kennenlernen.» Wir waren von gleicher Art, und unser Bund würde so lange dauern wie wir selbst; er bot jedoch keinen Ersatz für den flüchtigen Reichtum der Begegnungen mit anderen Wesen. Warum sollten wir freiwillig auf die Skala der Überraschungen, der Enttäuschungen, der Sehnsüchte, der Freuden verzichten, die sich uns anboten? Auf unseren Spaziergängen beschäftigten wir uns ausführlich mit diesem Thema. Eines Nachmittags hatten wir uns zusammen mit den Nizans auf den Champs-Elysées den Film Sturm über Asien angesehen und waren, nachdem wir uns von ihnen getrennt hatten, bis zu den Anlagen beim Carrousel spaziert. Wir setzten uns auf eine Steinbank an einem Seitenflügel des Louvre; als Rückenlehne diente eine Balustrade, die durch einen engen Spalt von der Wand des Gebäudes getrennt war. In diesem Käfig miaute eine Katze; wie war sie hineingeraten? Sie war zu dick, um sich wieder herauszuzwängen. Es wurde Abend, und eine Frau erschien, eine Papiertüte in der Hand: Sie holte Küchenabfälle hervor und fütterte die Katze, wobei sie sie zärtlich streichelte. In diesem Augenblick schlug Sartre vor: «Schließen wir einen Zwei-Jahres-Pakt.» Ich konnte es einrichten, diese zwei Jahre in Paris zu bleiben, und wir würden sie in möglichst engem Zusammenleben verbringen. Danach, so schlug er mir vor, sollte auch ich mich um einen Posten im Ausland bewerben. Wir würden einander zwei, drei Jahre nicht sehen und uns dann irgendwo in der Welt wiedertreffen, in Athen zum Beispiel, um auf mehr oder weniger lange Sicht von neuem ein mehr oder weniger gemeinsames Leben zu führen. Wir würden einander nie fremd werden, keiner würde je vergebens an den anderen appellieren, und nichts würde dieser Allianz den Rang ablaufen; aber sie durfte weder in Zwang noch in Gewohnheit ausarten. Um jeden Preis mussten wir sie vor dieser Zersetzung bewahren. Ich willigte ein. Ich gebe zu, dass die Trennung, die Sartre in Aussicht stellte, mich erschreckte; aber sie lag verschwommen in der Ferne, und ich hatte es mir zur Regel gemacht, mich nicht im Voraus mit Sorgen zu belasten. Wenn mich dennoch Angst überfiel, hielt ich sie für Schwäche und bemühte mich, sie zu unterdrücken; dabei half mir die bereits erprobte Gewissheit, dass ich mich auf Sartres Wort verlassen konnte. Bei ihm war ein Plan kein vages Geschwätz, sondern ein Bestandteil der Wirklichkeit. Wenn er eines Tages zu mir sagen würde: «Treffpunkt genau heute in zweiundzwanzig Monaten, siebzehn Uhr auf der Akropolis», dann könnte ich mich darauf verlassen, ihn Punkt siebzehn Uhr zweiundzwanzig Monate später auf der Akropolis zu treffen. Allgemeiner ausgedrückt: Ich wusste, durch ihn würde mir nie ein Leid zugefügt werden, es sei denn, er stürbe eher als ich.

Von den Freiheiten, die wir uns theoretisch zugestanden, sollte während der Dauer dieses Abkommens kein Gebrauch gemacht werden. Wir hatten vor, uns ohne Zögern und ohne Einschränkung der Neuartigkeit unserer Existenz hinzugeben. Wir schlossen einen weiteren Pakt: Weder würden wir einander je belügen noch etwas voreinander verbergen. Die ‹petits camarades› empfanden den größten Abscheu vor dem sogenannten ‹Innenleben›. In jenen Gärten, wo die edlen Seelen zarte Geheimnisse hegen, sahen sie nur stinkenden Morast; dort war die heimliche Brutstätte für Lug und Trug, dort labte man sich an den fauligen Wonnen des Narzissmus. Um diese Schatten und Miasmen zu verscheuchen, stellten sie ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Gefühle öffentlich zur Schau. Begrenzt wurde dieser Drang nach Zurschaustellung nur durch ihren Mangel an Neugier: Wer zu viel von sich sprach, langweilte die anderen. Aber zwischen Sartre und mir galt diese Einschränkung nicht: Es wurde also abgemacht, dass wir einander alles sagen würden. Ich war an Schweigen gewöhnt, und die Befolgung dieser Regel fiel mir zunächst schwer. Aber ich begriff schnell ihre Vorteile; ich brauchte mich nicht mehr mit mir selbst auseinanderzusetzen: Ein Blick, wohlwollend zwar, aber unparteiischer als mein eigener, lieferte mir von jeder meiner Bewegungen ein Abbild, das ich für objektiv hielt; diese Kontrolle schützte mich vor Ängsten, falschen Hoffnungen, müßigen Zweifeln, Hirngespinsten, den Erregungszuständen, gängigen Begleiterscheinungen der Einsamkeit. Ich trauerte der Einsamkeit nicht nach, im Gegenteil, ich war glücklich, ihr entronnen zu sein. In Sartre konnte ich hineinsehen wie in mich selbst: welche Beruhigung! Gelegentlich verließ ich mich zu sehr darauf; da er mir nichts verbarg, glaubte ich, mir über ihn überhaupt keine Fragen mehr stellen zu müssen. Später wurde mir des Öfteren klar, dass ich es aus Trägheit unterließ. Dann machte ich mir Vorwürfe, nicht genügend wachsam gewesen zu sein, niemals jedoch schob ich die Schuld auf den Pakt, den wir eingegangen waren und von dem wir nie abwichen: Kein anderer wäre für uns in Frage gekommen.

Das heißt nicht, dass ich die unbedingte Offenheit als Gesetz oder Allheilmittel für jedermann und in jedem Fall betrachte; in der Folge hatte ich hinlänglich Gelegenheit, über ihr Für und Wider nachzudenken. Eine ihrer Gefahren habe ich in einer Szene meines letzten Romans, Les Mandarins [Die Mandarins von Paris], gezeigt. Anne, deren Klugheit ich in jenem Absatz billige, rät ihrer Tochter Nadine, dem jungen Mann, den sie liebt, nicht zu gestehen, dass sie ihm untreu war. Nadine hat gar nicht die Absicht, ihm ein Geständnis zu machen: Sie will nur seine Eifersucht wecken. In vielen Fällen bedeutet sprechen nicht nur mitteilen, sondern handeln. So tun, als übe man auf den andern keinerlei Druck aus, wenn man ihm eine indiskrete Wahrheit verpasst, ist Betrug. An dieser Doppelbödigkeit der Sprache braucht die Ehrlichkeit nicht zu scheitern, man muss nur einige Vorsicht walten lassen. Gewöhnlich genügt eine kurze Zeitspanne, um den Wörtern ihre Schlagkraft zu nehmen. Bei einigem Abstand kann man sine ira Fakten und Gefühle aufdecken, deren sofortige Enthüllung als Machenschaft oder zumindest als Einmischung gegolten hätte.

Sartre hat diese Frage oft mit mir diskutiert, und im 2. Buch von Les Chemins de la liberté [Wege der Freiheit] hat auch er sich damit auseinandergesetzt. Im ersten Kapitel geben Mathieu und Marcelle vor, ‹einander alles zu sagen›, in Wahrheit sagen sie gar nichts. Reden ist manchmal nur eine geschickte Methode, etwas zu verschweigen. Selbst da, wo das Wort aussagt, hat es nicht die Macht, die Realität zu unterdrücken, zu überwinden, zu entwaffnen: Es dient dazu, ihr zu trotzen. Wenn zwei Gesprächspartner einander einreden, dass sie über den Ereignissen und den Leuten stehen, über die sie sich vertrauliche Mitteilungen machen unter dem Vorwand, der Wahrheit die Ehre zu geben, betrügen sie sich selbst. Es gibt eine Form der Aufrichtigkeit, die ich häufig beobachtete und die nichts als flagrante Heuchelei ist. Auf das Gebiet der Sexualität beschränkt, zielt sie nicht etwa darauf, ein inniges Verstehen zwischen Mann und Frau zu schaffen, sondern darauf, einem von beiden – meistens dem Mann – ein beruhigendes Alibi zu liefern: Er wiegt sich in der Illusion, durch das Geständnis seine Untreue wieder wettzumachen, während er in Wahrheit seiner Partnerin eine doppelte Wunde schlägt.

Im Grunde gibt es keine eherne Regel, die allen Paaren totale Offenheit vorschreibt: Jedes muss selbst entscheiden, zu welchem Grad des Gleichklangs es gelangen möchte; niemand hat Rechte noch Pflichten a priori. In meiner Jugend behauptete ich das Gegenteil: Da war ich zu sehr geneigt anzunehmen, was für mich gelte, gelte auch für alle anderen.

Heute dagegen irritiert es mich, wenn Dritte sich billigend oder tadelnd über unsere Beziehung aussprechen, ohne die Eigenständigkeit zu berücksichtigen, die sie erklärt und rechtfertigt: dieses Zwillingszeichen auf unseren Stirnen. Die Brüderlichkeit, die unser Leben zusammenschmolz, machte jede andere Bindung, die wir hätten eingehen können, überflüssig und lächerlich. Wozu, zum Beispiel, unter dem gleichen Dach wohnen, wenn doch die Welt unser gemeinsamer Besitz war? Und warum eine räumliche Entfernung fürchten, die uns doch niemals trennen könnte? Ein einziger Vorsatz belebte uns: alles erfassen, von allem Zeugnis ablegen; er befahl uns zuweilen getrennte Wege zu gehen, ohne uns deswegen den geringsten unserer Funde vorzuenthalten; wenn wir zusammen waren, beugten wir uns den Forderungen dieses Vorsatzes derart, dass uns sogar im Augenblick der Trennung ein gemeinsamer Wille einte. Das band und das löste uns; und durch dieses Lösen fanden wir uns wieder im Innersten gebunden.

Ich spreche hier von Zeichen; in meinen Mémoires habe ich gesagt, dass Sartre, wie ich, eine Art Heil suchte. Ich gebrauche diese Ausdrücke, weil wir beide Mystiker waren. Sartre glaubte bedingungslos an die Schönheit, die er nicht von der Kunst trennte, und ich maß dem Leben einen höheren Wert zu. Unsere Berufungen deckten sich nicht völlig. Ich notierte diese Divergenz in meinem Tagebuch, dem ich noch immer zuweilen die Dinge anvertraute, mit denen ich nicht zurechtkam. Einmal schrieb ich: «Ich möchte schreiben; ich möchte Sätze auf das Papier bringen, Erlebtes in Sätze gefasst.» Aber später präzisierte ich: «Für mich wird die Kunst immer nur eine Lebensstütze sein. Niemals werde ich Schriftsteller sein, um des Schreibens willen, so wie Sartre.» Trotz seiner strahlenden Fröhlichkeit behauptete Sartre, er lege wenig Wert auf das Glück; auch unter widrigsten Umständen würde er weiterschreiben. Ich kannte ihn gut genug, um an dieser Hartnäckigkeit nicht zu zweifeln. Ich besaß nicht die gleiche Härte. Wenn allzu schweres Unglück mich treffen würde, hatte ich beschlossen, so würde ich mich töten. In meinen Augen war Sartre mir durch die Festigkeit seiner Haltung überlegen; ich bewunderte, dass er sein Schicksal so sicher in eigenen Händen hielt; aber es bedrückte mich keineswegs, dass ich ihn höher einschätzte als mich selbst; ich fand es tröstlich.

Sich mit jemandem von Grund aus verstehen, ist in jedem Fall ein großes Privileg; für mich war es buchstäblich nicht mit Gold aufzuwiegen. In meiner Erinnerung leuchten die Stunden, die ich mit Zaza plaudernd in der Abgeschlossenheit von Monsieur Mabilles Büro verbrachte, in unvergleichlichem Zauber. Ich hatte auch überwältigende Freude empfunden, wenn mein Vater mir zulächelte und ich mir sagte, dass dieser allen anderen überlegene Mann in gewisser Weise mir gehörte. Meine Jungmädchenträume projizierten diese köstlichsten Augenblicke meiner Kindheit in die Zukunft. Es waren keine Hirngespinste, sie bestanden in mir als Realität, und daher wundert es mich nicht, dass sie in Erfüllung gingen. Gewiss, die Umstände kamen mir zu Hilfe; ich hätte ebenso gut mit niemandem zu völligem Gleichklang gelangen können. Wenn ich aber die gebotene Chance so leidenschaftlich ergriff und so beharrlich festhielt, so nur, weil ich damit einem sehr alten Ruf folgte. Sartre war nur drei Jahre älter als ich; wie Zaza war er meinesgleichen; zusammen zogen wir aus, die Welt zu entdecken. Ihm vertraute ich jetzt so rückhaltlos, dass er mir, wie einst meine Eltern, wie einst Gott, das Gefühl unbedingter Sicherheit gab. In dem Augenblick, als ich mich in die Freiheit warf, fand ich den Himmel über mir makellos. Ich war jedem Zwang entzogen, und doch wohnte jedem Augenblick eine Art Notwendigkeit inne. Meine kühnsten und tiefsten Wünsche waren erfüllt. Ich hatte nur noch den einen Wunsch, dass nichts diese Euphorie trüben möge. Alles wurde von ihr aufgesogen, selbst Zazas Tod. Gewiss, ich schluchzte, ich wütete, ich bäumte mich auf; aber der Schmerz sickerte erst später, ohne dass ich es merkte, in mich ein. In jenem Herbst schlief meine Vergangenheit; ich gehörte ganz und gar der Gegenwart.

Das Glück ist eine weniger verbreitete Berufung, als man annimmt. Ich glaube, Freud hat völlig recht, wenn er es von der Erfüllung kindlicher Begierden abhängig macht. Ein normales Kind, das man nicht bis zum Stumpfsinn vollstopft, birst vor Gelüsten: Was es in Händen hält, ist so wenig im Vergleich zu dem unendlich Vielen, das es wahrnimmt und rund um sich fühlt! Es bedarf jedoch eines intakten seelischen Gleichgewichts, damit es sich sowohl für die Dinge interessiert, die es hat, wie auch für die, die es nicht hat. Ich habe häufig festgestellt: Leute, deren erste Lebensjahre von tiefer Not geprägt waren, von Demütigung, Furcht oder – vor allem – von Ressentiments, finden in ihrem späteren Leben nur noch in abstrakten Genüssen Befriedigung: Geld[5], Ehre, Ruhm, Macht, Ansehen. Frühzeitig anderen und sich selbst ausgeliefert, haben sie sich von einer Welt abgewandt, in der sie später nur noch ihre frühere Indifferenz sehen[6]. Welches Gewicht haben andererseits die Dinge, in die man das Absolute investiert hat, welche Fülle von Freuden können sie bringen! Ich war kein übermäßig verwöhntes kleines Mädchen, aber die Umstände hatten eine Vielzahl von Wünschen in mir geweckt. Schule und Familienleben zwangen mich dazu, sie zu verdrängen; sie brachen nur mit umso größerer Heftigkeit hervor, und nichts schien mir dringender, als sie zu befriedigen. Das war ein Unternehmen auf lange Sicht, dem ich mich viele Jahre vorbehaltlos widmete. In meinem ganzen Leben bin ich niemandem begegnet, der so zum Glück begabt gewesen wäre wie ich, auch niemandem, der sich mit gleicher Hartnäckigkeit darauf versteift hätte. Sobald ich es zu fassen bekommen hatte, wurde es mein Lebensinhalt. Wenn man mir um den Preis des Glücks Ruhm geboten hätte, ich hätte abgelehnt. Das Glück war nicht nur eine Wallung meines Herzens; es lieferte mir, wie ich glaubte, die Wahrheit über meine Existenz und die Welt. Nach dem Besitz dieser Wahrheit verlangte ich leidenschaftlicher denn je. Der Augenblick war gekommen, die Dinge aus Fleisch und Blut den Bildern gegenüberzustellen, den Phantasiegebilden, den Wörtern, die mir ermöglicht hatten, ihre Existenz vorherzuwissen. Ich hätte an diese Aufgabe nicht unter anderen Bedingungen herangehen mögen als unter den mir gegebenen. Paris erschien mir als Mittelpunkt der Welt. Ich strotzte vor Gesundheit, ich besaß freie Zeit im Überfluss, und ich hatte einen Reisegefährten gefunden, der die gleiche Richtung eingeschlagen hatte und dessen Schritt sicherer war als der meine. Dank diesen Umständen durfte ich hoffen, aus meinem Leben eine exemplarische Erfahrung zu machen, in der die ganze Welt sich spiegeln würde. Die gleichen Umstände sicherten auch meinen Einklang mit der Welt. 1929 glaubte ich, wie gesagt, an den Frieden, an den Fortschritt, an ein jubelndes Morgen. Meine eigene Geschichte musste sich einfügen in die Harmonie des Universums; Unglück hätte mich ins Exil verbannt: Die Realität wäre mir entgangen.

 

Anfang November wurde Sartre eingezogen. Auf den Rat von Raymond Aron hatte er sich zur Wetterbeobachtung gemeldet; er kam nach der Festung Saint-Cyr, wo Aron, der dort Ausbilder war, ihn mit der Handhabung des Windmessers vertraut machte. Ich erinnere mich, dass ich am Abend seiner Abreise eine Grock-Vorstellung besuchte und dass ich es keineswegs komisch fand. Sartre war vierzehn Tage in der Festung eingesperrt, und ich durfte ihn nur einmal kurz besuchen. Er erwartete mich in einem Sprechzimmer, das mit Soldaten und Angehörigen überfüllt war. Er fand sich nicht mit dem sturen Kommissgeist ab und auch nicht mit dem Verlust von achtzehn Monaten; er tobte. Auch mich empörte der Zwang, und da wir Antimilitaristen waren, wollten wir nicht ausgerechnet diesen Zwang gutheißen. Dieses erste Wiedersehen war trostlos: Die dunkelblaue Uniform, das Käppi, die Wickelgamaschen kamen mir vor wie ein Sträflingsanzug. Später erhielt Sartre Ausgeherlaubnis. Drei- bis viermal in der Woche besuchte ich ihn am Spätnachmittag in Saint-Cyr. Er holte mich am Bahnhof ab, und wir aßen im ‹Soleil d’Or› zu Abend. Die Festung lag vier Kilometer außerhalb des Ortes; ich begleitete Sartre die Hälfte des Weges, dann ging ich eilig zurück, um den letzten Zug um neun Uhr dreißig zu erwischen. Einmal verpasste ich ihn und musste zu Fuß bis Versailles laufen. Der einsame Marsch, zuweilen bei Wind und Regen, auf einer schwarzen Straße – in der Ferne leuchteten Wicken zwischen den Gleisen –, war für mich wie ein erregendes Abenteuer. Manchmal kam auch Sartre abends zu mir nach Paris. Ein Lastwagen setzte ihn und ein paar Kameraden an der Place de l’Étoile ab. Er blieb knapp zwei Stunden; wir setzten uns in ein Café an der Avenue Wagram, oder wir schlenderten die Avenue des Ternes entlang und aßen dabei als Abendbrot gefüllte Pfannkuchen, die wir ‹Hungertöter› nannten. Sonntags hatte er gewöhnlich den ganzen Tag frei. Im Januar wurde er nach Saint-Symphorien bei Tours versetzt. Mit einem Vorgesetzten und drei Diensttuenden war er in einer Villa einquartiert, die als meteorologische Station eingerichtet war. Der Vorgesetzte, ein Zivilist, überließ den Soldaten die Organisation. Sie hatten untereinander einen Turnus aufgestellt, der jedem außer dem regulären Urlaub eine freie Woche im Monat sicherte. So blieb Paris der Mittelpunkt unserer gemeinsamen Existenz.

Wir verbrachten viel Zeit zu zweien, aber wir gingen auch mit Freunden aus. Ich hatte fast alle meine alten Freunde verloren. Zaza war tot, Jacques verheiratet, Lisa in Saigon, Riesmann interessierte mich nicht mehr, und meine Beziehungen zu Pradelle verliefen im Sande. Suzanne Boigue überwarf sich mit mir. Sie hatte versucht, meine Schwester mit einem Vierzigjährigen zu verheiraten, einem äußerst wertvollen Menschen, wie sie versicherte; Poupette jedoch war entsetzt über sein gewichtiges Auftreten und seinen Specknacken. Suzanne machte mich für die Weigerung verantwortlich. Wenig später erhielt ich einen wütenden Brief von ihr: Eine unbekannte Stimme hatte sie angerufen und blöde Person genannt. Sie schob mir diesen schlechten Scherz in die Schuhe. Ich stritt es postwendend ab, doch ohne sie zu überzeugen. Von den Menschen, die mir etwas bedeutet hatten, machte ich Sartre nur mit meiner Schwester, mit Gégé, Stépha und Fernand bekannt. Mit Frauen verstand er sich immer, und Fernand war ihm sympathisch: Fernand zog jedoch mit Stépha nach Madrid. Und Herbaud hatte eine Stellung in Coutances angenommen. Neben seiner Lehrtätigkeit bereitete er sich wieder auf den ‹Concours› vor; ich mochte ihn immer noch gern, aber er machte stets nur Stippvisiten in Paris. So band mich nur noch sehr wenig an meine Vergangenheit. Dafür lernte ich Sartres Kameraden näher kennen. Wir kamen ziemlich häufig mit Raymond Aron zusammen, der seine Militärzeit in der Festung Saint-Cyr abdiente. Ich war sehr schüchtern, als ich ihn eines Tages allein im Wagen nach Trappe begleitete, wo er einen abgetriebenen Aufklärungsballon bergen musste. Er hatte ein kleines Auto und fuhr manchmal mit uns von Saint-Cyr zum Abendessen nach Versailles. Er war eingeschriebenes Mitglied der Sozialistischen Partei, auf die wir voll Verachtung herabsahen, erstens weil sie verbürgerlicht war, und dann, weil der Reformismus unserem Temperament zuwiderlief. Die Gesellschaft war nur global zu ändern, auf einen Schlag, durch eine gewaltige Erschütterung. Aber wir sprachen mit Aron kaum über Politik. Meist diskutierten Sartre und er erbittert über philosophische Fragen. Ich beteiligte mich nicht am Gespräch, ich konnte nicht schnell genug denken; doch hätte ich mich eher auf Arons Seite gestellt: Wie er neigte ich zum Idealismus. Um dem Geist die Souveränität zu sichern, hatte ich den banalen Entschluss gefasst, die Welt zu reduzieren. Sartres Originalität bestand darin, dass er dem Bewusstsein die stolzeste Unabhängigkeit zubilligte und dabei der Realität ihr volles Gewicht ließ. Sie bot sich der Erkenntnis in vollkommener Durchsichtigkeit dar, aber auch in der unwandelbaren Dichte ihres Wesens. Für ihn gab es keinen Abstand zwischen Schau und Geschautem, und das stürzte ihn in manches Dilemma: Aber Schwierigkeiten konnten seinen Überzeugungen nichts anhaben. Liegt diesem hartnäckigen Realismus Hochmut oder Liebe zugrunde? Sartre leugnete, dass der Mensch in ihm durch den Schein getäuscht werde; und er liebte die Welt zu leidenschaftlich, um sie zur Illusion zu degradieren. Dieser Optimismus erwuchs aus seiner Vitalität, er ließ Subjekt und Objekt im selben Maße gelten. Es ist unmöglich, zugleich an die Farben und an die Schwingungen des Äthers zu glauben. Daher verwarf er die Wissenschaft: Er beschritt den Weg, den die zahlreichen Nachfolger des kritischen Idealismus gebahnt hatten. Jeden universalistischen Gedanken jedoch bekämpfte er rückhaltlos. Die Gesetze, die Begriffe, alle Abstraktionen waren nichts als Schall und Rauch. Die Menschheit fand sich einstimmig bereit, sie zu akzeptieren, weil sie ihr eine beunruhigende Realität verschleierten. Er jedoch wollte diese Realität zu fassen kriegen; er verachtete die Analyse, die immer nur Leichen seziert; ihm schwebte ein allumfassendes Verstehen des Konkreten vor, also des Individuellen, denn nur das Individuum ist existent. Von den metaphysischen Systemen ließ er nur solche gelten, die den Kosmos als synthetische Ganzheit konzipieren: Stoizismus und Spinozismus. Aron dagegen gefiel sich in kritischen Analysen und tat alles, um Sartres verwegene Synthesen zu zertrümmern. Er verstand es meisterhaft, den Gesprächspartner in die Enge zu treiben, und wenn er ihn in der Zange hatte, knack, zerquetschte er ihn. «Eines von beiden, mein Lieber», sagte er mit einem vagen Lächeln in den tiefblauen, illusionslosen und klugen Augen. Sartre schlug sich tapfer, um nicht festgenagelt zu werden, da sein Denken jedoch mehr erfinderisch als logisch war, hatte er einen schweren Stand. Ich erinnere mich nicht, dass er Aron jemals überzeugt hätte, noch, dass Aron ihn in seiner Überzeugung erschüttern konnte.

Als Ehemann und Familienvater durfte Nizan seine Militärzeit in Paris verbringen. Seine Schwiegereltern besaßen in Saint-Germain-en-Laye ein ultramodern gebautes und eingerichtetes Haus. Wir verbrachten einen Sonntag damit, auf der Terrasse einen Film zu drehen: Rirette Nizans Bruder war Hilfsregisseur und verfügte über eine Kamera. Nizan spielte einen Pfarrer und Sartre einen gottesfürchtigen jungen Mann, der im Kloster erzogen worden war. Er wurde von losen Mädchen verführt, aber als sie ihm das Hemd vom Leib rissen, sah man auf seiner Brust ein enormes Skapulier erstrahlen, und Christus erschien ihm. Er sprach mit ihm von Mann zu Mann: «Rauchen Sie?», fragte er, und anstelle eines Feuerzeugs zog er sein Herz Jesu aus der Brust und hielt es ihm hin. Da dieser Teil des Drehbuchs jedoch zu schwierig zu verfilmen war, gaben wir es auf. Wir begnügten uns mit einem geringeren Wunder: Zerschmettert vom Anblick des Skapuliers fielen die Mädchen auf die Knie und beteten zu Gott. Sie wurden dargestellt von Rirette, von mir und von einer bildschönen jungen Frau, die jetzt mit Emmanuel Berl verheiratet ist; ohne Federlesens streifte sie sich zu unserer Verblüffung ihr elegantes mandelgrünes Kleid ab, um in Höschen und Büstenhalter aus schwarzer Spitze aufzutreten. Danach machten wir einen Spaziergang in den Dorfgassen. Die Soutane stand Nizan besonders gut; er hielt seine Frau zärtlich um die Taille gefasst: Die Vorübergehenden machten Stielaugen. Im folgenden Frühling nahm er uns mit – zum Volksfest in Garches; wir warfen mit Stoffballen nach Bankiers und Generalen, und er zeigte uns Doriot: Der schüttelte einem alten Arbeiter die Hand mit einer anbiedernden Leutseligkeit, die Sartre lebhaft missbilligte.

Mit Nizan diskutierte man nicht. Ernsthafte Themen ging er nicht direkt an; er erzählte ausgewählte Anekdoten, vermied jedoch sorgfältig, Schlüsse daraus zu ziehen. Nägelkauend gab er sibyllinische Weissagungen und Drohungen von sich. Unsere gegensätzlichen Anschauungen wurden schweigend übergangen. Andererseits war Nizan, wie viele kommunistische Intellektuelle jener Zeit, eher ein Empörter als ein Empörer, und daher gab es zwischen ihm und uns eine Fülle von Gemeinsamkeiten. Manche beruhten übrigens auf Missverständnissen, die wir nicht aufklärten. Keiner von uns ließ ein gutes Haar an der Bourgeoisie. Bei Sartre und mir blieb diese Feindseligkeit individualistisch, also bürgerlich. Sie unterschied sich kaum von jener, die Flaubert gegen die Krämer hegte, und Barrés gegen die Barbaren. Es ist kein Zufall, dass für uns wie für Barrés der Techniker der Erzfeind war. Er erstickt das Leben in Eisen und Beton; er geht stur seinen Weg, blind, gefühllos, ist seiner selbst so sicher wie seiner Gleichungen und hält unerbittlich die Mittel für den Zweck. Im Namen der Kunst, der Kultur, der Freiheit verdammten wir in ihm den Vertreter des Universalismus. Dennoch hielten wir uns nicht an Barrés’ Ästhetizismus; die Bourgeoisie als Klasse war unser Feind, und wir wünschten uns ihre Vernichtung. Wir hatten eine grundsätzliche Sympathie für die Arbeiter, weil sie nicht mit den bürgerlichen Makeln behaftet waren. Durch die Einfachheit ihrer Bedürfnisse, durch ihre Hautfühlung mit der Materie, stellten sie sich der conditio humana in ihrer Wahrheit. Wir teilten also Nizans Hoffnungen auf eine proletarische Revolution: Aber sie interessierte uns ausschließlich durch ihren negativen Aspekt. In der UdSSR waren die lodernden Oktoberfeuer längst erloschen, und was sich dort drüben ausbildete, war, wie Sartre sagte, ‹eine Zivilisation der Techniker›. In einer sozialistischen Welt, so dachten wir, könnten wir uns keinesfalls wohl fühlen. In jeder Gesellschaft bleibt der Künstler, der Schriftsteller ein Außenseiter; die Gesellschaft, die am stärksten darauf pocht, ihn in sich aufzunehmen, schien uns sein größter Feind zu sein.

Von all seinen Gefährten war Sartre am engsten mit Pierre Pagniez befreundet, einem ‹Normalien› seines Jahrgangs, der soeben das philologische Staatsexamen abgelegt hatte. Sie hatten sich gemeinsam zum meteorologischen Dienst gemeldet und brachten Aron zur Verzweiflung, indem sie ihn mit Papierpfeilen beschossen, während er unterrichtete. Pagniez aß manchmal mit uns im ‹Soleil d’Or› zu Abend. Er hatte das Glück, nach Paris versetzt zu werden. Sartre traf sich mit ihm, sooft er dorthin kam. Pagniez war von Haus aus Protestant, und wie viele Protestanten trug er eine herausfordernde Bescheidenheit zur Schau; er war verschlossen, gern sarkastisch, begeisterte sich für weniges, aber interessierte sich für vieles. Er hatte bäuerliche Verwandte, liebte die Natur und das Landleben. Lachend erklärte er, rückständig zu sein: Er glaubte an ein goldenes Zeitalter der Bourgeoisie, an manche ihrer Werte, an die Kraft des Handwerks. Er schätzte Stendhal, Proust, die englischen Romane, die klassische Bildung, die Natur, das Reisen, die Konversation, die Freundschaft, alte Weine und eine gute Küche. Er verwahrte sich gegen jeden Ehrgeiz. Er hielt es nicht für unerlässlich, zu schreiben, um die eigene Existenz zu rechtfertigen. Ihm schien es völlig ausreichend, wenn man diese Welt einsichtig genoss und sich in ihr sein Glück zimmerte. Manche Augenblicke, so sagte er – zum Beispiel die Begegnung mit einer Landschaft, einer Stimmung –, machten auf ihn den Eindruck absoluter Notwendigkeit. Im Übrigen lag in seiner Haltung nichts Systematisches. «Ich stelle keine Theorien auf», sagte er vergnügt. Sartres Theorien amüsierten ihn sehr, nicht, dass er sie verkehrter fand als andere, aber er meinte, das Leben strafe die Ideen ständig Lügen, und allein das Leben interessiere ihn.

Sartre interessierte sich für das Leben und für seine eigenen Ideen, die Ideen anderer langweilten ihn; er misstraute Arons Logizismus, dem Ästhetizismus Herbauds und dem Marxismus Nizans. Er rechnete es Pagniez hoch an, dass dieser sich jeder Erfahrung mit einer Aufgeschlossenheit überließ, die kein Hintergedanke trübte. Er gestand ihm einen ‹Sinn für die Nuance› zu, der seinen eigenen Überschwang ausglich: einer der Gründe, warum ihm am Gespräch mit Pagniez so viel lag. In vielen Punkten waren wir mit Pagniez einer Meinung. Auch wir hielten die Handwerker a priori in Ehren: Ihre Arbeit erschien uns wie eine freie Erfindung, die ein Werk zustande brachte, das den Stempel ihrer Persönlichkeit trug. Über die Bauern hatten wir keine eigene Meinung, wir glaubten gern, was Pagniez uns darüber sagte. Er akzeptierte das kapitalistische Regime; wir verdammten es. Immerhin verübelte er den herrschenden Klassen ihre Dekadenz, und im Detail kritisierte er sie genauso gern wie wir. Unsere ablehnende Haltung war rein theoretisch; mit Vergnügen führten wir das Leben der Kleinbürger, die wir waren; unser Geschmack, unsere Interessen wichen kaum von der Norm ab. Eine gemeinsame Leidenschaft führte Sartre und Pagniez zusammen: die Leidenschaft, die Menschen zu verstehen. Stundenlang konnten sie sich über eine Geste oder einen Tonfall ergehen. Ihre Wesensverwandtschaft einte sie, und so traten sie auch stets entschieden füreinander ein. Pagniez ging so weit, zu sagen, dass Sartre mit der scharfgeschnittenen Nase und dem üppig geformten Mund auf seine Art schön sei. Sartre ließ Pagniez dafür eine humanistische Haltung durchgehen, die er bei jedem anderen haarsträubend gefunden hätte.

Noch ein anderes Band einte sie: die bewundernde Freundschaft, die sie, in verschiedenem Grad, für Madame Lemaire empfanden. Ein Jahr zuvor hatte Herbaud mir von ihr erzählt, in Ausdrücken, die