Eine Japanerin in Florenz - Magdalen Nabb - E-Book

Eine Japanerin in Florenz E-Book

Magdalen Nabb

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Beschreibung

Sie kam und blieb um ein Stück florentinisches Handwerk zu erlernen. Die junge Japanerin Akiko war so stolz auf ihr erstes Paar selbstgefertigter Schuhe, daß sie es immerzu trug, auch am Tag ihres Todes. Guarnaccia, der in Florenz stationierte Sizilianer, verfolgt den Fall in einer Stadt, die er kennt wie seine Hosentasche, und befragt ihre Bewohner, deren Charaktere und Intrigen er noch weit besser kennt.

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Seitenzahl: 314

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Magdalen Nabb

Eine Japanerin in Florenz

Guarnaccias dreizehnter Fall

Roman

Aus dem Englischen von Ursula Kösters-Roth

Titel der 2005 bei Soho Press,

New York, erschienenen Originalausgabe:

›The Innocent‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2006 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto: Copyright © Bildagentur Huber/Johanna Huber

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23666 8 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60593 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Autorenbiographie

Mehr Informationen

[5]1

Es war einer jener vollkommenen Morgen, wie es sie nur im Mai geben kann, warm und doch frisch, mit einem Himmel, dessen Blau sonst nur im Malkasten zu finden ist. Selbst wenn der Maresciallo gewußt hätte, was der Tag noch bringt, an diesem Morgen hätte er es nicht für möglich gehalten. Lorenzini hatte versucht, ihn auf dem Weg nach draußen aufzuhalten.

»Wollen Sie sich nicht lieber fahren lassen?«

»Nein, danke. Zu Fuß bin ich genauso schnell …«

Beinahe fluchtartig verließ er die Wache, denn er hatte es eilig, nach draußen zu kommen. Unmöglich, Lorenzini das zu erklären, der sein stellvertretender Dienststellenleiter und ein waschechter Toskaner mit deren typisch nüchterner Lebenseinstellung war. Gleich bei seiner Ankunft hatte der Maresciallo das Fenster seines kleinen Büros geöffnet, den Sonnenschein geschnuppert und sofort gewußt, daß ein wunderbarer Morgen auf ihn wartete. Mit viel Lärm und Gewusel würden [6]sich die Florentiner auf den Tag einstimmen. Der Maresciallo trat aus dem kühlen Schatten des mächtigen Steinbogens in das blendende Sonnenlicht der Pitti Piazza und tastete nach seiner Sonnenbrille. Schlag acht hob der Dirigent seinen Stab. Von dem Gerüst an der Fassade des Palazzo Pitti dröhnten kräftige Hammerschläge, im Takt mit dem Dutzend unmelodiöser Kirchenglocken. Lautes Hupen kündigte den ersten Verkehrsstau des Tages an, der sich vor dem Vorplatz wegen der Straßenarbeiten aufbaute. Ein Bohrhammer lärmte.

»Guten Morgen, Maresciallo Guarnaccia!«

»Oh, hallo! Guten Morgen, Signora. Wie geht es Ihrer Frau Mutter?«

»Sie soll morgen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Aber natürlich dürfen wir nicht erwarten, daß …«

Das, was wir nicht erwarten durften, ging im dröhnenden Lärm des Bohrhammers unter. Der Maresciallo eilte mit einer gemurmelten Antwort weiter und bahnte sich einen Weg durch die Autoschlange zu der Café-Bar auf der anderen Seite der Piazza.

Die Café-Bar war voll mit Gästen, die frühstückten. Die zischende Espressomaschine verströmte köstlichen Kaffeeduft. Drei sommerlich [7]gekleidete Frauen blockierten, ins Gespräch vertieft, den Zugang zur Theke.

»Versteht mich nicht falsch. Eigentlich habe ich nichts gegen sie. Sie ist eine nette Frau, richtig entzückend, fast schon eine Heilige. Aber sie ist größenwahnsinnig.«

Der Maresciallo nahm die Sonnenbrille ab und starrte die Frau an, die gerade gesprochen hatte. Sie trug reichlich Schmuck und sah aus, als käme sie gerade vom Friseur, was um diese Uhrzeit ja wohl kaum möglich war, oder etwa doch …? Über ihren Kopf hinweg bedeutete ihm der Mann hinter der Theke, daß sein Kaffee bereits in Arbeit war.

Der Maresciallo wandte sich von der Parfümwolke der Frau ab und sog den Duft von Konfitüre und Vanille ein. Er beschloß, sich an diesem Morgen ausnahmsweise eine warme Brioche zu gönnen, vielleicht, weil es so ein wunderschöner Morgen war, oder vielleicht auch nur, weil er wie gewöhnlich nur zwei Scheiben trockenen Toast gefrühstückt hatte.

»Natürlich meint sie es nur gut.«

»Natürlich!«

Was für ein Gesprächsthema! Der Maresciallo trank den Kaffee aus und bezahlte.

Allerdings kam er kaum zur Tür hinaus, weil eine lange Schlange schubsender und schreiender [8]Schulkinder den schmalen Gehsteig blockierte. Einer Frau, die sich in die Schlange einzureihen versuchte, riß der Geduldsfaden. »Heutzutage dürfen sie Randale machen, wie es ihnen gerade einfällt! Es ist eine Schande!«

Der Maresciallo verschanzte sich hinter seiner Sonnenbrille und schwieg. Wann sollten Kinder denn sonst herumtoben, wenn nicht in diesem Alter? Beim Anblick seiner Uniform neigten die Leute dazu, ihm für alles die Schuld zu geben, von tobenden Schulkindern über den Krieg im Irak bis hin zu nicht funktionierenden Laternen. Letztere würden aber zweifellos die Straße bald wieder in helles Licht tauchen, da Wahlen vor der Tür standen. Der Maresciallo schloß sich dem Ende der Schülergruppe an, die die Via Guicciardini hinunter in Richtung Ponte Vecchio marschierte. Der Akzent der Kinder ließ darauf schließen, daß sie irgendwo aus dem Norden Italiens kamen, wahrscheinlich ein Schulausflug … Die Leute erwarteten einfach von ihm, daß er sich um alle Probleme kümmern und ›es‹ schon richten würde.

Ein großer, rotgesichtiger Mann kam auf ihn zu, bahnte sich mal auf dem Randstein, mal auf der Straße zwischen den drängelnden Kindern und hupenden Autos einen Weg und versuchte gleichzeitig, eine bettelnde Zigeunerin abzuschütteln, die [9]ihn an seiner Kleidung festzuhalten versuchte. Der Maresciallo blieb stehen und blickte sie durch die Sonnenbrille hindurch ostentativ an. Die Zigeunerin reagierte sofort und verschwand, um sich woanders ein neues Opfer zu suchen. Gegen so aggressive Bettelei mußte etwas unternommen werden, aber was? Vor ihm ging ein dicker Junge, der von seinen Mitschülern herumgeschubst und gehänselt wurde. Er erinnerte ihn ein wenig an Giovanni, seinen ältesten Sohn. Totò, der jüngere, gewitztere und lebhaftere, war ihm deutlich überlegen. Giovanni, der seinem Vater in so vielen Dingen ähnelte, besaß daher sein Mitgefühl und Verständnis, Totò hingegen seine Bewunderung.

Der Maresciallo blieb erneut stehen. Eine hübsche Verkäuferin leerte einen Eimer Putzwasser über die holprigen Pflastersteine vor einem Lederwarengeschäft und schrubbte die Reste auf die Straße.

»Entschuldigung.«

»Schon gut, schon gut. Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Er genoß den feinen Lederduft in der Luft. Das Mädchen lächelte ihn freundlich an und kehrte mit dem Eimer in den Laden zurück.

Die Kinder waren weitergezogen, pflügten eine Schneise in die Touristenmenge auf der Brücke. Der Maresciallo wandte dem Lärm und dem Sonnenschein[10] den Rücken zu und tauchte in den Schatten einer schmalen Gasse zu seiner Linken ein.

In letzter Zeit wählte er immer diese Abkürzung zur Via Maggio mit den berühmten Antiquitätengeschäften. Die Gasse war für Autos gesperrt, und so lief er einfach in der Mitte. Trotz des Hämmerns und Hobelns, der Radiomusik und munterer Gesprächsfetzen konnte er seine Schritte auf dem holprigen Pflaster hören. Vertraute Gerüche von Firnis und Leim, frischen Sägespänen und Senkgruben verdrängten die Abgaswolken der Hauptstraße. Ziemlich genau im gleichen Abstand zu den beiden Hauptstraßen mündeten vier dieser kleinen Gassen in eine winzige Piazza. Sie wirkte ein wenig ungeordnet und hatte lange Zeit nicht mal einen Namen gehabt. Erst vor kurzem hatten sich die Anwohner auf einen geeinigt und ein selbstgebasteltes Schild aufgehängt. Diese Piazza war nicht das Werk eines florentinischen Architekten, sondern das von Bomben und Landminen aus der Zeit, als die Deutschen sich aus Italien zurückzogen. Piloten der Luftwaffe, die den Auftrag hatten, den Ponte Vecchio zu bombardieren, zielten sehr genau, um diesen zu verfehlen. Das Ergebnis ihrer ›Verfehlungen‹ war die Zerstörung der Gebäude zu beiden Seiten der Brücke und diese [11]Piazza. Damals wurde ein Haus an der Kreuzung vermint, um den Zugang zu den Straßen zu versperren, die zur einzigen ›überlebenden‹ Brücke über den Arno führten. Doch sehr bald schon wirkte diese Piazza mit den Straßencafés und Blumentopfhecken wie ›gewollt‹. An Fenstern und braunen Blendläden hingen Flaggen in Regenbogenfarben für den Frieden, violette Flaggen für den heimischen Fußballklub ACF Florenz und strahlend weiße Flaggen für das mittelalterliche Fußballturnier, das schon bald ausgerichtet werden würde.

»Guten Morgen, Maresciallo. Wie geht es Ihnen?«

Wie immer stand Lapo auf der Schwelle seiner kleinen Trattoria. Hinter einer riesigen Brille schickte er ein herausforderndes Grinsen quer über die vier im Quadrat angeordneten Tische hinüber zu den zwölf Tischen auf der anderen Seite, die nur wenige Meter entfernt einen viel größeren Raum einnahmen. Die Hände hielt er unter dem Latz seiner Schürze verborgen, die bis zu seinen Knöcheln hinabreichte, so wie die Schürze seines Vaters und auch schon die seines Großvaters. Die hübschen jungen Dinger auf der gegenüberliegenden Seite trugen modische Nachahmungen seines Originals.

[12]»Kein Grund zur Klage, Lapo. Und wie geht es Ihnen?«

»Sehr gut, ausgezeichnet. Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir!«

»Nein, nein danke. Ich habe gerade erst einen getrunken und muß weiter.«

»Wann werden Sie denn mal zum Essen kommen? Sie haben es schon lange versprochen. Meine Sandra ist wirklich eine ganz ausgezeichnete Köchin.«

»Zweifellos ist sie das.« Ein köstlicher Duft von Kräutern und Knoblauch in heißem Olivenöl drang durch die offene Tür. Offenbar war sie gerade dabei, die Sauce für das heutige Pastagericht vorzubereiten.

»Sie sind eingeladen, aber das wissen Sie ja.«

»Ich komme gerne, aber nur auf eigene Rechnung.«

»Wenn Sie meinen. Zumindest werden Sie meine Preise nicht in den Ruin treiben. Wenn Sie allerdings dort drüben einkehren wollen, müssen Sie zuerst eine Hypothek aufnehmen.«

»Das würde ich niemals wagen.« Da der Maresciallo viele Jahre lang das Leben eines Strohwitwers geführt hatte, bis seine Frau schließlich aus Sizilien zu ihm nach Florenz ziehen konnte, stand ihm einfach nicht mehr der Sinn danach, auswärts zu essen.[13] Zu Hause, im Schoß der Familie die Mahlzeiten einzunehmen, das war sein Traum von Luxus.

»Bringen Sie Ihre Frau und die Kinder doch mit«, erweiterte Lapo die Einladung, als hätte er die Gedanken des Maresciallo gelesen.

»Das werde ich, versprochen. Jetzt muß ich aber weiter. Wie steht’s eigentlich mit …?« Der Maresciallo machte eine vielsagende Kopfbewegung hinüber zu dem großen Restaurant auf der gegenüberliegenden Seite. »Versuchen die immer noch, Sie aufzukaufen?«

»Aber ja, natürlich.« Lapo lächelte breit und zeigte dabei eine Reihe strahlend weißer, neuer Zähne, auf die er sehr stolz war. »Unglaublich, was für eine Summe die mir bieten. Sie haben sogar gesagt, ich solle einfach meinen Preis nennen … Da ist er ja.« Auf der Schwelle des gegenüberliegenden Restaurants war der junge Besitzer erschienen, das schwarze Haar streng zurückgekämmt, mit schwarzem T-Shirt und langer, grüner Schürze.

»Sehen Sie, wie braungebrannt der ist, Maresciallo? Hat im März vier Wochen zugemacht, um Ski fahren zu gehen. Die Menschen, die zu mir essen kommen, arbeiten. Ich mache Urlaub, wenn sie Urlaub machen. Was glaubt der eigentlich, was ich mit seinem Geld anfangen will? Wo soll ich denn hin? Das hier ist nicht bloß ein Job. Die Arbeit und [14]die Menschen hier sind mein Leben!« Er beschrieb mit seinem Arm einen großen Bogen, schloß den Schuhmacher, den Möbelrestaurateur, den Drucker und den Packer mit ein, der gerade bronzene Kerzenleuchter und eine Marmorstatue für die Verschiffung ins Ausland verpackte. »Er kommt halt aus Mailand. Das kennt man ja. Glauben, den Preis für alles und jedes zu kennen, aber vom wahren Wert der Dinge haben sie nicht die geringste Ahnung. Er wird schon noch merken, daß ich eine harte Nuß bin. Um ganz ehrlich zu sein, ich amüsiere mich königlich.« Lapo grinste und winkte freundlich nach drüben. Der junge Mann grüßte lächelnd zurück. »Guten Morgen.«

»Ich guten Morgen dich gleich, du Fatzke.« Lapo schob die Hände zurück unter den Latz seiner fast makellos sauberen Schürze. »Du hast ja keine Ahnung, was es heißt, in diesem Viertel geboren zu sein. Aber du wirst schon noch dahinterkommen, meinen Sie nicht auch, Maresciallo?«

»Lassen Sie sich von dem nicht aus der Ruhe bringen. Das wäre ja gelacht.« Beruhigend legte Guarnaccia eine große Hand auf die Schulter des kleineren Mannes. Er hoffte, daß er überzeugend wirkte und nichts von seinen gemischten Gefühlen nach außen drang. Als er weiterging und das Lärmen der Druckerpresse hinter verstaubten Milchglasscheiben[15] und den kühlen, frischen Geruch der Druckerschwärze hinter sich ließ, dachte er über Lapo und die Florentiner nach. Er lebte nun schon so lange unter ihnen, aber von Zeit zu Zeit hatte er noch immer das Gefühl, daß sie von einem anderen Stern stammten. Der junge Möbelrestaurateur war nicht im Geschäft. Das Gitter war noch nicht hochgezogen. Er fuhr oft zum Einkaufen in den Norden hinauf. Der Schuhmacher war auch nicht da, aber die Tür stand offen, und der Strahler, der das neueste Paar Schuhe ins rechte Licht rückte, war bereits eingeschaltet. Ein junger Mann arbeitete dort drinnen, den Kopf tief über die Arbeit gebeugt. Wahrscheinlich ein Lehrling. Beschwerten sich nicht immer alle, daß es heutzutage unmöglich sei, Lehrlinge zu finden? Capitano Maestrangelo, sein Chef, konnte sich nur selten ein Lächeln verkneifen, wenn der Maresciallo seine Verwunderung über derlei Dinge kundtat, und es war wahrlich nicht einfach, dem Capitano ein Lächeln zu entlocken.

»Die Welt besteht aus fünf Elementen: Erde, Luft, Feuer, Wasser und die Florentiner«, hatte er einmal erklärt.

Der Maresciallo hatte ihn sprachlos angestarrt.

»Das ist nicht von mir. Ein Zitat.«

»Aha.«

[16]Aber was hatte er damit sagen wollen? Er hätte sich bei Lapo nach dem Schuhmacher erkundigen sollen, dessen jähzornige, scharfe Zunge den Klatsch und Tratsch im Viertel nährten. Seine handgearbeiteten Schuhe waren berühmt auf der ganzen Welt, sein aufbrausendes Temperament Gesprächsthema im ganzen Viertel und weit darüber hinaus. Im vergangenen Jahr hatte er einen Herzanfall gehabt. Der Doktor empfahl ihm dringend, die Dinge ein wenig gelassener anzugehen und Aufregungen jeglicher Art zu vermeiden. Niemand, der den Schuhmacher kannte, glaubte daran, daß der nächste Herzanfall lange auf sich warten lassen würde, auch der Maresciallo nicht.

Er gelangte in die Via Maggio und begann seine Runde bei den wichtigsten Antiquitätenhändlern, denen er die monatliche Liste gestohlener Kunstgegenstände brachte. Lorenzini hatte es schließlich aufgegeben, ihn dazu überreden zu wollen, dies per E-Mail zu erledigen. Bestimmt hatte er den Maresciallo, der noch immer mit dem 2-Finger-Such-System auf eine mechanische Schreibmaschine einhackte, als hoffnungslosen Fall abgeschrieben. Vielleicht hatte ihn aber auch inzwischen die Erfahrung gelehrt, daß es zu spät war, seine Pappenheimer erst dann kennenlernen zu wollen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen [17]war. Der Maresciallo jedenfalls ließ sich nicht von seiner Routine abbringen, trottete weiter zu jedem der großen Geschäfte, in denen es nach Bienenwachs, Staub und Blumen roch, freute sich an den dunkelroten, polierten Böden, den Intarsienarbeiten und den schweren Brokatstoffen. Selbst wenn er sein ganzes Leben arbeitete und jeden Cent sparte, würde er sich nie auch nur ein einziges Stück aus diesen Geschäften leisten können. Aber immerhin konnte er sich an deren Betrachtung erfreuen. Solange er zurückdenken konnte, hatte er in diesen Geschäften noch nie einen Kunden angetroffen, was ihm ziemlich seltsam vorkam.

Die einzige Ausnahme machte Pino an der Ecke der Piazza San Felice, sein Lieblingsgeschäft unter all den Antiquitätenläden und das einzige, in dem er auch mal auf einen kleinen Schwatz verweilte. Pino war anders. Sein Geschäft war genauso groß und prächtig wie das der anderen, seine Ausstellungsstücke ebenso unbezahlbar. Zwar trug er eine vornehme Seidenfliege, doch blitzte diese nur ab und an unter dem weißen Arbeitskittel hervor. Pino restaurierte seine Kunstschätze selbst, zusammen mit seinem Sohn, in einer riesigen Werkstatt unter dem Laden. Zweifellos war er ein sehr vornehmer, kultivierter Mann, dennoch hatte er mehr Ähnlichkeit mit Lapo als mit all den anderen [18]Antiquitätenhändlern. Er liebte seine Arbeit mehr als das Geld, das er damit verdiente. Kein Dieb, der sich in der Branche auskannte, würde versuchen, Pino gestohlene Ware unterzujubeln. Und so nahm Pino die Liste des Maresciallo wortlos entgegen und legte sie in eine Schublade, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Kommen Sie doch einen Augenblick mit nach unten. Entschuldigen Sie … geht’s? Kommen Sie durch?«

Pino und sein Sohn waren beide sehr schlank, und der dunkle Flur, der zur Treppe nach unten in die Werkstatt führte, war mit Möbeln und schweren Bilderrahmen vollgestopft. Der Maresciallo schob die Sonnenbrille in die Brusttasche, zog den Bauch ein und zwängte sich seitlich durch. Er mochte die große, kühle Kellerwerkstatt mit dem hohen, vergitterten Oberlicht, das den Blick auf den Stamm einer großen Palme im schattigen Hof freigab. Ein Radio spielte leise. Pinos Sohn, der im Licht eines hellen Scheinwerfers arbeitete, sah auf und schob freundlich lächelnd die dunkle Brille hoch auf die Stirn. Der Maresciallo mußte nicht nach einem Grund für sein Erscheinen suchen. Vater und Sohn wußten, daß er ihnen gerne bei der Arbeit über die Schulter blickte, wenn er ein wenig Zeit hatte.

»Wie gefallen Ihnen die hier?« Pino wies auf [19]einen Satz niedriger, quadratischer Hocker, die recht robust und schwer wirkten. Die Verzierung in Gold und Grün war über die Jahrhunderte ganz verblaßt. »Medici-Hocker. Ich habe elf davon gekauft, als der Palazzo Ulderighi an die Bank verkauft wurde. Einer ist allerdings in einem wirklich traurigen Zustand, sehen Sie nur.«

Der Maresciallo trat ein wenig näher, um den Hocker, den der junge Marco gerade bearbeitete, etwas genauer zu betrachten.

»Holzwurm.«

»Kein Holzwurm. Da hat jemand stümperhaft restauriert. Was immer mit dem Originalsitz passiert ist, dieser hier ist neu. Der Holzwurmbefall ist fingiert. Marco bleibt wahrscheinlich nur noch eine differenzierte Restauration, das bedeutet, daß das neu eingefügte Teil klar zu erkennen sein wird, etwa wie bei diesem Stück hier, sehen Sie?«

Der Maresciallo betrachtete die Antiquitäten eingehend, hörte zu und begriff höchstens die Hälfte von all den Erklärungen. Wie war es wohl, einen Vater zu haben, der soviel Kunstfertigkeit und soviel kostbares Wissen weiterzugeben hatte? Er beneidete den jungen Mann. Aber sogleich verdrängte das schlechte Gewissen alle Neidgefühle, als er an seinen Vater dachte, daran, wie er ihn gelehrt hatte, Reben zu schneiden.

[20]»Laß nur drei Triebe stehen – nein, nein, du mußt sie sorgsam auswählen … hier auf der linken Seite und da ist noch ein kräftiger in der Mitte. Den letzten suchst du aus. Sehr gut. Schön, jetzt beschneide sie richtig. Und dann binde sie fest, zweimal herum und drehen … Nein, nein, komm, ich zeig’s dir.«

Wieviel Geduld er doch gehabt hatte mit seinem unbeholfenen Sohn, dessen dicke Finger die rote Weidengerte einfach nicht so drehen konnten, daß sie hielt.

»Ich muß los.« Hatte er Pino mitten im Satz unterbrochen? Das passierte ihm manchmal, Teresa hatte ihn schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht.

»Du hörst mir überhaupt nicht zu, sondern führst in deinem Kopf die ganze Zeit eine Art inneren Monolog. Dann platzt du mit einer völlig zusammenhanglosen Bemerkung heraus, und ich soll verstehen, von was du gerade sprichst.«

Doch sie wußte immer, was er meinte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie das anstellte.

Der vom Fluß aufsteigende Morgennebel hatte sich noch nicht ganz gelichtet. Der Maresciallo klingelte bei Signora Verdi, die ein Appartement im obersten Stock an der Ecke der Via Mazzetta bewohnte, aber niemand öffnete. Als er den kühlen[21] Schatten der hohen Gebäude in der Via Maggio verließ und die ungeschützte Steigung zum Palazzo Pitti hinaufmarschierte, brannte die Sonne heiß auf ihn herab. Er hatte die erste Stunde seines Arbeitstages, in der er eigentlich langweiligen Papierkram hätte erledigen sollen, sehr angenehm verbracht, und so war er nun bereit, es mit allem aufzunehmen, was ihn auf der Wache erwarten mochte.

Wie sich herausstellte, warteten in dem gefliesten, fensterlosen Raum nur zwei Personen, ein Mann, der das Protokoll einer Anzeige brauchte, um einen Versicherungsschaden geltend zu machen, und eine kleine, dicke Frau um die neunzig, mit kräftigen Wangen und einer großen Brille.

»Signora Verdi! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich zu Ihnen komme. Sie können doch nicht zu Fuß alle die Treppen bis nach hier oben hinaufsteigen!«

»Ich muß mich regelmäßig bewegen. Wenn ich damit erst einmal aufhöre, werde ich mich nie wieder dazu aufraffen können – und was ist schon Ihre Treppe im Vergleich zu meiner? Ich bin gekommen, weil ich mich bei Ihnen bedanken wollte.« Sie griff nach seinem Arm und hakte sich bei ihm ein.

»Kommen Sie doch mit in mein Büro. Wir haben Ihnen zu danken. Wenn doch nur mehr Mitbürger [22]so geistesgegenwärtig und clever wären wie Sie, hätten wir deutlich weniger Vorkommnisse dieser Art. Kommen Sie, setzen Sie sich.«

Mit ›Vorkommnissen dieser Art‹ meinte er zwei Betrüger in blauen Overalls, die mit einem Klemmbrett in der Hand behaupteten, sie kämen von den Stadtwerken und müßten an der Rückseite aller Gasöfen eine neue Sicherheitsvorrichtung anbringen, weil ein neues Gesetz dies verlange. Sie erschreckten die alten Leute mit Geschichten über Gasexplosionen und verließen sie schließlich mit deren Unterschrift und um zehn Euro reicher. Signora Verdi hatte den Gaunern erzählt, sie hätte kein Geld im Haus, und sie gebeten, am nächsten Tag noch einmal vorbeizukommen. Da warteten dann zwei Carabinieri auf die beiden.

Sie unterhielten sich noch ein Weilchen. »Ich muß jetzt wieder los«, verabschiedete sich Signora Verdi schließlich. »Der Mann in dem Warteraum war vor mir da. Allerdings ist an der Treppe kein Geländer. Könnte der junge Carabiniere mir vielleicht hinunterhelfen?«

»Aber natürlich. Das macht er gerne. Ich bringe Sie zu ihm. Sie haben uns sehr geholfen. Ich hätte Sie gern in meiner Truppe.«

Als sie wieder auf den Beinen stand, nahm sie ihn in den Arm und drückte ihn kurz. »Wissen Sie, [23]mein Herd ist elektrisch«, erklärte sie ihm auf dem Weg zu dem jungen Carabiniere.

Der Mann, der das Anzeigenprotokoll für die Versicherung brauchte, stand auf.

»Komm rein, Franco, setz dich.«

Danach wartete niemand mehr, so daß sich der Maresciallo dem Papierkram widmen mußte, den er so gerne liegengelassen hätte. Darüber hinaus fand er auch noch Zeit für ein kurzes Gespräch mit einem neuen Kollegen, der direkt nach der Ausbildung zu ihnen gekommen war und in letzter Zeit offenbar mit einigen Problemen zu kämpfen hatte. Noch war nichts passiert, was die gute Frühlingslaune des Maresciallo hätte beeinträchtigen können. Als er zum Mittagessen nach Hause zurückkehrte, stand Teresa in der Küche und kochte Spaghetti alla Norma, sein Lieblingsgericht.

»Ich weiß ja, daß du kein Fett essen darfst, aber es war so herrlich sonnig auf dem Markt heute morgen. Ich habe es richtig genossen, und der Schäfer, der immer mittwochs kommt, hat den gesalzenen Ricotta nur ganz selten, deshalb … Wenn du nicht zuviel davon ißt …«

Natürlich aß er zuviel davon. Es war köstlich. Und selbstverständlich gehörte ein Glas Rotwein dazu.

Ein kleiner, zufriedener Seufzer entschlüpfte [24]ihm. Selbst als Giovanni und Totò ihre endlose Streiterei wiederaufnahmen, mischte er sich nicht ein, sondern blieb die Ruhe selbst und überließ es Teresa, die beiden zur Ordnung zu rufen.

»Totò, das reicht jetzt!«

»Aber ich habe doch recht. Er ist zu nichts zu gebrauchen, und überhaupt, es ist doch bloß, weil ich Software-Spezialist werden will. Er weiß ja nicht einmal, was das ist.«

»Weiß ich wohl.«

»Weißt du nicht. Mit deinem Spatzenhirn schaffst du es höchstens zum Carabiniere.«

»Totò!« Teresa warf einen prüfenden Blick zu ihrem Mann hinüber. »Ich hatte gesagt, daß es jetzt reicht«, raunte sie warnend ihren Söhnen zu. »Gebt mir eure Teller.«

Giovanni reichte ihr seinen Teller hinüber und griff nach dem seines Vaters. Er wirkte bedrückt. Der Maresciallo, der den Streit weitestgehend ausgeblendet hatte, wollte seinem Sohn tröstend über den Kopf streichen. Aber Giovanni wich der Hand aus.

»Ich will kein Fleisch«, sagte Totò.

Der Maresciallo schaute seine Frau an, die ihm bedeutete, nicht weiter darauf einzugehen.

Totò aß Zucchini und Brot. Giovanni aß ohne Einschränkung alles, und als der Maresciallo [25]schließlich einen Apfel zum Dessert schälte, hatte sich seine Laune deutlich gebessert.

»Ich mach uns einen Kaffee.« Die funkelnde Espressomaschine unterstand seiner Machtbefugnis. Teresa begann mit dem Abwasch, und die Jungen marschierten in ihr Zimmer, um sich wegen der Computerspiele zu streiten, statt Hausaufgaben zu machen. »Möchtest du ihn hier trinken, oder soll ich ihn nach hinten bringen?«

»Bring ihn nach hinten, ich brauche nur noch eine Minute. Die Zeitung liegt im Flur. Ich habe heute noch keinen Blick hineingeworfen.«

Er nahm die Zeitung auf, die im Flur auf der Truhe neben Teresas Handtasche und der Schale mit den Schlüsseln lag. Mit Tablett und Zeitung schlurfte er weiter in das kühle, ruhige Wohnzimmer und machte es sich in einem Ledersessel bequem, um diese kostbare Stunde des Tages so richtig zu genießen, bevor er wieder zurück in die Uniform schlüpfen mußte. Teresa ließ ihren Kaffee kalt werden, aber sie kam kurz zu ihm, um ihm von ihrem Tag zu erzählen, wobei sie sich jedoch nicht einmal setzte.

»Was sagst du dazu?«

»Wie bitte? Oh, ich bin ganz deiner Meinung. Wenn ich mit dem Elektriker reden soll …«

»Ich meine nicht die neue Lampe, ich meine [26]Totò! Laß uns heute abend darüber reden. Ich habe keine Zeit mehr.«

Was immer ihr auf dem Herzen lag, sie würde es noch einmal ansprechen, da brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Er konnte nicht aufhören, sich über sie zu wundern, darüber, daß sie da war, sich um alles kümmerte, ihm von Problemen erzählte und dann, irgendwie, genau wußte, was zu tun war. Woher wußte sie, welche Entscheidung die richtige war, während ihn Verwirrung und Zukunftsängste in lähmende Zweifel stürzten? Er schob dieses unlösbare Rätsel beiseite, las den Zeitungsartikel zu Ende und kleidete sich dann sorgfältig für den anstehenden Besuch bei Capitano Maestrangelo im Hauptquartier an, das sich auf der anderen Seite des Flusses in der Via Borgognissanti befand.

Der Capitano lächelte nicht.

»Ich muß nur noch zu Ende telefonieren … Aber nein, setzen Sie sich doch schon einmal.« Er wies mit der Hand auf eine dreiteilige Ledergarnitur. Der Maresciallo marschierte hinüber und ließ sich in einen Sessel sinken, die Kappe auf den Knien. Ein Carabiniere kam herein und stellte ein Tablett mit Kaffee auf dem Couchtisch ab.

»Brauchen Sie den Aschenbecher?«

»Nein, danke.«

[27]Der Carabiniere nahm ihn mit. Eines der hohen Fenster stand ein wenig offen, und die Musselingardine bewegte sich im sanften Nachmittagswind. Der Maresciallo wartete, beobachtete das Flirren der feinen Staubpartikel im Strahl der Sonne, der den Läufer unter seinen Füßen wärmte. Nach einer Weile wanderte sein Blick auf die dunklen Ölgemälde an der Wand, Überzähliges aus einem vollgestopften Museum. Der Capitano sprach mit einer derartig gemessenen Feierlichkeit in den Hörer, daß jeder, der ihn nicht kannte, glauben mußte, er rede mit dem Präsidenten der Republik. Der Maresciallo allerdings kannte ihn und wußte, daß er selbst mit dem rangniedersten Carabiniere in genau dieser Art sprach. Er schätzte das. Ebenso wie er die ruhige Intelligenz, die Ehrlichkeit und die Verläßlichkeit seines Vorgesetzten schätzte. Einzig und allein daß Teresa über dessen gutes Aussehen ins Schwärmen geriet, störte ihn an diesem Mann, obwohl er nicht sagen konnte, warum.

›Nein, nein, das finde ich übertrieben. Nein. Er ist ein guter Mann, aber …‹

›Richtig schmuck in seiner Uniform und diese wohlgeformten Hände.‹

›Hände?‹

»Bleiben Sie sitzen.« Eine der wohlgeformten Hände, schlank und gebräunt, griff nach der Hand [28]des Maresciallo. Der Capitano setzte sich und schenkte den starken, schwarzen Kaffee in kleine, mit Goldrand verzierte Tassen. »Und? Haben Sie die Sache klären können?«

»O ja, kein Problem. Die Signora hatte ganz recht. Wer die letzten sieben Monate in der Provence und … wo war das noch mal?… ach ja, Mexiko verbracht hat, kann kaum eine Stromrechnung in dieser Höhe verursacht haben. Nein, nein. Ich war mir ziemlich sicher, daß einer der beiden jungen Männer auf der anderen Seite des Flurs etwas damit zu tun hat. Ich mußte zweimal dorthin, denn beim ersten Mal hatten sie mich in Uniform an der Haustür stehen sehen und nicht aufgemacht. Aber das hatte ich Ihnen ja bereits erzählt. Beim zweiten Mal hat mich die Signora ins Haus gelassen, und sie hat dann bei den jungen Männern an die Tür geklopft und sie gerufen. Als sie erst einmal geöffnet hatten, war alles klar. Ich hatte sie zuvor gebeten, in ihrer Wohnung den Strom abzustellen, und bei den jungen Männern war es stockfinster.«

»Das habe ich mir gedacht. Wie haben sie es angestellt?«

»Das war gar nicht so schwer. Sie hat sich eine Klimaanlage installieren lassen. Die beiden sind von der Terrasse rüber zu ihrer und haben die Anlage angezapft. Sie hat gesagt, daß sie nicht sehr oft [29]in Florenz sei, und ich nehme an, die beiden fanden es nur recht und billig. Sie wissen ja, wie die Leute denken: reiche Ausländer, die die Preise für Häuser und Mieten in die Höhe treiben. Ist sie Amerikanerin?«

»Französin. Einige Jahre lang hat sie in Washington als Korrespondentin für eine französische Zeitung gearbeitet.«

»Verstehe. Sie hat mir erzählt, daß sie im Moment für ein Buch über die Anfänge der Oper recherchiert. Eine wirklich schöne Wohnung hat sie da und einige recht wertvolle Antiquitäten. Ich habe mir die Freiheit genommen, ihr vorzuschlagen, eine vernünftige Einbruchsicherung einbauen zu lassen.«

»Gute Idee.«

»Sie ist eine bezaubernde Frau.«

›Charmant und sehr elegant.‹ Zweifellos hatte Teresa recht, aber er hatte für so etwas kein Auge.

Da der Capitano schwieg, fuhr er fort. »Allerdings wird sie wohl keine Anzeige erstatten. Konnte sich nicht dazu durchringen. Schließlich muß sie weiter mit ihren Nachbarn Tür an Tür leben. Und sie ist alleinstehend. Nicht ganz unverständlich. Ich glaube, die beiden haben sie besucht und dazu überredet, die Sache auf sich beruhen zu lassen, ihr wahrscheinlich einen Teil des Geldes [30]zurückbezahlt. Ich kann sie nicht umstimmen, damit sie die Sache doch zur Anzeige bringt, und vielleicht hat sie ja auch recht.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Sie haben das Problem gelöst. Vielen Dank. Ist ansonsten alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Alles ruhig und friedlich.«

»Und der Mann, der Ihnen Sorgen gemacht hat? Esposito heißt er, wenn ich mich recht erinnere, nicht wahr?«

»Esposito. Ja. Ich weiß nicht. Ich habe mit ihm gesprochen, aber ich bin mir nicht sicher. Er macht auf mich einen unglücklichen Eindruck, einen sehr, sehr unglücklichen Eindruck. Ich denke, daß mehr als nur Heimweh dahintersteckt. Bis vor kurzem schien alles noch ganz in Ordnung zu sein. Ich werde ihn im Auge behalten. Er ist ein guter Mann. Sehr verläßlich, intelligent …«

Sie sprachen noch kurz über einige Umbauarbeiten, die für die Schlafsäle der Carabinieri geplant und wegen fehlender Mittel auf unbestimmte Zeit verschoben worden waren. Doch der Colonello unterbrach ihr Gespräch.

Der Fahrer holte den Maresciallo am Fuß der steinernen Treppe ab, und sie fuhren durch den dunklen Bogengang hinaus in den hellen Sonnenschein und die lärmende Betriebsamkeit der Via [31]Borgognissanti. Der Maresciallo war entspannt und guter Laune, sehr zufrieden mit dem angenehmen Tag. Erst als sie den Torbogen zum Palazzo Pitti passierten, registrierte er, daß etwas anders war als sonst. Auf der Anzeigetafel bat eine Meldung in vier Sprachen die Besucher des Boboli-Gartens, sich umgehend zum nächsten Ausgang zu begeben, da der Garten schließen würde. Eine ganz normale Anzeige, die jeden Abend kurz vor Sonnenuntergang dort stand. Aber als der Wagen des Maresciallo durch den Torbogen fuhr, war es erst halb sechs, und die Sonne stand noch hoch oben am blauen Frühlingshimmel.

[32]2

Und wo steckt die Frau jetzt?« »Keine Ahnung.« Der Gärtner zuckte mit den Schultern, war auf der Hut.

»Aber Sie haben den Namen notiert.«

»Den Namen? Ich hab geglaubt, daß jemand ertrinkt. Was hätten Sie da getan? Nach einem Stift gekramt und sie nach Namen, Adresse und Geburtsdatum gefragt?«

»Schon gut. Ich frage ja nur.«

»Und ich antworte nur. Ich bin Gärtner, kein Polizist, verflixt noch mal. Ich bin, so schnell es ging, hier hochgerannt. Das hätte jeder getan. Aber wenn ich mich nicht irre, war ich nicht schnell genug, oder?« Er warf einen unbewegten Blick auf die grünlichen Überreste dessen, was einmal ein Gesicht gewesen war. »Muß schon eine ganze Weile dort gelegen haben. Die Fische haben ganze Arbeit geleistet. Der Wind steht schlecht …«

Der Maresciallo holte tief Luft und befahl sich, ganz ruhig zu bleiben.

[33]»Hat sie sonst noch was gesagt? Außer, daß sie glaube, jemand sei in das Becken gefallen?«

»Nein – doch, sie hat noch gesagt, welches sie meint. Das Becken, das mit Wasserlinsen zugewachsen ist, hat sie gesagt. Wachsen wie Unkraut. Wir haben zuviel zu tun und jede Menge Wasserbecken. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, das hier oben zu kontrollieren, es kommt kaum jemand hierher, warum auch?«

»Zwei Menschen sind aber ganz offensichtlich doch hierhergekommen, wenn nicht sogar drei.«

»Drei?«

Die Bemerkung brachte den Gärtner aus dem Konzept. Wenn ein Florentiner sich zynisch und aggressiv gibt, um seine Betroffenheit zu verbergen, hilft nur Geduld. Der Maresciallo war ein Meister der Geduld.

»Was meinen Sie mit drei?« Unwillkürlich hatte der Gärtner die Stimme gesenkt. »Sie glauben, jemand …? Sie glauben nicht, daß sie gestürzt ist?«

»Wie tief ist das Wasser?«

»Ungefähr einen Meter, mehr nicht … eher etwas weniger.« Der Gärtner machte Anstalten, sich auf den Beckenrand zu setzen.

»Nicht. Sie dürfen sich nicht dahin setzen. Lassen Sie uns ein paar Schritte zurückgehen. Haben [34]Sie die Leiche angefaßt, als Sie auf mich gewartet haben?«

»Nein. Ich habe nur geguckt. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich entdeckt habe, daß das …« Er brachte es nicht über sich, das Wort ›Gesicht‹ auszusprechen, was den Maresciallo nicht verwunderte. Eingerahmt von grünen Wasserpflanzen, waren da eigentlich nur noch Knochen mit ein paar wenigen, von Laichkrautgewächsen umwickelten schleimigen Fetzen und schwarzes Haar. »Man kann es kaum erkennen, aber an den Pflanzen können Sie sehen, daß ich sie keinen Zentimeter bewegt habe.«

»Aber Sie haben ›sie‹ gesagt. Sie haben gesagt, Sie glauben nicht, daß sie gestürzt sei. Woher wissen Sie, daß es eine Frau ist oder ein Mädchen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht wegen der Handtasche.«

»Was für eine Handtasche?«

»Die auf dem Rand stand.«

»Und wo ist die jetzt?«

»Ich fürchte, ich muß mich …«

»Nicht hier! Setzen Sie sich dort auf die Bank.«

»Es ist gleich wieder vorbei. Ich bin nur ein wenig außer Atem, das ist alles. Kein Wunder bei dem ganzen Hinundhergerenne.«

»Setzen Sie sich einen Augenblick, und atmen [35]Sie tief durch. So ist es gut. Schön. Was ist mit dieser Handtasche?«

»Ich habe sie mitgenommen, als ich ins Büro gelaufen bin, um Sie anzurufen. Ich gehe sie holen.«

»Nein.«

»Das dauert nur eine Minute. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber …«

»Nein. Ich will nicht, daß Sie sie noch einmal anfassen. Ich lasse sie abholen. Und wir müssen Ihre Fingerabdrücke nehmen. Das verstehen Sie doch, oder?«

Der arme Mann sah aus, als müsse er sich gleich übergeben, deswegen zeigte der Maresciallo Erbarmen mit ihm. »Gehen Sie, und trinken Sie einen Schluck Wasser. Und dann bleiben Sie unten am Annalena-Eingang und erklären meinen Leuten und denen von der Gerichtsmedizin, wie sie hierherfinden.«

Mit gesenktem Kopf eilte der Gärtner davon. Als seine Schritte auf dem Kies verhallten, war es totenstill, abgesehen vom Lärmen der Amseln, die in der niedrigen Buchsbaumhecke herumhüpften. Der Gärtner hatte recht, niemand kam nach hier oben. Ein Bummel durch den Boboli-Garten war so etwas wie eine Belohnung für Touristen, die sich von dem anstrengenden Besuch der Galerien im Palazzo Pitti erholen wollten, oder für die Studenten[36] der Sprachschulen, die hier ein Stück Pizza aßen und sich auf den ausladenden Stufen des Amphitheaters unter den Blicken streunender Katzen sonnten. Die florentinischen Mütter hatten ihre eigenen, vielbesuchten Routen durch die Anlage. Sie ruckelten die Kinderwagen gemächlich vor und zurück, während sie auf den steinernen Bänken der langgestreckten Platanenallee einen kleinen Schwatz hielten, oder sie zogen die Sportwagen über den Kies zu den berühmten Brunnen. Sie zeigten ihren Kindern, wie Poseidon das Wasser in Aufruhr versetzte und die ordentlichen Topfreihen der Zitronenbäume mit seinem Dreizack durcheinanderzubringen drohte, oder den grimmigen, über seine Insel herrschenden Oceanus und natürlich die glänzenden Goldfische, die größer waren als die kleinen Kinder, die mit den Fingern auf sie zeigten, und die ihre Mäuler in der Hoffnung auf ein Stückchen Brot aus dem trüben Wasser streckten. Niemand bemühte sich nach hier oben. Ein heimlicher Treffpunkt für Verliebte, die sich vielleicht eng umschlungen auf den glatten, warmen Beckenrand setzten. Ein Rendezvous, das falsch gelaufen war, oder aufgeflogen …

Er konnte den Gedanken plötzlich nicht mehr weiterverfolgen. Eine Erinnerung versetzte ihn schlagartig zurück in die Vergangenheit. Panik, [37]seine Stiefel, die in eine flatternde Hühner-und-Enten-Wolke tauchten …

O Himmel! Selbst jetzt wurde er noch knallrot bei der Vorstellung, er wäre erwischt worden. Wäre seine Karriere in der Armee zu Ende gewesen, bevor sie überhaupt begonnen hatte? Nein, rückblickend glaubte er das nicht mehr, aber damals … dieser verfluchte Priester!

Es war sein erster Posten gewesen. Einundzwanzig Jahre alt, gefangen in einem Dorf im Herzen von Nirgendwo. Die Frau war etwa Anfang Dreißig. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an ihren Namen erinnern. Ein Gesicht wie eine Madonna und eine Figur wie Sophia Loren. Sie hatte kein Geheimnis daraus gemacht, daß ihr Mann sie schrecklich vernachlässigte und nachts arbeitete. Die Kirche lag direkt gegenüber. Bestimmt hatte der Priester vor lauter Eifersucht ihren Mann angerufen. Als sie beim Knattern seines Motorrades erschreckt vom Sofa aufsprang, blieb nur ein Fluchtweg – zum Küchenfenster hinaus ins Hühnergehege. Hühner und Enten. Überall Federn. Welch ein tumultartiges Gegacker und Geflatter! Gott sei Dank war er noch angezogen. Wenn der Mann nur zehn Minuten später gekommen wäre … das Risiko, das man als junger Bursche gedankenlos auf sich nahm …

[38]»Und auf welches Risiko hast du dich eingelassen?« wollte er von dem mitgenommenen Schädel auf dem grünen Bett wissen. Es konnten natürlich Drogen sein, aber das glaubte er nicht. Der Garten wurde bei Sonnenuntergang geschlossen, das hier mußte am hellichten Tag geschehen sein. Unwahrscheinlich, daß Drogen im Spiel waren. Ratlos blickte sich der Maresciallo um.

Wasserlinsen, hatte der Gärtner gesagt. Fast die gesamte Wasseroberfläche war bedeckt von einem Teppich aus blassen, runden Blättern und größeren, knollenförmigen Klumpen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Beckens konnte er ein Fleckchen dunkelgrünes Wasser erkennen, dort hatten sich ein paar Enten ein wenig Platz freigefressen. Wahrscheinlich hatte ihr plötzlicher Anblick die plötzliche Erinnerung an seine Jugendsünde geweckt. Aber von diesem Fleckchen einmal abgesehen gab es nicht eine einzige Lücke in dem Pflanzenteppich. Wächst wie Unkraut …

Der Maresciallo tauchte eine Hand ins Wasser, in gehörigem Abstand von dem Leichnam – sofern der überhaupt noch vorhanden war – und ertastete eines dieser knotigen Bündel. Es trieb auf dem Wasser, frei auf der Oberfläche, nur von den Nachbarpflanzen gehalten.

»Hmm.« Damit würden sich die Experten befassen[39]