Tod einer Verrückten - Magdalen Nabb - E-Book

Tod einer Verrückten E-Book

Magdalen Nabb

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Beschreibung

Warum sollte jemand Clementina ermorden, jene liebenswerte Verrückte, die jeder kennt im Florentiner Stadtviertel San Frediano? Wie sie in ihrem abgetragenen Kleid immer vor der Bar mit dem Besen herumfuhrwerkte – das war ein allen vertrautes Bild. Erst als Clementina tot ist, wird klar, wie wenig man eigentlich von ihr weiß.

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Seitenzahl: 368

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Magdalen Nabb

Tod einer Verrückten

Ein Fall für Guarnaccia

Roman

Aus dem Englischen von Irene Rumler

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Autorenbiographie

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Impressum/Copyright

[5] 1

Unwillkürlich blieben sie am Randstein stehen. Kein Auto war in Sicht, und man hörte nicht einmal fernes Motorengeräusch, aber sie hatten dieses Verhalten so verinnerlicht, daß sie zögerten, bevor sie auf die leere, schmale Straße hinaustraten, verwirrt, weil sie gegen nichts anzukämpfen hatten. Wenn ihnen danach zumute gewesen wäre, hätten sie sogar mitten auf der Straße gehen können, doch die überwältigende Florentiner Augusthitze bewog sie, sich dicht an der Häuserfront in dem schmalen Streifen Schatten zu halten, den die Dachsimse warfen.

»Alles in allem«, sagte Maresciallo Guarnaccia, sobald sie die Straße überquert hatten, »spricht vieles dafür. Ich bin froh, daß wir uns so entschieden haben.«

Der Maresciallo und seine Frau hatten im Juli Urlaub gemacht. Sie waren mit ihren zwei kleinen Jungen nach Sizilien in ihre Heimatstadt in der Provinz Syracus gefahren und hatten die Kinder anschließend bei der Schwester des Maresciallo gelassen, wo sie den ganzen August bleiben sollten, während er wieder auf sein Revier im Palazzo Pitti zurückmußte. Jetzt war früher Nachmittag, Siesta-Zeit, so daß sie mehr noch als sonst das Gefühl hatten, die einzigen zwei Menschen zu sein, die sich noch in der Stadt aufhielten.

»Wenn wir diese Abkürzung nehmen, ist es kühler.«

[6]Sie bogen in eine düstere Gasse, die so schmal war, daß nie ein Sonnenstrahl hineinfiel. Ihre Schritte hallten.

»Wenn wenigstens ein paar mehr Geschäfte offen hätten …«, murmelte die Frau des Maresciallo.

»Bis jetzt sind wir doch ganz gut zurechtgekommen.«

»Du willst sagen, ich bin zurechtgekommen. Gestern mußte ich quer durch die ganze Stadt laufen, um einen Metzger zu finden, und bestimmt wird es nach dem Fünfzehnten noch schlimmer, wenn die wenigen Leute, die ihre Läden bis jetzt geöffnet haben, auch noch zumachen.«

»Dann gehen wir eben öfter essen, so wie heute. Mir hat es gefallen.«

»Heute ist dein freier Tag. Aber wenn du Dienst hast, können wir nicht durch die Gegend rennen, um ein Restaurant zu suchen, das geöffnet hat.«

»Stimmt.«

»Ganz abgesehen davon, daß das zu kostspielig wird. Denk an meine Worte, die einzigen Lokale, die offenbleiben, haben es nur auf Touristen abgesehen. Schlechtes Essen zu horrenden Preisen. Nein, nein. Wir kommen schon zurecht. Angeblich soll in der Zeitung stehen, welche Geschäfte in den einzelnen Stadtvierteln geöffnet haben. Außerdem habe ich noch ein paar Konserven. Schließlich müssen wir ja nicht jeden Tag Fleisch essen. Im Krieg sind die Leute auch zurechtgekommen.«

»Übertreibst du nicht ein bißchen?«

»Es macht wahrhaftig keinen Spaß, bei fünfunddreißig Grad im Schatten in der Gegend herumzulaufen und nach einem offenen Geschäft zu suchen – und das Zeug dann noch kilometerweit nach Hause zu schleppen.«

[7]»Wenn du Auto fahren könntest …«

»Das haben wir alles schon durchgekaut. Der Verkehr in dieser Stadt ist ein einziger Alptraum aus Einbahnstraßen, und erst die Ringstraßen! Da würde mich in meinem Alter vor Angst der Schlag treffen.«

»Aber jetzt nicht.«

»Was meinst du mit ›jetzt nicht‹?«

»Den Verkehr. Es gibt keinen.«

»Da hast du recht …«

Blinzelnd traten sie auf die Hauptstraße hinaus, wo sie ein Schwall Hitze einhüllte und ihrer Unterhaltung ein Ende bereitete. Sie hatten die höchste Stelle des abschüssigen Hofs vor dem Palazzo Pitti erreicht und bogen nach links durch das große Eisentor, als sie noch einmal sagte: »Da hast du recht. Daran hatte ich nicht gedacht …«

Ihr kleiner Fiat stand neben dem Streifenwagen und dem Mannschaftswagen.

»Trotzdem, in meinem Alter … Und wer sollte es mir beibringen? Diese Fahrschulen kosten ein Vermögen.«

»Salva!«

»Mm.«

»Sag doch was – oder tu was!«

Der Maresciallo blinzelte hinter seiner Sonnenbrille und schaute nach allen Seiten.

»Laß dir nur Zeit«, meinte er nach einer Weile.

»Und sag nicht immer ›laß dir Zeit‹! Kannst du dir vorstellen, wie es an einem normalen Tag wäre, wenn hinter mir eine kilometerlange Autoschlange hupen und der Verkehrspolizist herkommen und mich weiterpfeifen würde? [8]Da wäre längst die ganze Stadt verstopft, und alle würden mir die Schuld geben. Wenn es bloß nicht so heiß wäre! Ich verschmelze buchstäblich mit dem Sitz. Ich hab dir gleich gesagt, wir hätten warten sollen, bis es kühler wird.«

»Es wird dunkel, bevor es kühler wird«, entgegnete der Maresciallo sachlich.

»Ich fahre nicht im Dunkeln, und damit basta.«

»Schon gut.«

»Also, der Gang ist drin. Ist er drin? Er ist drin. Kupplung – nein, Handbremse. Ich hätte in den Spiegel schauen sollen, aber … er fährt … nein. Salva, um Himmels willen!«

»Hab doch ein bißchen Geduld.«

»Geduld! Mit dir würde jeder die Geduld verlieren, wenn du so mit den Händen auf den Knien dasitzt wie ein Holzklotz. Als ob du fernsehen würdest. Wie kannst du mir das Fahren beibringen, wenn du nicht redest? Ich hänge seit einer halben Stunde an dieser Kreuzung fest – er fährt!«

»Ich glaube, du solltest lieber anhalten.«

»Und mir das Ganze noch mal antun? Ich werde nicht noch einmal anhalten, bevor wir zu Hause sind, wenn ich es vermeiden kann.«

»Na ja … die Via Romana ist eine Einbahnstraße. Halt an und fahr rückwärts raus. Du hättest rechts abbiegen müssen.«

»Was? Warum hast du das nicht gleich gesagt? Die Bremse … Wenn ich irgendwo drangefahren wäre – du willst uns wohl beide umbringen?«

»Setz einfach ein Stück zurück.«

»Das würde ich ja, wenn ich wüßte, wo … Da kommt ein Auto auf uns zu! Salva!«

[9]»Der wartet schon.«

»Gleich sind wir tot. Das ist nicht der Rückwärtsgang. Wenn uns irgendwas zustößt, was wird dann aus den Kindern? Jetzt fährt er zurück, und ich kann es ihm nicht verdenken. Wenn du mir helfen würdest, statt einfach nur dazusitzen – ah, jetzt hab ich ihn. Und jetzt, wie muß ich rückwärts lenken? Hätte ich mich doch bloß nicht darauf eingelassen! Du bist unmöglich! Wenn uns jemand sieht, sterbe ich vor Scham. Jetzt kann ich da abbiegen – oder doch nicht? Der Blinker, ich habe vergessen … Jetzt ist es zu spät. Du hättest doch was sagen können. Er verfolgt mich. Warum? Glaubst du, er hat sich über mich geärgert?«

»Vermutlich will er eben diese Strecke fahren.«

»Also ich fahre nicht schneller. Oder soll ich?«

»Ganz wie du willst.«

»Sag bloß nicht, ich soll mir Zeit lassen. Es stimmt, was die Leute immer sagen, daß es nicht gut geht, wenn Männer ihren Frauen das Autofahren beibringen wollen. Die haben nicht soviel Geduld wie ein Fremder. Denen reißt ständig der Geduldsfaden. Er ist noch immer hinter mir.«

»Mach dir keine Sorgen.«

»Ich soll mir keine Sorgen machen? Das Ganze war einzig und allein deine Idee, vergiß das nicht. Autofahren lernen ist was für junge Leute. Eine Frau in meinem Alter, die an ihre Kinder denken muß, kann nicht … Salva, schau, die vielen Leute auf der Straße! Was soll ich tun? Ich muß anhalten – ich halte an. Einparken kann ich nicht, das weißt du, das mußt du machen, wenn wir da nicht durchkommen. Ist das nicht einer von deinen Streifenwagen? Wo gehst du hin? Laß mich nicht allein!«

[10]»Warte auf mich.«

Mühsam hievte der Maresciallo seinen massigen Körper aus dem winzigen Fiat. Sie standen an einer Kreuzung, und das hintere Ende eines Autos, das rechts aus der schmalen Straße herausragte, gehörte tatsächlich zu einem Streifenwagen von seiner Carabinieri-Wache. Der Maresciallo bahnte sich den Weg durch die lärmende Menge und klopfte an das Fenster auf der Fahrerseite. Drinnen saß sein junger Brigadiere Lorenzini und sprach ins Funkgerät. Als er aufschaute und die großen Augen des Maresciallo hinter der Sonnenbrille auf sich gerichtet sah, kurbelte er die Scheibe herunter.

»Wie sind Sie so schnell gekommen? Ich habe gerade erst angerufen.«

»Was ist denn los?«

»Nichts Ernstes, nur ein Streit zwischen zwei Nachbarinnen.«

»Aber die ganze Straße ist hier versammelt!«

»Ich weiß. Bruno versucht, die Wogen zu glätten.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß noch so viele Leute in Florenz sind.«

»Nur gut, daß kein Verkehr ist. Ich glaube nicht, daß Bruno da sehr viel erreicht. Er ist zu jung, um genügend Autorität auszustrahlen, und außerdem mögen es die Leute in dieser Gegend nicht, wenn sich die Polizei einmischt.«

»Warum haben sie uns dann gerufen?«

»Haben sie nicht. Wir sind auf unserer Runde zufällig vorbeigekommen und haben festgestellt, daß die Straße blockiert ist.«

[11]Der Maresciallo richtete sich auf. »Überlaßt sie sich selber, die beruhigen sich schon wieder.«

Lorenzini streckte den Kopf zum Fenster heraus. Der Geräuschpegel nahm zu, und der junge Bruno war in dem Gedränge nirgends zu sehen.

»Das geht nicht so ohne weiteres. Es macht einen schlechten Eindruck, wenn wir nicht dafür sorgen, daß die Straße geräumt wird – außerdem ist die eine Frau splitternackt, was erheblich zu dem Ärgernis beiträgt …«

»Wieso das denn?«

»Sie ist nicht ganz richtig im Kopf.« Lorenzini klopfte sich an die Schläfe.

»Wo ist sie denn?«

»Da oben.«

»Du meine Güte …« Der Maresciallo bahnte sich den Weg zu dem Haus, vor dem sich ein Gerüst erhob, das im unteren Teil mit einem grünen Sicherheitsnetz verkleidet war.

»Lassen Sie mich durch.«

Die Leute achteten nicht auf ihn, traten weder beiseite, um ihn durchzulassen, noch hinderten sie ihn daran, sich an ihnen vorbeizuzwängen. Er trug keine Uniform, und kein Mensch wußte oder interessierte sich dafür, wer er war, da er nicht zu ihnen gehörte. Bruno konnte er nirgends entdecken, stellte aber fest, daß die Frauen am lautesten schrien. Ein paar Männer in Hemdsärmeln standen vor der Tür des eingerüsteten Hauses; einer von ihnen bearbeitete sie mit den Fäusten.

»Verpißt euch!« kreischte von oben eine hysterische Stimme. »Laßt mich in Ruhe!«

[12]»Du solltest dich schämen, so ordinär herumzuschreien!« brüllte eine stämmige kleine Frau, die dem Maresciallo ihren Ellbogen in den Magen rammte, »und zieh dir um Himmels willen was über!«

Der Maresciallo starrte wie alle anderen nach oben. Das Fenster der Wohnung im zweiten Stock war zwar nicht groß, reichte aber bis zum Boden und hatte nur ein niedriges Geländer. Die Frau, die dort oben stand, offenbar die, von der Lorenzini behauptet hatte, sie sei nicht ganz richtig im Kopf, schwenkte trotzig eine rosige Faust, die sie zwischendurch auf die unten versammelte Menge richtete, die meiste Zeit jedoch auf das Fenster gegenüber, das in dieser schmalen Straße keine drei Meter weit entfernt war. Sie war nicht ganz nackt, sondern hatte eine Art Kittelschürze an, die aber nicht zugeknöpft war und so weit aufsprang, daß sie ihren fetten rosigen Leib enthüllte; in ihrer Unbefangenheit wirkte sie wie ein zweijähriges Kind, das einen Wutausbruch hat.

»Gib endlich Ruhe, Clementina! Mach deine Fensterläden zu, damit hier wieder Frieden einkehrt.«

Irgendwann griff die verrückte Frau nach den Fensterläden, von denen die braune Farbe abblätterte, und knallte sie zu, stieß sie aber gleich wieder auf und ließ den nächsten unflätigen Wortschwall los.

Es ließ sich unmöglich feststellen, worum es bei dem Streit ging; die Frau von gegenüber, deren Stimme noch heiserer klang als die der Verrückten, war nur teilweise zu sehen, da ihr Fenster kleiner war. Vielleicht hielt sie sich bewußt im Hintergrund, weil sich der Unmut der Leute auf der Straße zunehmend gegen sie richtete.

[13]»Du machst alles nur noch schlimmer, laß sie doch in Ruhe!«

Ein dunkler Kopf schob sich über den Fenstersims, und der Maresciallo sah eine aufblitzende Brille und ein zorngerötetes Gesicht.

»Man sollte sie einsperren! Ich hab mir schon mehr gefallen lassen, als ich verkraften kann! Und wer da unten an meiner Tür klingelt, kann ruhig damit aufhören, weil ich sowieso nicht aufmache!«

Der Maresciallo wandte sich um und versuchte sich zur Tür gegenüber durchzuarbeiten, um festzustellen, ob da vielleicht der junge Bruno läutete, aber ein Mann, der noch größer war als er, versperrte ihm mit seinem breiten Rücken den Weg. Er hörte eine wütende Stimme fragen: »Wer zum Teufel hat die Carabinieri gerufen?«

»Weiß der Himmel …«

Gemeinsam unternahmen die Leute noch einen Versuch, die Verrückte dazu zu bringen, ihre Blöße zu bedecken, aber das löste nur einen weiteren Schwall obszöner Beschimpfungen aus, die in ihrer Trotzigkeit ebenso unschuldig wirkten wie die geradezu kindliche Nacktheit der Frau.

Obwohl das Gedränge und das Geschrei schlimmer wurden und die Hitze alle Beteiligten offenbar nur noch mehr aufbrachte, war dem Maresciallo klar, daß keine echte Gefahr bestand und daß es sich hier um eine Art Ritual handelte, das aufhören würde, sobald allen langweilig wurde. Sein Pech war es, daß der Mann vor ihm in diesem Augenblick zu der Frau mit Brille hinaufschrie, sie solle kein solches Miststück sein und die arme bekloppte Alte gefälligst in Ruhe lassen.

[14]Darauf sagte ein anderer: »Untersteh dich, meine Frau als Miststück zu bezeichnen!« Und als sich der Maresciallo umdrehte, um festzustellen, wer gesprochen hatte, traf ihn eine Faust ins Auge.

»Kaltes Wasser ist das einzige, was da hilft. Halten Sie sich das drauf. Aber ein hübsches Veilchen werden Sie schon kriegen. Ich mache Ihnen schnell einen Kaffee.«

Der rettende Engel des Maresciallo war der Schrank von Mann, der ihm die Sicht versperrt hatte und sich als Besitzer der Bar an der Ecke entpuppte, die gegenüber dem Haus lag, in dem es den Ärger gegeben hatte. Er führte den noch völlig benommenen Maresciallo nach drinnen und dirigierte ihn an einen braunen Resopaltisch, damit er sich erholen konnte. Wortlos drückte der Maresciallo die kalte Kompresse auf sein eines großes, vorstehendes Auge, das ringsum deutlich anschwoll. Zum Glück war ihm die Sonnenbrille aus dem Gesicht geschlagen worden und nicht auf der Nase zerbrochen, sonst hätte es viel schlimmer ausgesehen.

Die anderen Leute waren alle draußen vor der Bar, wo am Straßenrand noch ein paar Tische aufgestellt wurden. Sie feierten das Ende des Streits oder trösteten sich über das Ende der Unterhaltung für diesen Tag hinweg, doch ihre Gespräche wurden vom Lärm des Fernsehers übertönt, der in der Bar lief, obwohl niemand hinschaute. Die wenigen Männer, die außer dem Maresciallo noch vor der Hitze geflohen waren, spielten am Flipper. Die Luft war von ihrem Zigarettendunst erfüllt.

»Da ist Ihr Kaffee. Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Es geht schon.«

[15]»Wie sind Sie überhaupt da reingeraten? Sie wohnen doch nicht hier in der Gegend.«

Der Maresciallo sagte ihm, wer er war.

»Tut mir leid. Da Sie keine Uniform tragen … Ich kann mir nicht vorstellen, wer Sie gerufen hat.«

»Niemand. Meine Leute sind zufällig vorbeigekommen.«

»Sie hätten besser daran getan weiterzufahren.«

»Die Straße war blockiert.«

»Stimmt. Na ja, sowas passiert eben. Niemand ist zu Schaden gekommen – tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen. Wirklich Pech, daß es Sie so erwischt hat. War reiner Zufall.«

»Natürlich.« Es hatte nicht viel Sinn, die Sache weiterzuverfolgen, da er nicht gesehen hatte, woher die Faust gekommen war, und sie außerdem jemand anderem gegolten hatte.

Ein schepperndes Frauenlachen unterbrach das Gespräch der Männer vor der Tür. Alle anderen Frauen hatten sich in die Häuser zurückgezogen, doch die Verrückte, die sich inzwischen angezogen hatte, allerdings noch immer ihre Hausschlappen trug, war heruntergekommen und wurde von den Männern draußen vor der Bar aufgezogen.

»Gib uns einen Kuß, na, komm schon!«

»Behaltet ja eure Hände bei euch.« Aus irgendeinem Grund hatte sie einen Handfeger dabei, den sie drohend hochhielt.

»Komm schon, gib uns einen Kuß.«

Der Barbesitzer hatte neben dem Maresciallo Platz genommen.

»Sie ist nicht ganz richtig im Kopf«, erklärte er. »Arme Haut. Die anderen übertreiben es mit ihren Hänseleien [16]und Schikanen, aber das Problem ist, daß sie sie immer anstachelt. Sie genießt es, im Mittelpunkt zu stehen.«

»Worum ging es denn bei dem Streit?«

»Um die Tauben, wie üblich.«

»Tauben?«

»Sie füttert sie. Genau dort an der Ecke unter Maria Pias Fenster, und dann lassen sie ihren Dreck überall auf den kleinen Balkon und die Pflanzen und ihre Wäsche fallen. Nicht nur ein paar, sondern Hunderte.«

»Und das ist alles?«

»Mehr oder minder, nur führt eins zum anderen. Maria Pia war an der Reihe mit dem Essen für Clementina. Sie hatte ihr eine Schüssel Minestrone gegeben. Als sie dann angefangen haben, sich wegen der Tauben zu zanken, hat Clementina die Schüssel aus dem Fenster geworfen – o Gott, jetzt steht wieder jemand dem 15er Bus im Weg.«

Auf der Straße ertönte wiederholt eine Hupe.

»In dieser Stadt einen Bus zu fahren verkürzt das Leben garantiert um Jahre«, meinte der Barbesitzer, »bei diesen engen Straßen und den Leuten, die einfach in der Mitte parken. Dabei möchte man meinen, daß heute wahrhaftig wenig Verkehr ist – wohin gehen Sie?«

Der Maresciallo war aufgesprungen, erstaunlich behende für einen so korpulenten Menschen, und hatte die kalte Kompresse auf den Boden fallen lassen.

»Meine Frau …«

Sie war in Tränen aufgelöst. Er fuhr selbst nach Hause, so daß sie sich ganz darauf konzentrieren konnte, ihm zu sagen, was sie von ihm hielt. Nach der halben Strecke war sie fertig und verstummte bis auf ein gelegentliches [17]Schniefen, gefolgt vom Griff zum Taschentuch. Als sie die verwaiste Via Romana entlangfuhren, in der die Rolläden sämtlicher Geschäfte heruntergezogen waren, riskierte er eine Bemerkung: »Ist dir aufgefallen, daß da drüben alle Geschäfte offen hatten?«

Das heiße Wetter hielt unverändert an, obwohl der Wetterbericht Gewitter angekündigt hatte. Gewitter gab es sehr wohl, aber nur im Norden, und drei Tage hintereinander sahen der Maresciallo und seine Frau beim Abendessen in den Nachrichten überschwemmte Felder und Städte, die durch die Regengüsse lahmgelegt worden waren und in denen das Wasser kniehoch um im Stich gelassene Autos strudelte. Über dem Himmel von Florenz ließ sich kein Wölkchen blicken. Die Luft wurde zunehmend schwer und dampfig, als schwitzte sogar die Sonne vor Anstrengung, und die Hitze, die auf den steinernen Fassaden der riesigen Paläste flimmerte, ließ zusammen mit der gleißenden Helligkeit die Welt jedem verzerrt erscheinen, der so unklug war, ohne Sonnenbrille aus dem Haus zu gehen. Der Maresciallo, dessen Augen überempfindlich auf die grelle Sonne reagierten – sie begannen sofort heftig zu tränen –, ging nie ohne dunkle Brille aus dem Haus. Er ging überhaupt selten nach draußen, sondern blieb lieber in seinem Büro auf dem Carabinieri-Posten im Palazzo Pitti, erledigte langweiligen Papierkram, trank viel Mineralwasser, worauf er nur noch mehr schwitzte, und wechselte zwei- bis dreimal am Tag seine Khakiuniform.

Am vierzehnten August, dem Vorabend des Feiertags Mariä Himmelfahrt, kletterte das Thermometer sogar noch [18]höher. In den Nachrichten wurden keine überschwemmten Landstriche in Norditalien mehr gezeigt, sondern menschenüberflutete Strände und Luftaufnahmen von mit Köpfen übersäten Badeorten. Die Fähren streikten, wie üblich in der Hochsaison, und man sah Interviews mit verzweifelten Familien, die schwitzend in ihren Autos saßen, auf dem Rücksitz nörgelnde und jammernde Kinder, und stunden- oder gar tagelang in der brennenden Sonne warteten.

»Welchen Zweck hätte es jetzt umzukehren?« schrie ein Fahrer mit gerötetem Gesicht ins Mikrophon. »Wir haben auf Sardinien ein Hotel für zwei Wochen gebucht. Seit fünfzehn Stunden hocken wir nun schon hier, und falls Sie wissen wollen, was ich von den Streikbrüdern halte, für mich sind das …« Das Interview wurde abgebrochen, bevor das Wort in den Äther dringen konnte, und man sah einen verlassenen Platz mitten in Rom. Ein einsames Auto überquerte ihn und blieb für die Kamera stehen.

»Wie schaffen Sie es, im August in Rom zu überleben?«

»Mit gewissen Schwierigkeiten, aber ich komme ganz gut zurecht. Meine Frau und die Kinder sind in den Bergen, also brauche ich mich nur um mich selbst zu kümmern. Aber wenn ich eine Zeitlang herumfahre, finde ich meistens ein offenes Restaurant.«

»Morgen ist der Fünfzehnte. Ob Sie da eines finden, das geöffnet hat?«

»Wohl kaum, aber ich habe zu Hause jede Menge Dosen aus dem Supermarkt.«

»Das hört sich an, als würde es Ihnen Spaß machen.«

»Na, sehen Sie sich doch um! An manchen Tagen fahre ich nur so zum Spaß quer durch die ganze Stadt und parke [19]an fünf oder sechs verschiedenen Stellen. Nachdem man in dieser Stadt das ganze Jahr hindurch mit dem Verkehr zu kämpfen hat, ist das eine echte Erholung.«

Der Maresciallo fühlte sich an seine ersten Jahre in Florenz erinnert, in denen seine Frau mit den beiden Jungen zu Hause in Sizilien hatte bleiben müssen, weil seine betagte Mutter so schwer krank war, daß man sie weder allein lassen noch transportieren konnte. Vielleicht war es ja ganz lustig, einen Monat ohne Familie zu sein, aber nicht jahrelang.

Sogar der Film, der nach den Nachrichten gezeigt wurde, drehte sich um dieses Thema. Ein berühmter Komiker spielte einen Ehemann, der allein in der verwaisten Stadt zurückbleibt, umgeben von mit Schutzhüllen überzogenen Möbeln und einem Konservenvorrat in der Speisekammer. Wie der für die Nachrichten interviewte Mann genoß er die Zeit so ganz allein und verliebte sich bald in eine hübsche junge Touristin, die unbedingt Italienisch lernen wollte. Sooft die Ehefrau aus den Bergen anrief, setzte der Mann ein betrübtes Gesicht auf, stöhnte und sagte mit einem unterdrückten Seufzer: »Wenn du wüßtest, wie einsam man sich fühlt, wenn man Abend für Abend in einer leeren Wohnung sitzt, würdest du mich nicht einfach so allein lassen …« Dann wich der traurige Blick einem Grinsen, während er von Zimmer zu Zimmer eilte, sich mit Eau de Toilette besprühte, die Bettdecke glattstrich und darauf wartete, daß es an der Tür läutete.

Der Maresciallo und seine Frau hatten den Film mehr als einmal gesehen, da er praktisch jeden Sommer gezeigt wurde, aber sie schauten ihn sich trotzdem an, weil sie den Komiker mochten. Als der Film zu Ende war und die [20]Werbung begann, ging die Frau des Maresciallo in die Küche, um das restliche Geschirr zu spülen; er blieb im Wohnzimmer zurück, wo es inzwischen dunkel geworden war und außer einer kleinen Tischlampe nur die flimmernden Bilder ein bißchen Licht gaben. Als das Telefon klingelte, lief sie auf den Gang hinaus, glitt in ihren Filzpantoffeln auf dem polierten Marmorboden fast lautlos dahin, schaltete das Licht an und nahm ab. Ihr Mann blieb weiter vor dem Fernseher sitzen, etwas irritiert von dem hellen Lichtbalken unter der Tür, und hoffte, daß es nicht die Burschen waren, die Dienst hatten und ihn zu Hause anriefen, weil etwas passiert war.

Doch als er seine Frau sagen hörte: »Du mußt etwas lauter sprechen … so ist es besser … Wie geht es ihnen?«, sanken seine Schultern kaum merklich an die Sofalehne zurück. Ohne länger zuzuhören, wußte er, daß es seine Schwester war, die, wie üblich, etwa einmal in der Woche anrief, um zu berichten, wie es den Jungen ging, jedesmal spätabends, weil es dann billiger war.

Die Spätnachrichten kamen, und als der Maresciallo zum zweiten Mal die überfüllten Strände sah, überlegte er, daß sich der kriminelle Prozentsatz der Bevölkerung zusammen mit dem Rest am Meer befand und daß im August in der Stadt zu arbeiten in seinem Beruf den Vorteil hatte, daß es nicht viel zu tun gab. Er hätte sich eigentlich keine Sorgen zu machen brauchen, daß der Anruf für ihn sein könnte. Ende Juni war er zum letzten Mal nachts herausgerufen worden, und selbst das hatte sich als blinder Alarm herausgestellt.

Trotzdem hatten das Klingeln des Telefons und das Licht [21]seine friedliche Schläfrigkeit verscheucht, so daß er sich mühsam erhob und ins Schlafzimmer ging, um den Mückenkiller anzuschalten.

»Salva!«

»Was ist?«

»Wenn du schon da bist, stell doch den Mückenkiller an.«

»Hab ich schon.«

Er kam in die Küche. »Was machst du da?«

»Kamillentee. Ich habe ein bißchen Kopfweh, und mit dem Tee kann ich besser einschlafen. Hast du das Ding angestellt?«

»Mm.«

»Wenn du damit wartest, bis wir ins Bett gehen, erwischt mich jedesmal eine, bevor es sie erwischt.«

»Was hat Nunziata gesagt?«

»Den Jungen geht es gut. Ich kann nur hoffen, daß sie sich anständig benehmen. Es ist viel zu anstrengend für sie.«

»Hat sie das gesagt?«

»Natürlich nicht, aber ich weiß, was für eine Plage sie sein können, und da sie nie selber Kinder gehabt hat, ist sie das nicht gewohnt. Möchtest du noch was?«

»Nein. Ich wette, es macht ihr Spaß. Kommst du ins Bett?«

»In ein paar Minuten. Wenn das Maschinchen seine Wirkung getan hat. Erst trinke ich meinen Tee.«

Als sie ins Schlafzimmer kam, war die Luft vom Geruch des Mückenkillers erfüllt; ihr Mann lag bereits im Bett, gähnte und strich sich mit seiner großen Hand übers Gesicht.

»Ich bin müde, muß ich zugeben.«

[22]»Das macht die Hitze, die zermürbt einen. Ich bin sicher, daß ich nur deshalb Kopfweh habe.«

»Wenigstens war der Anruf nicht für mich. Ich habe schon einen Augenblick befürchtet, es sei der Wachraum.«

»Um diese nachtschlafende Zeit?« Sie war fünfzehn Jahre mit ihm verheiratet, hatte aber so viel Zeit getrennt von ihm verbracht, daß sie sich zwar an die einfachen Dinge, die das Leben beim Militär mit sich brachte, gewöhnt hatte, an die Uniform und das Wohnen in Kasernen, an seinen gelegentlichen Ärger mit dem Capitano und die ständige Sorge um die jungen Rekruten; alles andere jedoch, was den gewohnten Tagesablauf störte, etwa unerwartete nächtliche Anrufe oder seine Verwicklung in ernsthafte Kriminalfälle, überraschte und beunruhigte sie nach wie vor.

So war es ihr Glück, daß der diensthabende junge Mann es nicht für angebracht hielt, den Maresciallo zu stören, als gegen drei Uhr morgens ein Anruf für ihn kam, und den Anrufer an die Kommandantur am Borgo Ognissanti auf der andern Seite des Flusses verwies. Die beiden schliefen ungestört in dieser heißen Nacht, drehten sich nur hin und wieder unbehaglich auf die andere Seite, wenn ihnen selbst das weiße Laken unerträglich schwer und lästig wurde.

Hätte es irgend etwas geändert, wenn der Wachhabende ihn aufgeweckt hätte? Diese Frage sollte sich der Maresciallo in den folgenden Tagen mehr als einmal stellen. Er hatte den Eindruck, daß sich dadurch wahrscheinlich überhaupt nichts geändert hätte. Er wäre nicht aufgestanden und hingefahren, sondern hätte genauso reagiert wie der junge Mann. Fairerweise mußte er zugeben, daß er auch nur in der Kommandantur angerufen und dafür gesorgt hätte, daß sich [23]ein Streifenwagen in der Gegend umsieht. Und der hätte berichtet, daß alles ruhig ist. Also traf niemanden eine Schuld. Trotzdem, wenn der Maresciallo den jungen Burschen immer wieder beschwichtigte: »Mach dir keine Gedanken, du hast deine Pflicht getan und konntest ja nicht wissen …«, sagte er das vielleicht eigentlich zu sich selbst.

Jedenfalls wußte bis zum folgenden Abend niemand, daß etwas vorgefallen war, und der Maresciallo kam zu einem wohltuenden Schlaf und wachte beim Klang der Kirchenglocken fröhlich auf. In der Küche stand das Fenster offen, der Espresso auf dem Herd blubberte, und der warme Duft von marmeladegefüllten Brioches, seinem Lieblingsgebäck, stieg ihm in die Nase.

»Wie ist dir denn das gelungen? Erzähl mir nicht, daß heute früh ein Bäcker offen hat.«

»Ich habe sie gestern gekauft und in ein feuchtes Tuch eingeschlagen. Fünf Minuten im Rohr, und sie schmecken wie frisch gebacken. Ich dachte, zur Feier des Tages könnten wir uns ruhig etwas Gutes gönnen, auch wenn du arbeiten mußt.«

»Es wird nicht viel Arbeit geben.«

An diese Bemerkung sollte er sich später noch ebensogut erinnern wie an den süßen, beinahe widerlichen Geruch der Brioches, der ihn dann den ganzen Fall hindurch verfolgte, weil er so viel Zeit in der Bar verbrachte, in der er gestern mit einer Kompresse auf dem Auge gesessen hatte. Vorerst jedoch genoß er das gemütliche Frühstück in der Küche und freute sich über das Licht, das durchs offene Fenster kam. Auch die Wohnzimmerfenster standen noch offen, und das Sonnenlicht sickerte durch die weißen Musselinvorhänge. [24]Trotzdem waren die Lichtrechtecke auf dem Boden darunter bereits warm. Gegen zehn Uhr mußte man die Fensterläden wegen der Hitze schließen, so daß das Haus für den Rest des Tages im Dunkeln lag.

»Gibt es heute auch was Besonderes zum Mittagessen?«

»Gebratenes Kaninchen.«

Er hätte gar nichts dagegen gehabt, es sich mit einer frischen Tasse Espresso im Sessel bequem zu machen, vielleicht weil diese warmen Lichtflecke und die in der ganzen Stadt läutenden Kirchenglocken eine so wohlige, sonntägliche Atmosphäre verbreiteten. Statt dessen warf er einen Blick auf seine Uhr und ging ins Schlafzimmer, um seine Uniformjacke zu holen.

Auf dem Weg in sein Büro begrüßte ihn Di Nuccio, der Tagesdienst hatte, mit einem fröhlichen guten Morgen. Die Jungen von der Nachtschicht hatten sich zum Schlafen verzogen, und der Vormittag verging wie jeder andere, nur daß es noch weniger zu tun gab als sonst. Er las das Übergabeprotokoll, in dem ein Anruf wegen einer Ruhestörung vermerkt war, der zum Borgo Ognissanti weitergeleitet worden war und sich als blinder Alarm herausgestellt hatte.

Obwohl er sein Jackett ausgezogen hatte, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, schwitzte er bis Mittag so, daß ihm die Uniform am Körper klebte; nur zu gern ließ er den restlichen stupiden Schreibkram, der anscheinend nie weniger wurde, obwohl er in letzter Zeit kaum etwas anderes erledigte, liegen, um einen Blick in den Wachraum zu werfen. Nur Di Nuccio war da. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, aber auch er hatte große Schweißflecke in den Achselhöhlen und einen noch größeren zwischen den Schulterblättern.

[25]»Bist du ganz allein?«

»Der Junge ist raufgegangen, um mit dem Mittagessen anzufangen.«

Einer der diensthabenden Rekruten war dafür zuständig, einzukaufen und für die anderen zu kochen. Die regulären Carabinieri beklagten sich ständig, daß die jungen Männer, die hier ihren Militärdienst ableisteten, zum ersten Mal von zu Hause weg waren und nicht kochen konnten. Und hier in der Kaserne sorgten matschige Spaghetti mit angebrannter, bitterer Tomatensauce in Windeseile für böses Blut, zumal an Abenden, an denen die jungen Kerle nichts Besseres zu tun hatten, als sich auf einen guten Teller Pasta vor dem Fernseher in der kleinen Küche zu freuen, die ihnen zugleich als Aufenthaltsraum diente. Diesmal jedoch war der anstoßerregende Koch ein frisch eingestellter Carabiniere. Bei seinen ersten Versuchen war eine Art Suppe herausgekommen, bestehend aus Nudeln, die sich im Kochwasser aufgelöst hatten, und einer dubios aussehenden bräunlichen Sauce, die dadurch zustande gekommen war, daß er den Inhalt einer Dose geschälter Tomaten hatte anbrennen lassen. Sie mußten das Zeug wohl oder übel wegwerfen. Der Maresciallo, der früher jahrelang auf seine eigenen Kochkünste angewiesen war, nahm den Jungen beiseite und legte ihm nahe, sich an die Zeitangaben auf der Spaghettipackung zu halten;dann gab er ihm noch ein paar aufmunternde, wenn auch vage Ratschläge zur geschmacklichen Abrundung der Sauce. Am nächsten Tag ließen sich die zähen gelben Schnüre nicht um die Gabel wickeln, und in der säuerlichen braunen Sauce schwammen die verkohlten Überreste von einem Dutzend Knoblauchzehen. Als daher Di Nuccio meinte: »Gott sei [26]Dank hat er nächste Woche Nachtschicht«, erübrigte sich die Frage, weshalb.

»Er wird es schon noch lernen«, mehr sagte der Maresciallo nicht dazu. »Alles ruhig?«

»Wie auf dem Friedhof.«

»Dann verschwinde ich mal.«

Sobald er die Tür zu seiner Dienstwohnung aufsperrte, wehte ihm der kräftige Duft einer Kaninchensauce entgegen, und er bekam unweigerlich ein schlechtes Gewissen, wenn er an die Jungs im Stockwerk über sich dachte.

»Bist du’s?«

»Mm.«

Die Fensterläden im Schlafzimmer waren geschlossen. Er schaltete das Licht ein und zog sich aus. Jetzt brauchte er eine kalte Dusche, aber um diese Jahreszeit war selbst das kalte Wasser lauwarm. Trotzdem fühlte er sich danach viel besser, und als er gemächlich ins Wohnzimmer ging, genügte der Anblick der zwei Gedecke, zu Ehren des Feiertages auf einer frischen weißen Spitzendecke, und des sanften Lichts, das durch die leicht aufgeklappten Fensterläden drang, um die Langeweile des Morgens zu vertreiben, ihn fröhlich zu stimmen und einen kräftigen Appetit zu wecken.

»Salva, füll bitte den Wasserkrug auf, sei so gut.«

Er ging in die Küche und machte den Kühlschrank auf.

»Wie wäre es mit einem Schluck Rosé zum Kaninchen?Ich möchte bei dieser Hitze lieber keinen Roten trinken.«

»Mach ihn auf, wenn du willst. Ich trinke nichts davon.«

»Du hast doch nicht wieder Kopfweh?«

»Nein, es kommt meist erst am Nachmittag, aber du [27]weißt ja, daß ich müde werde, wenn ich mittags Wein trinke.«

»Nichts hindert dich daran, ein Schläfchen zu machen.«

»Du weißt, daß ich mich anschließend noch schlechter fühle.«

»Es wäre zu schade, keinen … er ist so schön kühl …« Er entkorkte die Flasche und trug sie mit dem Krug Wasser ins Zimmer. Die Stimmung war richtig sonntäglich. Da die Glocken zu läuten aufgehört hatten, lag es vielleicht am Bratenduft … Dann wurde ihm klar, daß es an der Spitzendecke lag, die normalerweise nur am Sonntag aufgelegt wurde.

Das Kaninchen, begleitet von sahnigem Kartoffelpüree, schmeckte so gut, daß er einer zweiten Portion nicht widerstehen konnte.

»Es ist lange her, daß wir Kaninchen hatten«, murmelte er, als wollte er sich rechtfertigen, weil er Übergewicht hatte und schon immer gehabt hatte.

»Ich dachte mir, daß es dir schmecken würde. Aber du hast mich gar nicht gefragt, wo ich es bekommen habe.«

»Hätte ich das tun sollen? Mußtest du weit laufen?«

»Nein, das ist es ja gerade! Ich habe es in San Frediano bekommen, wo du dir dein blaues Auge geholt hast. Du hattest recht, die Geschäfte dort sind offen, also habe ich es dort versucht. Und das Beste ist, daß sie, außer heute natürlich, bis auf die Drogerie den ganzen August geöffnet haben. Der Gemüsehändler macht im September zu, um seinen Laden renovieren zu lassen, und der Metzger war wie wir im Juli im Urlaub. Er meint, ihm ist es lieber so, weil es da am Meer nicht so voll ist. Er hat einen kleinen Sohn, jünger als unsere beiden, und seine Frau hilft ihm im Geschäft.«

[28]»Du scheinst ja recht gut über sie Bescheid zu wissen.«

»Das ist so ein Bezirk, in dem die Leute gern ein bißchen plaudern. Sie sind zum Teil ein wenig ungehobelt, aber trotzdem … Die Besitzer des Lebensmittelladens haben erzählt, daß sie normalerweise in den letzten zwei Augustwochen zumachen, aber diesmal müssen sie die Fassade richten lassen, und das kostet ein Vermögen – das Haus gehört ihnen, und sie wohnen in der Wohnung über dem Laden –, und deshalb können sie sich in diesem Jahr keinen Urlaub leisten.«

»Du hast dich ja ausgiebig unterhalten!«

»Warum auch nicht? Wenn die Kinder wieder da sind, ist das was anderes, aber jetzt habe ich so wenig zu tun. Ich muß zugeben, daß es mir Spaß gemacht hat, es hat mich an zu Hause erinnert, wo ich alle Leute gekannt habe …«

»Das sollte keine Kritik sein.« Zweifellos fühlte sie sich manchmal ein bißchen einsam. In einer Stadt zu wohnen, in der man nicht zu Hause war, noch dazu in einer Kaserne, war keine ideale Voraussetzung, um Freunde zu gewinnen, und außerdem war sie an die jahrelange ständige Gesellschaft seiner Schwester Nunziata gewöhnt. »Ich bin froh, daß du eine nette Gegend zum Einkaufen entdeckt hast. Warum hast du mir das nicht früher erzählt?«

»Ich dachte, du hättest dich wegen deinem Veilchen und … wegen der ganzen Geschichte geärgert. Du hast nicht wieder davon gesprochen, also habe ich es auch nicht erwähnt.«

In Wirklichkeit hatte er geglaubt, sie sei verärgert, und auch jetzt wagte es keiner von beiden, das Thema ihrer ersten und letzten Fahrstunde anzuschneiden.

[29]»Jedenfalls, jetzt wo dein Auge schon viel besser ist … und nachdem ich sehe, wie gut dir das Kaninchen schmeckt …Der Metzger ist wirklich sehr gut. Vielleicht kaufe ich auch in Zukunft dort ein.«

»Was ist mit dieser verrückten Frau? Kauft die auch dort ein?«

»Sie verbringt praktisch den ganzen Vormittag im Laden, gibt aber sehr wenig Geld aus. Bestimmt ist sie arm. Es ist überhaupt ein armes Viertel, aber ich habe den Eindruck, sie muß wirklich schlimm dran sein. An den meisten Tagen sitzt sie einfach nur da, auf dem einzigen Stuhl, und redet mit allen, die hereinkommen, oder beschimpft sie. Ich muß schon sagen, ihre Sprache … Aber ab und zu kauft sie sich auch eine Wurst oder eine Frikadelle oder sogar ein kleines Steak. Egal, was sie kauft, anscheinend verlangt er immer tausend Lire dafür, und oft bittet sie ihn dann um ein Ei, wie ein Kind, das ein Bonbon erbettelt.«

»Und gibt er ihr eines?«

»Ja, und er wickelt es in ein Stück Zeitungspapier ein. Im Lebensmittelgeschäft habe ich sie auch gesehen, wie sie eine Scheibe Mortadella gekauft hat, hauchdünn wie ein Papiertaschentuch, und ein kleines Endstück von einem Laib Brot, kaum genug für eine Maus. Sie hat auch immer dasselbe Kleid an, und ich möchte nur wissen, wann sie es wäscht, weil sie nie schmutzig aussieht. Möchtest du einen Pfirsich?«

»Ich weiß nicht … ja.«

»Oder ein Stück Wassermelone? Da ist noch was von gestern im Kühlschrank.«

»Nein, lieber einen Pfirsich.«

[30]»Das Eigenartigste an ihr ist, daß sie die ganze Zeit kehrt und putzt.«

»Das tun viele Frauen.«

»Nein, warte! Nicht ihre Wohnung, das meine ich nicht. Sie putzt überall, oder zumindest ihre gesamte Umgebung. Sie kehrt die ganze Straße – eigentlich ist es ein Platz, weißt du, obwohl er nur wie eine verbreiterte Straße aussieht –, und ich habe gesehen, wie sie auf Knien Papierschnipsel aufklaubt, alle einzeln, und dann das Pflaster und selbst die Autos, die dort geparkt sind, mit einem Lumpen abwischt. Sie leert sogar den Abfallkorb an der Bushaltestelle und tut eine saubere Plastiktüte hinein.«

»Erspart der Straßenreinigung einen Mann.«

»Genau! Und wehe, sie erwischt jemanden dabei, daß er irgendwelchen Abfall oder ein abgebranntes Streichholz fallen läßt. Dann geht sie mit ihrem Handfeger auf ihn los. Die Männer, die immer draußen vor der Bar herumhängen, schikanieren sie ganz fürchterlich. Sie werfen hinter ihrem Rücken Sachen aufs Pflaster, nur um sie zu ärgern und zu sehen, wie weit sie sie treiben können. Es ist wirklich eine Schande.«

»Das habe ich gesehen. Wenn ich mich recht erinnere, haben sie auch so getan, als würden sie ihr Avancen machen.«

»Genau, und sie nimmt das für bare Münze, aber dann wird sie wieder ganz rabiat, wenn sie andauernd Papierschnipsel fallen lassen. Aber schuld sind die Männer, denn schließlich ist sie nicht ganz richtig im Kopf, die Arme. Erwachsene Männer, die sich aufführen wie kleine Jungen!Und die Kinder piesacken sie natürlich genauso, aber was will man erwarten, wenn die Erwachsenen mit schlechtem [31]Beispiel vorangehen? Alles in allem ist das schon eine merkwürdige Ecke, auch wenn ich mich wahrhaftig nicht darüber beklagen kann, wie man mich in den Geschäften behandelt. Ich setze lieber mal den Kaffee auf …«

Der Maresciallo, gesättigt und zufrieden, machte es sich in einem Sessel bequem. Doch irgend etwas fehlte …

»Teresa! Wo ist die Zeitung?«

»Heute gibt es keine Zeitung.«

»Ach, richtig. Das habe ich vergessen.«

»Im Ersten kommen gerade Nachrichten.« Er schaltete den Fernseher ein und setzte sich wieder hin. Aber die Nachrichten vermochten ihn nicht zu fesseln. Er starrte auf einen ausländischen Würdenträger, der einer großen Limousine entstieg, und fragte sich, ob sich seine Frau so gut in Florenz eingelebt hatte, wie sie immer behauptete. Immer wieder umzuziehen bedeutete Unruhe und Verunsicherung, auch für die Kinder. Aber so war nun mal das Leben beim Militär. Er konnte nichts daran ändern. Trotzdem warf er, sobald er wieder in seine Uniform geschlüpft war und sich zum Gehen anschickte, noch einen Blick in die Küche und sagte: »Heute abend ist wohl alles zu, die Kinos auch, oder?«

»Ich glaube schon. Warum? Wolltest du ins Kino gehen?« Das war so ungewöhnlich, daß es sie überraschte.

»Nein, nein … ich dachte nur, wir könnten irgend etwas unternehmen oder irgendwo hingehen. Immerhin ist Feiertag.«

»Na ja, wir können ja um den Block gehen.« Sie nannten es ›um den Block gehen‹. Der gewohnte Spaziergang, bei dem sie den Fluß auf dem Ponte Vecchio [32]überquerten, unter den schmiedeeisernen Laternen am Ufer bis zur nächsten Brücke und dann wieder über den Fluß gingen, auf dem Rückweg kurz haltmachten und sich in den winzigen Park vor der evangelischen Kirche setzten, um zu plaudern oder über das Wasser auf den zinnenbewehrten Turm des Palazzo Vecchio zu blicken. Die angestrahlten Paläste und die Lichterketten, der warme, dunkle Himmel und der große Augustmond boten ein eindrucksvolles Schauspiel, das zu betrachten sie nie müde wurden und jedem Film vorzogen. Dazu kam, daß sie sich dabei unterhalten konnten, wenn ihnen danach zumute war. Teresa beklagte sich ständig darüber, daß der Maresciallo kein Gefühl dafür hatte, was sich wo gehörte. Ihr zufolge tendierte er dazu, im Kino laute, irrelevante Bemerkungen loszulassen, so daß die Umsitzenden zu zischen anfingen, und bei Familientreffen, wenn er Konversation machen sollte, wie ein Holzklotz dazusitzen, in Gedanken kilometerweit weg.

Umgekehrt beklagte er sich andauernd, daß sie immer übertrieb.

Doch heute abend konnten sie ›um den Block gehen‹ und in der Nähe des Ponte Vecchio ein Eis essen. Bestimmt hatte selbst heute eine Eisdiele offen, da im Stadtzentrum Scharen von Touristen unterwegs waren.

Ob es so war, sollte er nie erfahren. Der Anruf kam beim Abendessen, noch bevor er Zeit gehabt hatte, sich umzuziehen. Anfangs hatte er Mühe, etwas zu verstehen, weil die Stimme so leise war und so lapidar klang, daß ihm die Dringlichkeit nicht gleich zum Bewußtsein kam.

»Ich wollte Sie persönlich sprechen, auch wenn mir klar ist, daß ich Sie bestimmt beim Essen störe; aber ich halte es [33]für das Beste. Wir haben uns vor einiger Zeit kennengelernt, vielleicht erinnern Sie sich noch.«

»Wer spricht denn da?«

»Gianfranco.«

»Gianfranco? Aber ich kenne niemanden …«

»Gianfranco Cini«, grummelte die Stimme leise weiter, »aber die meisten Leute nennen mich schlicht Franco. Sie erinnern sich doch bestimmt, daß Sie sich ein blaues Auge geholt haben und in meine Bar gekommen sind …«

»Ach, natürlich.« Jetzt konnte er die Stimme zuordnen, gelassen und nicht aus der Ruhe zu bringen wie ihr Besitzer. »Freilich erinnere ich mich …«

»Jedenfalls wäre es gut, wenn Sie herkommen oder jemanden schicken könnten. Sie ist schon eine Zeitlang tot, glaube ich, und ich weiß nicht, ob es richtig war oder nicht, die Tür aufzubrechen. Jedenfalls, was geschehen ist, ist geschehen, und das konnten wir ja nicht ahnen. Wer weiß, vielleicht hätten wir noch rechtzeitig zur Stelle sein können, was meinen Sie?«

Was sollte er denn meinen? Er hatte keine Ahnung, wovon der Mann die ganze Zeit in diesem sanften Ton redete, als würde er Bemerkungen über das Wetter machen.

»Haben Sie gesagt, daß jemand tot ist?« Vielleicht hatte er sich verhört.

»Und ob sie tot ist, da besteht gar kein Zweifel. Natürlich ist Pippo kein Arzt, aber trotzdem … Wir haben die Misericordia angerufen, aber ich habe zu Pippo gesagt, vielleicht wollen die sie in einem solchen Fall nicht einfach mitnehmen, denn da wird es Formalitäten geben. Ehrlich gesagt, auch wenn der äußere Anschein dagegenspricht – und [34]ich glaube nicht, daß es da Zweifel geben kann –, hatte ich schon ein komisches Gefühl bei dem Gedanken, daß sie Sie gestern nacht angerufen hat, na, Sie wissen schon.«

»Mich angerufen? Ich …« Aber er bekam keine Gelegenheit, ein Wort einzuflechten. Die leise Stimme murmelte weiter.

»Wahrscheinlich kommt so was eben vor, aber trotzdem hatte ich ein eigenartiges Gefühl. Jedenfalls wollte ich, daß Sie Bescheid wissen. Um alles andere habe ich mich gekümmert …«

Am Ende hängte der Maresciallo buchstäblich mitten im Satz ein, nachdem es ihm nicht gelungen war, Francos Redefluß zu unterbrechen, um wenigstens zu sagen: »Ich bin in fünf Minuten da.«

»Wohin gehst du?« Seine Frau kam aus der Küche, als er wieder in sein Jackett schlüpfte.

»Jemand hat mich alarmiert.«

»Weshalb denn bloß?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

Zu Fuß wäre er genauso schnell gewesen, aber dann nahm er doch das Auto für den Fall, daß es noch andere Dinge zu erledigen gab. Dabei wußte er gar nicht, worum es überhaupt ging. Was konnte der Mann gemeint haben, als er von einem Anruf gestern nacht sprach? Er hatte keinen Anruf erhalten. Auch da fiel ihm der Anruf, der an die Kommandantur weitergeleitet worden war, noch nicht ein, vielleicht, weil er keine Folgen gehabt hatte. Es hatte ohnehin keinen Zweck, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen, da er an Ort und Stelle alles erfahren würde. Die einzig unumstößliche Tatsache, die sich aus dem unzusammenhängenden [35]Gerede des Barbesitzers ergeben hatte, war die, daß sie tot war.

Erst später wurde ihm klar, daß er sich weder gefragt noch sich bei diesem Franco erkundigt hatte, wer die tote Frau war. Es kam ihm vor, als hätten sämtliche Ereignisse der letzten paar Tage der Vorbereitung auf das hier gedient und als hätte er damit gerechnet zu erfahren, daß die Verrückte, deren Namen er nicht einmal mehr wußte, tot war.

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