Tod im Frühling - Magdalen Nabb - E-Book

Tod im Frühling E-Book

Magdalen Nabb

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Beschreibung

Schnee im März ­ in Florenz etwas so Ungewöhnliches, daß niemand bemerkt, wie zwei ausländische Mädchen mit vorgehaltener Pistole aus der Stadt entführt werden. Eine davon wird fast sofort wieder freigelassen. Die andere, eine reiche Amerikanerin, bleibt spurlos verschwunden. Die Suche geht in die toskanischen Hügel, zu den sardischen Schafhirten ­ schon unter normalen Umständen eine sehr verschlossene Gemeinschaft. Aber es war keine gewöhnliche Entführung. Die Lösung ist so unerwartet wie Schnee im März ­ oder Tod im Frühling.

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Magdalen Nabb

Tod im Frühling

Ein Fall für Guarnaccia

Roman

Aus dem Englischen von Matthias Müller

Mit einem Vorwort von Georges Simenon

Diogenes

{5}Liebe Freundin und Kollegin!

Ein wahres Vergnügen, mit Ihnen durch die Straßen von Florenz zu schlendern, die Carabinieri kennenzulernen, die ganz normalen Bürger, die Trattorien, ja selbst die lauten Touristen. Es ist alles so lebendig und plastisch: die Geräusche und Gerüche der Stadt, der leichte Morgennebel über dem schnell fließenden Arno; und dann hinauf in die Hügel, zu den sardischen Schäfern, deren traditioneller Arbeitsalltag und Lebensstil nicht minder prägnant beschrieben werden. Was gäbe man nicht drum, könnte man so einen frischen Ricotta-Käse probieren!

Es ist Ihnen gelungen, all das aufzuspüren und höchst eindringlich darzustellen – auch die verschiedenen Ränge der Carabinieri und natürlich den unsäglichen Staatsanwalt oder die Bars in den frühen Morgenstunden.

Nie schlagen Sie einen falschen Ton an, und es gelingt Ihnen sogar, dieses Schimmern in der Luft einzufangen, das dieser Stadt und der immer noch ungezähmten Landschaft vor ihren Toren eigen ist.

Diesen Roman muss man sich gleichsam auf der Zunge zergehen lassen. Ich kenne kein Buch, in dem das Thema Entführung so einfach und einleuchtend behandelt wird, und obwohl der Roman geradezu überreich ist an Figuren, {6}sind sie mit wenigen Worten so prägnant charakterisiert, dass man ihr Kommen und Gehen mühelos mitverfolgen kann. Bravissimo! Sie haben Ihr Versprechen mehr als eingelöst!

 

Lausanne, April 1983

Georges Simenon

{7}1

»Das ist ja nicht zu fassen! Heute ist doch schon der erste März …«

»Aber es ist so, sieh doch selbst!«

»Das sind sicher irgendwelche Samen im Wind.«

»Was für ein Wind? Ich sag dir, es ist Schnee!«

Die gesamte Bevölkerung von Florenz hatte sich beim Aufwachen vor Verwunderung und Verwirrung die Augen gerieben. Fensterläden wurden aufgestoßen, und das Phänomen wurde quer über Höfe und enge Straßen lautstark kommentiert.

»Es schneit!«

In den letzten fünfzehn Jahren hatte es in der Stadt nur ein einziges Mal geschneit, und das war mitten im Winter gewesen. Ein eisiger Wind aus der russischen Steppe war über die italienische Halbinsel gefegt und hatte die Straßen unter einer lähmenden weißen Decke begraben. Aber heute war der erste März. Um es noch unglaublicher zu machen, war es in den letzten zwei Wochen sogar außergewöhnlich warm gewesen, die ersten Touristen – immer die Deutschen – schlenderten schon in hellen Kleidern durch die Stadt, und die Frauen boten der fiebrigen Februarsonne ihre fülligen weißen Arme dar. Normalerweise entledigten sich die Florentiner ihrer grünen Lodenmäntel frühestens {8}Ende April, aber einige hatten sich diesmal täuschen lassen und bereits die ersten Blumentöpfe mit Geranien auf ihre Fensterbretter gestellt. Und an den milden Abenden waren schon viele halbgeöffnete Fensterläden zu sehen und dahinter gelbe Lichtstreifen und die Silhouetten der Hausbewohner, die das Treiben auf der Piazza beobachteten, als wäre schon Sommer.

Nur die Winzer und die Getreidebauern in den umliegenden Hügeln beklagten sich über das Wetter. Schließlich hätte es zu dieser Jahreszeit regnen sollen. Aber es schneite, und die Menschen hätten nicht überraschter sein können, wenn Konfetti vom Himmel herabgerieselt wären.

Der morgendliche Stoßverkehr hatte um acht Uhr in einem fahlen, kalten Licht begonnen. Hoch oben in den erleuchteten Wohnungen drückten kleine Kinder ihre Nasen gegen die Fensterscheiben und wischten Hauchflecken weg oder malten mit einem Finger darin herum.

Der Himmel war so leer, dass der Schnee scheinbar aus dem Nichts herabfiel. Er erschien plötzlich zwischen den hohen Steingebäuden, in großen nassen Flocken, die auf die Straße schwebten und verschwanden. Auf den Gehsteigen und in den Rinnsteinen, die durch die Dachvorsprünge der Häuser geschützt waren, hinterließen sie nur einen feuchten, gesprenkelten Streifen.

Die Menschen, die auf der winzigen Piazza San Felice auf den Bus warteten, stellten mit einem besorgten Blick zum Himmel den Mantelkragen hoch und fragten sich, ob sie nicht besser Schal und Handschuhe angezogen hätten. Dabei war es nicht einmal kalt! Das Ganze war vollkommen unerklärlich. An der Ecke ihnen gegenüber stand {9}Maresciallo Guarnaccia von den Carabinieri. Er postierte sich oft dort, wenn er seinen Kaffee in der Bar getrunken hatte. Gleich neben ihm stand eine Gruppe plaudernder Mütter. Sie hatten gerade ihre Kinder in die Obhut einer Nonne gegeben, die nun ihre Schützlinge in den Kindergarten neben der Kirche führte. Obgleich der Maresciallo den Kragen seines schwarzen Uniformmantels mit einer automatischen Geste hochstellte, war er der Einzige, der nicht auf den Schnee starrte. Seine Aufmerksamkeit galt der Trattoria auf der anderen Straßenseite. Die Lampen, die in Kugelbündeln von der Decke hingen, brannten noch, und der Sohn des Besitzers fegte in einer schmutzigen weißen Schürze lustlos den Boden und starrte mit leerem Blick hinaus auf das Wetter, nachdem er hinter der Glastür Sägespäne verstreut hatte. Der Junge war dünn und pickelig und hatte schwarze Haare. Er war erst sechzehn, doch Maresciallo Guarnaccia hatte ihn schon auf der Treppe vor der Kirche Santo Spirito beim Heroinspritzen gesehen. Er hatte bei den Fixern gesessen, die dort immer hockten, und sich verstohlen umgeblickt, wie es nur die tun, die erst seit kurzem an der Nadel hängen.

Der Bus der Linie 15 fuhr vor und versperrte dem Maresciallo die Sicht. Auch im Bus war die Beleuchtung eingeschaltet, und alle Fahrgäste starrten hinaus, wie hypnotisiert von den großen Flocken, die langsam an den Scheiben vorbeischwebten. Obwohl der Maresciallo als Sizilianer mehr Grund gehabt hätte als die Florentiner, sich über den Schnee zu wundern, schenkte er ihm immer noch keinerlei Beachtung. Er war zu sehr mit den Problemen beschäf‌tigt, die ihn bedrückten. Zum einen war da die Frage, was – wenn {10}überhaupt – er dem Vater des Jungen sagen sollte, und dann war da auch noch ein Fall, der in den nächsten Tagen vors Berufungsgericht ging. Trotzdem sollte er sich später nur zu gut an den Schnee erinnern, wenn ihn ein Zeuge nach dem andern zur Verzweif‌lung bringen und er immer wieder dieselbe, mit dem gleichen bedauernden Lächeln vorgebrachte Antwort zu hören bekommen würde: »Ehrlich gesagt, mir ist da nichts aufgefallen. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, aber an dem Morgen hat es geschneit … Was sagen Sie dazu, Schnee mitten in Florenz, und das auch noch im März …«

Der Bus blinkte und fuhr davon. Der Junge hatte seinen Besen stehenlassen und war im Hinterraum der Trattoria verschwunden. Auf das Feuer, über dem das Fleisch geröstet wurde, hatte man die ersten großen Scheite gelegt, und die ersten Flammen züngelten daran hoch. Über dem hohen Gebäude trieb blauer Holzrauch unentschlossen zwischen den lockeren Schneeflocken umher, und sein süßer Duft gesellte sich zu den vorherrschenden morgendlichen Gerüchen von Kaffee und Autoabgasen.

Der Maresciallo sah auf seine Uhr. Wenn er noch wie geplant beim Gefängnis vorbeigehen wollte, hatte er jetzt keine Zeit mehr, wegen des Jungen irgendetwas zu unternehmen. Es war vielleicht sowieso besser, erst einmal zu versuchen, mit dem Jungen direkt zu reden, und den Vater aus dem Spiel zu lassen. Und außerdem war es mehr als wahrscheinlich, dass entweder der eine oder der andere oder beide ihm sagen würden, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle. Er seufzte und schickte sich an, die Straße zu überqueren. Auf der linken {11}Seite kam ein Auto herangefahren und blinkte lange angesichts des endlosen Verkehrs, der ihm von der Via Romana entgegenkam. Vorne saßen zwei Mädchen, und von hinten beugte sich jemand zwischen sie, ganz hinter einem riesigen Stadtplan verborgen, und versuchte vermutlich, der Fahrerin den Weg zu erklären. Noch mehr Touristen. Die Invasion begann Jahr für Jahr früher und machte es einem unmöglich, in den überfüllten, engen Straßen seinen normalen Geschäf‌ten nachzugehen. Erst am Tag zuvor hatte die Nazione einen Leserbrief veröffentlicht, in dem jemand den ironischen Vorschlag machte, der Bürgermeister solle doch den Florentinern irgendwo draußen in den Hügeln ein Zeltlager einrichten, da in ihrer eigenen Stadt kein Platz mehr für sie sei. Der Tourismus brachte zwar beträchtliche Einnahmen, aber trotzdem hassten die Florentiner diese jährliche Invasion.

Auch für die sardischen Dudelsackpfeifer, die zwischen Weihnachten und Ostern selten zu sehen waren, war es noch zu früh. Doch als der Maresciallo zu seinem Posten an der Piazza Pitti hinüberging, kam ihm einer entgegen, eingehüllt in einen langen schwarzen Schäferumhang, den Windbalg aus weißem Schafsleder unter einen Arm geklemmt. Er spielte stockend und ziemlich falsch, und niemand beachtete ihn oder gab ihm Geld. Automatisch warf der Maresciallo einen Blick zur anderen Straßenseite, in der Erwartung, den zweiten Pfeifer zu sehen, der normalerweise auf einer kleinen, oboenähnlichen Flöte die Melodie spielt, doch er war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er gerade in einem der Geschäf‌te und bettelte. Der Maresciallo hatte keine Zeit rumzustehen und ging den {12}ansteigenden Vorplatz des Palazzo Pitti hinauf, quetschte seinen entschieden übergewichtigen Körper zwischen den dichtgeparkten Autos durch und verschwand links unter dem steinernen Torbogen.

Als er den Kopf durch die Tür seines Büros steckte und mitteilte, dass er den Wagen nehmen würde, fügte er hinzu, als wäre es ihm eben eingefallen: »Es schneit …«

 

In den Chianti-Hügeln vor Florenz schneite es stärker, und der Himmel blieb den ganzen Tag verhangen und weiß. Die lockeren Flocken schmolzen schnell auf den steinigen, ockerfarbenen Straßen, doch konnten sie sich an den gerade sprießenden Weizen klammern. An den Olivenbäumen trug jedes der steifen kleinen Blätter eine Oblate aus Schnee. Es gab keinen Frost, und offensichtlich bestand auch keine Gefahr, dass es welchen geben könnte. Die Bauern, die aus den vergitterten Fenstern der Castelli, Villen und Bauernhäuser blickten, betrachteten dieses unerwartete, doch harmlose Wetter ohne großes Interesse und bemerkten nur mit einem zweifelnden Blick zum fahlen Himmel: »Regen brauchen wir, nicht Schnee.«

Aber es schneite den ganzen Tag. Am frühen Abend wurde aus dem Schnee Schneeregen, und gegen Mitternacht regnete es bereits hef‌tig. Der Regen füllte dunkle Gräben, Furchen und Schlaglöcher und spülte die Last von den kleinen Bäumen. Um vier Uhr morgens blitzten die Scheinwerfer eines Lieferwagens durch den starken Regen und beleuchteten ein Stück der ungeteerten Straße, die die beiden Bergdörfer Taverna und Pontino verband. Der Lieferwagen hielt an, und die Scheinwerfer gingen aus. Einige {13}Augenblicke später setzte der Wagen zurück, wendete und fuhr mit verschwimmenden roten Hecklichtern davon.

Sowie das Motorengeräusch verklungen war, hörte man in der Dunkelheit schlurfende Schritte. Als sie am Tor eines Bauernhauses vorbeikamen, schlug ein Hund an, aber im Haus blieb alles dunkel. Der Hund beruhigte sich wieder, als sich die Schritte in der Ferne verloren. An einer Straßenbiegung, die den Anfang von Pontino markierte, stand ein von einem kleinen Steinbogen eingerahmter Bildstock. In der Dunkelheit waren nur der rote Lichtpunkt und die Plastikblumen in einem Marmeladenglas zu seinen Füßen sichtbar. Als die Schritte den Bildstock erreichten, hielten sie inne. Das winzige rote Lämpchen verbreitete ein schwaches rosa Licht, in dem jetzt die zierliche Gestalt eines Mädchens sichtbar wurde, das eine Hand nach dem Bildstock ausstreckte und dann zusammenbrach, wobei es sich die Stirn an einem der vorstehenden Steine des Bogens stieß. Über eine Stunde prasselte der Regen hef‌tig ins Gras, auf den Bogen und die zusammengebrochene Gestalt, dann rappelte sich das Mädchen wieder auf und stolperte weiter Richtung Pontino. Verwirrt durch immer neue kleine rote Lichter, die überall um sie herum erschienen, kam sie oft von der Straße ab. An der Piazza war ein Fenster erleuchtet, doch anstatt auf das Licht zuzusteuern, lief das Mädchen im Kreis herum und stieß in der Dunkelheit gegen Bäume, Bänke und Laternen. Erst nach einiger Zeit und eher durch Zufall landete sie bei dem erleuchteten Fenster und sah hinein. Der Regen strömte auf ihren Kopf herab und spülte über die Scheibe, hinter der sie verschwommen Blumen sah. Inmitten der Blumen saß ein gnomenhafter {14}Mann, der eine große grüne Schürze und einen gestreif‌ten Turban trug. Er wippte hin und her und sang offenbar leise vor sich hin, während er einen langen Holzpinsel in große Töpfe mit leuchtend bunter Farbe tunkte.

Er strich die Farbe auf die weißen Margeriten in seinem Schoß und färbte sie türkis, tiefrot und blau.

Über der pinselnden Gestalt befand sich eine kleine rote Lampe und eine Gipsfigur der Heiligen Jungfrau, die einen etwas ramponierten Säugling in den Armen wiegte. Die Blumen in der Vase am Fuß der Statue waren aus Plastik. Das bemalte Gesicht der Jungfrau starrte mit einem leichten Lächeln zum Fenster hinaus, als das Mädchen die nasse, kalte Hand hob, um gegen die Scheibe zu klopfen.

2

»Fordern Sie zuerst in Pisa die Hubschrauber an. Ich will, dass der Wagen gefunden wird. Sie sollen an diesem Ende der Via Senese anfangen und sich dann in Richtung Süden vorarbeiten – nein, für Straßensperren ist es schon zu spät … Irgendwann gestern Morgen, was Genaueres liegt nicht vor. Ich brauche sofort Hundeführer. Sie müssen nach Pontino rausgeschickt werden und brauchen sich nicht erst hier zu melden – das Mädchen, das sie freigelassen haben, hat einen Schock. Sobald es transportfähig ist, lass ich’s nach Florenz runterbringen, aber im Moment müssen wir sie dort lassen, wo sie ist. Verbinden Sie mich am besten gleich noch mal mit Pontino, ja? Vielleicht haben die inzwischen was für mich …«

{15}Vor Capitano Maestrangelo lag ein unbeschriebener Notizblock auf dem Tisch, und er hielt einen Stift in der Hand, machte sich aber keine Notizen. Das war nicht nötig. In dieser Phase lief alles immer nach dem gleichen Schema ab. Wahrscheinlich musste er sein Büro erst verlassen, wenn es Zeit war, die Eltern des vermissten Mädchens aufzusuchen. Bis dahin konnte er die üblichen Befehle schon beinahe im Schlaf geben – und er schlief auch fast noch, da man ihn an diesem Morgen kurz nach fünf aus dem Bett geholt hatte. Es war jetzt fünf Uhr fünfundzwanzig, und er fuhr sich mit einer Hand über das unrasierte Gesicht, als er den Hörer auf‌legte und sich einen Augenblick lang in seinem Stuhl zurücklehnte, bis der Anruf aus Pontino kam. Im Büro, von dem aus er die Carabinieri-Kompanie befehligte, die für den südlich des Arno gelegenen Teil der Stadt zuständig war, brannte schon Licht. Ein größeres Gebiet, das sich südlich über die Chianti-Hügel bis zur Grenze der Provinz Siena erstreckte, gehörte auch noch zu seinem Kommandobereich. Es war sein Pech, dass das Dorf Pontino gerade noch auf seinem Gebiet lag und dass er und nicht irgendein Kollege in Siena im Morgengrauen geweckt worden war. Die Stadt vor seinem Fenster war noch unsichtbar bis auf die Dächer des Borgo Ognissanti vor dem heller werdenden Himmel. Es regnete immer noch, aber weniger hef‌tig. Hin und wieder rumpelte ein kleiner Lkw am Flussufer entlang in Richtung Zentralmarkt. In einer halben Stunde würden etwa ein Dutzend Autos in den Innenhof einfahren und die Kollegen die Morgenschicht übernehmen. Immer die gleichen Routinemaßnahmen … Straßensperren, falls die Entführung sofort gemeldet wurde, Hubschrauber, Hunde, {16}den Staatsanwalt informieren, die Suche nach dem Auskundschafter anleiern, dann auf die erste Botschaft warten. Die Eltern waren die einzige Variable, und selbst die unterschieden sich nur gering; ihre Reaktion folgte einem vorhersehbaren Schema, das Polizei wie Entführer gleichermaßen kannten. Der Anruf aus Pontino riss den Capitano aus seinen Gedanken. Der Brigadiere der Carabinieri draußen in Pontino hatte einen ersten Bericht fertiggestellt, den er langsam, Wort für Wort vorlas, so wie er ihn geschrieben hatte. Der Bericht war ausführlich und zu lang. Aber der Capitano unterbrach ihn nicht. Der Staatsanwalt würde es ohnedies nicht schätzen, so früh angerufen zu werden.

»Dann sagte das Mädchen in sehr gebrochenem Italienisch: ›Sie haben noch Deborah. Ich muss das amerikanische Konsulat anrufen.‹ Was sie danach sagte, war sehr viel unzusammenhängender. Ich benachrichtigte den örtlichen Arzt und das Hauptquartier …«

Das Einzige, worüber sich der Capitano zu diesem Zeitpunkt Sorgen machte, war die Frage, welcher Staatsanwalt ihm zugeteilt würde. Erfahrungsgemäß zogen sich solche Entführungsfälle hin, und sie waren heikel. Es ging nicht nur darum, die Eltern im Griff zu behalten, da sie und die Polizei in vieler Hinsicht gänzlich entgegengesetzte Ziele verfolgten, es ging auch um die Gefahr, dass sich irgendein Dritter einmischte … Ein Mittelsmann mit Macht und Einfluss, davor graute dem Capitano am meisten …

{17}»Ein blauer Wollpullover, mit einem rot-dunkelblauen Muster an den Schultern. Ein Paar Bluejeans, verwaschen, amerikanisches Fabrikat, in den Taschen fanden sich zwei Kinokarten, ein Geldbeutel, braunes Leder mit roten Verzierungen. Er enthielt …«

Ein erfahrener Staatsanwalt, der ihm beistehen würde, wenn es brenzlig wurde … und er hatte nicht immer Glück gehabt …

» … ›Winky‹-Halspastillen, hergestellt in Mailand, die Folie zerrissen, drei Pastillen sind noch übrig. Ein gefalteter Brief, in Englisch, handgeschrieben, auf liniertem Papier und adressiert an das amerikanische Konsulat in Florenz, kein Umschlag –«

»Was!«

»Da war kein Umschlag –«

»Der Brief, Brigadiere, der Brief! Was steht drin?«

»Ich fürchte, hier ist niemand, der –«

»Ich komm sofort rüber.«

Nun, wer immer der Staatsanwalt auch sein mochte, er würde jetzt eben um Viertel vor sechs aus dem Bett geholt, ob ihm das passte oder nicht. Das war zwar nicht der beste Auf‌takt, aber was sollte man machen …

 

Der Staatsanwalt war ein neuer Mann, aus Mailand, nach seiner Redegeschwindigkeit zu urteilen und danach, wie er immer das S verschluckte, und er war keineswegs verärgert, sondern eher belustigt.

{18}»Ich hatte mich gerade gefragt, ob es sich noch lohnt, ins Bett zu gehen oder nicht. Ich dusche noch schnell und bin in fünfundzwanzig Minuten bei Ihnen – ich nehme an, Sie haben reichlich Erfahrung mit solchen Sachen?«

»Ja.«

»Gut. Ich nämlich nicht. Ich dusche dann mal schnell.« Und er legte auf.

Verdutzt bestellte der Capitano einen Wagen, und nach kurzem Überlegen teilte er seinem schläfrigen Adjutanten mit, dass er sich noch schnell rasieren und einen Kaffee trinken gehen werde.

Ob es sich noch lohnte, ins Bett zu gehen? … Was war das für ein Mann, der … Diese Geschichte mit dem Brief war ihm nicht geheuer … Dass sie die beiden Mädchen entführt und das eine wieder freigelassen haben, könnte einfach heißen, dass es Probleme mit der Identifizierung gegeben hatte, obwohl selbst das unwahrscheinlich war. Aber eine erste Botschaft zu schicken, bevor die Eltern überhaupt Zeit hatten, in Panik zu geraten, möglicherweise bevor sie es überhaupt wussten … Die ganze Sache könnte ein dummer Scherz sein. Aber der Zustand des Mädchens … Ein dummer Scherz, der danebenging! Das konnte man sowieso erst beurteilen, wenn man an Ort und Stelle war und das Ding gelesen hatte … Ob es sich noch lohnte, morgens um Viertel vor sechs ins Bett zu gehen? Was war das bloß für ein Staatsanwalt?

 

Einer, der zu viel rauchte – so viel war klar, als der Wagen in die autostrada einbog, die Richtung Süden nach Siena führte. Mit Blaulicht und Sirene, obwohl auf den Straßen {19}noch nicht viel Verkehr herrschte. Es war noch dunkel, und das Wetter war nass und dunstig, aber schlimmer war der blaue Dunst im Wagen, als der Staatsanwalt sein drittes toskanisches Zigarillo anzündete, das einen beißenden Geruch verbreitete. Als der junge Sottotenente, der neben dem Fahrer saß, einen Hustenanfall bekam, versuchte der Capitano das Hinterfenster möglichst unauf‌fällig herunterzukurbeln. Doch dem Staatsanwalt entging seine Bewegung nicht, und mit einem kurzen schrägen Lächeln und einem reuevollen Blick auf den Gegenstand des Anstoßes lehnte er sich in seinem Sitz zurück und sagte feierlich: »Mein einziges Laster.«

Aus den Augenwinkeln betrachtete der Capitano die elegante, offensichtlich teure Kleidung des Mannes, registrierte das Parfüm, das selbst neben dem starken Zigarillogeruch noch zu riechen war, und dachte an die Bemerkung, ob es sich lohne, noch ins Bett zu gehen. Er sagte nichts.

Der Wagen verließ die autostrada und das mit bunten, neuen Fabriken gesprenkelte Tal und bog in eine schmale Straße ein, die sich rechts an den Hügeln hinaufschlängelte. Selbst im trüben Licht der verregneten Morgendämmerung leuchteten die frisch sprießenden Weinreben an den Hängen in einem fast strahlenden Grün, doch die Olivenbäume waren genauso gespenstisch grau wie der Nebel. Im ersten Dorf, durch das sie kamen, waren schon einige Leute unterwegs, und als sie weiter oben Pontino erreichten, sahen sie an der Piazza vor der Tür der Bar Italia ein zusammengedrängtes Grüppchen von Menschen, die im Licht und in der Wärme der Bar auf den ersten Bus hinunter nach Florenz warteten. Der Bäcker und der Zeitungshändler {20}hatten schon auf, und im Carabinieri-Posten, der dazwischen lag, brannte Licht. Als ihr Wagen vorfuhr und unter den triefenden Bäumen hielt, verschwand ein aufgeregtes junges Gesicht vom Fenster, aber es war der Brigadiere persönlich, der an der Tür erschien, um sie zu begrüßen. Er sah übermüdet aus und war es auch. Diesen übereilten Besuch hatte er nicht erwartet, und in der letzten Stunde hatte er jeden, der ihm in die Quere kam, angeschnauzt. Wer auch immer gestern Abend abgewaschen hatte, hatte den Herd nicht saubergemacht, und in der einen Zelle im Untergeschoss war keine Glühbirne, und es musste jemand losgeschickt werden, der den Eisenwarenhändler aufwecken sollte, weil niemand eine Ersatzbirne finden konnte. Der Kaffee, den dieses verdammte Muttersöhnchen Sartini gemacht hatte, war mal wieder das reinste Spülwasser, und der Brigadiere selbst hatte keine Zeit gehabt, nach Hause zu gehen und sich zu rasieren. Einer seiner Männer war so unklug gewesen, darauf hinzuweisen, dass der Chef den Herd doch sonst nie brauche und dass in seinen acht Dienstjahren in Pontino die Zelle noch nie benutzt worden sei. Der Brigadiere war immer noch dabei, ihn anzubrüllen, als Sartini das Auto bemerkte.

»Signor Capitano.« Der Brigadiere begrüßte den Staatsanwalt, den Capitano und den Sottotenente und trat zurück, um sie hereinzulassen. Der Fahrer blieb im Wagen. »Ich fürchte, hier ist nicht alles so, wie ich es gerne hätte. Sie wissen ja, dass wir jetzt schon seit zwei Monaten keinen Maresciallo haben – nicht dass ich es nach zwanzig Jahren Dienst in diesem Dorf nicht alleine schaffen könnte, aber trotzdem –«

{21}»Zwanzig Jahre … Dann kennen Sie diese Gegend sicher in- und auswendig?«

»Ich kenne jeden Grashalm. Das ist es eigentlich nicht, was ich –«

»Gut. Was ist mit dem Mädchen? Ist es bei Bewusstsein?« Der Capitano setzte sich in den Stuhl des Brigadiere. Auf dem Tisch lagen die Habseligkeiten des Mädchens, sorgfältig zusammengelegt und mit Etiketten versehen. Er nahm sogleich das Blatt Papier in die Hand und entfaltete es. Der Staatsanwalt hatte den Stuhl, den man ihm angeboten hatte, abgelehnt und es stattdessen vorgezogen, im Raum umherzugehen. Dabei zog er ab und zu an seiner Zigarre und betrachtete alles und jeden mit einer amüsierten Distanz, die den Eindruck erweckte, als wäre er leicht überrascht und doch erfreut darüber, dass er das Amt des Staatsanwalts auszuüben hatte. Er machte es sich beim Fenster bequem und starrte hinüber zum Kommunistischen Klub, der sich in einem roten Backsteinbau hinter den knospenden Bäumen befand.

»Sie liegt auf der Krankenstation, immer noch ohne Bewusstsein, soviel ich weiß – ich habe einen von meinen Männern dagelassen, falls sie zu sich kommt, aber sie hat hohes Fieber, und man hat Angst, dass sie sich möglicherweise eine Lungenentzündung geholt hat. Wir hatten keine Möglichkeit festzustellen, wie lange sie da draußen im Regen war. Sie ist auch verletzt, am Bein, und sie kann erst nach vierundzwanzig Stunden nach Florenz verlegt werden, weil sie sich beim Sturz auch noch den Kopf aufgeschlagen hat. Es besteht die Gefahr einer Gehirnerschütterung.«

»Sottotenente.« Der Capitano reichte den Zettel dem {22}jungen Of‌fizier, der steif direkt neben der Tür stand. Das Englisch des Capitanos war passabel, doch der junge Mann sprach fließend. Er las den Brief vor:

Lieber Papa,

Ich bin entführt worden. Bitte hilf mir. Sie werden eine Botschaft an das Konsulat schicken. Du musst mir helfen, Papa, ich brauche Dich. Debbie.

Der Capitano starrte eine Weile schweigend vor sich hin. »Mehr steht da nicht, Capitano.« Der Sottotenente gab den Brief zurück. Der Capitano nahm ihn und schaute darauf, immer noch ohne ein Wort. Schließlich sagte er: »Vielen Dank. Gehen Sie rüber zur Krankenstation und lösen Sie den Kollegen ab. Setzen Sie sich an das Bett von diesem Mädchen. Sie heißt«, er warf einen Blick auf den Bericht des Brigadiere neben dem Telefon, »Katrine. Katrine … Reden Sie mit ihr, wenn sie zu sich kommt. Schreiben Sie alles auf, was sie sagt, auch wenn sie im Schlaf oder im Fieber spricht. Wenn nötig, müssen Sie vielleicht sogar die ganze Nacht über bleiben. Wir wissen nicht, aus welchem Land sie kommt, aber da ihr Italienisch ziemlich schlecht ist, dürf‌te sie mit ihrer amerikanischen Freundin Englisch gesprochen haben. Gehen Sie jetzt gleich rüber. Brigadiere, können Sie einen Mann entbehren, der ihm den Weg zeigt?«

»Sì, Signor. Sartini!« Der Brigadiere machte sich auf die Suche nach diesem »verdammten Muttersöhnchen« und freute sich, ihn loszuwerden, wenn auch nur für zwanzig Minuten.

Der Staatsanwalt hatte sich vom Fenster abgewandt und {23}beobachtete neugierig den Capitano. Aus dem Zimmer nebenan erklang das stockende Geklapper einer Schreibmaschine.

»Stimmt irgendwas nicht?«

»Sieht so aus. Aber es ist eigentlich noch zu früh, um das zu beurteilen. Vorläufig bleiben wir bei der Routineprozedur.«

»Und die wäre?«

»Die Hundeführer dürf‌ten bald da sein. Mit den Sachen des Mädchens müssten wir ihre Spur mindestens bis dorthin zurückverfolgen können, wo sie in der Nacht abgesetzt wurde – das hoffe ich jedenfalls, nach all dem Regen. In der Zwischenzeit werden die Hubschrauber die umliegende Gegend absuchen, vor allem da, wo leerstehende Bauernhäuser oder Hütten sind. Der Brigadiere hier wird jedes Versteck kennen, das in Frage kommt. Normalerweise würde ich auch Straßensperren errichten lassen, aber in diesem Fall ist es schon zu spät.«

»Wäre es nicht auch möglich, dass das andere Mädchen hundert Kilometer von hier entfernt ist und unser Mädchen hier nur in dieser Gegend abgesetzt wurde, um Sie auf eine falsche Fährte zu locken?«

»Das ist mehr als möglich, es ist sogar wahrscheinlich. Aber solange wir nicht wissen, wo wir sonst noch suchen können, suchen wir erst mal hier. Die eigentliche Fahndung kann erst beginnen, wenn wir herausgefunden haben, mit was für einer Art Entführung wir es zu tun haben. Beim jetzigen Stand der Dinge könnten es ebenso gut ein paar Amateure aus diesem Dorf sein, die das Mädchen zehn Minuten von hier versteckt halten. Also suchen wir hier. {24}Und vielleicht werden wir das Auto der Mädchen finden. Denn wenn wir ihre Aussage richtig verstanden haben, dann mussten sie gestern Morgen irgendwo auf der Straße zwischen hier und Taverna aus ihrem Wagen aussteigen.«

Lärm vor dem Fenster kündigte die Ankunft des Wagens mit den Hunden und ihren Führern an. Im Lauf des Morgens hatte sich die Piazza zusehends belebt, und Leute erschienen, um Brot zu kaufen oder noch schnell in der Bar zu frühstücken, bevor ihr Bus kam. Einer oder zwei der Wagen, die unter den Bäumen in der Mitte geparkt waren, wurden angelassen und fuhren davon. Die Hunde waren unruhig und hechelten, ihr Atem dampf‌te im Regen. Einer der Führer kam ins Büro und salutierte kurz.

»Capitano. Was haben Sie für uns?«

Er nahm die Bluejeans des Mädchens vom Kleiderhaufen und brummte: »Nach diesem Wolkenbruch gestern Nacht …«

Sobald der Hundeführer gegangen war, steckte der Brigadiere den Kopf zur Tür herein.

»Ich hab den Blumenhändler hierbehalten, falls Sie sich mit ihm unterhalten wollen. Sonst lass ich ihn an seine Arbeit zurück. Ich hab seine Aussage aufnehmen lassen.«

Das Klappern im Nachbarzimmer hatte aufgehört.

»Ich will ihn sprechen. Bringen Sie bitte auch seine Aussage mit.«

Der Blumenhändler hatte seine große grüne Schürze abgelegt, aber der Brigadiere hatte Mühe, ihn dazu zu bewegen, dass er auch seinen weichen Filzhut abnahm, und während er ihn durch die Tür schob, raunte er ihm zu: »Dies ist eine Amtsstelle, das wissen Sie doch …«

{25}Der Blumenhändler setzte sich kerzengerade hin, seinen Hut hielt er fest umklammert auf seinen Knien. Es war ihm offenbar äußerst peinlich, seinen blanken Schädel entblößen zu müssen. Das tat er sonst nie, nicht einmal bei den Mahlzeiten. Er entfernte seine Kopfbedeckung erst, wenn er vor dem Einschlafen das Licht ausgeknipst hatte.

Der Capitano warf einen Blick auf ihn und sagte schnell: »Kavallerie?«

Der alte Mann, der gerade losschimpfen wollte, dass man ihn so lange von seiner Arbeit abhielt, errötete vor Stolz und Freude. »Genova Cavalleria.«

Im Hinterzimmer des Ladens hatte er eine Fotografie von sich in voller Galauniform und zu Pferde. Damals hatte er dichtes, gewelltes Haar. Es gab kein Mädchen im Dorf, das er nicht … Doch soweit er sich erinnern konnte, war da eigentlich nichts in seiner Aussage, das irgendwas über … Er versuchte, sie verkehrt herum noch einmal durchzulesen, aber der Capitano nahm das Blatt in die Hand und murmelte, während er es überflog: »Das sieht man daran, wie Sie sitzen. So was wird man nicht mehr los …«

MORI, Vittorio. Geboren am 11.3.1913 in Pontino,

Provinz Florenz, zurzeit dort wohnhaft.

BERUF: Blumenhändler.

 

ANTWORT AUF FRAGE: Es war gegen halb sechs heute Morgen. Ich war gerade vom Blumenmarkt zurückgekommen und arbeitete im Vorderraum meines Ladens. Da kam mir der Gedanke, dass ich draußen vor dem Fenster ein komisches Geräusch gehört hatte …

{26}»Da kam Ihnen der Gedanke, dass Sie was gehört hatten?« Der Capitano blickte verwundert auf.

»Na ja, da lief schon mal das Radio, und der Ölofen war an – der ist auch nicht gerade leise –, und dann hatte ich auch noch ein Handtuch um den Kopf … Ich wollte meine Haare und meine Sachen wieder trockenkriegen. Auf dem Weg zum Markt war ich klatschnass geworden.«

Der Capitano konnte es sich nicht verkneifen, einen kurzen Blick auf den glänzenden Schädel zu werfen, der von zwei grauen Haarbüscheln gesäumt war.

Der Blumenhändler fummelte unglücklich an seinem Hut herum. »In meinem Alter muss man schon etwas auf sich achtgeben … Und außerdem regnete es so stark, und der Wind rüttelte an der Fensterscheibe … Trotzdem war ich mir sicher, dass ich was gehört hatte, und um diese Zeit ist niemand wach, bis auf den Bäcker, und der ist ja auf dieser Seite der Piazza. Also bin ich aufgestanden, um nachzusehen, und hab dieses Mädchen gesehen, das da im Regen lag. Hat mich ganz schön erschreckt, das kann ich Ihnen sagen. Sie ist nicht hier aus der Gegend, oder?«

»Nein.« Der Capitano ließ sich keine weiteren Auskünf‌te entlocken.

»Das dachte ich mir. Ich bin dann gleich zum Haus des Brigadiere gegangen und hab geklingelt. Ich wollte sie nicht anfassen. Ich wusste ja nicht, ob … Aber ich hab eine Decke über sie gelegt. Der Brigadiere hat einen von seinen Männern geholt, und wir haben sie dann zusammen hier rübergetragen. Als wir sie hier ins Licht brachten, kam sie etwas zu sich, aber ich hab nicht ganz mitgekriegt, was sie gesagt hat. Ich nehme an, sie ist Ausländerin …«

{27}»Weiter.«

»Da ist eigentlich nicht mehr viel, wie Sie an dem sehen können, was ich dem Brigadiere erzählt hab – außer dass ich mit der Sache, die da passiert ist, nichts zu tun habe. Falls sie sich verlaufen hatte, hat wahrscheinlich das Licht in meinem Fenster sie angezogen.«

»Wahrscheinlich.«

»Der Bäcker arbeitet hinten, wissen Sie, bei ihm ist also erst Licht zu sehen, wenn er um sechs aufmacht. Jedenfalls hat das alles nichts mit mir zu tun. Ich hab Ihnen alles gesagt, was ich weiß, und ich müsste jetzt wirklich zurück – ich hab ohnehin schon zwei Stunden verloren.«

»Haben Sie Ihre Aussage noch mal durchgelesen?«

»Vorhin, mit dem Brigadiere.«

»Möchten Sie etwas hinzufügen oder ändern?«