Tod im Palazzo - Magdalen Nabb - E-Book

Tod im Palazzo E-Book

Magdalen Nabb

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Beschreibung

Mord, Selbstmord oder Unfall? Wenn es in einer der ältesten Adelsfamilien von Florenz einen Toten zu beklagen gibt, kann es nichts anderes als ein Unfall gewesen sein. Ein Selbstmord würde den Ruf der Familie ruinieren und den Verlust der dringend gebrauchten Versicherungssumme zur Folge haben. Wachtmeister Guarnaccia glaubt aber nicht, daß das, was im Palazzo Ulderighi geschehen ist, ein Unfall war...

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Seitenzahl: 328

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Magdalen Nabb

Tod im Palazzo

Guarnaccias achter Fall

Roman

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Titel der 1991 bei HarperCollins Publishers,

London, erschienenen Originalausgabe:

›The Marshal Makes His Report‹

Copyright © 1991 by Magdalen Nabb

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1995 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Harald Mante

Copyright © Harald Mante

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22759 8 (18. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60595 2

Inhalt

Hinweis für den Leser

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Autorenbiographie

Mehr Informationen

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Der Wachtmeister konnte sich noch immer sehr genau an die nächtliche Szene erinnern. Trotzdem hatte sie etwas, wodurch sie in seiner Erinnerung eher wie ein spektakulärer Film oder der Höhepunkt eines Theaterstücks erschien, und irgendwie war sie ihm schon damals unwirklich vorgekommen. Vielleicht lag es daran, daß der Turm, dessen Spitze er schließlich, völlig außer Atem, erreichte, so hoch war und die handelnden Figuren, die unten im Hof das Stück aufführten, so winzig wirkten.

Die Florentiner Nacht war heiß, der Himmel samtig, der Mond groß und hell. Man konnte gerade noch erkennen, daß in der mächtigen Eisenlaterne, die im Durchgang hing, ein Licht brannte, ein so schwaches allerdings, daß der Wachtmeister die Kolonnade und den Brunnen in der Mitte kaum wahrgenommen hätte, wenn der Mondschein nicht gewesen wäre. Der Körper lag mit dem Gesicht nach unten beim Brunnen, darübergebeugt die dunkle Silhouette der Frau. Alles war still. Andere dunkle Figuren traten aus der noch tieferen Düsterkeit der Kolonnade und näherten sich zögernd dem zentralen Tableau, doch bevor sie die Gruppe erreichten, blieben sie stehen und bildeten eine Art Kreis. Eine Taschenlampe flammte auf, wurde aber sofort wieder ausgemacht. Niemand störte die Frau, die reglos neben dem ebenso reglosen Körper [6]kniete. Sie hätte eine Mutter sein können, die über ihr schlafendes Kind wacht, besorgt, daß jede Bewegung es aufwecken könnte. Den Wachtmeister hoch oben auf dem Turm erreichte keine Stimme. Das Bild blieb unbeweglich, unnatürlich lange, bis die Besatzung des Krankenwagens kam und mit einem weißen Rechteck zur Mitte vordrang. Der Kreis von Köpfen öffnete sich.

Der Wachtmeister hielt sich mit seinen großen Händen an der warmen steinernen Brüstung fest und beugte sich weiter vor. Angespannt wartete er darauf, daß die Frau zusammenbrechen würde. Jeden Moment mußte es passieren, und auch für ihn wäre es eine Erleichterung gewesen. Er sah, wie das weiße Rechteck abgestellt wurde und eine der schwarzen Figuren sich über sie beugte. Er sah, wie sie den Kopf nach hinten warf und zu ihm hochblickte, als wollte sie ihn anklagen, obwohl sie ihn nicht sehen konnte. Er spürte, wie der angestaute Schmerz endlich aus ihrem Körper wich, hörte aber nichts, denn genau in diesem Moment setzte das Feuerwerk ein, eine rote Fontäne zeichnete sich glitzernd auf den tiefschwarzen Himmel und explodierte in sanft zischenden Sternen, die in Zeitlupentempo auf die Dächer herunterfielen. Ein paar Sekunden lang waren alle Dächer und Türme von Florenz in einen warmen Schein getaucht, der Arno dazwischen schlängelte sich rosafarben dahin, und die Menschenmenge am Ufer brüllte und klatschte begeistert. Dann war es wieder dunkel, und eine rosa Rauchwolke verdeckte den Mond. Der Wachtmeister, benommen und abgelenkt, hörte nur seinen Atem und spürte den glatten warmen Stein unter den Händen.

[7]Daran, wie er seinen massigen Leib über Hunderte von Stufen hinunterbekommen hatte, konnte er sich viel undeutlicher erinnern. Er entsann sich nur, daß die Treppe so schmal war, daß er mit der rechten Schulter oft gegen die rohen Steine stieß und daß die ausgetretenen Stufen im Dunkeln heimtückisch waren. Er ging langsam, da er die kleine Figur nicht einholen wollte, die vor ihm hinuntertappte. Diese Überlegung war ihm jedenfalls damals durch den Kopf gegangen. Jetzt, nachdem alles vorbei war, konnte er zumindest sich selbst eingestehen, daß er keine große Lust verspürt hatte, sich mit der Szene im Innenhof abgeben zu müssen. Tatsächlich hatte ihn auch kaum jemand bemerkt. Der Oberstaatsanwalt hatte ihn flüchtig gesehen, doch dessen ganze Aufmerksamkeit galt der Marchesa, so daß er wartete, bis sie beruhigt und weggeführt worden war, dann ging er über den halbdunklen, ruhigen Innenhof und trat hinaus auf die laute Straße. Dort blieb er stehen, wartete eine Verkehrslücke ab und holte tief und erleichtert Luft, als ihn das helle Licht von Gino’s und der Duft heißer Pizza in das Leben und in die schöne Normalität zurückholte.

Und nun saß er in seinem Büro in der Carabinieriwache vom Palazzo Pitti, zwei dicke Finger auf den Tasten der Schreibmaschine, und erforschte sein Gewissen. Zu schaffen machte ihm die Tatsache, daß sein Gewissen nicht protestiert hatte, nachdem er sich darüber klargeworden war, was er in seinen Abschlußbericht schreiben sollte. Das kam erst später, als der Oberstaatsanwalt ihn gebeten hatte, das zu tun, was er ohnehin beabsichtigt hatte. Ein solcher Mann … na ja, grob gesagt, wenn man [8]einem solchen Mann zustimmte, mußte man genauso schlecht sein wie er. Der Wachtmeister konnte den Oberstaatsanwalt nicht leiden. Ein kleiner Beamter wie er konnte davon ausgehen, daß er sein Leben lang den Oberstaatsanwalt nicht zu sehen bekommen würde. Selbst die Staatsanwälte, die die Fälle leiteten, mit denen er hin und wieder zu tun hatte, pflegten normalerweise mit den Vorgesetzten des Wachtmeisters direkt zu kommunizieren. Er tippte »In den Abendstunden des 24. Juni« und hielt inne. Einem solchen Mann zuzustimmen …

Daß zwei völlig verschiedene Menschen aus zwei völlig verschiedenen Gründen zu den gleichen Schlußfolgerungen kommen könnten, erschien dem Wachtmeister unvorstellbar. Logisches Denken war nicht seine Stärke. Das Schreiben von Berichten auch nicht, selbst wenn es einfache Ermittlungsprotokolle waren, und dieser hier war alles andere als einfach. Was hatte seine Frau gleich gesagt, als sie sich einmal wegen irgendeiner Sache gestritten hatten und er erklärt hatte, daß es nicht richtig sei. »Vielleicht ist es nicht richtig«, hatte sie erwidert, »aber was richtig ist, muß nicht immer gut sein.« Er war damals viel zu wütend gewesen, um sie zu fragen, was das bedeuten sollte, aber jetzt bedauerte er, sie nicht gefragt zu haben, denn es bezeichnete seine eigenen Gefühle …

»In den Abendstunden des 24. Juni …«

»Phhh!« Er riß den Bogen aus der Schreibmaschine und zerknüllte ihn mit einer Hand. Mit seinen großen Glupschaugen starrte er auf den Straßenplan an der gegenüberliegenden Wand. Die Sonne schien darauf. Er schwitzte. Hunger hatte er auch. Ein Ausspruch fiel ihm [9]ein: »Wer mit hohen Leuten verkehrt, ist der letzte bei Tisch und der erste am Galgen.« Der junge Engländer hatte ihn aufgesagt oder vorgelesen. Wohl wahr. Wieder spürte er die schönen Augen der Marchesa Ulderighi, die sich ihm bei jenem ersten Mal zugewandt hatten, so daß er sich wie ein niedriges Wesen vorkam, das die Luft verunreinigte, die sie einatmete. Die Erinnerung daran beschämte ihn, und verärgert über seine eigene Schwäche stand er auf und ging im Zimmer auf und ab. Dabei kollidierte er immer wieder mit dem Gummibaum, den seine Frau gekauft und vor das Fenster gestellt hatte, genau dorthin, wo er sonst immer stand und hinausblickte. Ächzend, denn er selbst war mehr als nur ein bißchen übergewichtig, wuchtete er den schweren Topf zur Seite und öffnete das Fenster. Vom Boboli-Garten strömte warme Luft herein und mit ihr der intensive Geruch von Tomatensoße mit Knoblauch und Basilikum, das Geräusch von Geschirrklappern und das Zeitzeichen der Mittagsnachrichten. Die Jungs waren also schon oben in der Kantine beim Essen, und er hatte die Zeit vergessen! Mit einem Seufzer der Erleichterung schloß er das Fenster und verließ sein Büro. Ein gutes Mittagessen, ein kleines Schläfchen, mit Teresa und den Kindern ein wenig plaudern, und dann würde er noch einmal anfangen, ganz von vorn.

Angefangen hatte es, zumindest für den Wachtmeister, am zweiten Sonntag im Juni und mit der ersten Runde des Fußballturniers. Die ganze Sache ging eigentlich auf diese blödsinnige Fußballgeschichte zurück und auf die kalten Augen der Marchesa Ulderighi. Nicht, daß der [10]Wachtmeister etwas gegen Fußball hatte, das heißt, richtigen Fußball, dem er ein vage wohlwollendes Interesse entgegenbrachte und bei dessen Fernsehübertragungen Mittwoch abends er in seinem Sessel regelmäßig einnickte. Diese Florentiner Version aber war etwas anderes. Nie würde er den Tag vergessen, als er das Spiel zum erstenmal sah – es mußte vor mehr als fünfzehn Jahren gewesen sein. Er hatte den Umzug durch die Stadt mit Freude verfolgt. Hellebardiere und Gildenvertreter und andere Personen in mittelalterlichen Kostümen im hellen Sonnenlicht, die Trommler und Fahnenschwenker und die Pferde, die sich durch die engen Gassen und die Menge ihren Weg bahnten. Malerisch, dachte er, eine hübsche Show für die Touristen, die auf den Tribünen rings um den großen sandbedeckten Platz saßen und friedlich an ihren schmelzenden Eistüten leckten. Sie und der Wachtmeister wurden vom Preis abgelenkt, einer weißen Kuh mit goldenen Hörnern, die, ein wenig benommen von den flatternden Seidenfahnen und den dröhnenden Trommeln, in die Arena geleitet wurde.

Erst als die kostümierte Truppe abgezogen war und das Feld den Spielern überlassen hatte, beschlich den Wachtmeister ein dunkler Zweifel. Auch sie trugen Kostüme, aber die aufgeschlitzten Ärmel und die Kniehosen und die langen, bunten Strümpfe milderten nicht den Eindruck, den ihre Stiernacken und ihre kämpferischen Mienen erzeugten. Der Wachtmeister, der bei diesem ersten Mal Dienst hatte, stand direkt am Rand des Spielfelds, und die Erregung, die aggressive Sprache und bestimmte Gesten entgingen ihm keineswegs. Die Touristen, in sicherer [11]Entfernung auf den teuren Sitzgelegenheiten hinter den Notabeln und dem Bürgermeister der Stadt untergebracht, leckten noch immer an ihren Eistüten und plauderten. Auf den anderen Tribünen aber, wo die lokalen Fans saßen, bauten sich Wellen der Unruhe auf. Der Wachtmeister sah sich nervös um, während Bekanntmachungen in verschiedenen Sprachen über Lautsprecher verlesen wurden. Niemand sonst schien beunruhigt zu sein. Die Fans warfen schließlich mit nichts Gefährlicherem als gefärbten Nelken um sich, fliegenden dunklen Silhouetten, die kreuz und quer über den blauen Mittsommerhimmel segelten und in einem Muster, das den Farben ihrer Mannschaft entsprach, auf dem Sandboden landeten.

In der Nähe des Wachtmeisters stand der Turnierleiter, angetan mit dekorativem Umhang und schwarzem Samthut, in der rechten Hand ein Schwert haltend, wie der Wachtmeister amüsiert feststellte, als wollte er sich sofort auf einen Gegner stürzen. Das war sein letzter Gedanke, bevor ein Böllerschuß loskrachte und den Platz mit seinem Dröhnen erfüllte. Der Wachtmeister konnte gerade noch sehen, wie der Ball in eine Richtung hochflog, als die Spieler sich in einer einzigen Kugel verknäulten, die in die andere Richtung drängte, und ein heftiger Kampf ausbrach. Die Anhänger sprangen unter wildem Gebrüll auf. Der Wachtmeister stand offenen Mundes da und sah sich um. Sollte er nicht eingreifen? Guter Gott! Jemand sollte eingreifen! Hatte er nicht einen Schiedsrichter gesehen? Dort war der Schiedsrichter. Der arbeitete sich nach einer Weile aus dem kämpfenden Knäuel hervor, stand auf und [12]begann, am Hemd eines der aggressiveren Kämpfer zu zerren. Zunächst wurde er ignoriert, doch dann bemerkte der hünenhafte Spieler diesen störenden Angriff von hinten, drehte sich um, packte den Schiedsrichter und schleuderte ihn über die Umzäunung des Spielfelds. Das Gebrüll wurde lauter. Der Wachtmeister hörte ein metallisches Geräusch neben sich. Der Turnierleiter eilte im Laufschritt nach vorne, mit wehendem Mantel und erhobenem Schwert. Es war kein Spielzeugschwert. Innerhalb von Sekunden war die Ordnung wiederhergestellt. Nachdem das ineinander verschlungene Menschenknäuel aufgelöst und der Punkt vergeben war, stellte sich heraus, daß ein bestimmter Spieler als Opfer ausersehen war, und zwar der größte und wildeste einer Mannschaft. Er sollte so früh wie möglich ausgeschaltet werden. Nun stand er rotbackig und verschwitzt da und brüllte wutentbrannt. Die Reste seines T-Shirts hingen in Fetzen über seiner zerrissenen Hose. An der Nase und seitlich am Gesicht blutete er. Irgend jemand hatte ihm das Ohr abgebissen, aber der wahre Grund für seine Wut war die Tatsache, daß er als Verletzter vom Spielfeld geschickt wurde. Er verschmähte die herbeigebrachte Trage und schaffte es, einem der Gegner noch einen anständigen Schlag zu verpassen, bevor er weggezerrt wurde. Nun begann man, nach dem Ohr zu suchen, aber der Wachtmeister erfuhr nicht, ob diese Aktion erfolgreich war, denn nach einem Böllerschuß wurde das Spiel wieder aufgenommen. Der Wachtmeister setzte die Sonnenbrille ab und wischte sich das verschwitzte Gesicht ab. Für den Rest des Spiels begnügte er sich damit, gelegentlich »Mein Gott …!« zu [13]murmeln und die beruhigende Figur des Schwertträgers neben ihm im Auge zu behalten.

Nach so vielen Jahren hatte er sich an all das natürlich gewöhnt und gelernt, die vier Mannschaften zu unterscheiden, die von den vier Stadtvierteln aufgestellt wurden und von denen nur zwei auf dem Spielfeld wirklich gefährlich waren. Zu ihnen zählte bedauerlicherweise die weiße Mannschaft seines eigenen Viertels. Bedauerlicherweise, da seine beiden Söhne, die er zusammen mit seiner Frau schließlich aus Sizilien nach Florenz hatte nachkommen lassen, sofort Anhänger der weißen Mannschaft geworden waren, so wie ihre Schulkameraden auch, und von ihm erwarteten, daß er seine Position dazu nützen würde, ihnen Eintrittskarten für das Turnier zu besorgen. Seine matten Einwände, daß er Karten nur für das Spiel zwischen Grün und Rot bekommen könne, stießen auf ein wütend-enttäuschtes »Oh, Mann!« Er hatte sich dann so weit drangsalieren lassen, daß er einwilligte, Karten für das einigermaßen ungefährliche Spiel zwischen Weiß und Grün zu besorgen. Alles, um den unvermeidlichen Endkampf zwischen Weiß und Blau zu vermeiden, ein furchtbares Flutlichtspektakel in der Nacht des Heiligen Giovanni, des Schutzheiligen der Stadt. In der Nacht zum 24. Juni.

Und so kam es, daß ihm an jenem zweiten Sonntag im Juni, während er seinen massigen, dunkeluniformierten Leib auf dem schmalen Bürgersteig der Via Ulderighi durch die Menge drängte, nur etwas wirklich Sorgen bereitete, und das war die Tatsache, daß die Jungen mit ihren Freunden dem Wettkampf zusehen würden, das und die [14]brennende Nachmittagssonne, die bewirkte, daß seine empfindlichen Augen trotz Sonnenbrille zu tränen anfingen. Immer wieder mußte er, von allen Seiten angerempelt, stehenbleiben, sein Taschentuch herausholen und versuchen, die Augen zu trocknen, ohne seine Brille abzusetzen. Hinter sich hörte er dröhnende Trommelrhythmen, die zwischen den hohen Dachsimsen widerhallten. Der Festzug war unterwegs. Er hatte einige seiner Polizisten zum Dienst während des Spiels abordnen müssen, während er selbst nur deswegen dorthin ging, weil er seine Söhne im Auge behalten wollte. Trotzdem mußte er, als das graue Pferd an der Spitze des Umzugs seine Höhe erreichte, zugeben, daß ihm das Schauspiel gefiel, auch wenn er die Aggressivität des Turniers selbst ablehnte. Die Trommeln und Trompeten und die bunten Seidenfahnen, die in den engen Straßen in die Luft geschleudert wurden, ließen Florenz so aussehen, wie es aussehen sollte, und die Leute, die sich aus hohen Fenstern lehnten, um dem Schauspiel zuzusehen, verbreiteten eine fröhliche Stimmung, die etwas Ansteckendes hatte.

Seine gute Laune hielt nicht lange an. Er war einen Moment stehengeblieben, abgelenkt von der Rüstung des grauen Pferds, das vor Erregung kaum zu beruhigen war. Es schnaubte und warf den Kopf zurück, und auf Nacken und Schultern bildete sich eine Schweißschicht. Der Ritter im Sattel, angetan mit einem Umhang, wahrte seine strenge und kompetente Miene, aber nach Ansicht des Wachtmeisters beeindruckte seine Strenge die Zuschauer und weniger das Pferd, das in einen Trab überzugehen versuchte, dann aber gezügelt wurde und wieder [15]weitertrottete. Die Menge drängte zurück, gegen den Wachtmeister. Irgend jemand zupfte kräftig an seinem Ärmel.

»Hier! Wachtmeister!«

Er drehte sich um. Ein baumlanger Mensch stand direkt hinter ihm, die Kamera auf den Schmuck des grauen Pferdes gerichtet.

»Hier entlang! Schnell!«

»Wer zum Teufel …?«

Eine Frau berührte seinen Arm und deutete auf zwei hohe, beschlagene, von einem Baugerüst eingerahmte Flügeltüren, von denen die eine einen Spalt offenstand.

»Dort ist er reingegangen.«

Ein merkwürdiges kleines Gesicht guckte heraus, und eine Hand winkte ihn ungeduldig herbei und verschwand dann.

Verwirrt ging der Wachtmeister auf die Tür zu und starrte in die Düsterkeit dahinter. Er konnte nichts erkennen. Er setzte seine Sonnenbrille ab, stieß die Tür auf und ging hinein. Er war kaum eingetreten, als die Tür krachend zufiel und eine kleine Gestalt hinter ihm auftauchte.

»Hier entlang!« Die Gestalt schloß ein hohes schmiedeeisernes Tor auf. Sie standen in einem großen, von Kolonnaden umgebenen Innenhof, in dessen Mitte sich ein steinerner Brunnen befand. Es war kalt und dunkel hier, nach der Helligkeit und der Hitze der Straße, und der Lärm des Festzugs drang kaum heran. Dafür war in einem der oberen Stockwerke Musik zu hören. Der Wachtmeister folgte der kleinen Figur, die aufgeregt vor ihm herlief und wieder zurückkam, um ihn vorwärts zu drängen, so wie Hunde es manchmal tun. Jetzt wartete er vor [16]einer Tür rechts im Säulengang. Der Wachtmeister erreichte ihn und sagte: »Na?«

Der Mann war ein Zwerg, er reichte dem Wachtmeister knapp bis zur Taille, aber nach seinem Gesicht zu urteilen war er mindestens vierzig. In der Tasche seines schwarzen Arbeitskittels suchte er nach einem Schlüssel.

»Ich habe abgeschlossen. Man weiß ja nie. Nicht, daß er irgendwohin gehen würde!«

Der Wachtmeister wartete schweigend. Er ahnte schon, daß ihm etwas sehr Unangenehmes bevorstand, konnte dieses Gefühl aber nicht mit dem Verhalten des anderen vereinbaren. Also wartete er einfach. Der Zwerg schloß die Tür auf und trat mit dem Wachtmeister ein. Es war ein Jagdzimmer, ziemlich klein und fensterlos. Ein Licht brannte. Abgesehen von dem Gewehrständer und einem Schrank war nur noch ein Tisch sowie ein Ledersessel im Zimmer. Sonst nichts, nur der Tote, der auf der Erde lag.

»Wer ist das?« Die großen Augen des Wachtmeisters registrierten jede Einzelheit.

»Der Chef. Der Boß. Hat sich jedenfalls dafür gehalten. Jetzt ist er eines Besseren belehrt worden. Eher so etwas wie ein Prinzgemahl. Sie wissen, was ich meine?«

»Nein.« Der Wachtmeister beugte sich herunter, um sich den Toten genauer anzusehen. Er war aus nächster Nähe in den Hals geschossen worden. Oder hatte sich wohl eher selbst umgebracht. Er lag auf dem Rücken, quer über seiner Brust lag ein Gewehr. Über einem schwarzen Smoking trug er einen seidenen Morgenmantel, und eine seitliche Gesichtspartie wies einen dunklen Fleck auf.

»Wer ist das?« fragte der Wachtmeister wieder, und [17]dann, als der Zwerg gerade den Mund öffnete, um zu antworten: »Sein Name.«

»Corsi. Buongianni. Sie müssen von seinem berühmten Aperitiv gehört haben. Schenkt neue Kraft in jeder Lebenslage – kennen Sie bestimmt aus der Fernsehwerbung. In dieser Lebenslage wird er allerdings mehr als einen brauchen …«

»Und wie heißen Sie?« fragte der Wachtmeister finster.

»Ich? Ich werde gewöhnlich Grillo gerufen.«

Das konnte sich der Wachtmeister gut vorstellen – diese kleine drauflosplappernde Kreatur hatte wirklich etwas von einer Grille.

»Tja«, sagte Grillo und rieb sich zufrieden die Hände, »man wird ihr Bescheid sagen müssen, und Sie sind genau der Richtige dafür. Ich hatte mir schon überlegt, was ich tun sollte, und dann habe ich Sie dort draußen durch das Fenster gesehen. Nicht hier …« – er hatte den Blick des Wachtmeisters sofort verstanden –, »nebenan. Ich werde nicht hinaufgehen. Nicht meine Aufgabe. Mit denen da oben habe ich nichts zu tun. Eigentlich ist der Portier dafür zuständig, aber er und seine Frau sind schon dort oben, verkleidet als Butler und Dienstmädchen. Was sie wohl dazu sagen wird.«

»Setz dich.« Der Wachtmeister sah inzwischen etwas gefährlicher aus. Grillo setzte sich. Es gab nur die eine Sitzgelegenheit, und der Wachtmeister beugte sich über ihn und funkelte ihn mit seinen großen Glupschaugen an. Grillo verschränkte die Arme und starrte unbekümmert zurück.

»Zu Diensten, solange Sie nicht verlangen, daß ich …«

[18]»Klappe.« Aber nachdem er ihm den Mund gestopft hatte, wußte der Wachtmeister nicht, wo er anfangen sollte. Buongianni Corsi … Der Aperitif kam ihm bekannt vor, auch wenn er persönlich das Zeug nie anrührte. Der schwache Klang einer Trompetenfanfare drang von außen herein, wie von einer anderen Welt. Dem Wachtmeister war, als müsse er in dem kleinen Raum bald ersticken. Dieses Gefühl sollte ihn so schnell nicht wieder verlassen. Seufzend sah er von dem Zwerg zu dem Toten und wieder zurück. »Wann hast du ihn gefunden?«

»Ich habe keine Uhr.«

»Wann ungefähr?«

»Vor einer halben Stunde vielleicht. Ich bin reingekommen …«

»Warum?«

»Warum? Um die Gewehre zu reinigen, natürlich. Das ist mein Job, schon immer gewesen.«

»Und, hast du’s getan?«

»Sie gereinigt? War doch sinnlos. Er braucht sie nicht mehr. Ich habe das Zeug da nicht rausgeholt, wenn Sie das meinen.«

Ihm entging aber auch nichts. Der Wachtmeister hatte die Lumpen und das Reinigungsöl auf dem Tisch bewußt nicht betrachtet.

»Hat es selber gereinigt, stimmt’s? Ich meine, muß doch so gewesen sein. Hat sich selbst erschossen, würden Sie nicht auch sagen?«

Der Wachtmeister ging nicht darauf ein.

»Du hast gesagt, es war dein Job.«

Die Antwort war ein langgezogenes Gackern.

[19]»Was ist daran so komisch?«

»Nichts. Er ist oft in diesem Zimmer gewesen, hat mit seinen Gewehren gespielt. Hat viele Abende hier verbracht. Hat mit seiner kleinen Pistole gespielt.« Lüstern grinste er zur Leiche hinüber. »Das war ihm lieber als seine Frau und deren Freundinnen. Und was glauben Sie, warum, na? Hahaha.«

Der Wachtmeister guckte finster. Er kam sich allmählich vor wie der Tolpatsch in einer Komödie. Er beschloß, es mit drohendem Schweigen zu probieren. Die Strategie funktionierte. Zuerst wahrte auch der Zwerg trotziges Schweigen, doch bald wurde er unruhig.

»Na ja, jedenfalls … man wird ihr Bescheid sagen müssen. Sie wollen bestimmt wissen, wer und wo …«

Der Wachtmeister rührte sich ein wenig und blieb dann wieder still stehen. Das Zimmer war so kahl, so streng und ohne Fenster. Es mußte einem schon schlecht gehen, wenn man dort lange, einsame Abende verbringen wollte.

»Sie müssen nach der Marchesa fragen. Marchesa Ulderighi. Seine Frau. Sie finden sie im ersten Stock. Es findet dort gerade ein Konzert statt, wie immer an Sonntagnachmittagen.«

Der Wachtmeister drehte sich um und verließ den Raum.

»Ich schließ wieder ab, ja? Besser so, was meinen Sie?« Grillo kam plappernd hinter ihm her. Der Wachtmeister wartete, bis er abgeschlossen hatte, nahm ihm dann den Schlüssel ab und steckte ihn in die Brusttasche seiner Uniform. Er sah hinauf, dorthin, wo Musik erklang.

»Wo ist der Aufzug?«

[20]»Sie müssen die Treppe nehmen. Nur die Familienangehörigen haben einen Schlüssel für den Lift.«

»Wo kann ich mal telefonieren?«

»Telefonieren? … In der Portierswohnung ist ein Telefon, aber das können Sie nicht benutzen. Abgeschlossen. Sie sind dort oben, wie ich schon gesagt habe, in Kostüm …«

»Gut, gut.«

Der Wachtmeister stieg ächzend die breite Steintreppe hinauf. Vielleicht war es nicht klug, daß Carabinieri und Sanitäter im Haus dieser Marchesa Soundso herumstiefelten, bevor sie überhaupt wußte, daß ihr Mann tot war, obwohl er es lieber einem Offizier oder einem Untersuchungsrichter überlassen hätte, die Dame zu informieren … worüber eigentlich? Wenn er selbst es tun mußte, dann sollte er unbedingt auf seine Formulierung achten. Ein Unglücksfall … wahrscheinlich war es das, wenn der Bursche sein Gewehr gereinigt hatte, kommt ja immer wieder vor. Aus einer Anzahl von Gründen, die in seinem Kopf schon ziemlich klar waren, glaubte er nicht, was er dachte. Er glaubte vielmehr … fälschlicherweise, wie sich zeigen sollte –, daß jeder Fall, bei dem es, wie hier, um hohe und einflußreiche Leute ging, ihm sofort abgenommen würde.

»Uff!« Er hielt inne, um Luft zu holen, und wischte sich über die Stirn. Auf dem ersten Absatz des imposanten Treppenhauses hing eine geschnitzte Tafel mit dem gemalten Familienwappen an der Wand. Der Wachtmeister stieß darauf, als er um die Ecke bog, und blieb vor Überraschung wie angewurzelt stehen. Das Wappen war [21]mindestens doppelt so groß wie er, und so, wie es etwas nach vorn geneigt an der Wand hing, wirkte es irgendwie bedrohlich. Noch immer erklang von oben her gedämpfte Musik. Der Wachtmeister setzte etwas atemlos seinen Aufstieg fort, und als er das erste Geschoß erreichte, blieb er stehen. Zu seiner Rechten und Linken waren hohe Flügeltüren. Die Musik kam von rechts. Ein Konzert, hatte Grillo gesagt. Er betrachtete die Klingel an der Wand, stellte sich vor, welche Störung sein Läuten verursachen würde. Auf einem Messingschild war in fein geschwungener Schrift der Name Bianca Maria Corsi Ulderighi Della Logghia eingraviert. Das muß sie sein – aber warum nur ihr Name? Was war mit ihrem Mann? Er war noch nicht tot, als dieses Namensschild angebracht wurde. Prinzgemahl, hatte Grillo gesagt … Verrückter Typ!

Der Wachtmeister klingelte nicht. Wenn man es mit Leuten zu tun hatte, auf deren Türschild ein so langer Name stand, war man gut beraten, sich vorsichtig zu bewegen, oder man wachte eines Morgens auf und stellte fest, daß man an irgendeinen gottverlassenen Ort am anderen Ende der Halbinsel versetzt worden war. Er hob seine mächtige Faust und klopfte leise. Die Musik ging weiter. Es war ein trauriges, aber schönes Stück, dessen Melodie von einem Instrument gespielt wurde, das sich wie eine Flöte anhörte. Er klopfte noch dreimal leise an und tippte dann gegen die Tür. Sie öffnete sich. Schließlich war es ein Konzert, und vermutlich ein öffentliches. Deshalb trat er behutsam ein. Er befand sich in einem breiten Korridor, dessen Terrakottafliesen so alt und so nachgedunkelt waren, daß sie fast schwarz aussahen. Fenster gab [22]es nicht, das Licht kam von kleinen Lämpchen mit Seidenschirmen auf vier halbmondförmigen Tischen, die zwei weitere Flügeltüren jeweils rechts und links flankierten. Noch immer erklang das leise Klagen der Flöte, und der Wachtmeister bemühte sich, mit seinen schwarzen Stiefeln nicht allzuviel Lärm auf dem polierten Fußboden zu machen, und vor lauter Anstrengung ballte er die Hände zu einer Faust. Er erreichte die linke Tür, nahm seine Uniformmütze ab und drückte den Messinggriff hinunter.

Während die Musik lauter wurde, fiel sein Blick in einen hohen, in Gelb und Weiß gehaltenen Salon mit dem gleichen dunkelpolierten Fußboden und einem riesigen Kronleuchter. Auf zierlichen vergoldeten Stühlen saßen vielleicht sechzig oder achtzig elegant gekleidete Menschen. Leise schloß er die Tür und überlegte, was er tun sollte. Auf eine Pause warten und, während geklatscht wurde, sich hineinschleichen? Lächerlich. Der Mann der Marchesa lag tot dort unten. Warum zum Teufel vermißte sie ihn gar nicht, wo doch all ihre Gäste gekommen waren? Vielleicht war es doch am besten, hinauszugehen und von einer Bar aus Verstärkung anzufordern, nun, da der Lärm des Festzugs bald vorbei sein würde. Was ihn zögern ließ, war der Gedanke an den plappernden Grillo, der da unten bestimmt wartete, um zu sehen, wie der Wachtmeister mit der Situation fertig würde. Inzwischen begriff er, warum sich der Zwerg geweigert hatte, mit hochzukommen und in diese Versammlung hineinzuplatzen, und er konnte sich sehr gut vorstellen, mit welch triumphierendem Grinsen er auf seine ängstliche und wenig selbstbewußte Art reagieren würde.

[23]»Mist«, sagte er zu sich selbst und überlegte erneut, ob er auf eine Pause warten sollte. Dann hörte er, daß eine Tür hinter ihm geöffnet wurde. Er drehte sich um und sah eine ältere, füllige Frau in Dienstmädchenkleidung. Sie hielt noch immer die Tür weit offen und starrte ihn ängstlich an. Mit einem leisen Schreckensruf drehte sie sich um und verschwand. Er hörte sie nach jemandem rufen.

»Mauro! Mauro!«

»Was ist jetzt wieder los, Alte?«

»Mauro!«

Der Wachtmeister war ihr gefolgt. Der Salon zu seiner Rechten sah fast genauso aus wie der andere, war nur etwas kleiner und enthielt zwei sehr lange, mit weißen Damasttüchern gedeckte Tische, auf denen Flaschen des berühmten Aperitifs sowie Gläser standen. Eine kleine Dienstbotentür am anderen Ende stand offen, und dort erschien jetzt ein Mann. Er hatte ein verhutzeltes, affenartiges Gesicht und trug eine schwarze Hose, ein kurzes gestreiftes Jackett und weiße Handschuhe. Seine Frau – denn dies war zweifellos der Portier – tauchte hinter ihm wieder auf und guckte ängstlich über seine Schulter. Ihr weißes Gesicht wies inzwischen rote Flecken auf. Offensichtlich fühlten sie sich in ihrer »Kostümierung« sehr unwohl, was ihre Nervosität beim Anblick des Wachtmeisters nur noch verstärkte. Der Portier sah weniger den Wachtmeister als dessen Uniform. Er stieß nur ein einziges leises Wort aus.

»Verdammt …«

»Was hab ich dir gesagt«, jammerte seine Frau. »Immer wieder hab ich es gesagt, aber niemand hört auf mich.

[24]Also, ich bin froh, wirklich. Ich bin froh. Selbst sie wird es sich zweimal überlegen, bevor sie ihm noch einmal hilft, wenn du mich fragst, und das wird das Ende sein. Selbst wenn sie ihn einlochen, jedenfalls wird es das Ende sein! Du hörst mir nicht zu, aber du wirst es noch begreifen …«

»Sei still, blöde Kuh!«

Der Wachtmeister, der überhaupt nichts begriff, blieb schweigend stehen. Die Frau schlurfte wieder durch die Dienstbotentür und setzte ihr Klagen und Jammern außer Sicht fort.

»Ja, bitte?« Der Portier, in dem Versuch, möglichst unbekümmert zu wirken, vergrub die Hände in den Hosentaschen, zog sie aber wegen der weißen Handschuhe sofort wieder heraus. »Hat er sich verletzt oder hat er jemand anderem etwas getan oder was?«

Der Wachtmeister starrte ihn nur verdutzt mit großen Glupschaugen an.

Als erinnerte er sich an etwas, sagte der Portier: »Wie spät ist es überhaupt?«

»Wie spät …?« Der Wachtmeister sah auf seine Uhr. »Viertel vor sechs.«

»Aber Anstoß war doch erst um halb sechs, wie können Sie dann hier sein – oder ist es schon vorher passiert?«

»Vorher …« Meinte er das Konzert?

»Also, egal, was passiert ist, er hat keine Schuld, glauben Sie mir. Was kann man schon erwarten? Immer ist er es, auf den sie sich stürzen. Man steckt eine ganze Menge ein, aber früher oder später verliert man irgendwann die [25]Nerven, hab ich recht? Sie haben gar nicht gesagt, ob er verletzt ist?«

»Er ist tot.« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, erkannte er am Gesichtsausdruck des Portiers, daß sie über zwei verschiedene Menschen gesprochen hatten. Es war, als hätte man ihn in den Magen geboxt und als wollte er im nächsten Moment umfallen.

»Ganz ruhig!« sagte der Wachtmeister, während er nähertrat und den Arm des kleineren Mannes nahm. Niemand brachte seinem Arbeitgeber soviel Anhänglichkeit entgegen.

»Buongianni Corsi. Ich spreche von Buongianni Corsi. Es hat einen Unfall gegeben. Er ist tot. Sie sollten sich einen Moment hinsetzen.« Der Portier ließ sich zu einem Stuhl führen und sank, eine weißbehandschuhte Hand an die Brust gepreßt, darauf zusammen.

»Das Herz … es will nicht mehr richtig. Beinahe hätte es mich erwischt.«

»Tut mir leid. Müssen Sie nicht irgendwas einnehmen?«

»Ada! Ada!« Aus dem benachbarten Raum kamen noch immer laute Schluchzer, so daß seine Frau ihn nicht hörte.

»Ich werde sie holen«, sagte der Wachtmeister. Er ging durch die Personaltür in eine kleine Küche, die gleichzeitig als Speisekammer diente. Die Frau saß auf einem Karton mit der Aufschrift »Achtung Flaschen! Vorsichtig stapeln!«, die Beine weit auseinander, und mit jedem Schluchzer ließ sie die geballten Hände müde auf die Knie fallen.

»Ihr Mann braucht seine Medizin«, unterbrach er sie etwas unsanft. Später würde Zeit genug sein, um [26]herauszufinden, worum es hier überhaupt ging, und er wollte nicht noch einen zweiten Toten auf dem Hals haben.

Sie stand auf und strich sich das Haar zurück, ohne auf das kleine Spitzenhäubchen zu achten, das jetzt schief saß.

»Ja! Medizin! Ich werde noch im Krankenhaus enden, zwischen den beiden, aber sie hören ja nicht auf mich! Ich kann mir den Mund fusselig reden …« Trotzdem schlurfte sie los, durch eine weitere Tür, offenbar auf der Suche nach dem, was ihr Mann benötigte.

Der Wachtmeister nahm eines der Weingläser vom Tisch, füllte es mit Wasser und ging damit zum Portier zurück. Der saß noch immer auf dem Stuhl, seine Lippen hatten eine leicht bläuliche Färbung angenommen, aber er wirkte ruhiger.

»Ihre Frau wird Ihnen etwas bringen!« Er reichte ihm das Wasser.

»Danke.« Er nippte daran, die Augen unverwandt auf die geöffnete Flügeltür gerichtet. Es wurde noch immer musiziert.

»Sie werden bald kommen. Ich muß …«

»Bleiben Sie sitzen«, sagte der Wachtmeister, »oder vielleicht sollten Sie dort hinüber gehen.« Er deutete auf die Küche.

»Wenn nicht alles fertig ist für sie, wird es Krach geben. Die Marchesa …«

»Die Marchesa wird sich um andere Dinge kümmern müssen. Ihr Mann ist tot.«

»Richtig … Ein Unfall, haben Sie gesagt, ja? In seinem Auto?«

[27]»Nein. Weshalb war er nicht hier oben, beim Konzert? Wissen Sie das?«

»Er? Er war nie dabei. Nicht seine Art. Hat ihr das alles überlassen.«

»Sind irgendwelche Verwandte von ihr anwesend? Jemand, der es ihr beibringen könnte?«

»Tja … die Tante vermutlich. Trotzdem, wenn ich Sie wäre, würde ich mir keine Gedanken darüber machen.«

»Gibt es Kinder?«

»Neri …« Der Portier zog ein Gesicht. »Den werden Sie nicht sehen. Man sieht ihn ja nie. Er wird oben sein.« Er nippte noch einmal am Wasserglas und legte den Kopf auf die Knie. »Mir ist ein bißchen schwindelig …«

Der Wachtmeister nahm ihm das Glas ab. »Ihre Frau braucht aber lange.«

»Die vielen Stufen …« Er fiel in Schweigen, als ob ihn das Sprechen anstrengte. Die Frau kam schließlich zurück, atemlos und mit noch immer schief sitzendem Häubchen. Sie gab ihm zwei Tabletten, die er gierig hinunterschluckte. Sie wandte sich dem Wachtmeister zu. Sie weinte nicht mehr, und ihr Ausdruck hatte etwas Trotziges.

»Na? Was hat er getan?«

»Sie haben einen Sohn, richtig? Ist er es, um den Sie sich sorgen?« Der Wachtmeister hatte mittlerweile zwei und zwei zusammengezählt.

»Um wen sollte ich mich schon sorgen? Wenn er auf jemand losgegangen ist, dann hatte er gute Gründe. Alle haben es auf ihn abgesehen – ich habe ihn angefleht, aufzuhören. Ich habe ihn gewarnt …«

[28]»Reg dich nicht auf!« rief ihr Mann und griff sich dann wieder an die Brust. Er schloß die Augen vor Schmerz und sagte: »Er ist wegen Corsi gekommen. Es hat einen Unfall gegeben. Er ist tot.«

Die Frau schwieg. Stumm guckte sie die aufgereihten Flaschen an, als wären sie ein Beweis dafür, daß ihr Hersteller noch lebte.

»Und was passiert jetzt?« fragte der Wachtmeister, während er mit dem Kopf zu dem anderen Zimmer deutete, wo die Musik aufgehört hatte und Beifall geklatscht wurde.

»Sie werden alle hier herein kommen.« Sie strich sich die Schürze glatt. »Mein Gott, wie ich aussehe …« Sie achtete nicht auf das Häubchen, aber der Wachtmeister mochte sie nicht darauf hinweisen.

»Und wer wird es ihr sagen?«

»Ich.«

»Lieber Sie als ich. Nicht, daß wir uns besonders gut leiden konnten … Trotzdem …«

»Können Sie hier normal weitermachen?« unterbrach sie der Wachtmeister. »Ich werde sie im anderen Zimmer festhalten, wenn irgend möglich …«

Aber die beiden standen auf, hörten ihm schon nicht mehr zu. Mit einer Behendigkeit, die ihn verblüffte, hatten sie ihren Platz hinter jeweils einem der beiden langen Tische eingenommen und schenkten kleine Mengen des berühmten Aperitifs in die bereitstehenden polierten Gläser, als die Türen des benachbarten Salons aufflogen.

[29] 2

Angesichts der Menge, die sich in den Raum ergoß, wich der Wachtmeister ein paar Schritte zurück, doch dann blieb er stehen, mit festem, ausdruckslosem Gesicht, und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Er wußte sehr wohl, wie deplaziert er in seiner dunklen Uniform neben all der hellen Seide und dem Leinen wirkte, steif und stumm inmitten von lebhaften Bewegungen und angeregtem Geplauder. Einige Frauen warfen ihm einen fragenden Blick zu, bevor sie sich wieder abwandten, um ihre Konversation fortzusetzen oder sich ein Glas zu nehmen. Niemand sprach ihn an. Es waren fast nur Frauen da, und zwar durchweg ältere. Eine, stark geschminkt und im Abendkleid, bewegte sich mit Hilfe von zwei Stöcken. Der Raum wurde von einer aufdringlichen Mischung schwerer Parfüms erfüllt. Eine Frau stieß, während sie sich, ein Glas in der Hand, von dem langen Tisch entfernte, mit dem Wachtmeister zusammen. Sie drehte sich um, als wollte sie sich entschuldigen, aber ihr Gesichtsausdruck erfror, als sie ihn sah. Mit eisigem Blick maß sie ihn von oben bis unten, ehe sie ihn aus ihrer Welt verbannte, sich umdrehte und ihre Konversation wieder aufnahm.

»Sehr begabt, finde ich, und attraktiv, aber du hast ja ›den Freund‹ gesehen … Bianca war ziemlich verunsichert, meine Liebe, aber was konnte sie schon tun …«

[30]»Sie hätte sich weigern sollen. Natürlich wollen wir unseren lieben Emilio nicht verlieren. Dennoch …«

»Ach ja, Bianca kann sich alles erlauben, sogar das!«

Der Wachtmeister überlegte, was mit »sogar das« gemeint war, und dachte, daß der Frau vielleicht das Zeug in dem Glas nicht schmeckte. Etwas anderes wurde nicht angeboten, wie er feststellte.

»Was meinst du«, flüsterte eine Stimme so dicht an seinem Ohr, daß er sich angesprochen glaubte, »ist Emilio in Wahrheit homosexuell?« Es war die stark geschminkte alte Dame mit den beiden Gehstöcken, die jedoch nicht zu ihm sprach, sondern zu einer viel jüngeren Frau, die amüsiert guckte.

»Natürlich. Er hat doch nie einen Hehl daraus gemacht.« Sie bemerkte, daß der Wachtmeister sich umdrehte und sie anstarrte, was sie noch mehr zu amüsieren schien. Die andere Frau bemerkte nichts, sondern fuhr fort: »Na ja, du bist jung und kennst dich in solchen Dingen aus – ist es ein genetischer Defekt oder psychosomatisch, wie es so schön heißt? Ich verstehe es nicht …«

Der Portier tauchte mit einem Tablett voller Gläser neben dem Wachtmeister auf.

»Nehmen Sie ruhig …«

»Nein, danke.«

»Na, dann gehen Sie rein. Sie ist dort drüben.« Er zeigte mit einer Kopfbewegung zum benachbarten Salon.

Der Wachtmeister arbeitete sich zur Tür vor. Der größere Raum war jetzt fast leer. Drei Männer in eleganten Seidenanzügen und mit glänzendem grauen Haar standen, in ein ernstes Gespräch vertieft, in der Nähe der [31]leeren vergoldeten Stühle. Ein ganz junger Mann saß auf einem einfachen Holzschemel fast hinter der Tür, wo der Wachtmeister ihn bei seinem ersten raschen Blick nicht bemerkt hatte. An der Stirnseite des Salons stand ein Konzertflügel. Zur Überraschung des Wachtmeisters sah er keine anderen Instrumente, nur eine Stereoanlage auf einem antiken Tisch. Davor stand ein gutaussehender junger Mann, der »liebe Emilio« vielleicht? Er unterhielt sich lebhaft mit einer schlanken, eleganten Dame in Weiß, die dem Wachtmeister ihren Rücken zukehrte. Vorsichtig, fast auf Zehenspitzen und die Uniformmütze in der Hand, trat er zu den beiden heran, eifrig bemüht, die zierlichen Stühle nicht anzustoßen, die bei der leisesten Berührung seines massigen Leibes gewiß zusammengebrochen wären.

Der junge Mann hielt mitten im Satz inne und starrte ihn an, die Frau drehte sich um.

»Signora Marchesa …«

»Ja?« Sie maß ihn von oben bis unten, genau wie die andere Frau, nur erheblich wirkungsvoller. Sie hatte zwei große, schwarze Augen, aber blondes Haar und eine weiße Haut. Sie war nicht mehr jung, bestimmt über Vierzig, aber ungewöhnlich schön und mit einer Ausstrahlung, die den Wachtmeister davon abhielt, näherzutreten. Der Ausdruck in ihren hellen, hochmütigen Augen irritierte ihn so sehr, daß er sich auch nicht kleiner gefühlt hätte, wenn er auf dem spiegelglatten Fußboden ausgerutscht wäre und einige von diesen lächerlichen kleinen Stühlen kaputtgemacht hätte. Er schluckte und sah den jungen Mann an, um ihrem Blick auszuweichen.

[32]»Es tut mir leid, ich habe eine schlechte Nachricht. Dürfte ich Sie wohl allein sprechen …«

»Eine schlechte Nachricht …?« Sie legte den Kopf etwas zur Seite, als bemühte sie sich, ihm zu glauben, und wandte sich dann lächelnd dem jungen Mann zu. Er durfte gehen. Der Wachtmeister sah ihm hinterher. An der Tür sprach er mit dem Mann auf dem Hocker, der daraufhin rasch aufstand, die Anwesenden mit einem finsteren Blick bedachte und mit dem anderen hinausging.

»Die Unterbrechung ist mir ganz lieb …« murmelte die Marchesa mit einer Andeutung von Lächeln. »Künstler sind ein eigener Menschenschlag, finden Sie nicht? Und ganz gleich, von welcher Herkunft … aber es gibt schließlich eine Grenze … der liebe Emilio. Tja, ich bin ganz sicher, daß er sich diesen Fehler nicht noch einmal erlauben wird … Was genau kann ich für Sie tun?«

Der plötzliche Stimmungswandel verdutzte ihn.

»Ähm … Ich bedaure, ich habe eine schlechte Nachricht …«

»Jaja, das sagten Sie bereits. Sollten Sie mir nicht erklären, wer Sie sind?«

»Wachtmeister Guarnaccia von der Carabinieri-Wache im Palazzo Pitti.«

»Palazzo Pitti? Es gibt dort eine Carabinieri-Wache? Sehr ungewöhnlich, aber wie schön für Sie. Möchten Sie nicht Platz nehmen?«

»Nein! Ähm … nein, vielen Dank.« Nie und nimmer wäre er das Risiko eingegangen, sich bei seinem Gewicht auf eines dieser dünnbeinigen Stühlchen zu setzen. Vor lauter Verlegenheit schwitzte er, und eigentlich ging alles, [33]