Cosimo - Magdalen Nabb - E-Book

Cosimo E-Book

Magdalen Nabb

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Beschreibung

Florenz im Dezember: Ein fünfjähriger Junge steht starr vor Angst auf dem kalten Marmorküchenboden eines alten Patrizierhauses und traut sich nicht in sein Kinderzimmer zurück. Das Kindermädchen hat frei, die Mutter sucht Vergessen in einem langen Schlaf, der Vater ist auf Geschäftsreise. Ein Familiendrama, dessen viele Facetten sich wie in einem Kaleidoskop erst nach und nach zu einem Bild zusammenfügen.

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Seitenzahl: 369

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Magdalen Nabb

Cosimo

Roman

Aus dem Englischen von Ursula Koesters-Roth

Titel des Originals: ›Cosimo‹

Umschlagillustration: Max Pechstein,

›Liegender Rückenakt‹, 1911

Leopold-Hoesch-Museum der Stadt Düren

Copyright © Pechstein Hamburg/Toekendorf

2014, ProLitteris, Zürich für Werke Pechstein von

PECHSTEIN MAX

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23551 7 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60586 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Autorenbiographie

Mehr Informationen

[5] 1

Noch bevor er richtig wach geworden war, wußte Cosimo, daß es Samstag war. Er wußte auch, daß er sich naß gemacht hatte, denn er fror. Mit fünfeinhalb Jahren macht man nicht mehr ins Bett – sagte Milena immer, wenn sie die Laken wechselte: Auch ohne nasse Bettwäsche habe ich in dieser riesigen Wohnung mit all den Staubfängern mehr als genug zu tun.

Bitte, Milena, sag Papa nichts davon. Bitte!

Er ist nicht hier, da werde ich ihm wohl kaum etwas sagen können, oder?

Und wenn er zurückkommt? Verrat ihm bitte nichts, und Großmutter auch nicht, ja?

Deine Großmutter habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Außerdem werde ich fürs Putzen bezahlt, nicht fürs Quatschen. Wenn es mir darum ginge, könnte ich noch ganz andere Dinge erzählen.

Welche denn, Milena?

Milena schwieg. Das bedeutete nicht, daß sie böse auf Cosimo war. Sie machte immer beide Betten in seinem Zimmer, Guidos und Angelos, und sie zeigte ihm, in welcher Schublade der Kommode er am Samstag oder Sonntag Ersatzlaken finden konnte. Wenn Milena im Hause war, konnte er sie in der Küche rumoren hören, wo sie Cosimo[6]  die Milch zubereitete, mit Keksen, zum Eintunken. Samstags war es ganz still, außer in der Diele, wo die hohe Standuhr stand, direkt neben dem dunklen Bücherschrank mit der Bleiverglasung. Cosimo mochte die Uhr nicht. Sie tickte langsam und unheilverkündend. Tick … Tack …

Einmal hatte Papa ihn zu der Uhr hochgehoben: Das ist eine Großvateruhr, sie hat einmal deinem Opa gehört, und eines Tages wird sie dir gehören.

Ich weiß. Alles wird eines Tages mir gehören. Hat Großmutter gesagt.

Die Hände seines Vaters, die ihn hochhielten, waren groß und die Finger sehr lang, aber sie taten ihm nicht weh.

Cosimo wollte die große Uhr nicht haben. Für ihn verkörperte sie den toten Großvater. Manchmal, wenn er daran vorbeihuschte, sah er aus den Augenwinkeln, wie sich hinter dem Glas etwas bewegte, und es war nicht das Pendel! Er mußte an der Uhr vorbei, wenn er in die Küche wollte. Cosimo tastete nach Teddy Braun und versteckte sich unter der Bettdecke, den Teddy eng an sich gedrückt.

»Hab keine Angst«, flüsterte er in der Dunkelheit. »Heute ist Samstag, ich kümmere mich um dich, ich werde mich immer um dich kümmern.« Der Teddy war ganz platt gedrückt, so fest preßte ihn Cosimo an die Brust. Teddy Brauns Füllung war nicht mehr die beste – kein Wunder, er war ja auch sehr alt, viel, viel älter als Cosimo. Früher hatte er einmal Papa gehört. Das Fell hatte mit der Zeit stark gelitten, und die Knopfaugen waren verlorengegangen, deswegen war Teddy Braun jetzt blind. Aber er konnte hören, denn Milena hatte ihm das Ohr wieder angenäht, damit Cosimo sich beruhigte und zu weinen aufhörte.[7]  Sie hatte das braune Zeug von Angelos Kissen aufgesammelt, es kurzerhand zurück in den Teddy gestopft und seinen Kopf und die Brust wieder zusammengenäht. Tante Matty schloß Teddy Braun und Cosimo in die Arme und strich ihnen über den Kopf, bis die lauten Stimmen darin leiser wurden.

Ruhig, ganz ruhig. Alles in Ordnung, nichts passiert, gar nichts passiert …

Ich kann … ich kann aber nicht aufhören zu weinen, Tante Matty.

Das macht nichts. Weine nur, danach wirst du dich besser fühlen. Ich halte dich fest und wiege dich ein wenig hin und her wie ein Baby. Magst du das?

Aber ich … ich bin kein Baby mehr… und Großmutter… Großmutter will nicht, daß ich weine. Dafür bin ich schon zu groß.

Wenn du zum Weinen zu groß wärest, würdest du nicht mehr auf meinem Schoß sitzen können. Niemand ist zu groß, um getröstet zu werden, das weißt du doch, nicht wahr?

Auch die Erwachsenen nicht?

Auch die Erwachsenen nicht. Selbst dein Vater nicht, wenn er traurig ist.

Und auch … und auch …

Aber ja, mein Schatz … auch deine Mutter nicht. Sie ist manchmal sehr traurig.

Konnte sie deshalb … konnte sie deshalb nicht aufwachen? Weil sie … weil sie zu traurig war?

Armes, kleines Häschen, kuschel dich nur in meine Arme.

[8] Und Cosimo kuschelte sich in ihre Arme. Er konnte sich noch immer weinen hören, im Takt mit dem Hin- und Herwiegen, aber jetzt war es ein ruhiges, getröstetes Weinen.

Armes, kleines Häschen. Ja, ich glaube, du bist wirklich ein Häschen. Ich weiß, du kannst es mir nicht verraten, weil du noch immer weinst, aber ich glaube wirklich, daß du ein Häschen sein mußt. Kleines, weiches Köpfchen … so streichelzart … wein nur, das ist in Ordnung, das ist okay… und sind das nicht Schnurrhaare auf deinen runden Bäckchen, mein kleines, braunes Häschen. Aber ja, natürlich, das sind welche!

Nein, ich bin kein … ich bin …

Bist du sicher?

Ja!

Bist du wirklich ganz, ganz sicher?

Ja!

Aber das sind Hasenohren.

Das sind keine Hasenohren!

Sie sind aber ganz, ganz lang. Sieh doch nur, wie lang ich sie streicheln muß. Lange, warme, pelzige Ohren sind das. Sie zucken und beben wie deine Nase. Fühl doch nur.

Noch immer weinend streckte er die Hand aus und tastete nach der warmen Hand, die seine ›Hasenohren‹ streichelte.

Kannst du spüren, wie ich sie streichle? He! Du lachst doch nicht etwa? Oder etwa doch? Eigentlich weinst du doch noch. Laß mich mal sehen … Nein! Soooo große, graue Augen! Blitzende Augen! Das Häschen lacht ja und weint überhaupt nicht mehr!

Doch, ich weine noch … und wie ich weine! Und er glaubte, er weine tatsächlich, doch dann mußte er feststellen,[9]  daß er in Wirklichkeit lachte und nur so tat, als ob er weine, und schließlich war er völlig durcheinander und mußte noch mehr lachen.

Tante Matty war warm und kuschelig, ihr Pulli roch so gut wie Daisys frisches Heu. Als er sie bat, ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen, da drückte sie ihn ein wenig enger an sich.

Schschsch … mein kleines Häschen, schschschsch … und was ist mit deiner Mami? Was soll sie denn anfangen ohne ihren kleinen Cosimo?

Sie senkte die Knie, so daß er von ihrem Schoß glitt. Er fror. Als er sie fragte, ob das Gespenst Teddy weh getan hätte, behauptete sie, es gäbe keine Gespenster. Das seien nur dumme Geschichten. Vielleicht sei ein Vogel durch das offene Schlafzimmerfenster geflogen und habe Teddy gepickt. Seitdem sorgte Cosimo dafür, daß Milena die Fensterläden fast immer geschlossen ließ. So konnten sie sich einreden, es sei ein Vogel gewesen. Tante Matty nahm ihn mit ans Meer und verriet ihm Teddy Brauns geheime Botschaft. Als er wieder nach Hause kam, sagte Milena, er solle Teddy Braun mit in den Kindergarten nehmen.

Also packte Cosimo Teddy Braun in den blauen Rucksack und nahm ihn jeden Tag mit in den Kindergarten. So konnte ihm nichts passieren. Cosimo drückte den Teddy noch fester an sich, zitternd, denn sein Schlafanzug war naß und kalt. Unter der Decke konnte er sich und Teddy Braun atmen hören und fühlen, wie sich im gleichen Takt ihre Brustkörbe hoben und senkten.

»Wir müssen nicht aufstehen, wenn wir nicht wollen. Wir können ebensogut hierbleiben. Und du bist weder [10] häßlich noch schmutzig.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, dessen war sich Cosimo durchaus bewußt. Der Bär, zerdrückt und zerschlissen, mit Flicknähten am Kopf und ohne Augen, war sehr häßlich und sehr schmutzig, aber Cosimo liebte ihn dafür nur um so mehr. Doch wie sehr er ihn auch liebte, der arme Bär sah immer traurig aus.

Traurig und verfroren. Verfroren und naß. Hungrig.

»Wenn doch nur Milena hier wäre, dann könnten wir jetzt frühstücken.«

Eine Weile lang lagen sie ganz still da und Cosimo dachte an all die Sachen, die er jetzt gerne essen würde. An Brot mit Erdnußbutter. Das hatte er einmal bei Lilla gegessen, damals, als sie ihn nach dem Kindergarten mit zu sich nach Hause genommen hatte, weil niemand bei ihm daheim war. Lilla war seine allerbeste Freundin, denn sie war immer nett. Sie ging schon zur Schule, weil sie zwölf war. Ihre Mutter kam aus Amerika, und Lilla sagte immer ›Mommy‹ zu ihr. Er hatte Teddy Braun unzählige Male von dem Erdnußbutterbrot bei Lilla erzählt, denn damals trug er ihn noch nicht im Rucksack mit sich herum.

»Das nächste Mal nehme ich dich mit und lasse dich probieren. Es ist ganz dick und weich und warm und so lecker, daß dir der Magen knurrt. Überall liegen Spielsachen herum, auf dem Boden, auf den Stühlen, auf dem Bett. Der Boden ist ganz warm, und man kann sich einfach auf den roten Teppich legen und fernsehen. Es duftet nach Lillas netter Mutter, und sie hat ein Lied gesungen, in dem mein Name vorkommt, und dann das Gleiche mit Lillas Namen und mit Baby… Lilla, Lilla, Bo-Lilla, Banana bana Bo-Lilla, Fee-fi-fo-Lilla …«

[11] Er sang Teddy das Lied mit ›Baby, Baby, Bo-Baby‹ vor, dann versuchte er es mit ›Cosimo‹, aber das war zu schwierig, und er dachte lieber wieder an das Erdnußbutterbrot und den warmen Teppich. Sein Magen knurrte.

»Du bist hungrig …« Cosimo wollte nicht aufstehen, weil es Samstag war, aber er mußte Teddy Braun etwas zu essen machen. Aus dem sicheren Versteck unter der Decke warf er einen verstohlenen Blick in den großen Raum. Die schweren Vorhänge waren nicht zugezogen, und obwohl die äußeren Läden geschlossen waren, wurde es nie stockdunkel in dem Zimmer. Nachts fielen gelbe Lichtstreifen von den Straßenlaternen durch die Lamellen der Läden auf den Boden. Jetzt zierten ihn die hellen Streifen der Wintersonne. Der Himmel an der Zimmerdecke leuchtete immer in strahlendem Blau, pausbäckige Engel auf rosa Wolken streckten die Hand nach Cosimo aus. Cosimo kletterte aus dem Bett und betrachtete den dunkelbraunen Holzengel am Kopfende. Der Engel hielt einen Finger an die Lippen und den anderen mahnend in die Höhe, damit alle leise waren und Cosimos Schlaf nicht störten.

»Schon in Ordnung, Guido. Ich bin wach.«

Der Engel am anderen Bett hieß Angelo. Milena glaubte, die beiden Engel unterschieden sich nicht, aber da irrte sie sich. Angelo kümmerte sich nicht um Teddy Braun, er hatte ihn damals einfach im Stich gelassen. Guidos Gesicht war viel netter. Als Papa noch ein Kind war, hatte er in Guidos Bett geschlafen. Er sagte, die beiden Engel seien verschieden, sie seien zwar vor langer, langer Zeit von ein und demselben Mann geschnitzt worden, aber niemand könne zwei genau gleiche Dinge herstellen. Die Engel befehlen [12] nicht nur jedem, still zu sein, weil du dort schläfst, hatte ihm die Großmutter erzählt, sie beten auch zu Gott, damit dir nichts passiert in der Dunkelheit. Und solltest du im Schlaf sterben, bringen die Engel deine Seele direkt zum Jesuskind. Cosimo wollte nicht im Schlaf sterben, und noch sehr lange, nachdem sie das erzählt hatte, hielt er sich die ganze Nacht wach. Morgens fühlte er sich dann krank und weinte und konnte nicht in den Kindergarten gehen. Jetzt blieb er nicht mehr mit aller Gewalt auf, denn das weiße Gespenst, das manchmal am Fußende seines Bettes auftauchte, machte ihm mehr Angst als die Vorstellung, mit Guido zum Jesuskind zu gehen. Deshalb versteckten sich Cosimo und Teddy Braun immer unter der Decke und versuchten, so schnell wie möglich einzuschlafen.

Cosimo hielt Teddy Braun fest an sich gedrückt, ließ sich aus dem Bett auf den Bettvorleger gleiten und öffnete das Türchen mit der Sechs auf dem Adventskalender, der auf seinem Nachttisch stand. Tante Matty hatte ihm den Kalender geschenkt, und er hatte mit ihr telefonieren dürfen.

Aber vergiß nicht, jeden Tag nur ein Türchen. Kannst du bis vierundzwanzig zählen?

Ja.

Sechs. Eine Katze mit mächtigen Schnurrhaaren schaute ihn an.

»Ginger!« Sie schimmerte eher gelblich, aber das konnte nur Ginger sein. Hinter den anderen Türchen befanden sich ein Tannenbaum, ein Geschenkpäckchen, eine Kerze, ein Geschwisterpaar und ein Mistelzweig. Cosimo mochte alle Bilder und betrachtete sie jeden Morgen aufs neue. [13] Aber das sechste war das schönste von allen. Sobald seine Füße den nackten Boden berührten, ging er auf Zehenspitzen. Obwohl es schön warm im Zimmer war, fühlte sich der gesprenkelte Marmorfußboden immer kalt an. Klettere nicht auf Stühle, mahnte seine Großmutter. Aber Milena hatte die Spielzeugkoppel oben auf die Kommode geräumt, als sie den Boden gewischt hatte. Jetzt mußte er sie wieder herunterholen.

»Bleib du hier auf dem Boden sitzen, nur eine Minute, ich hol sie schnell.« Cosimo kletterte vorsichtig auf den Stuhl und kniete sich zuerst darauf. Dann richtete er sich langsam auf. Er mußte aufpassen, denn die nackten Füße fanden auf der glatten Sitzfläche keinen richtigen Halt. Im Stehen konnte er das Foto von Papa und dem Herzog sehen. Sie posierten mit Seilen und Eispickeln am Fuße eines verschneiten Berges. Das Seil und der Eispickel seines Vaters hingen über dem Foto an der Wand. Darunter, auf der Kommode, wartete Daisy auf der Koppel.

»Komm schon, Daisy!« Cosimo streckte die Hand aus und tat so, als hielte er dem winzigen, kleinen Plastikpferd ein Stückchen Zucker vor die Nase.

Davon kriegt sie Würmer.

Das zumindest behauptete Vittorio immer, wenn Cosimo der echten Daisy in der dunklen, übelriechenden Box ein Stück Zucker gab. Cosimo hatte keine Ahnung, wie sich Würmer, die in der Erde lebten, in einem Stück Zucker verstecken konnten, aber er wußte, daß Vittorio Kaninchen tötete. Cosimo hatte Lilla davon erzählt, als sie auf ihn aufpassen kam. Sie hatte mit ihm die Spielzeugkoppel gebastelt, um ihn ein bißchen aufzumuntern, ein Stück [14] grün angemalter Pappe mit einem Büschel echtem Heu und einem kleinen Häufchen Hafer, umschlossen von einem Zaun aus Streichhölzern. Das kleine Plastikpferd hatte Lillas Mutter für Cosimo aus einer Kiste herausgesucht, die überquoll vor lauter Spielsachen, die sie aussortiert hatte. Es war eine große Holzkiste mit Metallecken und schwarzer Schrift an den Seiten. Alles mögliche hatte sie darin gesammelt, außer Daisy noch jede Menge andere Tierfiguren aus Plastik in den verschiedensten Größen, sogar eine Giraffe, einen zerbrochenen Kreisel, Arme und Beine von Puppen, zerfledderte Bücher und Comic-Hefte, einen pinkfarbenen Plastikschirm, zahllose Zeichenstiftstummel, Teile von Puzzlespielen und jede Menge Staubflocken. Lillas Mutter warf die Sachen nicht weg. Sie schenkte Cosimo das Pferd, nahm seine Wangen in ihre warmen Hände und schaute ihn freundlich an: Schenk mir ein Lächeln. Dann gab ihm Lilla noch zwei Buntstiftstummel, einen grünen und einen orangefarbenen, damit er Möhren für sein Pferd zeichnen konnte.

Jetzt stand Daisy auf Cosimos Koppel, auf herrlich saftigem grünen Gras. Vittorio ließ sie nie nach draußen und dennoch war sie nicht allein. Vorsichtig hob Cosimo die Pappe hoch und ließ sich langsam in Sitzposition auf den Stuhl hinunter, um dann die Spielzeugkoppel vor Teddy Braun auf dem Boden aufzubauen. Ganz in Daisys Nähe lag eine Puppe, die Cosimo auf dem Spielplatz gefunden, in die Tasche gesteckt und mit nach Hause genommen hatte. Sie war klein, aber immer noch viel größer als das Pferd. Die Puppe war Lilla. Neben ihr saß ein Porzellanhund, Rodrigo. Den hatte er sich von Großmutter zum Geburtstag[15]  gewünscht. Allerdings war der Hund ganz weiß gewesen, und Rodrigo mußte große schwarze und graue Flecken auf der langen Nase haben. Lilla hatte ihm gesagt, er solle die Nase einfach anmalen.

Und wenn Großmutter das sieht?

Na und? Es ist doch dein Hund! Außerdem besucht sie euch doch nie, hast du gesagt. Wenn überhaupt, dann fährst du zu ihr, oder nicht?

Ja… Dennoch traute Cosimo sich nicht. Außerdem besaß er keine Malfarben. Schließlich hat Lilla Rodrigo mit nach Hause genommen, denn ihr Vater war Künstler und besaß ganz viele Farben. Sie malte Rodrigo an und brachte ihm den Hund am nächsten Tag wieder mit.

Siehst du? Und weil ich es gemacht habe, kann deine Großmutter nicht mit dir schimpfen, wenn sie es sieht.

Cosimo hätte sich gerne eine kleinere Puppe zu Weihnachten gewünscht, aber das konnte er nicht, schließlich war er ein Junge. Deswegen hatte er sich das Bild eines kleinen Mädchens aus einer Illustrierten ausgeschnitten. Das war Christina, seine beste Freundin aus dem Kindergarten. Als nächstes wollte er eine Katze mit rötlichem Fell, wie die Katze unten im Garten, die ebenfalls zu seinen Freundinnen zählte. Er könnte Tante Matty bitten, ihm eine zu kaufen. Wenn er doch nur etwas Papier hätte, damit er für Daisy ein paar frische Möhren zeichnen könnte! Aber erst mußte er Teddy Braun etwas zu essen machen, denn inzwischen war er wirklich hungrig. Cosimo hob ihn vom Boden auf und verließ das Schlafzimmer auf Zehenspitzen. Er ging durch den Flur ins gelbe Bad, machte Pipi und zog den nassen Schlafanzug aus. Nur mit der Schlafanzugjacke [16] bekleidet und mit Teddy Braun auf dem Arm tippelte er vorsichtig ans andere Ende des Flurs, ganz dicht an der Wand entlang, wo der marmorierte Boden eine schwarze Einfassung mit bunten Marmorblumen aufwies. Er ging gerne über diesen Rand, wegen der Blumen, aber hauptsächlich, weil die Heizungsrohre zu der großen Heizung am anderen Ende des Flurs genau unter dieser Einfassung verliefen und sich deswegen die Steine ganz warm an den nackten Füßen anfühlten. Er sang, während er ging, allerdings ganz leise, weil er keinen Lärm machen durfte.

»Lilla, Lilla, Bo-Lilla, Banana-bana Bo-Lilla, Fee-fi-fo-Lilla …«

Tick … Tack …

Teddy Braun machte das nichts aus, er konnte ja nichts sehen. Cosimo versuchte, die Augen fest zuzukneifen, als er an der großen, furchteinflößenden Uhr vorbeiging, aber er konnte es nicht verhindern, doch einen Blick auf den toten Großvater zu erhaschen, ein weißes Flattern hinter dem dicken Glas. Vor Schreck fuhr er zusammen, rannte zitternd in die Küche.

Alles war sauber und aufgeräumt. Keine köstlichen Düfte wie sonst, wenn Milena da war. Er mußte wieder auf einen Stuhl klettern.

Sonst komme ich doch nicht dran, Großmutter.

Du mußt an nichts drankommen. Dies ist mein Haus. Wenn du etwas haben möchtest, dann frage mich oder deinen Vater, und ein Diener wird es dir bringen.

Aber Mutter, die Zeiten, da wir drei Diener hatten, sind vorbei, und ganz gewiß haben unsere Angestellten keine Zeit, sich um ein kleines Kind zu kümmern.

[17] Das ist noch lange kein Grund, ungehorsam zu sein und auf Stühle zu klettern.

Es war kein Angestellter da und keine Milena, also hatte er vielleicht doch einen Grund. Cosimo zog sich den Stuhl an den Schrank mit den Keksen heran. Er holte sich einen Teller und stellte ihn auf den Tisch, zusammen mit einem hohen Berg Kekse für sich und Teddy Braun. Er war nicht ungehorsam, lief nicht mit dem Keks in der Hand durch das Zimmer. Bei Lilla durfte man sich mit dem Teller auf den Boden legen und beim Essen fernsehen, man mußte nur darauf achten, nicht allzusehr zu krümeln.

»Krümel nicht alles voll, Ted.« Teddy Braun krümelte nicht.

»Wir müssen uns beeilen und hier fertig werden, damit ich dich mit in den Garten nehmen kann. Vielleicht will Ginger spielen.« Teddy Braun beeilte sich.

Cosimo verließ die Küche und versuchte, einen möglichst großen Bogen um die Standuhr zu machen. Teddy Braun hielt er schützend an sich gedrückt, die Augen fest zusammengekniffen. Als er nach rechts abbog, um den langen Flur, der zum Eßzimmer führte, hinunterzugehen, prallte er zitternd gegen die Wand, nur weil er sich so fern wie möglich von der Uhr zu halten versuchte. Cosimo sah den toten Großvater nicht, dennoch blieb er sicherheitshalber beim Alkoven stehen und versteckte sich. Der Alkoven befand sich auf der rechten Seite direkt vor dem Eßzimmer. Cosimo versteckte sich gern dort. Hier fühlte er sich geborgen. Der Alkoven war mit einem gestreiften Sofa, zwei Stühlen und einem Beistelltisch möbliert, auf dem ein Telefon stand. Die anderen Telefone waren hoch oben an [18] der Wand angebracht, aber dieses Telefon stand auf einem ganz niedrigen Tischchen. Wenn man sich unter dem Sofa versteckte, konnte man beobachten, wie Schuhe mit hohen Absätzen vorbeimarschierten. Cosimo versteckte sich jetzt dort, aber niemand kam vorbei. »Zwei, zwei, null, sieben, null, sieben, acht«, flüsterte er Teddy Braun in das angenähte Ohr. Dann krabbelte er aus seinem Versteck heraus und ging ins Eßzimmer.

Das Eßzimmer besaß einen ganz eigenen Geruch, einen traurigen Erwachsenengeruch. Milena meinte, das käme von den Zigarren, die die Männer hier rauchten. Cosimo glaubte, es sei das Putzmittel, mit dem Milena das Silber auf dem langen Tisch polierte. Es war nicht das Wachs, mit dem Milena den Tisch und den Boden wienerte, denn das verströmte einen warmen, beruhigenden Duft, den er aus der Kirche kannte, in der er im Anschluß an die Messe ganz allein für den toten Großvater eine Kerze hatte anzünden dürfen. Die hohen Fenster, die den Blick auf den Garten öffneten, befanden sich am anderen Ende des Raumes. Cosimo stieg die vier Stufen hoch und kniete sich auf die linke Fensterbank. Teddy Braun setzte er neben sich. Cosimo wählte immer das linke Fenster, denn von dort aus konnte er weiter nach rechts blicken, wo die hohen steinernen Torbogen so mit Ranken bewachsen waren, daß sie herunterhingen wie Haar, grün und dicht im Sommer, zu dieser Jahreszeit rot und ziemlich struppig. Hinter den Bogen befanden sich große Glastüren. Der Mann im grauen Overall, der sehr alte Dinge reparierte, arbeitete manchmal dort draußen, malte, leimte oder lackierte etwas. Er war Cosimos Freund, und Cosimo winkte ihm jeden Tag zu. [19] Einmal hatte der Mann ihn gesehen und zurückgewunken. Seit damals wartete Cosimo darauf, daß sein Freund noch einmal zu ihm hochschaute. Aber er hatte es nie wieder getan. Cosimo wußte, daß sich der Eingang zu dem Laden seines Freundes in der Parallelstraße befand. Er wußte genau wo, war aber noch nie dort hingegangen.

Der Mann von der Baumschule, der unten im Garten Pflanzen verkaufte, schaute nie hoch, weil sein Rücken ganz krumm war. Er konnte nicht gut laufen. Milena sagte, das käme daher, weil er sich den ganzen Tag lang über die Blumentöpfe bücken und so schwer arbeiten müsse. Cosimo winkte ihm dennoch zu, denn die große Katze mit dem roten Fell gehörte ihm. Cosimo hatte gesehen, wie sie zusammen durch die gleiche Tür geschlüpft waren, in den privaten Teil des Gartens, wo der Mann von der Baumschule das ganze Jahr über für eine herrliche Blütenpracht sorgte. Normalerweise, wenn die Sonne herauskam, saß eine dicke, alte Dame mit weißem Haar und einem Stock auf einem Stuhl zwischen den Blumen. Aber heute saß sie nicht dort. Die dicke, rote Katze legte sich gerne auf die niedrige Mauer zwischen den großen, roten Töpfen mit Stiefmütterchen. Sie döste auch jetzt dort in der Wintersonne. Cosimo winkte der Katze zu: »Ginger! Guten Morgen, Ginger. Werd doch mal wach, nur für einen kurzen Augenblick, damit ich dir erzählen kann, wie du in meinem Adventskalender aussiehst.« Ginger wachte auf. Sie gähnte, stellte sich auf die Vorderpfoten, streckte sich genüßlich und winkte Cosimo mit ihrem buschigen Schwanz.

»Ginger! Ted, sie winkt uns. Du kannst sie nicht sehen, aber du kannst ihr zurückwinken.« Teddy Braun winkte. [20] Cosimo gähnte und streckte sich, ahmte Ginger nach. Die Katze unten im Garten sprang von der Mauer und marschierte in Richtung der Gewächshäuser. Hinter den Gewächshäusern ragten hohe Bäume in den Himmel. Vielleicht wollte Ginger auf einen Baum klettern, um dort oben in den nackten Ästen zu sitzen.

»Geh nicht, Ginger. Warte, ich habe dir doch noch gar nicht erzählt …« Aber Ginger verschwand hinter den hochgestapelten Blumentöpfen. Eine Weile lang geschah nichts weiter im Garten. Cosimo und Ted knieten auf der Fensterbank, die Nasen fest an das kalte Glas gepreßt, so daß es stellenweise beschlug, während sie darauf warteten, was als nächstes passieren würde. Nach einer langen Wartezeit kam der Gärtner aus einem der Gewächshäuser heraus und hantierte mit einer langen, schwarzen Schnur und einigen Blumentöpfen. Cosimo hatte ihn das schon oft tun sehen, aber als er Milena einmal fragte, was der Gärtner denn da unten eigentlich mache, war sie böse geworden: Du solltest unten im Hof sein und spielen wie die anderen Kinder. Dann kämst du auch nicht auf so komische Gedanken. Komm jetzt da runter. Ich muß die Stufen wachsen, sonst hält mir die Signora eine gewaltige Standpauke.

Cosimo hatte die ›anderen Kinder‹ im Hof spielen sehen. Sie rannten um den Brunnen herum und schrien so laut sie konnten. Die Hunde, die ebenfalls im Hof spielten, jagten ihnen hinterher. Ein paar Kinder fuhren Dreirad, aber es waren auch große Jungen dort unten, mit Fahrrädern. Cosimo kannte keines der Kinder, denn sie gingen in den Kindergarten in der Straße hinter dem Hof. Cosimo und Lilla fuhren mit dem Bus zum amerikanischen Kindergarten,[21]  weil er Englisch lernen mußte. Die ›anderen Kinder‹ trugen über ihrer normalen Kleidung blaue Tuniken, die unter ihren Mänteln hervorschauten, und sie hatten Taschen mit Comic-Figuren darauf. Cosimo sah sie morgens, wenn er mit Lilla auf den Schulbus wartete. Sie schubsten sich gegenseitig, kreischten und flüsterten sich Geheimnisse zu, und manchmal kämpften die Jungen miteinander. Cosimo mochte sie alle und wünschte sich sehr, zu ihnen zu gehören, besonders wünschte er sich, daß der grobschlächtige dunkelhaarige Junge mit den fröhlichen, braunen Augen sein Freund werden würde.

Cosimo nannte ihn Pierino und erfand herrliche Geschichten mit ihm in der Hauptrolle. In einer davon besuchte er mit Pierino seine Großmutter. Er stellte ihm Daisy vor, und als Pierino sie reiten wollte, befahl er Vittorio, die von dicken Staubflocken und zahllosen Spinnweben bedeckte Decke und den Sattel herunterzuholen und das Pferd zu satteln. Pierino hatte überhaupt keine Furcht vor Vittorio und auch nicht die geringste Angst beim Reiten. Er sprang über Gatter, Zäune und Mauern, die so hoch waren, daß Cosimo nicht einmal darüberschauen konnte, so wie Papa, als er ein kleiner Junge war. Obwohl Cosimo sich diese Geschichten selbst ausdachte, passierte zum Schluß immer etwas ganz Schreckliches, daran konnte er nichts ändern. Manchmal fing er dann noch einmal von vorne an, vorsichtig, ängstlich darauf bedacht, alles richtig zu machen: Sie hielten vor dem Eingang zu Großmutters Haus, liefen zum Stall, mit Zuckerstückchen in den Taschen, und dann … egal, wie sorgfältig Cosimo auch den Teil vermied, als Daisy stolperte, auf Pierino stürzte und ihn zu Tode quetschte, [22] auch wenn er es nicht zuließ, daß Vittorio Daisys Hufe säuberte, damit Daisy nicht ausschlagen und Pierino am Kopf treffen konnte, irgend etwas wirklich Schreckliches, mit dem Cosimo nicht rechnen konnte, geschah immer; er konnte nichts dagegen tun. Einmal explodierte etwas, und das Haus seiner Großmutter stand in Flammen, einmal regnete es und regnete und regnete, bis es zu einem Erdrutsch kam, wie er es im Fernsehen in den Nachrichten gesehen hatte, und alles wurde von einer Schlamm- und Erdlawine verschluckt. Er schaffte es nicht, Pierino zu retten, obwohl er all seine Kraft aufbot, um die vom Schlamm glitschige Hand festzuhalten. Schließlich bat Cosimo in seinen Geschichten, Pierino nach Hause begleiten zu dürfen, auch wenn es bei Pierino keine Daisy gab. Das Haus, in dem Pierino wohnte, hatte große Ähnlichkeit mit Lillas Haus. Jeden Morgen ging Pierino mit seinen Freunden an der Bushaltestelle vorbei. Ciao, ciao! grüßte Cosimo dann.

Mit wem redest du?

Mit dem Jungen dort. Der mit der roten Tasche. Das ist mein Freund.

Da kommt der Bus. Komm schon. Und warum schließt du nicht mit einem Kind aus deinem Kindergarten Freundschaft? Dann hättest du in der Pause jemanden zum Spielen.

Ich habe eine Freundin. Christina. Sie hat langes, lockiges Haar und blaue Augen, und ich werde sie heiraten. Lilla, darf ich heute neben dir sitzen?

Nein. Ich möchte mit meinen Freunden reden. Setz dich hierher. Da sitzt du praktisch neben mir, nur der Gang ist zwischen uns.

[23] Cosimo setzte sich. Er schaute das große Mädchen nicht an, das neben ihm saß. Sie saß immer dort am Fenster. Ein großes Pflaster klebte auf einem ihrer Brillengläser, trotzdem las sie immer ein Buch. Sie trug rosafarbene Hosen mit Tupfen, eine dick wattierte, pinkfarbene Jacke und hatte kräftige Beine. Cosimo wollte lieber stehen und sich an der Rücklehne von Lillas Sitz festhalten, aber der Fahrer bemerkte das immer sofort und schnauzte ihn dann an, daß er sich setzen solle.

Im Garten war noch immer niemand aufgetaucht, und so erfand Cosimo eine Geschichte mit Pierino, wie sie ganz allein dort hinuntergingen. Pierino war größer als Cosimo, und darum war es ganz in Ordnung, wenn sie allein bis zur nächsten Straße spazierten. Zuerst trug Pierino die Tunika unter seinem blauen Anorak, darum mußte Cosimo noch einmal von vorne anfangen, weil Samstag war. Dann fiel ihm ein, daß die ›anderen Kinder‹ auch samstags zur Schule gingen, und hätte beinahe ein drittes Mal mit der Geschichte von vorne anfangen müssen.

»Ich hab’s, so müßte es gehen … Pierino holt mich auf dem Nachhauseweg von der Schule ab, und wir spielen eine Weile im Garten. Dann gehen wir beide zu ihm nach Hause und essen Berge von Spaghetti mit Tomatensauce und Erdnußbutterbrote.«

Cosimo preßte die Stirn fest an die Scheibe und lächelte in den Garten hinunter, wo er mit Pierino umherstreifte. Ginger gesellte sich zu ihnen. Sie marschierten zwischen den Pflanzen umher, die an hohen Stöcken emporrankten, und Cosimo beschloß, daß sie noch immer blühten, zumindest ein paar davon, die, die er vom Fenster aus nicht sehen [24] konnte, denn er wollte, daß Pierino ihren Duft riechen konnte. Einmal kam der Mann, der das Treppenhaus wischte, mit einer großen Leiter und öffnete die hohen Fenster, weil er sie putzen wollte. Cosimo hatte sich weit hinausgelehnt und tief und genußvoll die süße, warme Luft eingeatmet, bis Milena kam und ihn vom Fensterbrett herunterzerrte, weil es zu gefährlich war.

Aber Milena, riech doch nur.

Das ist Jasmin und bestimmt kein Grund, aus dem Fenster zu fallen und sich das Genick zu brechen. Solange die Fenster offenstehen, kannst du es überall im Haus riechen.

Jasmin. Noch lange nachdem alle Fenster wieder geschlossen waren, erfüllte der Duft das ganze Haus. Sogar der traurige Erwachsenengeruch im Eßzimmer war verschwunden. Dann kehrte er zurück, der Himmel fiel auf ihn herab, Teddy Braun war verschwunden, stürzte kreiselnd hinab, brach sich den Hals, große Hände griffen nach Cosimo, zerrten ihn zurück, setzten ihn wütend auf den Boden des Eßzimmers … Oder war das an einem anderen Tag …

Cosimo drückte Teddy Braun fest an die Brust, vergaß Pierino, sah nur noch Teddy Braun durch die Luft stürzen, tiefer und tiefer, hörte Schreie … Die Hände, die ihm Teddy Braun zurück in die Arme legten, gehörten nicht Tante Matty. Es waren große Männerhände. Vielleicht die von dem Mann mit der Leiter oder von dem Mann, der müde war und sich in Mamis Bett ausruhte. Der Mann schrie laut.

Um Gottes willen, Francesca. Bist du verrückt?

So ist das also! Du hältst mich für verrückt. Nur keine Hemmungen, fall ruhig in den Chor der anderen mit ein!

[25] Das tue ich nicht. Beruhige dich.

Ich will mich aber nicht beruhigen. Ich will keine Beruhigungsmittel oder Schlaftabletten nehmen, damit Ruhe ist, und mein Mann – sofern man ihn überhaupt als solchen bezeichnen kann …

Nun mach mal halblang. Das ist nicht das Ende der Welt. Er ist ein guter Mann, und nach all dem …

Sie lachte und lachte und lachte. Cosimos Mund fühlte sich gräßlich verklebt an. Er hätte gerne etwas getrunken. Aber ihre spitzen Fingernägel gruben sich in seine Schulter, hielten ihn fest, taten ihm weh. Cosimo hielt die Luft an, hörte die Männerstimme leise flüstern.

Na komm, dem Jungen zuliebe …

Dem Jungen zuliebe! Ha! Alles, was in diesem Hause geschieht, geschieht ›dem Jungen zuliebe‹! Glaubst du, sie sorgen sich um ihn? Ha! Sie sorgen sich nicht um ihn, sondern nur um das, was er repräsentiert. Begreifst du das?

Übertreibst du da nicht ein bißchen? Ich bin sicher, er…

Übertreib doch nicht so, Francesca. Nimm eine Tablette, Francesca, dem Jungen zuliebe, Francesca.

Der Junge kann nichts dafür!

Der Mann war kein Freund von Cosimo – weil er niemals lächelte. Er starrte einfach nur auf ihn herunter, mit gerunzelter Stirn. Er roch nach Zigaretten und nach etwas anderem. Außerdem war er der Grund dafür, daß Cosimo ins Eßzimmer eingeschlossen wurde, bis jemand gerannt kam und lärmende Stimmen den Raum erfüllten. Er haßte Cosimo nicht, ganz im Gegensatz zu Vittorio, der, sobald er Cosimo den Rücken kehrte, ihn verdammten kleinen Bastard schimpfte, nur weil Cosimo weinte und wollte, [26] daß er die arme Daisy nach draußen ließ. Der Mann hatte Mitleid mit ihm, darum sprach er immer sehr leise und freundlich mit ihm, weil er ihm keine Angst einjagen wollte. Er hatte ihn nicht einmal ausgeschimpft, als Cosimo ins Schlafzimmer marschiert kam, weil er Hunger hatte. Sie hatte nur ›O Gott‹ gesagt und die Decke bis ans Kinn hochgezogen. Ihre Augen waren ganz groß und hatten tiefe Schatten, so als hätte sie Kopfschmerzen, und Cosimo hatte ebenfalls ganz leise und freundlich gesprochen, um sie nicht zu erschrecken.

Das macht doch nichts, hatte Milena gesagt. Ich habe auch Titten. Alle Frauen haben welche.

Dann war er im Eßzimmer und nach dem Geschrei rettete der Mann Teddy Braun. Hatte er ihn aufgefangen oder war er den ganzen Weg hinunter in den Garten gelaufen, um ihn zu retten? Cosimo erinnerte sich nicht mehr. Der feste Griff, der ihm solche Angst einjagte, lockerte sich plötzlich. Der Mann beugte sich zu ihm herunter, damit er verstehen konnte, was Cosimo sagte.

Trinken …

Aber ja, geh nur. Und paß auf deinen Teddy auf. Laß ihn nicht wieder fallen.

Armes Kerlchen … Die ruhige Stimme des Mannes in Cosimos Rücken.

Glaubst du, mir sei das egal? Glaubst du etwa, ich hätte mir das Chaos hier selbst eingebrockt? Ich habe ihn geboren. Er ist auch mein Sohn! Kümmert das hier eigentlich irgend jemanden? Du kannst dir ja gar nicht vorstellen …

Ja, das kann ich nicht. Ich kann dir nicht helfen, Francesca. Ich bin nicht die Lösung.

[27] Cosimo war ins gelbe Bad gerannt, um etwas Wasser aus dem Hahn zu trinken. Dort konnte ihn der tote Großvater nicht sehen. Dann versteckte er sich im Alkoven, Teddy Braun fest an sich gedrückt, damit er nicht in die Tiefe stürzte und sich den Hals brach.

Das Herz in seiner Brust pochte heftig gegen Teddy Brauns Brust. Cosimo kniff die Augen fest zusammen, damit die furchterregenden Worte und Bilder in seinem Kopf verschwanden … Ich habe ihn geboren. Cosimo wußte, was das bedeutete. Maria hat das Jesuskind an Weihnachten geboren, und die Krippe mit dem sternenförmigen Lämpchen in Großmutters Wohnzimmer würde bis zum ersten Weihnachtstag leer bleiben, bis auf Maria und Joseph, den Ochsen und den Esel natürlich. Cosimo würde das Jesuskind selbst in die Krippe legen. Es trug weiße Windeln und streckte die kleinen, rosafarbenen Hände aus.

»Pierino, komm, wir gehen mit Ginger…« Aber Pierino war aus der Geschichte verschwunden, genau wie Ginger aus dem Garten. Erwachsenenstimmen lärmten in Cosimos Ohren.

Zum Schlachter, der macht Hundefleisch aus ihr…

Im Schlaf gestorben …

Geschlachtet und in den Himmel gekommen.

Das Genick gebrochen und Füllung herausgequollen.

Cosimo preßte Teddy Braun an sich. Er bekam keine Luft mehr. Und heute war kein Mann mit einer Leiter da, der die Fenster öffnete und den traurigen Erwachsenengeruch vertrieb. Er kletterte von der Fensterbank, rannte durch das Eßzimmer zur Tür hinaus, atmete tief durch und blieb stehen. War das Lärm von draußen oder kam das [28] klopfende Geräusch aus seiner Brust? Er spähte den Flur hinunter. Die Doppeltür auf der rechten Seite war geschlossen. Jetzt hörte er auch nichts mehr. Cosimo wandte sich nach links und balancierte auf Zehenspitzen den schwarzen, mit Blumen verzierten Rand entlang zum Alkoven zurück, um sich dort zu verstecken und zu lauschen. Da war nichts.

Zwei, zwei, null, sieben, null, sieben, acht.

Du bist groß genug, um die Nummer im Kopf zu behalten, nicht wahr, Cosimo?

Ja.

Wenn Milena da ist, kannst du sie fragen, aber wenn du alleine bist, mußt du sie im Kopf haben, schaffst du das?

Ja.

Falls ich nicht zu Hause bin, wird dir meine Stimme sagen, was du tun mußt.

Ja.

Es macht nichts, wenn sie es hört, niemand weiß, was die geheime Botschaft bedeutet, nur wir beide, nicht wahr?

Ja.

Guter Junge. Wiederhole es für mich.

Cosimo verließ den Alkoven und trottete über den Flur in den Salon, um auf der Straße nach seinen Freunden Ausschau zu halten.

»Zwei, zwei, null, sieben, null, sieben, acht … Ted, Ted, Bo-Ted, Banana-bana Bo-Ted, Fee-fi-fo Ted …«

Im Salon roch es nach Wachs, Sauberkeit und Leere. An der Decke waren keine Bilder, nur hölzerne Quadrate, verziert mit einer rotgoldenen Rosette. Am Teppichrand blieb er stehen. Der Teppich war sehr alt, älter noch als Großmutter.[29]  Papa hatte Milena verboten, ihn zu saugen, worüber sie sich ziemlich ärgerte. Cosimo mochte den Teppich, denn darauf konnte man viele Spiele spielen, wie zum Beispiel Hasen, Rehe oder Blumen jagen. Er spielte mit Ted, sie wechselten sich ab. Man mußte mit geschlossenen Augen auf dem Teppich hin und her hüpfen und bis zehn zählen. Wenn man dann den rechten Zeh ausstreckte und dieser auf ein Reh zeigte, hatte man drei Stücke Spielschokolade gewonnen, für einen Hasen gab es zwei und für eine Blume nur eins. Heute spielte Cosimo das Spiel nicht. Er hatte es eilig, aus dem Fenster zu schauen. Der Teppich war ein See; Teddy und er waren Bergsteiger, die vom Sessel auf das Sofa und auf den nächsten Sessel kletterten, um das Ufer auf der anderen Seite des Sees zu erreichen, ohne ins Wasser zu fallen. Cosimo tat so, als benutze er einen Eispickel, wie sein Vater bei schwierigen Aufstiegen. Sie fielen nicht ins Wasser. Als sie am anderen Ufer in Sicherheit waren, blieben sie stehen und betrachteten wie immer das Foto in dem Silberrahmen auf dem kleinen, runden Tisch zwischen den beiden Fenstern, die den Blick zum Himmel öffneten.

»Pssst, Ted. Baby-Cosimo schläft.« Ted legte die eine Tatze auf die Lippen, die andere hielt er hoch in die Luft. Alles war ruhig. Baby-Cosimo schlief, das glatte, braune Köpfchen mit den Pausbäckchen ruhte auf blasser Seide und Perlen. Über dem Bett wachte mit liebevollem Blick und der schwachen Andeutung eines Lächelns ein wunderschönes, ovales, von langen, glänzenden Locken umrahmtes Gesicht. Cosimo betrachtete das Bild lange, atmete ganz ruhig, tat so, als schliefe er, erinnerte sich an die kuschelige Wärme und daran, wie sich die Perlen anfühlten, die er abzureißen [30] versuchte. Milena behauptete, er sei viel zu klein gewesen, um sich daran erinnern zu können, er phantasiere sich das alles nur zusammen, wie er sich immer alles zusammenphantasiere. Cosimo schloß die Augen und drückte Teddy Braun an sich, streichelte die eigene Wange, während er schaukelte, vor und zurück, vor und zurück, und ein Schlaflied sang: »Schlafe, mein Prinzchen, es ruh’n / Schäfchen und Vögelein nun / Garten und Wiese verstummt, / auch nicht ein Bienchen mehr summt.«

Dann öffnete er die Augen, weil ihm etwas anderes einfiel.

»Baby, Baby, Bo-baby, Banana-bana Bo-baby… Lilla, bitte komm.«

Manchmal kam Lilla Sonntag morgens und nahm ihn mit in den Park, wo er die riesigen Goldfische füttern durfte, die fast so groß waren wie er selbst. Sie erlaubte ihm, bis zur steinernen Einfassung zu gehen und sie mit Brot zu füttern.

Lilla, schau dir den an! Sieh nur, was für ein großes Maul er hat.

Paß auf, daß er dir nicht die Zehen abbeißt.

Cosimo hatte keine Angst vor den riesigen Mäulern oder dem großen, marmornen Poseidon, der das grünliche Wasser mit seinem Dreizack aufrührte. Aber er fürchtete sich ein bißchen vor dem trüben, grünlichen Wasser mit dem schleimigen Unkraut, tief, so tief wie das große, silbergraue Meer. Cosimo hatte Angst vor dem silbergrauen Meer, das bis zum anderen Ende der Welt reichte, hellglitzernd und erschreckend lebendig. Er bekam Herzklopfen davon, so arg, daß er beim bloßen Gedanken daran kaum noch atmen konnte. Einmal hatte er Tante Matty davon erzählt.

[31] Aber warum hast du denn Angst, Cosimo? Es ist so schön! Schau doch nur, wie vergnügt deine Cousins herumplanschen.

Kommt raus! Hol sie da heraus!

Schschsch. Sieh doch mal, hier ist das hübsche Eimerchen, das wir extra gekauft haben. Hast du das schon vergessen? Der Stand, wo wir ihn gekauft haben, hat dir sehr gefallen, weißt du noch?

Ja.

Er konnte ihn vor sich sehen, wenn er die Augen schloß. Bunte Luftschlangen und Luftballons, die im Wind flatterten und sich als dunkle Schatten gegen den blauen Himmel über seinem Kopf abzeichneten; rosafarbene und gelbe Windmühlen auf Stelzen, deren Flügel glänzten und sich drehten, glänzten und sich drehten.

Wir könnten zusammen bis ans Wasser gehen und deinen hübschen neuen Eimer mit Wasser füllen. Es ist gar nicht tief.

Nein.

Aber warum denn nicht, Cosimo? Warum? Sag’s mir.

Weil die Sonne dann ganz kalt wird und alle Leute weggehen, einer nach dem anderen. Und dann wird Cosimo ganz allein dort draußen in dem schrecklichen, silbrigen Meer sein!

Schschsch. Aber nein, nein. Schon gut, schon gut. Komm her zu mir, auf meinen Schoß. Du zitterst ja am ganzen Körper. Schschsch. Du bist ganz außer dir, nicht wahr?

Ja.

Sieh doch nur. Das Meer ist blau und grün. Schau es dir an, die winzigen, weißen Schaumkronen, dort, wo die Wellen sich brechen. Ist das nicht wunderschön?

[32] Ja, aber dann wird es wieder schrecklich silbrig.

Woher weißt du das?

Ich erinnere mich daran.

Cosimo und Teddy Braun stiegen die Treppen zum Fenster hoch, um Ausschau nach Lilla zu halten.

Lilla mochte das Meer. Sie war wie Tante Matty. Sie hatte vor nichts Angst. Vielleicht konnte sie heute kommen, hatte sie gestern nach der Schule gesagt.

Lilla … bitte komm doch.

Vielleicht, wenn meine Mutter mich nicht zum Einkaufen schickt.

Dann war sie gegangen, die Straße hinunter. Sie hatte nichts versprochen.

Cosimo preßte die Stirn an die kalte Scheibe. Sie war nicht da. Auf der anderen Seite der engen Gasse, die zu keiner Stunde des Tages auch nur ein Sonnenstrahl erreichte, befand sich eine Bäckerei und nebenan ein Kramladen, der Waschpulver, Pfannen, hohe Stapel gestreifter Kissen und Eimer mit Plastikblumen auf dem Bürgersteig anbot. Cosimo drückte die rechte Wange gegen die Scheibe und starrte angestrengt nach links, wo ein Fleckchen Sonnenlicht das Ende der Straße und den Beginn des Marktplatzes markierte. Sein Atem senkte sich als nebliger Beschlag auf die Scheibe, den er sogleich wegwischte. Wenn er doch nur noch ein wenig weiter hinten die Stände erkennen könnte, wo sie Kohl und Clementinen, große, glänzende Paprikaschoten und Dattelpflaumen verkauften. Cosimo liebte Dattelpflaumen, orange-golden wie die Wintersonne, wenn sie am Ende der Zypressenallee hinter Großmutters Haus unterging. Großmutter hatte einen Dattelpflaumenbaum, dessen [33] nackte Äste zahllose weiche, orangenmusfarbene Kleckse zierten. Er aß die Dattelpflaumen nicht besonders gerne, denn das Fruchtfleisch war schleimig, und beim Essen ›rollten sich einem die Zehennägel auf‹, wie Milena sagte. Er aß sie trotzdem, denn er mochte die leuchtende Farbe, und der Stengel löste sich mit einem leichten Plopp – wie ein Badewannenstöpsel. Auf dem Markt gab es auch große, pastellfarbene Chrysanthemen für das Haus des toten Großvaters in der Nähe der Kirche.

Entschuldige, Großmutter, darf ich dich etwas fragen? Warum ist heute das Fest der Toten?

Heute ist Allerseelen, das ist kein Fest im üblichen Sinne, sondern der Tag, an dem man aller Verstorbenen gedenkt. Allerseelen ist immer am zweiten November.

Aber warum?

Großmutter antwortete ihm nie, wenn er nach dem Warum fragte. Lillas Mutter beantwortete alle Fragen und erzählte Lilla tausenderlei Dinge. Fast so schön wie bei Lilla daheim war es, wenn sie ihn mitnahm zum Marktplatz, wo sie mit Rodrigo redeten. Rodrigo thronte immer auf einem Kissen in einem breiten, hohen Korbstuhl vor der Tür der Werkstatt, in der Giorgio Bilder aus buntem Marmor machte.

Wenn Lilla Giorgio rief, kam er auf einen Plausch vor die Tür, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den dicken Bauch unter dem grauen Arbeitsoverall wie eine Kugel vor sich herschiebend.

Giorgio, warum sitzt Rodrigo auf dem Stuhl?

Weil es sein Stuhl ist.

Aber Hunde haben keine Stühle.

[34] Rodrigo hat einen.