Tod im Herbst - Magdalen Nabb - E-Book

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Magdalen Nabb

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Beschreibung

Die Leiche einer Frau wird aus dem Arno gezogen, nur mit Pelzmantel und Perlenkette bekleidet. Wer war die Frau? Überall hieß es, sie habe sehr zurückgezogen gelebt. Wachtmeister Guarnaccia in seinem Büro an der Piazza Pitti ahnte, daß der Fall schwierig und schmutzig war ­ Drogen, Erpressung, Sexgeschäfte ­, aber daß nur weitere Tote das Dickicht der roten Fäden entwirren sollten, konnte er nicht wissen ...

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Magdalen Nabb

Tod im Herbst

Ein Fall für Guarnaccia

Roman

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Diogenes

{5}1

Die Morgendämmerung war noch nicht angebrochen, und das Wasser des Flusses, das gegen das schwarze Schlauchboot klatschte, war noch genauso dunkel wie der Himmel. Nur eine Lampe an einer Seite des Schlauchboots warf einen Lichtkegel über das Wasser. Von links kam ein kurzes Lichtsignal, und als der Mann im Schlauchboot es beantwortete, war am Ufer für einen Augenblick ein Lastwagen zu sehen, bevor er wieder in der Dunkelheit verschwand. Bei dem Lärm, den das Wehr unterhalb der nächsten Brücke machte, war es sinnlos, sich etwas zuzurufen. Der Mann im Schlauchboot richtete den Blick wieder auf das dunkle Wasser. Sehr viel einfacher würde es mit der Morgendämmerung auch nicht werden. Der dichte Nebel, der über dem Fluss lag, würde sich erst nach Stunden auf‌lösen, selbst wenn eine milde Herbstsonne hervortreten würde, und der Wasserstand war so niedrig, dass mit jeder Bewegung der Schlamm aufgewühlt wurde. Auf den Brücken und am Ufer waren Lichter zu sehen, gelbe und weiße Punkte, ein jeder umgeben von einem kleinen Hof. Rechts lag das Zentrum von Florenz noch in tiefem Schlaf und Dunkelheit. Trotzdem hing schon eine Ahnung des neuen Tages in der Luft, vielleicht wegen der Lastwagen, die dort oben in Richtung Blumenmarkt gerollt waren und {6}deren Abgase sich mit dem Schlammgeruch des Flusses vermengten.

An zwei Stellen, nur wenig voneinander entfernt, tauchten plötz‌lich zwei schwarze Umrisse an die Wasseroberfläche und bewegten sich auf den Lichtkegel zu. Dann wurden zwei Köpfe sichtbar, die in enganliegenden schwarzen Gummikappen steckten. Die Froschmänner waren schon zum vierten Mal mit leeren Händen heraufgekommen. Der eine hob die Hand, machte eine verneinende Bewegung und wies dann zur nächsten Brücke flussabwärts. Die beiden Taucher verschwanden wieder, und der Mann im Schlauchboot gab ein weiteres Lichtsignal in Richtung Ufer und warf den Außenbordmotor an. Gewiss, hier blieben sie oft hängen, an dieser Stelle unter dem linken Bogen, wo Gestrüpp und von weither angetriebener Müll sich auf‌türmten. Die Scheinwerfer des Lastwagens flammten auf und beleuchteten, während sie langsam immer auf gleicher Höhe mit dem Schlauchboot vorankrochen, den geschotterten Weg unterhalb der Uferstraße. Wenn die Leiche aber über das Wehr hinausgetrieben war, würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als drei Tage zu warten, bis sie auf‌tauchte und in einer der kleinen Städte, durch die sich der Arno auf seinem Weg Richtung Pisa wand, von einem Passanten entdeckt wurde.

Es sei denn, jemand hatte sich einen schlechten Scherz erlaubt, was hin und wieder vorkam. Einer der Taucher, der nur ungern in die Dunkelheit hinauswollte, hatte etwas in der Art angedeutet und vorgeschlagen, das Tages‌licht abzuwarten, doch ein anderer, der wusste, von wem der Anruf gekommen war, hatte ihm sofort entgegengehalten:

{7}»Ich möchte den Menschen sehen, der es schaff‌t, Guarnaccia reinzulegen!«

»Wer ist’n das?«

»Ein Maresciallo der Carabinieri drüben im Revier Pitti. Dumm wie Bohnenstroh sieht er aus, kommt aus dem Süden, aber man muss schon früh aufstehen, wenn man ihn überrumpeln will.«

»Tja, jetzt ist es wohl doch passiert, was?«

Und noch immer murrend, hatten sie ihre Ausrüstung in der Dunkelheit auf den Transporter geladen.

 

Tatsäch‌lich war die Leiche im Wasser aber nicht von einem Frühaufsteher gesehen worden, sondern von zwei jungen Touristen, die nicht zu Bett gegangen waren und mit denen der Maresciallo, die großen, ein wenig hervorstehenden Augen schlafgerötet und geschwollen, das Bäuchlein unter der halb aufgeknöpf‌ten Jacke noch deut‌licher zu sehen als sonst, wirk‌lich seine liebe Not gehabt hatte.

Zu allem Überdruss waren es Ausländer, und nach einem langen, heißen Sommer mit verlorengegangenen Fotoapparaten, gestohlenen Handtaschen, verschwundenen Kindern und angeb‌lich verschwundenen Autos – diese engen Straßen sahen alle gleich aus, aber der Name fing mit einem F an oder vielleicht war es ein G, eine Straße mit einem steinernen Torbogen und einem Schuster, oder war das die Stelle, wo wir gestern geparkt haben? – hatten der Maresciallo und seine Leute die Nase voll. Jetzt war es fast schon Oktober, und noch immer klingelten die Touristen mitten in der Nacht am Revier Pitti. »Na schön«, hatte der Maresciallo gesagt und sich an seinen Schreibtisch gesetzt, »bringt sie {8}rein!« Er griff nach den Pässen, die ihm die wachhabenden Beamten auf den Tisch gelegt hatten. Schweden.

Sie wurden hereingeführt. Ein großer, bärtiger junger Mann und ein Mädchen. Als sie durch die Tür traten, sah der Maresciallo, dass der kleine Warteraum hinter ihnen praktisch vollgestellt war mit ihren Rucksäcken und Plastiktüten. Er bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, sich zu setzen, und der junge Mann sagte ein paar unverständ‌liche Worte.

»Sie sprechen kein Italienisch?«

Der junge Mann sah seine Freundin an, sie holte ein Wörterbuch heraus.

Nach einer knappen halben Stunde gab der Maresciallo auf, und der Carabiniere, der an der Schreibmaschine gesessen hatte, stand auf, ohne ein Wort geschrieben zu haben.

»Sie sehen ja selbst, Maresciallo«, sagte er. »Wir haben ihnen mehrmals gesagt, sie sollen im Borgo Ognissanti vorsprechen, aber sie haben immer wieder geklingelt und irgendwelche Dinge durch die Sprechanlage gerufen. Sie verstehen kein Wort. Ich wollte Sie nicht wecken, aber was sollten wir tun?«

»Ich werde selber im Borgo Ognissanti anrufen.« Im Hauptquartier fand sich immer jemand, der bei Sprachproblemen weiterhelfen konnte. Er würde sie bitten, ihre Geschichte am Telefon zu erzählen, und wenn sich herausstellte, dass sie ernst zu nehmen war, würde man den Capitano wecken müssen. Er wählte die Nummer und murmelte dabei vor sich hin, wie er es den ganzen Sommer über getan hatte: »Ich möchte wissen, weshalb sie hierherkommen, es wäre besser, sie blieben alle zu Hause …«

{9}Es war etwas Ernsthaftes. Zumindest wenn es stimmte, was sie sagten. Als sie fertig waren, griff der Maresciallo wieder zum Hörer und ließ sich die Geschichte auf Italienisch wiederholen. Der Tenente am anderen Ende der Leitung fragte zum Schluss:

»Wollen Sie, dass ich dem Capitano Bescheid sage?«

Der Maresciallo zögerte einen Moment, sagte dann »Ja« und legte auf. Zu den beiden Wachhabenden sagte er: »Eine Leiche im Fluss. Der Capitano ist auf dem Weg hierher.« Dann fügte er hinzu: »Einer von euch macht schon mal Kaffee. Wir werden die ganze Nacht brauchen, um diese Sache aufzuklären.«

Es sollte länger als eine Nacht dauern, um die Sache aufzuklären. Den Tod eines Mannes in New York hinzugerechnet, mit dem die Geschichte ihr eigent‌liches Ende fand, waren es fast zwei Jahre.

 

»Um wie viel Uhr war das?«

»Ich schätze, zwischen halb zwölf und Mitternacht. Wir hatten inzwischen aufgegeben, noch eine Unterkunft zu finden. Es war schon zu spät, um die Leute herauszuklingeln, und die Sorte Hotels, die einen Nachtportier haben, können wir uns nicht leisten. Weil wir für Notfälle immer einen Schlafsack mitnehmen, waren wir aber nicht besonders nervös.«

»Ihre Unterkunft lassen Sie nicht im Voraus reservieren?«

»Unsere Art zu reisen ist eben anders. Wir hatten von einer Pension in der Via Santa Monica gehört, aber es stellte sich heraus, dass sie voll war. Wir probierten ein, zwei {10}andere Adressen in der Nähe und gingen dann wieder in Richtung Arno, weil wir annahmen, dass wir im Zentrum eine Bar oder irgendwas finden würden, was erst spätnachts schließen würde. Tatsäch‌lich fanden wir, ehe wir den Arno erreichten, eine Bar ganz in der Nähe, an der Piazza Pitti. Wir sind dortgeblieben, bis zugemacht wurde.«

»Aha. Einen Moment …« Der Capitano unterbrach, um zu übersetzen, damit der junge Carabiniere die Aussage protokollieren konnte. Er tippte sehr schnell, mit zwei Fingern. Das Gespräch war auf Eng‌lisch geführt worden, auf beiden Seiten ein wenig holprig, aber hinreichend. Jedes Mal, wenn das Klappern der Schreibmaschine aufhörte, redeten sie weiter. Der Capitano war unrasiert und nicht besonders glück‌lich, um drei Uhr morgens aus dem Bett geholt worden zu sein. Wenn er auch für Ausländer, die mit Rucksäcken und wenig Geld durch das Land zogen, nicht viel übrighatte, so war er doch beeindruckt von dem Ernst und der offenkundigen Intelligenz der beiden Schweden und mehr oder weniger geneigt, ihre Geschichte zu glauben, nach anfäng‌lichen Bedenken, ob sie nicht bloß einen warmen Ort suchten, wo sie den Rest der Nacht verbringen konnten.

»Sie beschlossen also, im Freien zu schlafen?«

»Zu diesem Zeitpunkt blieb uns keine andere Wahl mehr.«

»Warum der Ponte Vecchio?«

»Das ist bei jungen Leuten eine beliebte Schlafstelle.«

Das stimmte, und in der Regel schliefen sie so lange, dass die Leute, die morgens auf dem Weg zur Arbeit die Brücke überqueren wollten, sich eine Gasse durch die dicht {11}beieinanderliegenden schmuddeligen Schlafsäcke bahnen mussten.

»Wann haben Sie die Leiche gesehen?«

»Gleich, nachdem wir dort eingetroffen waren. Wir beugten uns über das Brückengeländer, in der Mitte, dort, wo es keine Läden gibt.«

»Warum?«

»Warum?«

»Warum haben Sie sich über das Brückengeländer gebeugt?«

Der junge Mann guckte überrascht. »Um den Blick zu genießen, die Lichter auf dem Wasser. Es ist sehr schön.«

»War noch jemand auf der Brücke?«

»Nein, niemand.«

»Sie haben mir noch immer nicht gesagt, um wie viel Uhr das war.«

»Ich habe nicht auf meine Uhr gesehen, tut mir leid, ich habe nicht daran gedacht. Aber sobald wir uns sicher waren, sind wir losgegangen, ich würde sagen, hierher sind es zu Fuß höchstens fünf Minuten, also …«

Der Capitano sah an ihm vorbei zum Maresciallo, der dastand und die Szene mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete.

»Es war drei Uhr siebenundzwanzig, als sie hier eintrafen.«

»Danke. Fahren Sie bitte fort!«

»Na ja, wir waren zuerst nicht sicher, was es war. Wir konnten bloß eine dunkle Gestalt erkennen, unter der Brücke. Ein paar Felsblöcke lagen dort im Wasser, bei einem Pfeiler, und diese Gestalt schlug leicht dagegen. Dann muss {12}sie freigekommen sein. Jedenfalls rollte sie herum und wurde weitergetrieben, so dass sie im Licht der Brücke deut‌licher zu erkennen war. Sie kam nur langsam voran, als würde sie auf dem Grund entlangschleifen, also vermut‌lich war das Wasser dort nicht sehr tief. Wir sahen das Gesicht und die Haare. Nur ein paar Sekunden, weil die Gestalt dann aus dem Lichtschein verschwand, sich wieder herumdrehte und versank. Jedenfalls nehmen wir das an. Wir konnten sie nicht mehr sehen, aber das konnte natür‌lich einfach an der Dunkelheit gelegen haben.«

Wieder machten sie eine Pause, damit der Capitano übersetzen konnte, und die Schreibmaschine klapperte wieder. Der zweite Beamte brachte frischen Kaffee. Alles zweimal durchgehen zu müssen war zeitraubend.

»Warum sind Sie hierhergekommen?«

»Was? … Nun, um zu melden, was wir gesehen haben, ich meine –«

»Aber warum ausgerechnet diese Wache? Sie hätten von der nächstbesten Telefonzelle aus den Polizeinotruf wählen können.«

»Ach so, ich verstehe, aber das ging nicht. Wir hatten keine gettoni, wir sind erst heute angekommen, und wir hatten diese Wache schon vorher gesehen, als wir hier auf der Piazza waren, wissen Sie. Wir hatten den Palazzo Pitti besichtigt, sahen dann das Schild und die Klingel, also kam uns natür‌lich der Gedanke, hierher zu gehen.«

»Aha. Können Sie mir sagen, was Sie den ganzen Tag gemacht haben?«

»Sie glauben doch nicht, dass wir mit der Sache was zu tun haben?«

{13}»Das habe ich nicht gesagt. Trotzdem muss ich genau wissen, wie Sie den Tag verbracht haben. Wenn ich Sie bitten darf, für einen Moment wieder im Wartezimmer Platz zu nehmen? Sie können sich dort alles in Ruhe überlegen, während ich in der Zwischenzeit einen Anruf erledige.«

Nachdem sie hinausgebracht worden waren, schaute der Capitano den Maresciallo an und sagte: »Was meinen Sie?« Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass es sich immer lohnte, Guarnaccia nach seiner Meinung zu fragen, selbst wenn die Antwort erst nach drei Tagen kam. Diesmal brauchte er nicht so lange zu warten.

»Ich glaube, dass sie die Wahrheit sagen.«

»In diesem Fall sollten wir besser den Fluss absuchen lassen.«

»Möchten Sie, dass ich das erledige?«

»Tun Sie das! Ich werde das Protokoll zu Ende diktieren.«

Und so hatte der Maresciallo telefoniert.

 

Sie fanden die Leiche, als der Morgen heraufdämmerte. Nur wenige Menschen waren unterwegs, doch zwei, drei hatten sich auf der Brücke versammelt, um zuzusehen, wie die Froschmänner mit Seil und Haken hinabtauchten. Zuerst kam ein mächtiger Schlammwirbel an die Wasseroberfläche, dann die beiden Taucher und dann eine schlaffe, schlammbedeckte Gestalt, die mehr nach einem dickhäutigen Tier als nach einem mensch‌lichen Körper aussah. Doch als sie zum Ufer geschaff‌t und auf den Schotterweg gehievt wurde, rollte sie zur Seite, und ein dünner weißer Arm kam zum Vorschein.

{14}»O Gott …«, murmelte einer der Taucher und riss sich die Maske vom Kopf. »Sieht nach Selbstmord aus, aber sie war bestimmt nicht ganz richtig im Kopf.«

Die Tote war vielleicht fünfzig Jahre alt. Sie trug viele Ringe, ein großes Armband und schwere Ohrringe, alles dick mit Schlamm bedeckt. Aber unter dem triefend nassen Pelzmantel war sie völlig nackt.

2

»Hast du das gesehen?«

»Nicht in der Zeitung, aber ich habe den of‌fiziellen Bericht gesehen.«

»Ein tolles Ding, schon so lange her und erst jetzt herausgekommen!«

»Jemand ist sehr schlau gewesen.«

»Das kannst du laut sagen.«

Das Carabinieri-Revier, die ganze Stadt war in heller Aufregung. Noch nie hatte man von einem vergleichbaren Fall gehört. Die Nazione widmete der Story fast eine ganze Seite und brachte ein großes Foto des bedauernswerten Juweliers. Offenbar war ein Mann in sein Geschäft gekommen und hatte darum gebeten, sich einen größeren Diamanten ansehen zu dürfen, er wolle ihn fassen lassen, als Geschenk für seine Frau zum Hochzeitstag. Er hatte sich etwas ausgesucht und dann erklärt, er werde in ein paar Tagen mit seiner Frau wieder vorbeikommen, um die Fassung in Auf‌trag zu geben. Als er in Begleitung einer Frau wieder erschien, hielt er den Stein ein paar Sekunden in den {15}Händen, in Gegenwart des Juweliers. Die beiden trafen ihre Entscheidung und wollten dann zur Bank gehen, um die finanziellen Dinge zu regeln. Sie kamen jedoch nicht wieder zurück, und erst gestern nahm ein anderer Kunde, der etwas davon verstand, den Diamanten in Augenschein und vermutete sofort, dass es sich um eine Imitation handelte. Er hatte recht. »Obwohl er sich den Stein nur dieses eine Mal angesehen hatte«, wurde der erstaunte Juwelier zitiert, »fertigte er eine perfekte Kopie an. Er muss sie gegen den echten Stein ausgetauscht haben, direkt unter meinen Augen. Ein ganz kaltblütiger Typ. Natür‌lich sind wir versichert …«

Die Polizei hatte wenig Hoffnung, den Fall jemals aufklären zu können. Guarnaccias Jungs, die selten mit etwas Aufregenderem als gestohlenen Handtaschen und unbedeutenden Drogenhändlern zu tun hatten, waren fasziniert. Keiner von ihnen beachtete die Vier-Zeilen-Meldung, die besagte, dass eine Leiche aus dem Arno gezogen worden sei und dass die Polizei Selbstmord vermutete.

Der Maresciallo las die Meldung, doch abgesehen von einem Gefühl des Bedauerns, sich deswegen die Nacht um die Ohren geschlagen zu haben, machte er sich keine weiteren Gedanken darüber.

Gedanken musste sich aber der Capitano in der Zentrale Borgo Ognissanti machen, obwohl auch er sich gerne mit dem Juwelenraub befasst hätte, der von der Polizei und Interpol bearbeitet wurde. Unwillig legte er die Zeitung beiseite und nahm sich die dünne Akte vor, die keinen Namen trug. Sie würden die Arme identifizieren müssen, und sei es nur, um sie beerdigen zu können. Bei Beerdigungen {16}fiel immer ein erheb‌licher Papierkrieg an, und eine Frau musste unter ihrem Mädchennamen bestattet werden. Er ahnte schon, dass diese Leiche nach der Obduktion noch eine ganze Zeit in ihrem Kühlfach liegen würde. Nach einigem Nachdenken griff er zum Telefon und ließ sich mit der Nazione verbinden. Es gab dort einen Reporter, mit dem er sich gut verstand, vielleicht konnte der ihm helfen.

»Ja?«

»Galli? Hier Capitano Maestrangelo. Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Diese Frau, die wir aus dem Arno gefischt haben. Ich muss sie identifizieren. Sie könnten wohl nicht einen längeren Artikel schreiben und ein Bild veröffent‌lichen, oder? Meine Hoffnung ist, dass jemand sie vielleicht wiedererkennt.«

»Schwierig. Ich weiß nicht, ob der Redakteur das akzeptiert, es sei denn, Sie haben mir etwas Neues zu berichten.«

»Überhaupt nichts, das ist es ja!«

»Dann weiß ich auch nicht, was ich schreiben könnte. Es ist ja schon darüber berichtet worden. Wenn Sie mir das Bild schicken, dann könnte ich versuchen, dass es abgedruckt wird, mit der Bitte um sachdien‌liche Hinweise et cetera.«

»Ich brauche mehr. Die Zeitung hat viel zu wenig Käufer. Ich brauche etwas, worüber sich die Leute unterhalten können; auf diese Weise besteht eine größere Chance, dass sie in der Bar die Zeitung nehmen und einen Blick hineinwerfen.«

»Wie soll ich das denn machen, wenn es keine Story gibt! {17}Überhaupt, worum geht es denn? Ich dachte, es sei bloß Selbstmord. Steckt dahinter eine Geschichte, die Sie mir vorenthalten?«

»Nein. Fürs Erste geht es nur um eine Formalität. Je eher wir die Frau identifizieren können, desto eher kann sie beerdigt werden. Aber es besteht tatsäch‌lich eine Mög‌lichkeit, dass es kein Selbstmord war, wenn Ihnen das was nützt.«

»Doch, doch. Kann ich schreiben, dass Sie einen Mord vermuten?«

»Sie können schreiben, was Sie wollen, solange Sie mich nicht zitieren. Jedenfalls können Sie doch bestimmt was aus der Tatsache machen, dass sie unter dem Pelzmantel nichts anhatte. Das ist ja wirk‌lich ungewöhn‌lich.«

»Nicht, wenn sie bloß einen Dachschaden hatte. Aber wenn Sie einen Mord vermuten, dann sieht das alles anders aus. Wie alt war sie?«

»Um die fünfzig.«

»Eine Prostituierte?«

»Glaube ich nicht, aber das wird zurzeit noch überprüft, für alle Fälle.«

»Na gut, ich werde sehen, was sich machen lässt. Ist ja mal ’ne Abwechs‌lung, wenn Sie mir sagen, dass ich schreiben kann, was ich will.«

»Tun Sie das nicht sowieso?«

Der Reporter lachte und legte auf.

Tags darauf erschien der Artikel. Der Fotograf hatte sich bemüht, dem Gesicht der Toten einen Anschein von Lebendigkeit und Normalität zu geben, und der Reporter hatte aus der Geschichte herausgeholt, was er nur konnte, aber sie war einfach zu dünn.

{18}Eine Woche verging, doch niemand meldete sich, um die Tote zu identifizieren. Die Leute des Capitanos hatten herausgefunden, dass das Gesicht der Toten unter den Prostituierten der Stadt nicht bekannt war. Der Pelzmantel, den sie ge‌tragen hatte, war nicht in Florenz gekauft worden, zumindest nicht in einem noch bestehenden Geschäft, aber es war sowieso ein recht altmodischer Mantel. Das Etikett war schon längst abgegangen. Das Armband und die dazu passenden Ohrringe waren wertlos und trugen keinen Stempel, würden bei der Identifizierung also nicht weiterhelfen. Eine Überprüfung sämt‌licher Häuser am Arno, vom Ponte Vecchio flussaufwärts, hatte bislang nicht zu einem Zeugen geführt, der gesehen hätte, wie die Leiche in den Fluss geworfen worden war. Was zu erwarten stand, da zur Tatzeit gewiss überall die Fensterläden geschlossen waren. Blieb nur noch der Obduktionsbericht. Der Capitano kam nicht dazu, ihn sofort nach Erhalt zu lesen. Es gab zu viel zu tun. In der Drogenszene waren ein paar neue Gesichter aufgetaucht, und es hatte zwei Todesfälle gegeben, zwei Jugend‌liche waren nacheinander gestorben. Fraglos stand dahinter eine neue Bande, die vermut‌lich minderwertiges Zeug vertrieb. Der Capitano hatte den ganzen Vormittag mit den jungen Zivilfahndern gesprochen, die sich unter die verschiedenen Drogencliquen mischen sollten, bis die neue Quelle ausfindig gemacht war. Früher oder später würde ein Informant reden, um sich seinen nächsten Schuss kaufen zu können. Schließ‌lich nahm er sich den Obduktionsbefund in der Mittagspause vor und ließ sich ein belegtes Brötchen und ein Glas Wein heraufkommen.

Er suchte nach einer Bestätigung dessen, was er und der {19}junge Staatsanwalt an jenem kühlen Morgen am Arnoufer vermutet hatten, während der Arzt eine erste Untersuchung vorgenommen hatte. Sie hatten am Hals Blutergüsse und eine Kratzwunde quer über die ganze Seite gesehen.

AN DIE STAATSANWALTSCHAFT FLORENZ

Am 29. September wurde der Unterzeichnete, Dr. Maurizio Forli, zwecks Untersuchung der Leiche einer nicht identifizierten Person, die aus dem Arno gezogen worden war, zum Fundort gerufen. Nachdem daselbst eine erste äußer‌liche Untersuchung durchgeführt worden war, erging seitens der Staatsanwaltschaft das Ersuchen, zwecks genauerer Bestimmung von Zeitpunkt und Ursache des Todes der frag‌lichen Person eine gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche vorzunehmen. In Beantwortung der Fragen, die im Zusammenhang mit dem o.g. Ersuchen eingegangen sind:

Todeszeitpunkt: Sechs Stunden vor Auf‌findung der Leiche.

Todesursache: Erwürgen.

Bei der Leiche handelt es sich um eine etwa fünfzigjährige Frau.

Es folgte eine Beschreibung der äußer‌lichen Untersuchung, angefangen bei der Kleidung und dem Schmuck und dem Hinweis, dass in Anbetracht der Hypostasenbildung das Opfer bei Todeseintritt unbekleidet gewesen war und noch drei bis vier Stunden in Rückenlage gelegen hatte. {20}Hautabschürfungen an Stirn und Händen mit Lehm- und Sandresten rührten daher, dass die Leiche auf dem Flussbett entlanggetrieben war, wobei allerdings der Pelzmantel die meisten Körperteile geschützt habe.

Ausführ‌licher wurden die Würgemale beschrieben.

… ausgeprägte Blaufärbung des Gesichts … asymmetrische Druckstellen und halbmondförmige Läsionen, wobei auf der linken Seite des Halses die Druckstellen kräftiger und die Läsionen tiefer sind, was auf einen Rechtshänder schließen lässt.

Besonders interessant fand der Capitano jedoch den nächsten Absatz.

Kratzwunden und deut‌liche Druckstellen an der linken Halsseite lassen vermuten, dass eine schwere Halskette gewaltsam entfernt wurde. Man beachte:

Die Form der Kratzwunde deutet auf eine Halskette, passend zu dem Armband, welches die Verstorbene trug.

Die starken Druckstellen um die Kratzwunde herum deuten darauf hin, dass sie vor dem Tod beigefügt wurden.

Die Lage der Kratzwunde lässt auf eine Links-Rechts-Bewegung schließen, während sich das Opfer in Rückenlage befand.

Der Capitano las den Absatz ein zweites Mal, konnte sich aber noch immer keinen Reim darauf machen. Wenn {21}Habgier das Motiv war, dann hätte der Täter alle Juwelen mitgenommen, nicht bloß einen Teil, und das galt auch für den Fall, dass der Raub nur vorgetäuscht gewesen sein sollte. Und wenn der Täter aus irgendeinem Grund nur an der Halskette interessiert war, dann wäre es einfacher gewesen, sie nach dem Tod der Frau durch Lösen des Verschlusses vom Hals zu nehmen. Also blieb nur ein gewaltsamer Kampf als Erklärung für das Herunterreißen der Halskette, die aber nicht gefunden worden war. Der Täter hatte sie mitgenommen und sie entweder behalten oder in den Fluss geworfen.

»Oder vielleicht«, murmelte der Capitano vor sich hin, »hatte er sie ihr vom Hals gerissen, weil sie ihn einfach störte.« Allmäh‌lich entstand vor seinem geistigen Auge das Bild eines außerordent‌lich kaltblütigen Mörders, der rasch und gezielt vorgegangen war, so dass dem überraschten Opfer keine Mög‌lichkeit zu reagieren blieb, dann die Leiche seelenruhig in den Pelzmantel gepackt und sie, mög‌licherweise auf dem Rücksitz eines Autos, zum Fluss gefahren hatte.

Er las den Rest des Obduktionsberichts, ohne große Hoffnung, noch auf irgendwelche nütz‌lichen Hinweise zu stoßen.

Das Herz der Toten war etwas vergrößert, wahrschein‌lich von Geburt an, ein Umstand, der dem Täter insofern genützt hatte, als sie wohl sehr bald das Bewusstsein verlor, nachdem er begonnen hatte, sie zu erwürgen.

Der Magen enthielt ca. 200 g Milch (teilweise geronnen) … Nieren und Bauchspeicheldrüse normal … {22}Geschlechtsorgane normal … eine Narbe, etwa 15–20 Jahre alt, wahrschein‌lich von einer komplizierten Geburt herrührend … Man beachte:

die Lungen enthielten kein Wasser,

im Mageninhalt war keinerlei Alkohol nachzuweisen.

Demnach war sie nicht zu betrunken gewesen, um reagieren zu können. Hatte sie geschlafen? Die Leiche wies keinerlei Merkmale auf, die auf einen Kampf zwischen ihr und dem Täter hindeuteten, aber: Wenn sie geschlafen hatte, dann war nicht einsichtig, warum er die Halskette weggerissen und nicht einfach am Verschluss aufgemacht hatte. Der Capitano saß allein da, angestrengt darüber nachdenkend, wie er die Informationen, die er über die Frau besaß, zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen konnte. Dann griff er zum Telefon.

»Geben Sie mir das Revier Pitti!«

Es meldete sich aber nur Sergeant Lorenzini: »Tut mir leid, Maresciallo Guarnaccia macht gerade seine Hotelrunde.«

»Richten Sie ihm aus, er soll zurückrufen.«

»Ja. Er müsste jeden Moment da sein … Aber heute ist Montag, da ist er erst spät hier weggekommen.«

»Verstehe.«

Montagmorgen war immer dasselbe. Leute, die am Sonntag spätabends nach Hause gekommen waren, weil sie einen Ausflug gemacht hatten oder übers Wochenende weg gewesen waren, hatten feststellen müssen, dass man bei ihnen eingebrochen oder das Auto geknackt hatte oder {23}dass der Hund verschwunden war, und dann standen sie am Montag in aller Frühe mit den amt‌lichen Formularen Schlange, um den Diebstahl zu melden. Es war schon nach halb zwölf, als der Maresciallo end‌lich wegkam, er wollte unbedingt zwei Pensionen überprüfen, denen sein besonderes Augenmerk galt. Später beschloss er, noch kurz bei ein paar besseren Hotels vorbeizusehen, an denen er auf seinem Rückweg ohnehin vorbeikam.

Das Hotel Bellariva lag ruhig da, als der Maresciallo eintrat. Im Speisesaal wurde gerade das Mittagessen serviert, und der mit einem blauen Teppichboden ausgelegte Frühstücksraum rechts neben der Rezeption war leer, mit Ausnahme eines älteren Paares, das dort vermut‌lich auf ein Taxi wartete. Der Empfangschef, ein adretter junger Mann mit schwarzer Fliege, reichte ihm das blaue Gästebuch mit nicht mehr als einem knappen »Guten Tag«. Der Maresciallo stand in freundschaft‌lichen Beziehungen zu den Empfangschefs, Besitzern und Portiers der einfacheren Hotels und führte offenen Krieg mit dem Personal in einigen besonders schäbigen, doch hier betrachtete man ihn als notwendiges Übel und hielt Distanz. Offener Krieg war ihm eigent‌lich lieber als diese kalte Höf‌lichkeit. Dass er hier nicht übermäßig willkommen war, störte ihn aber nicht im Geringsten, er ließ sich wie immer viel Zeit, und mit seinen hervortretenden Augen, die nichts verrieten, aber alles registrierten, las er sorgfältig jede Ein‌tragung. Als er fertig war, gab er das Gästebuch wortlos zurück, denn hier wurde so verfahren. Aus einer offenen Tür hinter der Rezeption war ein weißes Hündchen herausgekommen, das aber sofort wieder verschwand, als der Empfangschef es erblickte.

{24}Der Maresciallo ging zur Tür. Draußen lud ein Portier in rot weiß gestreif‌ter Jacke Gepäckstücke in ein Taxi, hinter dem eine Schlange ungeduldig hupender Autos wartete. Das ältere Paar kam hinter ihm heraus.

»Einen Moment noch!«

Der Maresciallo ging weiter, da er annahm, dass irgendjemand dem abreisenden Paar etwas zurufen wollte, doch der Empfangschef war ihm gefolgt und holte ihn jetzt ein. Er wirkte etwas verlegen. »Ob Sie uns wohl bei einem kleinen Problem helfen könnten …?« Früher oder später wollten die Leute immer Hilfe bei irgendeinem Problem, ob groß oder klein, und sie zögerten keinen Moment, sich an ihn zu wenden, einerlei, wie unfreund‌lich sie selbst immer gewesen waren.

Der Maresciallo drehte sich um und ging mit hinein. Er ermunterte ihn nicht zum Reden, sondern stand einfach da, mit ausdruckslosem Gesicht, abwartend. »Es ist wegen dieses Hundes …« Das Tier war wiederaufgetaucht, hatte die Vorderpfoten auf die untere Leiste des Stuhls gestellt, der hinter dem Tresen stand, und zitterte nervös. Der Maresciallo sah zuerst das Tier und dann den Empfangschef an.

»Ja?«

»Irgendetwas muss mit ihm doch passieren! Er kann hier nicht bleiben, und ich dachte mir, vielleicht könnten Sie … Er gehört einem unserer Gäste. Normalerweise lassen wir Hunde ja nicht ins Haus, aber sie wohnt schon seit Jahren hier, also fühlten wir uns verpfl‌ichtet, eine Ausnahme zu machen. Trotzdem …«

»Was wollen Sie von mir? Dass ich ihn festnehme?« Die Stimme des Maresciallos hatte einen gefähr‌lichen Unterton. {25}Als ob er nichts anderes zu tun hätte, als sich Gedanken um einen herrenlosen Hund zu machen.

»Sie verstehen nicht. Normalerweise nimmt sie ihn mit, wenn sie unterwegs ist, aber diesmal hat sie ihn dagelassen und nicht einmal gefragt, ob wir einverstanden sind. Man kann von uns wirk‌lich nicht verlangen, dass wir –«

»Lassen Sie ihn einschläfern, oder bringen Sie ihn ins Tierheim.« Der Maresciallo wandte sich zum Gehen.

»Moment! Das will ich ja gerade wissen, ob wir das dürfen. Wenn nicht, dann wird sie bei ihrer Rückkehr –«

»Lassen Sie ihn doch in Ruhe, er tut Ihnen ja nichts.« Er hatte die Tür erreicht, doch der andere kam voller Erregung hinterher.

»Schön wär’s! Die ganze Zeit treibt er sich hier an der Rezeption herum, weil der Nachtportier einen Narren an ihm gefressen hat. In einem Hotel dieser Klasse kann so etwas nicht geduldet werden, das müssen Sie doch verstehen.« Er fügte nicht hinzu » … auch wenn Sie ein solches Etablissement nie als Gast betreten werden«, hätte es aber genauso gut aussprechen können. »Der Direktor besteht darauf, dass ich etwas unternehme, aber ich kann das Tier ja kaum in ihrem Zimmer einschließen, man weiß ja nie, was es dort anstellt … Ich möchte nur wissen, wie die Rechtslage aussieht.«

»Fragen Sie einen Anwalt«, entgegnete der Maresciallo trocken.

»Wir können die Zeit eines Rechtsanwalts nicht auf eine solche Angelegenheit verschwenden, und abgesehen davon würde es uns noch teurer zu stehen kommen, als das Tier von einem Tierarzt einschläfern zu lassen.«

{26}»Dann hören Sie auf, meine Zeit zu verschwenden, und lassen Sie das Tier in Ruhe. Erzählen Sie mir nicht, dass dieses Haus sich das Futter für diesen Hund nicht leisten kann! Er ist nicht viel größer als ein Kaninchen.«

»Und wenn sie nicht mehr zurückkommt?«

»Warum sollte sie denn nicht zurückkommen?« Der Maresciallo hatte die Hoffnung aufgegeben, den Mann abschütteln zu können. Sie standen draußen vor der Tür, und der Mann zupf‌te ihn unablässig am Ärmel der schwarzen Uniform, während er sich alle Augenblicke umsah, um festzustellen, ob er drinnen gebraucht wurde. Plötz‌lich senkte er die Stimme zu einem vertrau‌lich-klatschhaften Flüstern.

»Na, jedenfalls weiß ich, dass sie nicht einmal einen Koffer mitgenommen hat. Ihre Koffer werden in einer Dachkammer aufbewahrt, da sie im Hotel lebt.«

»Wenn sie keinen Koffer mitgenommen hat«, meinte der Maresciallo, »dann wird sie ja bald wieder hier sein, nicht? Und jetzt …«

»Hmm. Eigent‌lich darf ich es gar nicht sagen …« Er spähte wieder über die Schulter. »Eigent‌lich darf ich es gar nicht sagen, aber … sie ist mir immer unsympathisch gewesen … auf den ersten Blick eine durchaus ehrenwerte Person, gegen die ich gar nichts habe, nichts Konkretes, aber irgendetwas an ihr … Verstehen Sie, was ich meine? Sie in Ihrem Beruf …«

»Nein«, sagte der Maresciallo. »Ich verstehe Sie nicht.« Der Mann machte wirk‌lich einen besseren Eindruck, wenn er sich auf »Vielen Dank« und »Auf Wiedersehen« beschränkte.

»Es ist schon acht Tage her.«

{27}»Was denn?«