Nachtblüten - Magdalen Nabb - E-Book

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Magdalen Nabb

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Beschreibung

Eine ermordete alte Dame, der Duft des Nachtgartens einer Villa in Florenz und ein englischer Kunstsammler ziehen Maresciallo Guarnaccia in ein Milieu, dem er sich zunächst nicht gewachsen glaubt. Doch nicht nur Sir Christopher hat vollstes Vertrauen in Guarnaccias Fähigkeiten.

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Seitenzahl: 379

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Magdalen Nabb

Nachtblüten

Guarnaccias zwölfter Fall

Roman

Aus dem Englischen von Christa E. Seibicke

Titel des Originals:

›Some Bitter Taste‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2002 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Alain Fleischer (Ausschnitt)

Copyright © Alain Fleischer

Die Figuren und Ereignisse,

die in diesem Roman beschrieben werden, sind frei erfunden,

es ist keinerlei Bezug zu einer realen Person,

weder einer lebenden noch einer verstorbenen, beabsichtigt.

Für die wie immer unschätzbare Hilfe,

alles betreffend, was mit den Carabinieri zusammenhängt,

möchte die Autorin General Nicolino D’Angelo

herzlich danken.

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23381 0 (8. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60594 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Autorenbiographie

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[5]1

Der junge Mann, Gjergj, hatte sich einfach davongemacht. Seine wenigen Habseligkeiten verschwanden von einem Tag auf den anderen aus dem kleinen Zimmer in der Villa, und das war’s. Der Maresciallo hatte noch oft Veranlassung, sich zu fragen, was wohl aus ihm geworden sein mochte. Aber das Albanerproblem … man konnte nur immer wieder sein Bestes versuchen. Wenigstens war Dori von der Straße weg. Und in gewissem Sinne zählte das am Ende mehr, weil schließlich auch ein Kind betroffen war. Das dürfte jetzt wie alt sein? Drei Monate ungefähr.

Der Maresciallo war nach einem schönen Frühlingsnachmittag auf dem Lande unterwegs zur Carabinieri-Wache im Palazzo Pitti. Er hoffte inständig, daß der kommende Sommer nicht wieder so heiß werden würde wie der letzte. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als sie bei der Rückkehr aus den Ferien im heimischen Syrakus von der drückenden Hitze und dem Touristengedränge überfallen wurden. Florenz im Juli ...

Glanzpunkt des Oltrarno, wie das Viertel am linken Arno-Ufer heißt, ist der Palazzo Pitti, der, nur einen Steinwurf vom Ponte Vecchio entfernt, mit seiner mäch[6]tigen, langgestreckten Fassade wie ein steinernes Bollwerk über dem Platz thront und die Aussicht auf den dahinterliegenden Boboli-Hügel versperrt … Es bedarf schon einiger Phantasie, sich hinter der streng rustikalen, von Arkaden gegliederten Palastfront die verborgene Parkanlage vorzustellen, die sich auf dem Hügel ausdehnt und den Blicken der Besucher erst dann erschließt, wenn sie den Palast betreten und ihre Schritte in den weitläufigen Innenhof lenken …

Maresciallo Guarnaccia blätterte in einem Reiseführer. Hübsch bebildert. Kostete auch eine schöne Stange Geld. Er hätte wetten mögen, daß die Frau, die das Buch hatte liegenlassen, als sie auf die Wache gekommen war, um den Verlust oder Diebstahl ihrer Brieftasche anzuzeigen, diese beim Kauf des Reiseführers auf dem Tresen vergessen hatte. Wenn es bei dieser Hitze erst einmal anfing mit der Vergeßlichkeit …

Seufzend lehnte er sich in seinem Ledersessel zurück. Da kommt man erfrischt und hoffnungsfroh aus dem Urlaub heim und denkt, nun würde alles anders werden. Aber kaum daß man sein Büro betritt, ist wieder alles beim alten.

Ein junger Carabiniere klopfte und streckte den Kopf zur Tür herein. Guarnaccia blickte auf. »Ist die letzte Frau wegen Ihres Reiseführers zurückgekommen?«

»Nein. Kann ich den nächsten reinschicken?«

»Wie viele sind denn noch draußen?«

»Im Warteraum nur vier, aber da wäre noch diese Prostituierte … Ich hatte sie für heute morgen bestellt …«

[7]»Oh.«

»War das falsch? Sie wollte nur mit Ihnen sprechen, und Lorenzini meinte …«

»Sie haben das schon ganz richtig gemacht. Und schicken Sie sie gleich zu mir, wenn sie kommt.«

»Jawohl, Maresciallo. Und soll ich jetzt …?«

»Geben Sie mir noch zwei Minuten, mein Junge, ja?«

Was war mit zwei Minuten gewonnen? Nun, zunächst einmal konnte er seine Jacke ausziehen. Erst halb zehn, und er verging bereits vor Hitze. Gewiß, daheim in Syrakus hatten sie oft neununddreißig, vierzig, einundvierzig Grad, aber dafür wehte immer eine leichte Brise vom Meer herüber. Dagegen Florenz im Juli … Er blätterte die restlichen Seiten des bunt bebilderten Reiseführers durch.

Sehenswert auch der Neptunbrunnen auf der Piazza della Signoria, von der man besonders abends einen traumhaften Ausblick auf Florenz genießt.

Wohl wahr, und obendrein saß er hier im Palazzo Pitti und hatte das schönste Panorama direkt vor den Fenstern. Nur daß er die bei der Hitze nicht öffnen konnte, ja sogar die Läden geschlossen halten mußte. Florenz im Juli spottete jeder Beschreibung. Wenn nur das Arnotal nicht so ein schwüler Kessel wäre. Wer Tag für Tag die übelriechende Suppe aus Autoabgasen, Schweiß, Brackwasser und Kanalisationsgestank einatmete, hatte nur noch das Bedürfnis, daheim zu bleiben, wo es kühl und sauber war. Jeden Abend hieß es in den Nachrichten, daß Kinder, Kranke, Asthmatiker und alte Menschen den Aufenthalt im Freien [8]während der heißesten Tageszeit meiden sollten. Carabinieri waren anscheinend keine schutzwürdige Spezies.

»Puh!« Der Maresciallo hängte seine Uniformjacke neben Mütze und Holster hinter die Tür. Mit den kurzen Hemdsärmeln fühlte er sich ein klein wenig wohler, und mit etwas Glück würde er heute das Büro nicht verlassen müssen. Als er seinen massigen Leib zwischen Schreibtisch und Sessel zwängte, kam ihm flüchtig der Gedanke, daß sich die drückende Florentiner Hitze vielleicht leichter ertragen ließe, wenn er etwas schlanker wäre. Und schon fragte er sich, ob diese unvernünftige Nachurlaubseuphorie womöglich daher rührte, daß er sich vorgestellt hatte, nach der Völlerei in den Ferien, die er mit dem Besuch daheim entschuldigte, ein neuer Mensch zu werden, schlank und agil – was natürlich reines Wunschdenken gewesen war.

»Nein, nein … Damit hat es gar nichts zu tun.« Er wußte jetzt, woher diese Aufbruchstimmung nach den Ferien kam. Aus der Schulzeit. Kühlere Temperaturen, neue Schuhe, neue Lehrer, ein neuer Anfang. Zufrieden, daß er das Gefühl eingeordnet hatte, rief er sich ins Gedächtnis, daß jedes neue Schuljahr ihm selbst nur Ungemach beschert hatte und seinen Lehrer jede Menge Verwirrung, und wandte sich wieder der Gegenwart zu. Er war übergewichtig, überhitzt und überarbeitet, und es lagen noch zwei brütend heiße Monate vor ihm. Aber wenigstens saß er jetzt hinter seinem großen Schreibtisch, und heutzutage warf ihm auch niemand mehr vor, unaufmerksam zu sein. Ausgenommen seine Frau.

»Maresciallo?«

[9]»Sie ist da, Maresciallo. Die Prostituierte …«

»Dann herein mit ihr, und sagen Sie den anderen, sie sollen lieber heimgehen und heute nachmittag wiederkommen. Wer unbedingt warten will, kann warten, aber das wird länger dauern.« Der Maresciallo hatte bereits zwei Monate geduldig daran gearbeitet, dem Mädchen die verständliche Angst vor der uniformierten Staatsgewalt zu nehmen. Und wenn er entschlossen war, das Vertrauen der kleinen Albanerin in diesem entscheidenden Moment nicht wieder zu verlieren, so ging es ihm dabei mehr um ihre als um seine Interessen. Wenn man einen Zuhälter festnahm und verurteilte, stand schon ein Dutzend andere bereit, um seinen Platz einzunehmen, aber für das Mädchen konnte die Geschichte noch ein glückliches Ende nehmen.

»Setzen Sie sich, Dori.« Sie sah phantastisch aus, hochgewachsen, mit wunderschönen langen Beinen, kurzem, sehr blondem Haar, blauen Augen, vollen, geschminkten Lippen. Das Gesicht einer Porzellanpuppe. Bestimmt hätte sie ein gefragtes Model werden können, wenn sie das Glück gehabt hätte, anderswo als in Albanien geboren zu sein. »Wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut.«

»Keine Übelkeit mehr?«

»Es geht. Jedenfalls arbeite ich. Ich denke, es ist das beste, ich gehe anschaffen und verdiene Geld, solange ich kann.«

»Noch einen Monat, und man wird es sehen.«

»Na und? Manche Männer stehen drauf. Von den anderen Mädchen haben das schon viele erlebt. Sie wissen [10]doch, wie die Männer sind. Es gibt etliche, die sind heiß auf uns, wenn wir unsere Tage haben. Die Schwangerschaft ist nicht mein größtes Problem.«

»Wer schmeißt denn den Laden, jetzt wo Ilir sitzt?«

»Sein Vetter Lek.«

»Dachte ich mir.«

»Macht für mich keinen Unterschied, oder? Lek ist in Ordnung …«

»Aber?«

»Nichts … Diese Freundin von mir … Sie wissen, der Brief und das Geld, das Sie gefunden haben … na ja, Lek hat mir ihre Adresse abgeluchst.«

»Verstehe. Und es überrascht mich nicht. Er denkt wohl, sie ist genauso hübsch wie Sie, und Ilir sitzt.«

»Sie irren sich. Er will Ilir nicht aufs Kreuz legen. Er ist doch sein Vetter. Darum hat Ilir seine Mädchen ja auch ihm anvertraut und nicht einem aus seiner Clique. Lek handelt nur in Ilirs Interesse. An einem Geschäft mit uns Mädchen wäre er sowieso nicht interessiert. Er hat eine Baufirma. Damit verdient er einen Haufen Geld.«

Der Maresciallo war vollkommen im Bilde über den Mann und seine Baufirma, doch er behielt sein Wissen für sich. Er sagte nur: »Weiß Ihre Freundin, worauf sie sich da einläßt?«

»Sie weiß, was sie eintauscht. Wissen Sie, wie man dort am Arsch der Welt, wo sie herkommt, über Frauen spricht? ›Eine Frau sollte mehr arbeiten als ein Esel, denn die Esel fressen Heu, die Frauen dagegen Brot.‹«

»Na schön, Dori. Aber bedenken Sie, daß nicht all diese Mädchen soviel Glück haben wie Sie. Apropos, was ist [11]denn nun mit Mario? Sie können ihn doch nicht ewig hinhalten. Ich dachte eigentlich, Sie wären gekommen, weil Sie sich endlich entschieden hätten.«

Sie kramte Zigaretten und ein orangefarbenes Plastikfeuerzeug aus ihrer Handtasche und blickte sich dann zögernd um. Er schob ihr einen großen gläsernen Aschenbecher hin. »Also, wie sieht’s aus? Haben Sie sich entschieden?«

»Meinen Sie wegen Mario oder in der anderen Sache?«

»Beides gehört zusammen, Dori. Heirat oder Knast, darauf läuft’s hinaus. Wenn Sie Ilir verpfeifen, dann müssen Sie von der Straße verschwinden. Verpfeifen Sie ihn nicht, dann wird man Sie einlochen. Wir brauchen Sie vielleicht als Belastungszeugin gegen ihn, aber unabhängig davon haben wir genug gegen Sie in der Hand. Wollen Sie, daß Ihr Kind im Gefängnis zur Welt kommt? Sie dürfen von jetzt an nicht mehr nur an sich denken.«

Er sah ihr an, daß sie noch keine Beziehung zu diesem Kind hatte, aber wenn es erst einmal geboren war, würde sie schon zur Besinnung kommen, und auch wenn ein so hübsches Mädchen wie sie sich vielleicht mehr als einen heiratswilligen Kunden angeln konnte, wäre ein Mann, der bereit war, sie mit einem Kind zu nehmen, wohl doch nicht so leicht zu finden.

Ilir Pictri, ihr ›Beschützer‹, war geschnappt worden, als er bei ihr abkassierte, was er in gewissen Abständen während ihrer Nachtschicht zu tun pflegte, aus Angst, sie könnte andernfalls etwas für sich abzweigen oder bestohlen werden. Dori brachte es in einer Nacht locker auf zwei Millionen Lire. Sie hatte Anweisung, zu bestimmten Zeiten[12] eine Telefonzelle im Cascine-Park aufzusuchen, so zu tun, als ob sie telefonierte, und die Geldscheine unter das Telefonbuch zu schieben. Ilir ging dann gleich nach ihr in die Zelle, tat so, als würde er telefonieren, und nahm das Geld an sich. Für zwei Carabinieri in Zivil war es ein leichtes gewesen, dieses Manöver zu durchschauen und Ilir während eines ›Anrufs‹ festzunehmen. Jetzt saß er in Untersuchungshaft und wartete auf seinen Prozeß, und sie brauchten Doris Aussage, um ihn wegen Zuhälterei zu verurteilen. Als sie nach Pictris Festnahme seine Wohnung durchsucht hatten, fanden sie einen Brief von Dori an eine Freundin daheim in Albanien. Die Übersetzung ergab, daß Dori dem Mädchen zuredete, ebenfalls nach Florenz zu kommen. Sie hatte ihr geschrieben, wieviel sie dort verdienen könne, Fahrgeld beigefügt sowie Kontaktadressen und genaue Anweisungen für eine illegale Einreise. Mit diesem Brief hatte auch sie sich der Zuhälterei schuldig gemacht, und das Gericht schlug ihr einen Deal vor. Sie solle gegen Ilir aussagen, und die Klage gegen sie würde fallengelassen. Und nun hatte einer von Doris Kunden, ein gewisser Mario B., ihr einen Heiratsantrag gemacht. Der Maresciallo hatte sich mit ihm in Verbindung gesetzt, hatte von Mann zu Mann mit ihm gesprochen, und Mario schien gewillt, das Mädchen zu heiraten, obwohl sie schwanger war. Ja, er hatte sogar gesagt: »Wer weiß, vielleicht ist das Kind ohnehin von mir. Außerdem hat sie es mir selbst gesagt, wissen Sie. Es ist also nicht so, daß sie versucht hätte, es vor mir zu verheimlichen, wie das vielleicht manche andere getan hätte. Sie ist ein gutes Mädchen, das in schlechte Verhältnisse geraten ist.«

[13]Und der Maresciallo dachte: ›Sie ist groß, blond und sexy, und du bist zwar anständig und ehrbar, aber ansonsten nur ein biederer Bürohengst, dessen Gesicht genauso langweilig ist wie sein Beruf.‹ Also versuchte er nicht, Mario von seinem Vorhaben abzubringen. Er hörte ihm einfach zu. Der Junge würde eine Portion Glück brauchen, damit diese Ehe gutging, aber welche Ehe hielt schon ohne Glück?

Und jetzt hörte er Dori zu. Sie war wesentlich realistischer als ihr Zukünftiger, und ihre Bedenken waren nur zu verständlich. Falls sie sich jemals Hoffnungen oder gar Illusionen gemacht hatte, so waren ihr die ausgetrieben worden, lange bevor Ilir mit seinem Geld die sündteure Passage bezahlte, die sie durchnäßt und halb verhungert in einem Schlauchboot nach Puglia brachte.

»Außerdem, wie lange wird er denn kriegen? Wenn er rauskommt, könnte er sich immer noch an mir rächen, ob ich nun verheiratet bin oder nicht.«

»Du kannst es dir leisten, dich freizukaufen.« Sie wußten beide, daß er nicht ganz ehrlich zu ihr war. Im Schnitt lag der Preis für ein Mädchen bei etwa fünfundzwanzig Millionen Lire. Aber eins, das so aussah wie Dori, fand man nicht alle Tage. Sie war nicht in der Lage, Ilir auszuzahlen.

»Also, dann heirate Mario. Ihr werdet in Prato leben, eine andere Stadt, eine andere Welt …«

Sie zündete sich eine neue Zigarette an und überlegte. Beiden gingen die gleichen Bilder durch den Kopf, die weder er noch sie in Worte fassen mochte. Stockdunkle Nächte auf der Autobahn. Mädchen, die sich weigerten mitzuspielen, Mädchen, die glaubten, sie könnten es auf [14]eigene Faust schaffen, und die mißhandelt und gefoltert irgendwo im Straßengraben landeten. Im jüngsten Fall war das Mädchen noch glimpflich mit ein paar Knochenbrüchen davongekommen. Sie war im achten Monat schwanger gewesen. Das Kind hatte überlebt.

Trotzdem war es, nach ihren Erfahrungen in Albanien, die Staatsgewalt, die diese Mädchen fürchteten, waren es die Uniformen, die sie haßten.

Wenn nur dieser Mario ein bißchen mehr Pep hätte, dann würde er ihr drohen, sein Angebot zurückzunehmen, statt blökend wie ein Schaf an ihrem Rockzipfel zu hängen. Das würde sie vielleicht aufschrecken, ihr klarmachen …

Der Maresciallo hatte selber noch etwas in petto, aber er fühlte sich nicht berechtigt, seinen Trumpf auszuspielen. Einen, der sie, vielleicht zu Unrecht, mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringen würde. Lieber erst einmal abwarten. Er hatte schließlich eine Aufgabe zu erfüllen, und Capitano Maestrangelo, sein Vorgesetzter, hätte sicher kein Verständnis dafür, wenn er einen so wichtigen Fall vermasselte, in der Hoffnung, eine hübsche Nutte unter die Haube zu bringen. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als stellvertretend Marios Rolle zu übernehmen. Er heftete seinen Blick auf die Karte seines Viertels, die hinter dem Mädchen an der Wand hing, und sagte: »Ich wollte das eigentlich nicht zur Sprache bringen …« Und das war die reine Wahrheit.

»Was denn?« Sie wurde nervös, bekam den Rauch in die falsche Kehle, hustete.

»Ich habe mit Mario gesprochen …«

[15]»Ach? Und haben Sie ihm abgeraten? Ist es das, was Sie mir sagen wollen? Haben Sie ihm empfohlen, sich eine nette kleine Italienerin zu suchen, ein anständiges Büromädchen …«

»Nein, nein … nichts dergleichen. Nein …«

»Was dann? Was?«

»Genau das Gegenteil, Dori. Ich habe mein Bestes für Sie getan, aber Sie haben ihn zu lange hingehalten, verstehen Sie? Inzwischen hat er bestimmt darüber geredet – mit seinen Kollegen im Büro, sogar mit seiner Mutter. Können Sie sich vorstellen, was eine Mutter für ein Theater macht in so einem Fall? Wie sie ihm zusetzen wird? Mit Tränen und Wutanfällen, tagein, tagaus?«

»Seine Mutter hat er mir gegenüber nie erwähnt. Und warum sollte er es ihr erzählen? Oder seinen Freunden? Was geht es irgendwen an, außer uns beiden?«

»Na, irgendwann mußte er seine Familie einweihen.«

»Er brauchte ihnen nicht zu sagen, daß ich auf den Strich gehe.«

»Aber er konnte ihnen nicht verschweigen …«

»Daß ich Albanerin bin. Na los, sagen Sie’s schon! Wenn eine aus Albanien kommt, dann kann sie ja nur auf den Strich gehen, stimmt’s? Scheißrassisten!«

»Ja, ja, aber in Ihren Fall trifft es nun mal zu, oder? Also werden sie versuchen, ihm die Heirat auszureden. Wahrscheinlich lassen sie ihn nicht eine Minute mehr in Ruhe, weder daheim noch am Arbeitsplatz, und das wird nicht ohne Wirkung bleiben. Schnappen Sie sich Ihren Mario, solange Sie noch die Chance haben, Dori, bevor Sie AIDS kriegen, bevor Ilir wieder freikommt, weil Sie nicht gegen [16]ihn ausgesagt haben, bevor Ihr Baby zur Welt kommt.«

Es wirkte. Anderthalb Stunden später hatte er Dorina Hoxhas Unterschrift auf einer von Lorenzini abgetippten Aussage, die dafür sorgen würde, daß Ilir ein paar Jahre hinter Gittern blieb. Und nun, da sie ausgepackt hatte, konnte Dori nicht mehr auf den Strich gehen, sondern mußte sich mit Mario zusammentun, der zum Glück Waise war.

Als der Carabiniere das nächste Mal den Kopf zur Tür hereinstreckte, beschied ihn der Maresciallo mit einem zufriedenen kleinen Seufzer: »Mittagspause …«

[17]2

Ich weiß, es ist gleich eins, aber Sie sagten doch, wenn jemand unbedingt …«

»Wer ist es denn?«

»Eine Signora … Hirsch.«

»Nein, nein! Schicken Sie mir keine Ausländer rein, wenn Lorenzini nicht greifbar ist.«

Lorenzini sprach ein paar Brocken Englisch und konnte den Touristen, wenn anders keine Verständigung möglich war, immerhin den Weg zum Präsidium in der Via Borgognissanti auch auf Französisch und Deutsch erklären. Folglich galt er als das Sprachtalent der Wache.

»Lorenzini ist noch da, und die Signora ist Italienerin. Jedenfalls hat sie einen italienischen Paß.«

»Also gut. Schicken Sie sie rein.«

Manche Leute sprudelten los und überfielen ihn mit ihren Klagen, kaum, daß sie zur Tür hereinkamen, andere wußten nicht, wo beginnen. Der Maresciallo sah zu, wie diese Frau diskret die Blicke schweifen ließ, während sie Platz nahm, ihr Leinenkleid glattstrich und versuchte, ihre Gedanken in eine verständliche Form zu bringen. Der Anblick der Armeekalender hinter seinem Kopf, der vom Photokopierer und Aktenschrank würden sie dabei nicht eben beflügeln, dachte er. Schlohweiß hob sich ihr Haar [18]gegen den oliv schimmernden Teint ab, ihre Augen waren fast so schwarz wie ihr elegantes Kleid. Guarnaccias Blick fiel auf die goldene Halskette, die leicht verschmutzten Brillanten in ihrem Ring. Einen Trauring trug sie nicht. Die armen Leute hier im Viertel San Frediano waren redselig. Die nannten das Kind beim Namen. Sie hatten keinen Rückhalt außer der eigenen Familie, und sie kamen zu ihm, um ihr Herz auszuschütten und an seine Hilfsbereitschaft zu appellieren. Damen mit alten Brillanten hatten in der Regel einflußreiche Freunde, die ihnen weiterhalfen, und wenn sie trotzdem zu ihm kamen, dann erwarteten sie durchgreifende Maßnahmen, wollten aber so wenig wie möglich von sich preisgeben. Er starrte die Signora mit seinen großen, leicht vorstehenden Augen an. Sekundenlang hielt sie seinem Blick stand, dann glitten ihre Augen zur Seite und in die Höhe. Die Spitzen der lackierten Fingernägel tasteten nach der Halskette. Er wartete. Sie entschloß sich, ihn doch nicht zu belügen, und schaute ihn wieder an, als sie sagte: »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich mich fürchte.«

»Soso. Und wovor fürchten Sie sich, Signora?«

Doch ihr Blick huschte schon wieder unstet aufwärts und zur Seite. »Ich weiß nicht. Ich … jemand war während meiner Abwesenheit in meiner Wohnung. Natürlich habe ich keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte.«

»Ist etwas gestohlen worden?« Er langte nach einen Bogen linierten Papiers mit geprägtem Briefkopf, um Ihre Aussage aufzunehmen.

»Nein! Nein, es ist nichts gestohlen worden, und ich möchte nicht … Müssen Sie das protokollieren?«

[19]»Keineswegs, Signora, wenn Sie es nicht wollen.«

Er legte das Blatt zurück.

»Nein, lieber nicht. Ich dachte, wenn ich Ihnen davon erzähle, also ganz vertraulich, dann könnten Sie mir vielleicht einen Rat geben. Meine Nachbarin, eine junge Frau, deren Mann Architekt ist – sie haben ein kleines Mädchen, das mir nachmittags hin und wieder Gesellschaft leistet, wenn beide Eltern arbeiten – aber das tut natürlich nichts zur Sache. Ich möchte Ihnen nur erklären, warum ich hergekommen bin, obwohl mir nichts …«

»Sie sind mir keine Erklärung schuldig, Signora.«

»Mag sein, aber ich möchte nicht, daß Sie denken, ich würde bloß Ihre Zeit vergeuden und sei nur zum Reden gekommen, wo ich doch keinen Diebstahl zu melden habe.«

»Dafür bin ich da.«

»Sie sind sehr freundlich, aber da fällt mir ein … unlängst wurde mir die Handtasche gestohlen – Sie kennen das ja, ein junger Bursche auf einem Motorroller. Es heißt, eine Frau, die unverletzt davonkommt, solle dankbar sein, daß es ihr nicht so ergeht wie den vielen, die ihre Tasche festzuhalten versuchen und von dem flüchtenden Täter über die Fahrbahn geschleift werden. Jedenfalls habe ich in Ihrem Präsidium in der Via Borgognissanti Anzeige erstattet, und obwohl sie ausgesprochen höflich waren, sehr nett, wirklich, hatte ich nicht das Gefühl, daß ich dort hätte hingehen können mit … also um über meine …«

»Um über Ihre Ängste zu sprechen, meinen Sie? Nun, da haben Sie recht. Im Präsidium sind sie sehr überlastet. Sehr vernünftig, daß Sie zu uns gekommen sind. Diese Nachbarin, die Sie erwähnten, kenne ich die?«

[20]»Von früher, ja. Sie meinte, Sie würden sich nicht mehr an sie erinnern, aber Sie hätten ihr und ihrem Mann sehr geholfen damals, gleich nach der Geburt der Kleinen, als sie befürchten mußten, man würde sie aus ihrer Wohnung setzen. Vielleicht erinnern Sie sich doch?«

»Nein, tut mir leid. Aber wahrscheinlich habe ich gar nicht groß was unternommen, damals. Sie haben Ihren Nachbarn also erzählt, was Sie bedrückt?«

Wieder wich sie seinem Blick aus, ihre Finger bebten und nicht nur die, auch Nase, Mund, Hals.

»Ich hab’s erwähnt, ja. Für den Fall, daß sie jemanden auf der Treppe gesehen hätte, in der Nähe meiner Wohnungstür.«

»Sehr vernünftig. Und Sie sind absolut sicher, daß nichts weggekommen ist?«

»Ja.«

»Irgendwelche Spuren, die auf ein gewaltsames Eindringen hindeuten?«

»Keine.«

»Was haben Sie denn für ein Schloß?«

»Ein Stangenschloß. Sechs horizontale Riegel und einen vertikalen vom Boden bis zum Türrahmen.«

»Also keins, das sich mit einer Kreditkarte knacken läßt. Nun gut, Signora, wenn niemand eingebrochen ist und auch nichts fehlt, wieso glauben Sie dann, daß jemand in Ihrer Wohnung war?«

»Das glaube ich nicht, ich weiß es.«

»Und woher?«

»Verschiedenes war nicht an seinem Platz. Ich bin nicht übertrieben ordentlich, aber man spürt es, wenn gewisse [21]Dinge nicht mehr so sind, wie man sie zurückgelassen hat. Jeder hat so sein System, nach dem er seine Sachen einräumt … Aber ich merke schon, Sie denken doch, ich stehle Ihnen Ihre Zeit.«

»Nein, nein. Ich halte Sie für eine intelligente und vernünftige Frau, die ihre Zeit nicht vergeudet und die meine schon gar nicht. Ich glaube nicht, daß Sie hier wären – daß Sie sich Angst einjagen ließen –, wenn es nur um eine vage Vermutung ginge. Ist Ihnen etwas aufgefallen, ein Geruch, irgendeine Spur, die auf einen Fremden hindeutet, Zigarettenrauch zum Beispiel, falls Sie selbst Nichtraucherin sind?«

Sie schien für einen Moment den Atem anzuhalten. Man sah förmlich, wie eine Welle der Furcht ihren Körper überlief. Seine großen Augen waren unverwandt auf sie gerichtet, und jetzt erwiderte sie seinen Blick wie gebannt.

»Beim erstenmal.« Er konnte sie kaum verstehen.

»Hier drinnen hört uns niemand, Signora. Sie können ruhig lauter sprechen. War es Zigarettenrauch? Asche? Irgendein Geruch.«

»Ein Geruch, ja. Aber nicht nach Zigaretten. Eher wie Zigarren.«

»Und die anderen Male? Haben Sie da auch einen fremden Geruch bemerkt?«

»Ein Messer.«

»Ein Messer?« War sie am Ende doch verrückt, wie so viele, die mit ähnlichen Verdächtigungen zu ihm kamen? »Was für ein Messer? Ein Dolch? Ein Jagdmesser? Ein Brotmesser?«

[22]»Kein Brotmesser, aber es war ein Küchenmesser.«

»Verstehe. Und gehörte dieses Küchenmesser Ihnen?«

»Ja.«

»Und es war nicht an seinem angestammten Platz.«

»Sie glauben mir nicht, oder? Ich wollte Ihnen nichts von dem Messer sagen. Ich wußte, Sie würden mich für verrückt halten. Aber es lag in der Diele, gleich hinter der Tür, so daß ich es beim Reinkommen sofort sehen mußte. Ich bin nicht verrückt, Maresciallo, ich bin in Gefahr!«

»Aber, aber, Signora, niemand hat etwas von Verrücktsein gesagt.«

Sie hatte sich so sehr bemüht, ruhig zu bleiben, aber nun brannten hektische rote Flecken auf ihrem Gesicht, und die Augen waren blutunterlaufen. Der Maresciallo erhob sich.

»Bitte! Sie hören mir ja gar nicht zu!«

Offenbar war er zu rasch aufgestanden. »Ich höre Ihnen zu, Signora. Ich will nur einen meiner Carabinieri bitten, Ihnen ein Glas Wasser zu bringen, und dann beruhigen Sie sich und erzählen mir Ihre Geschichte zu Ende.«

Als er zurückkam und sich wieder hinsetzte, war sie schon etwas gefaßter, aber ihr Gesicht zeigte jenen ergebenen Ausdruck, den der Maresciallo schon hundertmal gesehen hatte, wenn ein Delinquent endlich bereit war, ein Geständnis abzulegen. Doch er war ziemlich sicher, daß diese Frau nichts zu gestehen hatte, was in sein Ressort fiel, und er sollte recht behalten.

»Ich sage Ihnen lieber gleich, daß ich in einer psychiatrischen Klinik war. Sie würden es ja doch herausbekommen. Aber das war nur wegen schwerer reaktiver Depressionen[23] nach dem Tode meiner Mutter. Ich bin sehr einsam … aber nicht paranoid oder so was. Wenn Sie sich erkundigen, werden die Ärzte Ihnen das bestätigen.«

Ein Carabiniere brachte das Glas Wasser und flüsterte: »Es ist niemand mehr draußen. Kann ich dann zum Essen gehen?«

Der Maresciallo sah auf die Uhr und erhob sich. »Meinetwegen, aber erst sorgen Sie dafür, daß diese Dame sich mit ihrem Glas Wasser ins Wartezimmer setzt und dort bleibt, bis sie sich wieder erholt hat und heimgehen kann. Signora, geben Sie meinem Carabiniere Ihre Adresse und machen Sie sich weiter keine Sorgen. Ich werde persönlich bei Ihnen vorbeikommen.«

»Warten Sie, da ist noch etwas.«

Es kam immer noch irgend etwas nach. Wenn die Leute seine Hilfe wollten, ohne ihm die ganze peinliche Wahrheit zu enthüllen, dann lockten sie ihn solange mit immer neuen kleinen Anreizen, bis sie sich seine Aufmerksamkeit gesichert hatten. Die Frau kramte fahrig in ihrer Handtasche. »Ich habe einen Drohbrief bekommen. Da. Schauen Sie sich das an.«

Der Maresciallo nahm den Umschlag entgegen. Er enthielt eine Ansichtskarte, einen dieser geschmacklosen Scherzartikel, auf denen die Genitalien von Michelangelos David in Großaufnahme prangten und die in allen Bars der Stadt vertrieben wurden. Der Maresciallo tippte hier eher auf einen Streich, wie Nachbarskinder ihn einer nervigen alten Jungfer spielten, die sie dauernd drangsalierte, weil das Radio zu laut war oder die Haustür offenstand.

[24]Die Frau sagte nichts, aber er spürte ihren forschenden Blick auf sich ruhen, als er die Karte umdrehte. Sie war adressiert an Sara Hirsch, Sdrucciolo de’ Pitti 8, 50125 Firenze und war im Juli hier in der Stadt aufgegeben worden. Das genaue Datum ließ sich auf dem verwischten Poststempel nicht entziffern.

Der Text lautete: »Da wir nun wissen, wo Sie wohnen, werden wir Ihnen einen Besuch abstatten. Und dann haben Sie nichts zu lachen.« Anschrift und Mitteilung waren in Druckbuchstaben geschrieben.

Der Maresciallo sah sie durchdringend an. »Signora, Sie wissen, von wem das stammt.«

»Wie können Sie so was sagen? Wie sollte ich …«

»Nein, Signora, Sie mißverstehen mich. Wer immer das geschrieben hat, muß Ihnen bekannt sein. Und Sie kennen auch seine Schrift, weshalb der Absender auf sehr stümperhafte Weise versucht hat, sie zu verstellen. Schauen Sie sich dieses N an und dann die übrigen – oder das W hier und da und da. Jedesmal eine andere Schreibweise.«

»Aber warum? Ich habe doch niemandem etwas zuleide getan. Warum sollte man mich bedrohen? Was wollen diese Menschen von mir?«

»Die Botschaft ist ganz eindeutig, Signora. ›Wir wissen, wo Sie wohnen.‹ Der Absender will Ihnen Angst machen und Sie aus Ihrer Wohnung vergraulen. Ich nehme an, Sie sind nicht die Eigentümerin?«

»Nein … nein.«

»Tja, Signora, wer immer hinter dieser anonymen Botschaft steckt, er will Sie dort raushaben. Und da es auf legalem Wege sehr lange, manchmal bis zu zwanzig Jahre, [25]dauern kann, einen Räumungsbefehl zu erwirken, gibt es leider hin und wieder Anwälte, die skrupellos genug sind, sich solch krimineller Druckmittel zu bedienen, besonders gegenüber einer alleinstehenden Frau. Eine üble Sache, Signora, und sehr unangenehm für Sie, aber wenigstens wissen Sie jetzt, was dahintersteckt, und Sie haben allen Grund, auf diese Leute böse zu sein. Doch zu fürchten brauchen Sie sich nicht. Ich habe ein paar dieser niederträchtigen Advokaten kennengelernt, aber wirklich zu Schaden gekommen ist durch ihre Taktiken noch niemand.«

Sie stand auf. »Ich muß gehen. Ich muß nachdenken, was zu tun ist …« Sie streckte die Hand nach der Postkarte aus.

»Einen Augenblick …« Und er fotokopierte die Karte, bevor er sie ihr zurückgab. »Ich denke, wenn Sie daheim nachsehen, werden Sie feststellen, daß Sie irgendein Schriftstück mit der Handschrift dieses Menschen bei sich haben, irgend etwas im Zusammenhang mit Ihrem Mietvertrag. Und wenn man Sie weiter belästigen sollte, können wir einen Graphologen hinzuziehen.«

Er ging nicht näher auf die Art dieser möglichen Belästigung ein. Schließlich hatte sie den ominösen Eindringling, der sich angeblich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft hatte, nicht mehr erwähnt, und es war mehr als wahrscheinlich, daß sie sich das Ganze in ihrer Angst vor der anonymen Drohung bloß eingebildet hatte. Oder vielleicht hatte sie die Geschichte auch bloß erfunden, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Nun, er hatte ihr erklärt, was es mit der Botschaft auf sich hatte, doch das [26]schien sie nicht zu erleichtern. Schon merkwürdig, was die Leute bereit waren zuzugeben und was nicht. Vielleicht hatte sie das Gefühl, so ein Räumungsbefehl sei eine Schande, etwas, das nur armen Leuten widerführe, die ihre Miete nicht bezahlen konnten. Aber in Florenz war niemand davor gefeit. Doch das sagte er nicht. Vermutlich wäre es ihr nur peinlich, wenn er sie jetzt zu trösten versuchte. Als er sie zur Tür brachte, hielt sie noch einmal inne und sah ihm mit hochgerecktem Kinn fest in die Augen.

»Denken Sie ja nicht, daß ich mich einschüchtern lasse.«

»So ist’s recht, Signora! Warum sprechen Sie nicht mal mit Ihrem Anwalt und tragen ihm vor, was ich Ihnen gesagt habe?«

»Das mache ich. Gleich, wenn ich heimkomme, werde ich ein paar Telefonate führen. Ich werde meine Rechte verteidigen. Ich habe noch mehr Trümpfe in petto als diese Leute wissen. Nein, ich bin nicht schwach, auch wenn ich mich so fühle.«

Es war natürlich denkbar, daß ihre Geschichte von A bis Z stimmte und daß sie trotzdem verrückt war. Was sie erzählt hatte, konnte einem geistig gestörten Menschen genauso passieren wie jedem anderen. Und diese letzte Rede klang wie tagtäglich eingeübt.

Die Frau war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, fortzukommen, und dem Bedürfnis, ihn zu überzeugen. Und als könnte sie seine Gedanken lesen, griff sie jetzt doch noch einmal auf ihre ursprüngliche Geschichte zurück.

»Was immer Sie auch denken mögen, ich habe Ihnen die [27]Wahrheit gesagt. Dieses Messer lag direkt hinter der Wohnungstür.«

»Verstehe. Und wo ist Ihre Küche?«

»Gleich neben dem Flur, rechts vom Eingang … Sie wollen doch nicht unterstellen, ich hätte das Messer selber fallenlassen?«

»Ich unterstelle gar nichts. Nein, nein. Aber haben Sie vielleicht eine Katze? Oder einen Hund?«

»Nein. Ich habe mir immer eine Katze gewünscht, aber bis ich mich nicht entsprechend darauf eingerichtet habe … Was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts, außer …«

»Hören Sie, da ist noch etwas …«

»Wenn es noch was gibt, dann können Sie einen Vermerk bei meinem Carabiniere hinterlassen. Und ich komme diese Woche mal an einem Nachmittag vorbei, wenn Sie Zeit hatten, mit Ihrem Anwalt zu sprechen.« Guarnaccia nahm den Carabiniere beiseite und sagte leise: »Stellen Sie fest, ob sie die Schlösser hat auswechseln lassen, nachdem ihre Handtasche geraubt wurde, ja? Sie wissen ja, wie das ist mit Leuten, die allein leben. Vor lauter Angst steigern sie sich in hysterische Zustände hinein, und dann stellt sich raus, daß sie nicht einmal die simpelsten Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben.«

Sie beobachtete ihn scharf und versuchte mitzuhören. Als der Carabiniere auf sie zutrat, sah sie den Maresciallo aus erschrockenen Augen an und fragte: »Und Sie kommen wirklich vorbei, wie Sie es versprochen haben?«

»Ganz bestimmt.«

[28]Der Maresciallo kam zu spät zum Mittagessen.

»Du bist spät dran«, sagte Teresa. »Ich werde dir frische Pasta machen. Die Jungs haben deine Portion mitgegessen.«

»Wo stecken sie denn?«

»Sitzen in ihrem Zimmer über dem neuen Computerspiel.«

Mit den Küchendüften stellte sich auch die Hochstimmung des frisch heimgekehrten Urlaubers wieder ein. Teresa beugte sich über ein Gewürztöpfchen und knipste große Basilikumblätter für seine Pasta ab. Ein Glas von ihrem schier unerschöpflichen Vorrat an eingeweckten Tomaten stand geöffnet auf der marmornen Arbeitsplatte, und in einer Kiste in der Ecke türmten sich erst gestern morgen auf Sizilien gepflückte Orangen und Zitronen mit rauher Schale und glänzenden Blättern. Ihr Aroma erfüllte die ganze Wohnung mit dem Duft seiner Kindheit. Wovon sprach Teresa gerade?

»Du hörst mir ja gar nicht zu.«

»Wie? Doch, natürlich. Und nein, ich werde nicht versuchen, ihre gräßlichen Computerspiele zu lernen.«

Einmal hatte er es probiert, aber da war Totò ihm bald entnervt in die Parade gefahren. »Ach, Papa!«

Giovanni hatte mehr Geduld bewiesen. Er war selber ein bißchen schwer von Begriff und verlor immer, obwohl er für sein Leben gern spielte.

»Für diesen Unfug ist mir meine Zeit zu schade, und sie sollten sich auch mit vernünftigeren Dingen beschäftigen.«

»Es war deine Schwester, die ihnen das Computerspiel geschenkt hat.«

[29]»Sie hätten Nunziata nicht dazu überreden können, wenn du mich letzte Weihnachten nicht beschwatzt hättest, diesen dämlichen Computer anzuschaffen, ›weil sie den für die Schule brauchen‹.«

Alle weiteren Klagen überließ er dem schrillen elektronischen Fiepen und den kreischenden Stimmen nebenan. Er wußte wohl, daß Teresa absichtlich so laut mit den Töpfen klapperte, um den Krach aus dem Kinderzimmer zu übertönen. Die Spaghetti schwappten ins Sieb. Während er einen Stich Butter in die sämige Sauce rührte, begann Teresa mit dem Abwasch.

»Willst du dich nicht einen Moment hersetzen?«

»Ich habe mit den Jungs gegessen. Du hast nicht angerufen, um Bescheid zu sagen, daß du später kommst.«

»Keine Zeit.« Er haßte es, wenn sie Geschirr spülte, statt sich mit ihm zu unterhalten.

»Siehst du, mir geht’s genauso. Ich hab noch zwei Maschinen Wäsche vor mir, von dem Berg Bügelzeug ganz zu schweigen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, die Vorbereitung auf die Ferien oder die Arbeit hinterher. Außerdem kann man sowieso nicht mit dir reden, wenn du so schlecht aufgelegt bist.«

»Was denn, ich?«

»Ja. Wenn du mich fragst, willst du nur deshalb nicht mit ihnen spielen, weil du zu langsam bist und Totò die Geduld mit dir verliert, was man ihm weiß Gott nicht verdenken kann.«

Und hatte er das nicht eben selbst gesagt? Er war gekränkt und bereute es kein bißchen, daß er seinen Espresso im Stehen hinunterkippen und gleich wieder zu der [30]wartenden Klientel zurückkehren mußte, die er vor der Mittagspause heimgeschickt hatte.

Er nickte den Wartenden zu, als er durch den Vorraum in sein Büro ging, und während er die Tür hinter sich schloß, brummelte er, Teresas Klage über die Wasch- und Bügelberge variierend: »Ich weiß nicht, was schlimmer ist am Urlaub, das Wegfahren oder das Wiederkommen.«

Am Ende hatte Teresa ihre zusätzliche Arbeitslast binnen drei Tagen abgetragen. Der Maresciallo begann am vierten Tag gerade einmal Land zu sehen.

Ein Mädchen aus Brescia, in Tränen aufgelöst: »Es sind die Schlüssel, um die ich mir Sorgen mache. Ich komme mir so töricht vor.«

»Nein, nein, Signorina, Sie dürfen sich das nicht so zu Herzen nehmen. Wenn Sie doch sagen, man könne den Sohn Ihrer Freunde erreichen und neue Schlüssel anfertigen lassen …«

»Aber dann müssen alle Schlösser ausgewechselt werden. Danach werden sie mich nie mehr in ihrem Haus wohnen lassen, ganz bestimmt nicht.«

»Sie konnten nichts dafür, Signorina. Diese Handtaschenräuber sind teuflisch flink. Und nun versuchen Sie sich genau zu erinnern: Sie sagten, Sie waren auf der Piazza del Carmine. So, und war es ein Moped oder ein Roller?«

»Ein Roller, dunkelblau.«

»Trug der Fahrer einen Helm?«

»Ja, auch einen dunkelblauen, mit weißen Zickzacklinien drauf, wie Blitze.«

Ein ›alter Kunde‹ also. Dieser verdammte Bengel! Als [31]ob seine Mutter mit ihrem aussichtslosen Kampf gegen den Krebs nicht schon genug gestraft wäre …

Häusliche Gewalt. Eine Stammkundin, eine Walküre mit Schoßhündchen: »Wau! Wau wau wau!«

»Schätzchen! Armes Schätzchen. Nun sei still, ist ja gut.«

»Wau wau!«

»Haben Sie Ihre Anwältin verständigt?«

»Ja, natürlich. Sie meint, der Fall käme frühestens im September vor Gericht. Und in der Zwischenzeit solle ich ihn nicht ins Haus lassen. Sie haben ja keine Ahnung, wie gewalttätig er ist.«

»Doch, Signora, das weiß ich. Sie haben mich schließlich schon mehrfach alarmiert …«

»Das war, bevor ich die Trennung erwirkte. Sie machen sich keinen Begriff …«

»Wau wau wau wau wau! Grrr …«

»Also, ich glaube, sie mag Ihre Uniform nicht.«

»Das tut mir leid.«

»Pscht … guter Mann, ja, das ist ein lieber Mann. Schau, er will dich streicheln.«

»Nicht auf den Schreibtisch, Signora, wenn ich bitten darf. Behalten Sie den Hund auf dem Schoß. Und wenn Ihre Anwältin Ihnen gesagt hat, Sie sollen ihn nicht hereinlassen, warum haben Sie es dann doch getan?«

»Weil mein Schätzchen nicht fressen will, wenn er nicht da ist.«

»Wau!«

[32]Ein Mann um die siebzig, wutentbrannt: »Sie und ich, wir verstehen uns! Ich habe übrigens bei der Kavallerie gedient, weiß nicht, ob ich das erwähnt habe.«

»Doch, ich glaube schon.«

»So eine defekte Laterne ist ja gleichsam eine Einladung an alle Straßenräuber. Ich habe an den Bürgermeister geschrieben, aber der ließ sich nicht mal zu einer Antwort herab. Darum übergebe ich den Fall jetzt Ihnen, Sie sind ein verständiger Mann.«

»Besten Dank.«

Ein Fahrraddiebstahl: »Wieso klaut einer so ein wertloses Vehikel? Das ist es, was ich nicht begreife.«

»Sind Sie sicher, daß in der Nacht nicht die Straßenreinigung unterwegs war? Sie sollten bei der Kommunalpolizei nachfragen, ob die Ihr Rad nicht mitgenommen haben.«

Eine Frau, deren Nachbar aus dem Obergeschoß allabendlich zum Fenster hinausrauchte: »Und meine Terrasse als Aschenbecher mißbraucht. Ich habe den Boden schön mit Kokosmatten ausgelegt – was, wenn die nun Feuer fangen?«

»Ah, die Unwissenheit, Signora, was die nicht schon alles angerichtet hat. Sagen Sie ihm nur, ich wisse Bescheid, das dürfte ihn zur Räson bringen. Und wenn nicht, dann komme ich persönlich vorbei.«

Der Katzenjäger: »Sie müssen doch etwas tun können.«

»Ja, aber das ist bereits geschehen.«

[33]»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Aber es ist so.«

Sie wohnte in einem der kleinen Reihenhäuser unten an der Ponte alla Vittoria, und einer ihrer Nachbarn, wer genau, wußte sie nicht, ballerte regelmäßig mit einer Schrotflinte aus seinem Schlafzimmerfenster und zielte aufs Geratewohl nach den Katzen. »Und gleich hinten an unsre Gärtchen grenzt ein Schulhof! Was, wenn er ein Kind trifft? Sie brauchen doch nur festzustellen, wer in der Straße eine Flinte besitzt.«

Genau das hatten sie getan, und es stellte sich heraus, daß die junge Dame die einzige in der Siedlung war, die keine hatte.

»Alle Ihre Nachbarn haben gültige Waffenscheine, Signorina. Aber wenn Sie sich ein bißchen weiter hinauslehnen, sobald die Ballerei losgeht, dann könnten Sie vielleicht feststellen, aus welchem Haus die Schüsse kommen. Andernfalls …«

»Gestern hat er gleich zwei erwischt. Die eine ist tot, die andere hat eine Schrotladung im Rücken. Ich habe sie gefunden und in die Tierklinik gebracht, aber sie ist gelähmt, und ich weiß, ich werde sie einschläfern lassen müssen.«

Noch eine Katze. Diesmal eine Vermißtenanzeige: »Hat sich nicht eingewöhnt im neuen Haus, die Mieze. Das hat man doch oft bei Katzen, nicht wahr? Sie muß über die Mauer in die Boboli-Gärten gelangt sein, und da dachte ich, wo Sie doch gleich nebenan sitzen … also ich habe Ihnen ein Foto mitgebracht. Den schwarzen Fleck an ihrem [34]Knie, den können Sie gar nicht übersehen. Ihre Männer gehen doch Streife im Park?«

»Nein, nein, bedaure … Aber wenn Sie das Foto einem der Gärtner geben – die füttern zweimal am Tag die Katzen im Park –, und ich bin sicher, sie werden die Ihre finden.«

Eine gestohlene Kamera, angezeigt in Zeichensprache: »Sprechen Sie Deutsch?«

»Lorenzini!«

Trotzdem, als er an diesem Nachmittag um halb sechs die Fenster öffnete und die Läden aufstieß, durfte er sich gratulieren, denn es sah so aus, als könne er den Rückstand noch an diesem Abend aufarbeiten. Aber hatte er nicht noch etwas vergessen, irgendeinen Besuch, den er für diese Woche zugesagt hatte? Später, als er den Dienstplan für den nächsten Tag zusammenstellte, setzte ihm das vermeintliche Versäumnis immer noch zu, und als er den Plan fertig hatte, fiel es ihm wieder ein: die Frau mit der Postkarte. Nichts Dringendes, aber er hatte ihr versprochen, diese Woche vorbeizukommen. Wenn er nicht erschien, würde sie sich erst recht ängstigen, weil er sie mit falschen Versprechungen in Sicherheit gewiegt hatte. Er stand auf und nahm seine Jacke vom Haken hinter der Tür. Da klingelte das Telefon. Capitano Maestrangelo vom Präsidium.

»Einbruch in der Villa L’Uliveto, Sir Christopher Wrotheslys Anwesen oben auf dem Pian dei Giullari, hinter der Piazzale Michelangelo … fällt also noch in Ihren Zuständigkeitsbereich. Offenbar nur eine Bagatelle, aber Sie sollten trotzdem mal nach dem Rechten sehen. Ich hole Sie [35]in zehn Minuten ab. Sie haben doch keine dringenderen Termine?«

»Nein, nein …«

Der Maresciallo knöpfte seine Jacke zu und warf einen Blick ins Bereitschaftszimmer. »Lorenzini?«

»Maresciallo?«

»Ich muß weg. Wenn was ist, können Sie mich über Capitano Maestrangelos Autotelefon erreichen. Kleiner Einbruch. Nichts Aufregendes.«

Lorenzini machte ein skeptisches Gesicht. Wann hätte der Capitano je seinen Schreibtisch wegen eines Einbruchs verlassen, egal ob klein oder groß?

»Ah, aber hier geht es um einen ausländischen Bürger von Rang. Da macht man halt ein bißchen Druck, um Eindruck zu schinden.«

»Hm.«

»Sie könnten den Dienstplan fertigmachen …« Trotzdem, dachte der Maresciallo, als er hinter sich abschloß, widerstrebend die Treppe hinabstieg und sich gegen das schwüle Treibhaus dort draußen wappnete: Mit Druck allein war dieser Einsatz nicht zu erklären. Vielleicht eine persönliche Gefälligkeit, aber der Capitano …

Dann stand er auf der Piazza, und der immer noch unbarmherzig herniederbrennende Sonnenball im Verein mit der aufgestauten Hitze, die aus den mächtigen Steinquadern des Palazzo Pitti entwich, setzten ihm derart zu, daß er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und nur noch auf Selbstschutz bedacht war. Also kramte er Taschentuch und Sonnenbrille hervor und wechselte von dem glutheißen Platz in den Schatten der Arkaden.

[36]3

Hitze und Stille. So heiß, daß selbst die Vögel verstummten. Und das rhythmische Fideln der Grillen betonte nur das bleierne Schweigen ringsum. Capitano Maestrangelo und der Maresciallo warteten vor dem Seiteneingang, zu dem sie der Pförtner verwiesen hatte, der ihren Wagen hereinließ und über die Zypressenallee zur Villa dirigierte. Wie man es von den Landhäusern der Medici her kennt, führte auch hier eine doppelläufige Freitreppe hinauf zum Hauptportal auf der Beletage. Das Anwesen war einst von einer kaum minder berühmten Bankiersfamilie erbaut worden. Der Capitano blickte zur Balustrade empor, wo Statuen und antike Urnen in den dunstig blassen Himmel ragten. Der Maresciallo spähte hinunter auf die schwefeligen Schmutzschwaden, die die Stadt einhüllten. Wer es von den Hügeln herab so schön und wehrlos dort liegen sah, unfähig, all den Smog auszuhusten, an dem es erstickte und verfiel, der mußte einfach Mitleid haben mit Florenz.

»Wer so was nicht mit eigenen Augen gesehen hat, macht sich keine Vorstellung …« murmelte der Capitano bewundernd.

»Wie recht Sie haben.« Der Maresciallo seufzte und sah zu Boden.

[37]»Es tut mir unendlich leid, daß Sie warten mußten. Bitte verzeihen Sie mir. Hier entlang, bitte.« Der Mann, der ihnen die Tür öffnete, war Jeremy Porteous, Sir Christophers Sekretär. Als die beiden sich vorstellten, schüttelte er erst dem höherrangigen Offizier zuvorkommend die Hand, dann kurz und ohne ihn anzusehen dem Maresciallo. Sie folgten ihm in eine kühle, kreisförmige Halle mit einem untätigen Springbrunnen in der Mitte. Der Maresciallo nahm seine dunkle Brille ab, doch bis seine Augen sich an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, erkannte er nur flüchtig eine geschwungene Steintreppe und Teile eines Mosaikfußbodens. Über einen Korridor, wo eine schwache Glühbirne in einem kunstvoll gearbeiteten Kronleuchter nur auf sich selbst aufmerksam machte, gelangten sie in einen weitläufigen Raum, wo das Licht einer stärkeren Birne auf schlicht bemalte Schränke und einen rustikalen quadratischen Tisch fiel. Offenbar war dies der Küchentrakt. Hier machte Porteous halt, wandte sich nach ihnen um und sagte: »Sir Christopher wird Sie im Garten empfangen. Ich denke, ich sollte Sie darauf hinweisen, daß es ihm nicht gutgeht und jede Aufregung gefährlich für ihn sein könnte.«

»Weiß er von dem Einbruch?« fragte der Capitano.

»Das schon, aber wir sind alle der Meinung, daß wir ihn nicht auf den Gedanken bringen sollten, jemand von seinem festen Personal könnte darin verwickelt sein. Das würde ihn wesentlich mehr belasten als der Verlust des gestohlenen Gutes … besonders im Falle eines ganz bestimmten jungen Mannes … jede Enttäuschung von dieser Seite … Kurzum, was immer Ihre Ermittlungen ergeben, [38]wir wären dankbar, wenn Sie Ihre Schlußfolgerungen erst uns anvertrauen würden. Ich bin sicher, Sie verstehen mich …«

Ach, wirklich? Und wen meinte er mit ›wir‹? Der Maresciallo hatte bereits eine Abneigung gegen diesen Mann gefaßt. Ein Händedruck kann viel verraten. Nicht, daß der seine schlaff oder feucht gewesen wäre. Er war irgendwie zu … elegant und ein bißchen zu warm und klebrig für den Geschmack des Maresciallos. Und als er ihn jetzt betrachtete, während er dem Capitano detaillierte Anweisungen gab, fand er diesen Mann insgesamt zu geschniegelt, und obwohl er groß und schlank war und seine Nase spitz zulief, wirkte alles andere an ihm ausgesprochen weich. Weiche Haut, weiches, graumeliertes Haar, weicher, legerer Anzug, aus Seide vermutlich, weiche, kultivierte Stimme. Und dieses Parfüm! Der Maresciallo trat einen kleinen Schritt zurück. Seine Anwesenheit war ohnehin nicht von Bedeutung. Porteous wandte sich ausschließlich an den Capitano.