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Daniel, ein schüchterner Mäuse Gestaltwandler, wird fälschlicherweise beschuldigt, seinen besten Freund getötet zu haben. Als er vor das Rudlgericht geführt wird, offenbart sich ausgerechnet Ben, der Alpha des Wolfsrudel als sein wahrer Gefährte. Doch kann Liebe wachsen, wenn Blut zwischen ihnen steht?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
GEFÄHRTEN IM SCHATTEN
Kapitel 1: Blut auf dem Moos
Kapitel 2: Gefangen im Licht der Lüge
Kapitel 3 – Das Rudelgericht
Kapitel 4: Der Blick des Alphas
Kapitel 5 – Wölfe riechen Angst
Kapitel 6: Die Spur des Fuchses
Rückblende: Bevor das Blut floss
Kapitel 7: Der Splitterhain
Kapitel 8: Das Schweigen der Krähen
Kapitel 9: Rabenwacht
Kapitel 10: Das Aschezeichen
Kapitel 11: Fluchlinie
Kapitel 12: Bindung & Blut
Kapitel 13: Die Jagd beginnt
Kapitel 14: Der Schwur im Blut
Kapitel 15: Feuerzeichen
Kapitel 16: Das Lied der Krähen
Kapitel 17: Der Riss im Rudel
Kapitel 18: Zwischen Sturm und Schwur
Kapitel 19: Die Warnung
Kapitel 20: Der Pfad aus Asche
Kapitel 21: Heimkehr
Epilog
Daniel, ein schüchterner Mäuse Gestaltwandler, wird fälschlicherweise beschuldigt, seinen besten Freund getötet zu haben. Als er vor das Rudlgericht geführt wird, offenbart sich ausgerechnet Ben, der Alpha des Wolfsrudel als sein wahrer Gefährte. Doch kann Liebe wachsen, wenn Blut zwischen ihnen steht?
Nebel hing schwer über dem Waldboden, dämpfte jeden Laut, als wollte der Wald selbst schweigen über das, was geschehen war. Daniel spürte das feuchte Moos unter seinen nackten Füßen und roch den metallischen Geruch, noch bevor er den leblosen Körper sah.
Seine Augen weiteten sich. „Nein … Tilo?“
Der Fuchswandler lag reglos zwischen Farnen und Brombeerranken, sein rotbraunes Fell verfilzt, seine Augen weit offen – starr. Eine Spur aus dunklem Blut zog sich durch das Moos, dorthin, wo sein Bauch aufgeschlitzt worden war.
Daniels Atem stockte. Alles in ihm schrie, er solle weglaufen, doch seine Beine gehorchten nicht. Er konnte den Blick nicht von Tilos leeren Augen wenden.
Ein knackender Ast. Schritte.
Instinktiv drehte er sich um. Zu spät. Drei Wölfe standen da, ihre goldenen Augen auf ihn gerichtet. Einer verwandelte sich mitten im Schritt – ein hochgewachsener Mann mit scharfem Blick und tätowierten Armen trat aus dem Nebel. Der zweite knurrte. Der dritte fletschte die Zähne.
„Was bei den Ahnen …?“, zischte der erste. Sein Blick fiel auf Tilo. Dann auf Daniel – auf dessen zitternde Hände, die voller Blut waren.
„Er hat ihn getötet!“, rief der Wolf mit den Narben über der Brust. „Ich—ich war es nicht! Ich bin gerade erst—“ „Lügner!“, knurrte der dritte und packte Daniel am Arm.
Etwas in Daniel zerbrach in diesem Moment. Nicht nur Tilo war tot. Mit ihm war auch das letzte Stück Sicherheit in seinem Leben gestorben.
„Bringt ihn zu Ben. Der Alpha soll ihn richten.“
Daniel wollte schreien, wollte weglaufen – aber er war nicht schnell genug. Nicht diesmal. Nicht ohne Tilo.
Der Wald war still. Nur der Nebel hörte seine Tränen.
Der Weg durch den Wald war eine Qual. Nicht, weil sie ihn verletzten – obwohl die groben Fäuste, die ihn hielten, fest zudrückten –, sondern weil jeder Schritt ihn tiefer in das Territorium der Wölfe führte. Jeder Baum, jeder Geruch, jeder Laut flößte ihm Angst ein.
Daniel war ein Mäusewandler. Klein, flink, gut darin, zu entkommen. Aber hier konnte er nicht fliehen. Nicht jetzt. Nicht mit Tilos Blut an den Fingern – und nicht, wenn das Rudel Recht sprach.
Als sich die Bäume lichteten, öffnete sich vor ihm ein Tal wie eine Narbe im Wald. Steine kreisten wie Zähne um eine Senke – das Rudelgericht. Ein Ort, an dem kein Gesetz der Menschen zählte. Hier galt nur Instinkt, Blut … und Rang.
Daniel wurde mitten hinein gestoßen.
Ringsum saßen Wölfe in menschlicher Gestalt. Große Körper, dunkle Blicke, stilles Drohen. Manche zogen die Nase kraus, andere knurrten leise. Er war eine Maus in einem Käfig voller Raubtiere – und sie rochen seine Angst.
„Das ist er“, sagte der tätowierte Wolf von vorhin. „Am Tatort gefunden. Voller Blut. Kein Zweifel.“
Ein Murmeln ging durch die Menge.
Daniel wollte sprechen, sich verteidigen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Was hätte er sagen sollen? Ich habe ihn so gefunden? Das klang wie eine Ausrede, die man in einem Krimi hörte. Und diese hier hatten Krallen statt Paragraphen.
Ein Pfiff durchschnitt die Luft. Alle verstummten. Der Rudelpfad öffnete sich – und dann kam er.
Ben.
Der Alpha.
Er war groß, muskulös, sein schwarzes Haar wirkte zerzaust vom Wind, doch seine Haltung war aufrecht und stolz. Seine Augen – dunkelgrau mit einem fast silbrigen Glanz – blieben an Daniel hängen, als wäre er das Einzige, was ihn in diesem Moment interessierte.
Etwas schien die Luft zwischen ihnen zu verändern. Wie ein Prickeln auf der Haut, wie elektrischer Strom, der durch Daniels Adern zuckte. Er sog scharf die Luft ein – und Ben tat dasselbe.
Der Alpha blieb stehen. Stille breitete sich aus. Sein Blick traf Daniel wie ein Blitzschlag – und Daniel wusste: Er hat es gespürt.
Das Band.
Dieses uralte, instinktive Ziehen, das nur Gefährten zueinander empfinden konnten. Es war nicht logisch. Nicht erklärbar. Es war einfach da.
Doch Bens Gesicht veränderte sich nicht. Keine Regung, kein Zucken der Lippen. Er senkte nicht einmal den Blick.
„Was weiß der Angeklagte zu sagen?“, fragte er mit ruhiger, tiefer Stimme.
Daniel zwang sich zu sprechen. Seine Stimme klang rau und dünn. „Ich … ich habe Tilo gefunden. Er war schon … tot.“
Ein älterer Wolf, dessen Bart grau wie Stein war, schnaubte. „Und du warst zufällig dort. Mit Blut an den Händen.“
„Er war mein Freund!“, platzte es aus Daniel. „Ich hätte ihm nie etwas—!“
Ein Knurren ließ ihn verstummen. Ben hob eine Hand, und wieder wurde es still.
Sein Blick glitt über die Versammelten. „Das Rudel fordert Wahrheit. Kein Gekläff. Kein Instinkt. Wir hören alle Seiten.“
Dann wandte er sich erneut Daniel zu – und diesmal war in seinem Blick etwas anderes. Etwas, das nur Daniel sah. Wärme? Neugier? Oder … etwas Tieferes?
„Du wirst in Haft genommen bis zur Vollmondverhandlung. Dann entscheidet das Rudelgericht über Schuld oder Unschuld.“
Daniel nickte schwach. Er hatte keine Wahl. Und doch hallte ein Gedanke in ihm nach, lauter als alles andere:
Er hat es gespürt. Ben ist mein Gefährte.
Aber warum hat er nichts gesagt?
Die Zelle roch nach feuchter Erde und altem Metall. Daniel saß auf einer Steinplatte, die als Bank diente, die Knie an die Brust gezogen, während über ihm das Heulen des Windes durch die Gitteröffnung fuhr. Er hatte sich nie zuvor so klein gefühlt – nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.
Tilo war tot. Und niemand glaubte ihm.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als das Gitter über ihm geöffnet wurde. Zwei Wölfe – wieder in Menschengestalt – traten ein. Der eine bedeutete ihm mit einem knappen Nicken, aufzustehen. Der andere legte ihm Ketten an – aus silberverstärktem Eisen.
„Was … was passiert jetzt?“, fragte Daniel leise.
„Du wirst dem Rudel vorgeführt. Vor dem Heiligen Stein. Der Alpha wird über dich richten.“
Sie führten ihn hinaus. Der Tag war düster, die Wolken hingen tief. Regen drohte, als ob auch der Himmel wusste, was heute geschehen sollte.
Der Platz des Rudelgerichts war voller Gestalten – manche halbnackt, mit Tiernarben auf der Haut, andere in Leder gehüllt, ihre Augen blitzend. Kein Lächeln. Kein Mitgefühl.
Am Rand des steinernen Halbkreises erhob sich ein Monolith – der sogenannte Heilige Stein. Darunter stand Ben, schwarz gekleidet, das Haar vom Wind zerzaust, sein Blick kühl wie Rauch.
Als Daniel in seine Nähe kam, war da wieder dieses Ziehen. Das leise Dröhnen in seiner Brust. Die Ketten schmerzten, aber es war nicht der Grund, warum seine Atmung stockte.
Ben spürte es auch. Das sah Daniel in der flüchtigen Bewegung seines rechten Zeigefingers – wie ein Reflex, ein Zucken, das sofort wieder unter Kontrolle war. Aber er hatte es gesehen.
Und trotzdem sagte Ben nichts. Kein Wort über das Band.
Ein älterer Wolf mit geschwungenem Gehstock trat vor. Seine Stimme klang rau, aber voller Autorität. „Daniel vom äußeren Rand, Mäusewandler, wird der Bluttat an Tilo Rotfell, Fuchswandler, angeklagt. Das Rudel fordert Gerechtigkeit.“
Ein zustimmendes Raunen. Knurren. Manche riefen: „Lasst ihn laufen – wir jagen ihn selbst!“
Ben hob die Hand. Sofort kehrte Ruhe ein.
„Das Rudel wird hören“, sagte er, seine Stimme klar, beinahe sanft. „Der Angeklagte darf sprechen.“
Daniel schluckte. Dann trat er, zitternd, ein paar Schritte vor.
„Ich … ich habe ihn nicht getötet. Ich habe Tilo gefunden. Da war schon Blut … ich habe ihn berührt, ich … wollte nur sehen, ob er noch—“ Seine Stimme brach.
Ein junger Wolf in der Menge fauchte: „Er lügt! Immer lügen die Kleinen!“
„Beweise?“, fragte Ben ruhig.
Der ältere Wolf antwortete: „Die Spuren am Tatort zeigen nur seine Fährte. Niemand sonst.“
„Oder jemand war klug genug, keine zu hinterlassen“, murmelte Ben, kaum hörbar. Doch Daniel hörte es – und starrte ihn an. War das … Zweifel?
Dann wandte Ben sich wieder dem Kreis zu.
„Die Vollmondverhandlung wird in drei Nächten stattfinden. Bis dahin: Einzelhaft. Keine Kontakte.“
Daniel spürte, wie seine Knie weich wurden. Drei Nächte. Allein. In dieser Dunkelheit. Mit der Angst, dass niemand seine Unschuld glaubt – außer vielleicht einem Alpha, der sein Gefährte war … aber nicht den Mut hatte, dazu zu stehen.
Als die Wächter ihn zurückführen wollten, blieb er stehen.
Er hob den Kopf, sah Ben direkt an – und flüsterte: „Du weißt es. Ich weiß, dass du es spürst.“
Ben hielt seinem Blick stand. Nur eine Sekunde – dann wandte er sich ab.
Das war Antwort genug.
Die Nacht war still – unnatürlich still. Kein Käuzchen, kein Wind in den Blättern. Nur das leise Tropfen von Kondenswasser, das irgendwo an der feuchten Steinwand hinabperlte.
Daniel saß wieder auf der Bank in seiner Zelle. Der Stein unter ihm war kalt, doch seine Gedanken brannten.
Er hätte nichts sagen sollen.
Aber es war aus ihm herausgebrochen. Du weißt es. Ich weiß, dass du es spürst. – Wie töricht klang das jetzt. Als würde ein verängstigter Junge einen Alpha erpressen wollen.
Er war eine Maus. Und Ben? Ein Wolf. Der Alpha des Rudels.
Plötzlich hörte er Schritte. Nicht hastig, nicht schwer – kontrolliert. Jemand stieg die Treppen zur Zelle hinab.
Ein Schatten fiel über die Gitteröffnung. Dann wurde der Schlüssel im Schloss gedreht.
Daniel sprang auf, der Körper gespannt wie ein Draht.
Die Tür öffnete sich – und da stand er. Ben.
In dunkler Kleidung, das Hemd halb geöffnet, das Licht des Fackelhalters warf goldene Reflexe auf seine Wangenknochen.
„Ich wollte dich sehen“, sagte Ben leise.
Daniel wich unwillkürlich zurück. „Wieso? Damit du mich besser einschätzen kannst? Ob ich wirklich ein Mörder bin?“
Ben trat näher. „Nein. Weil ich … wissen wollte, wer du bist.“
Für einen Moment herrschte Stille. Nur ihre Atemzüge erfüllten den Raum.
Daniel blickte ihn an – direkt. Keine Flucht mehr. „Was willst du hören? Dass ich schwach bin? Dass ich Angst habe? Das weißt du doch längst.“
„Ich weiß, dass du lügst“, sagte Ben ruhig.
Daniels Augen weiteten sich. „Was?“
„Du hast keine Angst vor mir. Nicht so, wie du solltest.“ Ben trat noch näher. Ihre Brustkörbe trennten vielleicht zwei Handbreit. „Du bist nervös. Ja. Aber dein Herz schlägt nicht wie das eines Opfers.“
Daniel wollte etwas sagen, doch in diesem Moment streifte Bens Hand aus Versehen seine – und da war es wieder.
Dieses Prickeln. Ein leises Beben in der Luft. Wie Sommerblitze in der Ferne.
Daniel erstarrte. Auch Ben hielt inne.
Ihre Blicke trafen sich – diesmal länger. Offen. Nackt.
„Du hast es gespürt“, flüsterte Ben. Keine Frage. Eine Feststellung.
Daniel atmete flach. „Ich … weiß nicht, was ich gespürt habe. Aber ich weiß, dass ich dir nicht trauen kann.“
Bens Kiefer spannte sich. „Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst. Auch wenn das Rudel es verlangt.“
„Warum nicht?“, fragte Daniel. „Weil dein Instinkt es dir sagt? Oder weil ich dein verdammter Gefährte bin?“
Ben schwieg. Dann sagte er leise: „Beides.“
Daniel schluckte.
„Dann sag es ihnen. Sag ihnen, was du weißt.“
Ben sah ihn an, und zum ersten Mal war da keine Kontrolle, kein kalter Blick. Nur Müdigkeit. Schmerz. Und Sehnsucht.
„Wenn ich das tue … bin nicht nur ich verloren. Sondern du auch.“
Er drehte sich um, ging zur Tür – und blieb noch einmal stehen.
„Du bekommst kein faires Urteil. Nicht in drei Tagen. Aber vielleicht … bekomme ich in der Zwischenzeit Antworten.“
Dann war er fort.
Und Daniel blieb zurück – mit zitternden Fingern und einem Herzen, das zum ersten Mal seit langem nicht nur aus Angst pochte.
Der Morgen dämmerte in bleichem Grau. Nebel lag über dem Rudelgrund wie ein Tuch aus vergessenen Träumen, kalt und schwer. Die Zelle wurde geöffnet, bevor Daniel sich aufrichten konnte – diesmal wortlos, grob.
Sie führten ihn hinaus, den alten Pfad entlang. Nicht in Ketten, aber eng flankiert von zwei Wachen. Sie schwiegen. Er auch.
Er dachte an Bens Worte. Du bekommst kein faires Urteil. Und trotzdem war da ein kleines, irrwitziges Flackern von Hoffnung.
Doch als er den Platz der Prüfung erreichte, erstarrte er.
Dutzende Wölfe standen da. Nicht zur Verhandlung – zur Jagd.
„Was soll das?“, fragte er leise, aber niemand antwortete. Nur ein einzelner Wolf trat aus dem Kreis hervor – jung, kantig, mit blitzenden Zähnen: Korrin. Daniels Magen zog sich zusammen. Korrin war bekannt dafür, Grenzen zu testen. Und zu reißen.
„Der Alpha will, dass du dich bewegst“, sagte Korrin, ein falsches Lächeln auf den Lippen. „Der Körper vergisst im Käfig, wie es sich anfühlt, gejagt zu werden.“
„Ich—“ Daniel wollte protestieren, doch ein harter Stoß in den Rücken ließ ihn straucheln.
„Du läufst. Wir folgen.“
Daniel rannte.
Instinkt, nicht Mut, trieb ihn an. Er rannte, stolperte, fing sich, hörte die Schritte hinter sich. Knurren. Lachen. Das Brechen von Zweigen.
Ein Spiel.
Sie machten ein Spiel daraus.
Er duckte sich unter einen Ast, huschte durch Farn, wollte klein werden, unsichtbar – doch das war keine Stadt, kein Abwassergitter, kein vertrautes Labyrinth. Hier gab es nur sie.
Und sie rochen seine Angst.
Korrin war der Erste, der ihn einholte. Ein Schubs, ein Griff ins Genick, kein tödlicher Biss – aber nah dran. Daniel schrie nicht. Er biss die Zähne zusammen, ließ sich nicht fallen.
„Du bist schneller, als du aussiehst“, zischte Korrin, sein Gesicht nur eine Handbreit entfernt. „Aber das reicht nicht, Mäuschen.“
Dann ließ er ihn los. Absicht. Spiel. Revierverhalten.
Daniel taumelte weiter. Nur noch ein Gedanke blieb:
Ben weiß davon. Oder?
Irgendwann stolperte er in eine Senke, keuchte, sein Herz raste, seine Lunge brannte. Er konnte nicht mehr. Und dann – plötzlich – war es still.
Zu still.
Kein Knurren. Kein Jagen. Keine Verfolger.
Stattdessen eine Präsenz.
„Glaubst du, ich hätte das nicht bemerkt?“ Die Stimme kam aus dem Schatten.
Ben.
Er trat aus den Büschen, bleich vor Zorn, die Schultern angespannt. Nicht wie ein Alpha. Wie ein Raubtier am Rande seiner Kontrolle.
„Das war keine Übung. Das war ein Angriff.“
Daniel richtete sich mühsam auf. „Dein Rudel gehorcht dir nicht mehr.“
„Doch“, knurrte Ben. „Aber sie wittern Unsicherheit. Und Angst.“
„Dann hast du also zugesehen? Wie sie mich jagen wie … Beute?“
„Ich habe eingegriffen, bevor Blut floss“, sagte Ben rau. „Mehr kann ich nicht tun. Noch nicht.“
Daniel sah ihn lange an. Trotz allem – oder gerade deshalb – flackerte das Band zwischen ihnen spürbar auf. Es brannte. Zwischen Groll und Nähe. Zwischen Angst und Verlangen.
„Sie werden mich töten, Ben“, flüsterte er.
Ben trat näher. Nur ein Schritt, aber er fühlte sich an wie eine Entscheidung.
„Nicht, wenn ich vorher herausfinde, wer Tilo wirklich getötet hat.“
Daniel hob den Blick. Hoffnung und Zweifel spiegelten sich in seinen Augen.
„Warum tust du das?“
Ben antwortete nicht sofort. Dann sagte er leise: „Weil ich nicht zulassen kann, dass mein Gefährte stirbt. Nicht für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat.“
Ben wartete, bis der Vollmond vollständig hinter den Nebelbänken versank, bevor er sich in Bewegung setzte. Kein offizieller Weg, keine Wache – nur das lautlose Streichen durch die Nacht, wie er es als junger Wolf gelernt hatte. Als er noch nicht Alpha war. Als er noch glaubte, Ehre käme von innen.
Der Ort, an dem Tilo tot aufgefunden wurde, lag tiefer im Westwald, außerhalb des Rudelterritoriums – ein neutraler Streifen. Ungewöhnlich für einen Fuchswandler, dort allein zu sein.
Noch ungewöhnlicher, dass niemand die Stelle markiert hatte. Keine Absperrung, kein Schutz gegen Spurenverwischung. Es war, als wolle man vergessen, dass er je dort gewesen war.
Ben kniete sich nieder. Der Boden war hart, aber feucht. Unter dem Laub roch es noch schwach nach Blut – alt, aber eindeutig. Doch da war mehr.
Ein zweiter Geruch. Fast überdeckt. Fast … versteckt.
Ben schloss die Augen, atmete tief durch die Nase. Kiefer. Moos. Erde. Eisen. Und – da war es – etwas Bitteres, Scharfes.
Wermutkraut.
Ein Kraut, das bei Ritualen verwendet wurde. Oder zur Täuschung. Es überlagerte tierische Fährten – und wurde fast nur von Wandlern der Krähenlinie benutzt.
Ben richtete sich langsam auf. Eine Kralle an seinem rechten Finger verlängerte sich reflexhaft – nicht aus Wut, sondern aus Instinkt.
Warum sollte ein Krähenwandler sich an einem Treffpunkt mit Tilo aufhalten? Oder hatte Tilo sie getroffen? Ein geheimer Austausch? Ein Handel?
Oder … ein Verrat?
Ben stand still da, während seine Gedanken wirbelten. Tilo war bekannt gewesen – loyal, wachsam und freundlich zu sein. Aber er hatte auch Kontakte gepflegt, die nicht jeder im Rudel gutgeheißen hätte. Besonders zu kleineren Clans – Raben, Ottern, sogar einem Hyänenrudel im Süden.
Und ausgerechnet der schwächste Wandler im Wald – Daniel – soll ihn getötet haben?
Nein. Die Wunde hatte tief gesessen. Zu präzise. Nicht wie ein Unfall, nicht wie Panik. Wie ein … Signal.
Ben atmete tief durch. Wenn das stimmte, war der Mord nicht persönlich. Sondern politisch.
Und Daniel? War vielleicht einfach nur am falschen Ort gewesen. Oder war genau deshalb dort hingelockt worden.
Als ein Bauernopfer.
Später, im Schutz seines Quartiers, entrollte Ben eine alte Karte. Darauf eingezeichnet: Grenzpfade. Alte Tunnel. Verlassene Übergänge zwischen den Territorien.
Sein Blick blieb an einem eingezeichneten Ort hängen: Der Splitterhain.
Ein einst neutraler Treffpunkt für geheime Versammlungen – seit Jahren verboten, seit einem Vorfall mit dem Hyänenclan.
Tilo war oft dort gewesen, hatte man ihm gesagt. Heimlich.
Wenn Ben dort etwas finden würde, konnte das die ganze Dynamik ändern.
Und es bedeutete: Jemand wollte Daniel als Schuldigen.
Und wenn es jemand aus dem Rudel war … dann war das nicht nur ein Mord.
Es war Hochverrat.
Der Regen war weich gewesen an diesem Nachmittag. Kein Sturm, kein Gewitter – nur das leise Trommeln auf Blättern und Dächern, das die Welt in einen schläfrigen Dunst hüllte. Daniel hatte sich unter der Wurzel einer alten Eiche versteckt, wie er es oft tat, wenn ihm das Rudel zu laut, zu wild wurde.
Tilo hatte ihn dort gefunden.
„Du solltest lernen, dich besser zu verstecken“, hatte er gesagt, während er sich zu ihm in den Schutz des Baumes setzte. „Du bist leise, ja. Aber du atmest wie eine Gans im Winter.“
Daniel hatte gelächelt, ein seltenes, scheues Lächeln, das er fast nur bei Tilo zeigen konnte. „Vielleicht will ich gefunden werden.“
„Von mir?“, hatte Tilo gefragt, seine Stimme warm. Fast traurig.
„Du bist der Einzige, der sucht.“
Tilo schwieg eine Weile. Er hatte an einem kleinen Lederband gespielt, das um sein Handgelenk lag – eins, das Daniel nie zuvor gesehen hatte.
„Was ist das?“, fragte Daniel schließlich.
„Ein Geschenk.“ Tilo zögerte. Dann: „Von jemandem, den ich besser vergessen sollte.“
Daniel runzelte die Stirn. „Eine Gefährtin?“
Tilo lachte leise. „Nein. Nichts so Einfaches.“ Er sah in die Ferne. „Manchmal sind die Dinge … größer als wir. Und trotzdem laufen wir hinein, wie Motten ins Licht.“
Etwas an seinen Worten klang falsch. Nicht wie Tilo. Nicht wie der sorglose, verspielte Fuchswandler, der Daniel das Jagen beigebracht hatte, ohne ihn je bluten zu lassen.
„Was ist los mit dir?“, fragte Daniel schließlich. „Seit Wochen … du bist nicht mehr du.“
Tilo sah ihn an, und für einen Moment war sein Blick fremd. Alt. „Manchmal, Dani … ist Wahrheit gefährlicher als Lüge.“
„Dann sag sie trotzdem.“
Tilo legte eine Hand auf Daniels Schulter. „Wenn ich es nicht tue, bleibst du sicher.“
Daniel erinnerte sich an diesen Moment jetzt, Tage später, als würde er ihn noch einmal durchleben.
Damals hatte er nichts verstanden. Jetzt … begann er zu begreifen:
Tilo hatte etwas gewusst. Etwas, das ihn das Leben gekostet hatte.
Und er hatte versucht, Daniel aus dem Spiel zu halten.
Der Splitterhain war kein Ort, den man leicht vergaß. Alte Birken standen dort, verdreht wie Knochenfinger. Ihr silbriges Weiß wirkte selbst bei Tageslicht geisterhaft. Der Boden war übersät mit Scherben von schwarzem Glas – Reste eines längst vergangenen Rituals, dessen Bedeutung niemand mehr auszusprechen wagte.
Ben war allein. Er hatte den Pfad über die alten Tunnel genommen, unter den Wurzeln hindurch, durch einen Zugang, den selbst sein Beta nicht kannte. Die Luft war feucht, der Geruch von Moder und Krähenfeder lag über allem.
Seine Nase zuckte. Da war etwas.
Ein Hauch. Alt. Verwischt. Aber nicht unlesbar.
Fuchs. Und … Krähe.
Er kniete sich nieder. Unter einer der Birken hatte jemand den Boden aufgewühlt. Zwischen Moos und Erde blinzelte ein kleiner, silberner Gegenstand hervor. Ben zog ihn heraus.
Ein Lederband. Verwittert, aber erkennbar.
Er kannte es. Daniel hatte es beschrieben.
Und plötzlich erinnerte er sich. An das, was Daniel ihm in der Nacht zuvor mit stockender Stimme erzählt hatte – als er zitternd in der Zelle gesessen und nicht schlafen konnte.
„ Es war kurz vor seinem Tod …“ Daniels Stimme war heiser gewesen. „Er hat mich gefunden. Bei der alten Eiche, am Westhang. Ich hab mich versteckt, wie früher. Und er hat gesagt …“
Manchmal sind die Dinge größer als wir. Und trotzdem laufen wir hinein, wie Motten ins Licht.
„ Er hat mir das Band gezeigt“, flüsterte Daniel. „Hat gesagt, es sei ein Geschenk. Von jemandem, den er besser vergessen sollte.“
Ben hatte ihn angesehen, ruhig, aber innerlich alarmiert.
„ Und er meinte, wenn er mir die Wahrheit sagt, bin ich in Gefahr.“
Daniel hatte das Band beschrieben. Schwarzes Leder. Kleine Silberprägung – ein Mondsichelzeichen. Und da war es nun, in Bens Hand.
Echt.
Ben richtete sich langsam auf. Sein Blick schweifte durch den Hain.
Dieser Ort war nicht nur ein Relikt. Er war ein Treffpunkt gewesen. Für Tilo. Und für jemanden aus der Krähenlinie.
Und wenn Tilo mit ihnen Kontakt hatte, bedeutete das: Er wusste von etwas, das das Rudel bedrohte. Oder kompromittierte. Etwas, das man nicht dulden konnte.
Und Daniel … war das perfekte Opfer.
Niemand vermisste eine Maus. Niemand glaubte an ihre Unschuld.
Außer vielleicht – ein einziger Wolf.
Im Schatten der Birken trat eine Bewegung auf. Schnell, huschend. Ben spannte sich an, doch als er sich drehte, war nichts zu sehen. Nur das Flattern einer Feder, die langsam zu Boden sank.
Schwarz.
Jemand beobachtet mich, dachte er.
Die Spur war nicht kalt.
Nicht mehr.
Die Nacht war kalt und klar, als Daniel den Weg verließ. Seine Muskeln schmerzten von der Flucht vor Korrin und den anderen, doch sein Herz trieb ihn weiter. Ben war verschwunden – und niemand im Rudel hatte gewagt zu fragen, wohin.
Also hatte Daniel sich selbst auf die Suche gemacht. Leise. Unauffällig. Wie es seiner Art entsprach.
Was er nicht erwartet hatte: Dass die Fährte so vertraut sein würde.
Splitterhain.
Er kannte den Weg. Tilo hatte ihn einmal beschrieben – nur vage, aber genug. Damals hatte Daniel nicht gewusst, was es bedeutete. Jetzt schon.
Und er wusste: Wenn Ben dort war, dann nicht zum ersten Mal.
Er entdeckte ihn zwischen den verdrehten Birken, als Silhouette gegen das fahle Mondlicht. Breit. Stolz. Wachsam. Doch da war etwas anderes in seinem Stand. Schwere. Zorn.
Daniel trat vorsichtig aus dem Schatten.
„Du solltest mich nicht verfolgen“, sagte Ben, ohne sich umzudrehen.
„Und du solltest mir nicht verschweigen, was du weißt.“
Ben drehte sich langsam um. Seine Augen waren golden, aber dunkel darin lag Müdigkeit.
„Du hättest nicht herkommen sollen.“
„Tilo hat mir vertraut“, sagte Daniel, leiser. „Er hat mir etwas hinterlassen. Und du findest es hier – und willst es mir nicht sagen? Warum?“
„Weil es dich in Gefahr bringt.“
„Ich bin längst in Gefahr, Ben.“
Stille. Nur das Knacken von Frost in den Zweigen.
„Du bist kein Krieger, Daniel. Keine Bedrohung. Und genau das macht dich zum perfekten Schuldigen.“
„Dann sag mir die Wahrheit. Wenn ich sterben soll, will ich wenigstens wissen, warum.“
Ben trat näher. Er hielt etwas in der Hand – das Lederband. Er reichte es Daniel. Es zitterte leicht in seiner Faust.
„Tilo hat sich mit einem der Krähenclans getroffen. Wahrscheinlich hier. Das Band trägt ihr Zeichen – eine alte Allianz. Verboten und gefährlich.“
„Warum sollte er das tun?“
„Weil er etwas wusste. Etwas, das das Rudel zerstören könnte.“
„Und was ist es?“
Ben sah ihn an. Lange. Und in seinen Augen lag etwas, das Daniel nicht deuten konnte. Schmerz? Reue?
„Ich weiß es noch nicht. Aber jemand hat ihn dafür getötet. Und du bist nur das Bauernopfer.“
Daniel schloss die Finger um das Band. Es war kalt. Fast tot.
„Dann hilf mir, Ben.“
Ein Zucken ging durch die Schultern des Alphas. „Ich tue alles, um dich zu schützen.“
„Das reicht nicht“, sagte Daniel. Seine Stimme zitterte, aber sie brach nicht. „Du musst an mich glauben. Sonst ist das hier nichts.“
Er trat einen Schritt näher. So nah, dass ihre Atemzüge sich berührten.
Ben sah ihn an, als würde er zum ersten Mal sehen, wie viel Mut eine Maus besitzen kann.
„Ich glaube an dich“, sagte er leise.
Dann – bevor Daniel antworten konnte – zog Ben ihn an sich. Kein Kuss. Kein Trost. Nur eine Berührung. Stirn an Stirn. Herz an Herz.
Ein Versprechen, ohne Worte.
Doch in den Schatten regte sich etwas.
Ein Flügelschlag.
Ein leises Lachen.
Und irgendwo in der Dunkelheit zählte jemand die Sekunden bis zum Verrat.
Der Grenzpfad zur Krähenlinie war wie eine Narbe in der Erde – alt, vernarbt, niemals ganz verheilt. Die Luft dort schmeckte nach Eisen und Vergangenheit. Ben kannte diesen Ort, aber nie war er ihm so fremd vorgekommen.
Daniel hatte er zurücklassen wollen.
Daniel war ihm trotzdem gefolgt.
Ben traf den Rabenwächter unter der gekrümmten Esche, wo das Wurzelwerk wie ein Käfig aus dem Boden wuchs. Der Mann war hochgewachsen, schmal wie ein Schatten, mit Federn im Haar und einer Maske, die das halbe Gesicht verbarg.
„Du bringst Rudelgeruch mit“, sagte er. „Kein gutes Zeichen.“
„Ich bringe eine Frage.“
Der Rabenmann musterte ihn. „Dann gib mir eine Wahrheit.“
Ben hielt ihm das Lederband hin. „Von Tilo. Getroffen vor wenigen Nächten. Getötet vor wenigen Tagen.“
Der Krähenmann nahm das Band, drehte es in den Fingern wie ein altes Orakel. „Er kam mit einer Warnung. Und einem Namen.“
„Einen Namen?“
„Jemand, den er schützen wollte. Jemand, den selbst der Rat nicht kannte.“ Er sah Ben an, sein Blick war wie kalter Rauch. „Einen geborenen Bastard zweier Linien.“
Ben spürte, wie ihm das Herz gegen die Rippen schlug. „Wovon redest du?“
Dann trat Daniel aus dem Schatten.
Ben fuhr zu ihm herum. „Verdammt, Daniel! Ich sagte—“
„Ich weiß, was du gesagt hast“, unterbrach Daniel ihn. „Aber ich kann nicht mehr warten. Ich spüre, dass das hier… mich betrifft.“
Der Rabenmann trat einen Schritt auf ihn zu. Dann stoppte er – als hätte er ein Echo vernommen.
„Du trägst es. Das andere Blut.“
„Welches Blut?“ Daniel klang kaum mehr als ein Flüstern.
„Du bist das, was man Bruchkind nennt. Sohn zweier Linien, die niemals hätten verbunden werden dürfen.“
Daniel wich einen Schritt zurück. „Meine Mutter war eine Mauswandlerin. Reinblütig. Mein Vater… starb vor meiner Geburt.“
„Deine Mutter log. Oder wusste es nicht. Dein Vater war kein einfacher Wandrer. Er stammte aus der Schattenlinie der Krähen – ein abtrünniger Bote. Halb Seher, halb Spion.“
Daniel schüttelte den Kopf. „Nein. Das… das ergibt keinen Sinn.“
Der Krähenmann hob eine Hand. „Warum, glaubst du, hat Tilo dich nie kämpfen lassen? Warum hat er dich vor dem Rudel verborgen, wie einen Schatz, den niemand sehen durfte? Weil er wusste, was in dir schlummert.“
„Was soll in mir sein?! Ich bin nichts Besonderes. Ich…“ Er brach ab. Ben trat neben ihn. Legte eine Hand an seinen Rücken.
„Du bist echt“, sagte er. „Egal, was sie sagen.“
Der Rabenmann nickte langsam. „Das ist, was Tilo begriff – zu spät. Und was die anderen fürchten. Wenn sie erfahren, was du bist, werden sie euch beide jagen.“
Plötzlich: ein Rascheln im Wald. Mehrere Gestalten traten aus dem Nebel.
Korrin, Bens Beta. Und drei Wölfe in schwarzer Rüstung. Rudelwächter.
„Ben“, sagte Korrin, und seine Stimme war stählern, „du hast das Rudel verraten.“
Ben stellte sich schützend vor Daniel. „Ich habe die Wahrheit gesucht.“
„Du hast einen Mörder beschützt. Und dich mit Krähen verbündet.“
„Ich habe einen Unschuldigen beschützt. Und versucht, unseren Feind zu erkennen.“
„Dann wirst du das einem Gericht erklären müssen.“
Der Krähenmann trat zurück, löste sich fast in Luft auf. „Ihr habt wenig Zeit“, sagte er noch. „Und weniger Verbündete, als ihr glaubt.“
Dann war er fort.
Korrin trat näher. „Ben, im Namen des Ältestenrats – du bist abgesetzt.“
Daniel machte einen Schritt vor. „Nein! Er hat nur versucht, mich zu retten! Er—“
„Sei still, Maus“, fauchte Korrin. „Du bist kein Gefährte. Du bist ein Fluch.“
Ben knurrte. Tief. Bedrohlich. „Fass ihn an – und ich reiße dir den Kopf ab.“
Die Spannung war messerscharf.
Dann: „Lauf“, flüsterte Ben zu Daniel. „So schnell du kannst. Ich halte sie auf.“
„Nein!“ Daniel griff nach seinem Arm. „Ich gehöre zu dir. Ich bleib bei dir.“
Ein Moment – voller Schmerz, voller Mut.
Dann sprang der erste Wächter auf Ben zu.
Und Daniel lief.
Der Wald war schwarz wie Tinte, und Daniel rannte blind.
Sein Atem brannte in der Kehle, Äste peitschten ihm ins Gesicht. Hinter ihm das Heulen der Wächter, irgendwo entfernt ein Knurren – Bens letzter Widerstand. Daniel wagte nicht, sich umzudrehen.
Er wusste nicht, wie weit er kam. Nur, dass seine Beine irgendwann nachgaben.
Er stürzte, prallte gegen einen Baumstamm, blieb liegen. Er war allein.
Und es war still.
Als er die Augen öffnete, lag Nebel auf dem Boden. Doch dieser Nebel roch nicht nach Morgen. Er roch nach Asche.
Daniel richtete sich langsam auf. Er stand in einer Lichtung, die er nicht kannte. Die Bäume waren tot, schwarz, verbrannt. Und in ihrer Mitte lag ein Kreis aus alten Steinen – mit Zeichen, die flackerten, als würden sie von innen glimmen.
Er trat näher. Etwas vibrierte in seiner Brust. Wie ein zweites Herz.
Dann berührte er einen der Steine – und die Welt kippte.
Er sah Feuer.
Keine Flammen – sondern Erinnerung. Ein Mann, groß und finster, mit Rabenschwingen auf dem Rücken, beugte sich über eine Frau mit blonden Locken. Eine Mauswandlerin. Ihre Stirn berührte seine. Zwischen ihnen: eine Phiole.
Ein Schwur.
Ein Kind.
„ Wenn es je erwacht, wird es entweder unsere Hoffnung sein – oder unser Untergang.“
Daniel schrie auf. Das Bild brach.
Er taumelte zurück, das Herz raste, seine Haut prickelte – heiß und fremd. In seinen Händen: Glut. Kein echtes Feuer, aber Energie. Alte, wilde Energie.
Das war keine Illusion gewesen. Keine Fantasie.
Das war sein Erbe.
Ein Knacken ließ ihn herumfahren. Ein Wolf trat aus dem Nebel – ein Rudelwächter. Schwer gepanzert. Doch als er Daniel sah, zögerte er.
Daniel spürte, wie die Hitze in ihm aufstieg – das Glühen in seinen Adern.
„Zurück“, flüsterte er.
Der Wächter fletschte die Zähne. „Was bist du, Kleiner?“
Daniel hob die Hand. Ein Licht flackerte in seinen Fingerspitzen – silbern, brennend.
„Etwas, das ihr nicht verstehen könnt.“
Und als er die Finger schloss, krachte ein Druck durch die Luft – der Wächter wurde zurückgeschleudert, als hätte ihn eine Welle aus reiner Macht getroffen.
Stille.
Daniel zitterte. Nicht vor Angst.
Vor dem Wissen: Er hatte gerade etwas geweckt.
Und tief in der Asche unter der Lichtung öffnete sich ein altes Zeichen. Ein Kreis mit einem gebrochenen Flügel.
Das Aschezeichen. Zeichen der vergessenen Linie.
Zur selben Zeit, im Rudelhort:
Ben kniete, gefesselt und blutverschmiert, vor dem Rudelrat. Korrin sprach für die Anklage.
„Er hat unsere Gesetze verraten. Das Rudel in Gefahr gebracht. Und einem Halbblut Zuflucht gewährt.“
Die Ältesten blickten schweigend auf Ben herab.
Doch dann trat eine alte Wölfin hervor – silberhaarig, mit Narben im Gesicht. „Was, wenn er recht hat?“ fragte sie leise. „Was, wenn der Feind nicht in den Schatten, sondern unter uns ist?“
Stille.
Und dann – ein Flügelschlag an den Fenstern.
Krähen.
Der Wald hatte sich verändert.
Seit dem Erwachen auf der Lichtung war nichts mehr still. Die Luft war elektrisch, jeder Schritt durchzogen vom Widerhall des Aschezeichens in seiner Brust. Er konnte es nicht sehen – doch er fühlte es: eingebrannt unter seiner Haut, unter seinem Herz, wie ein zweiter Puls.
Er spürte Tiere, bevor sie sich zeigten. Spürte das Wispern des Windes, das keine Worte, aber eine Bedeutung hatte.
Er war nicht mehr nur Daniel.
Er war Erbe.
Er war Schlüssel.
Er wusste es, ohne dass es ihm jemand gesagt hatte. Und das machte ihm Angst.
Er suchte Zuflucht in einer verlassenen Jagdhütte am Rand des alten Grenzgebietes. Dort, zwischen Moos und Mauerresten, fand er ein Relikt: ein zerfleddertes Buch mit dem Siegel der Krähen – in die Seiten gebrannt.
Die Schrift war fremd. Doch als seine Finger das Papier berührten, begannen die Zeichen sich zu formen. Sie antworteten ihm.
„ Fluchlinie – einst gebrochen, nun erwacht.“
Der Text erzählte von einem alten Blutbund. Mäuse und Krähen – zwei Linien, einst vereint, um das Gleichgewicht der Gestaltwandler zu bewahren. Doch das Bündnis zerbrach, als eine Linie sich dem Rat entzog, Wissen zurückhielt, Magie band – und ein Kind zeugte, das niemals hätte sein dürfen.
Ein Kind, geboren aus Vorsicht und Verrat. Ein Kind, das Grenzen überschreitet. Ein Kind, das entweder vereinen – oder vernichten wird.
Daniel starrte auf die letzten Zeilen. Ein Name stand dort.
Tilo Rabenstein. Der letzte Wächter der Linie.
Sein Magen krampfte sich zusammen. Sein bester Freund hatte es gewusst. Hatte ihn geschützt. Gelogen. Geliebt. Und geopfert.
Daniel schloss das Buch. Seine Hände zitterten. Dann atmete er ein. Und als er ausatmete, war es, als würde der Wald mit ihm atmen.
Die Zelle im alten Rudelhort war aus schwarzem Stein. Kein Fenster, nur eine dicke Eisenplatte in der Tür.
Ben saß auf dem Boden, die Arme auf den Knien, das Blut an seiner Schläfe längst geronnen.
Er dachte an Daniel. An seine Wärme. An seine Angst. An seine Kraft.
Korrin hatte ihn zum Feind erklärt. Der Rat war gespalten. Und Ben wusste: Wenn er schwieg, würde das Rudel sich gegen sich selbst wenden.
Am Abend wurde er dem Rat vorgeführt. Drei Älteste saßen erhöht auf steinernen Sesseln. Die Mitte blieb leer – Symbol der alten Gerechtigkeit.
„Ben Thornwald“, begann Korrin, „du wirst der Absprache mit feindlichen Linien, des Verrats und des Bundesbruchs bezichtigt.“
Ben schwieg.
„Hast du ein letztes Wort, bevor das Urteil gefällt wird?“
Er hob den Kopf. Seine Augen funkelten. „Ja. Ich habe gesehen, was ihr nicht sehen wollt.“
Die Ältesten hielten inne.
„Ich habe einen Jungen gesehen, der nie eine Chance hatte. Der nicht einmal wusste, was er war – und trotzdem bereit war, sich opfern zu lassen. Ich habe einen Mörder gesehen – aber nicht in Daniel. Sondern in unserer Angst.“
Korrin trat vor, fauchend: „Lügen! Manipulation eines Alphas, geblendet durch Bindung!“
Ben drehte sich zu den Ältesten. „Ich fordere das alte Recht. Den Ruf der Wahrheit. Lasst mich sprechen. Lasst ihn sprechen.“
„Du meinst den Halbling?“ Korrin lachte höhnisch.
Ben trat einen Schritt näher. „Ich meine den, den ihr fürchtet. Weil er uns verändern könnte.“
Dann – ein Beben.
Ein Echo drang durch die Mauern. Vögel kreischten. Die Erde bebte unter den Füßen.
Ein Wächter stürzte in den Saal. „Ein Zeichen ist erwacht! Im Nordwald – der Aschekreis brennt!“
Alle schwiegen.
Ben hob das Kinn.
„Er ist nicht verschwunden. Er ist erwacht.“
***
In der Hütte steht Daniel vor einem kleinen Spiegel. Sein Blick ist verändert – klar, wie Wasser unter Eis. Auf seiner Brust: Das Aschezeichen, jetzt sichtbar. Glühend. Lebendig.
Hinter ihm – im Türrahmen – flackert eine Silhouette.
Nicht menschlich.
Nicht Tier.
Etwas anderes.
Die Hütte war still. Zu still.
Daniel starrte auf das Zeichen auf seiner Brust – flackernd wie Glut unter Eis. Kein echtes Feuer, aber ein brennendes Versprechen. Oder eine Warnung.
„ Du bist nicht gemacht für eine Welt mit Regeln.“
Die Stimme in seinem Kopf war nicht seine eigene. Sie war älter. Eine Stimme, die zwischen den Schatten lebte.
Er stand auf, ging zum Spiegel. Seine Pupillen wirkten dunkler. Tiefer. Hinter ihnen: etwas, das erwacht war. Etwas, das Hunger hatte.
Er erinnerte sich an die Silhouette im Türrahmen. Sie war verschwunden, als er sich umdrehte – lautlos, wie Rauch. Aber der Abdruck ihrer Präsenz war geblieben.
Seither war er nicht mehr allein.
Er hörte das Wispern der Bäume. Spürte Krähen über ihm kreisen, als wären sie Teil von ihm. Seine Sinne dehnten sich aus – so weit, dass sie fast schmerzten. Geräusche brannten sich in sein Gehör, Erinnerungen anderer Wandler flackerten vor seinen Augen, fremd und vertraut zugleich.
In einem Moment spürte er sich selbst. Im nächsten… war er etwas anderes.
Etwas, das weder Maus noch Mensch war. Etwas mit Flügeln aus Rauch.
Er versuchte, das Zeichen zu berühren. Doch es brannte unter seiner Haut. Die Energie in ihm war wild. Unkontrolliert.
Und als seine Wut an die Oberfläche stieg – wegen Tilo, wegen Ben, wegen allem – explodierte die Luft um ihn. Die Fenster zerbarsten. Der Spiegel zersplitterte.
Und im zersprungenen Glas: sein Blick. Und hinter ihm – die Silhouette wieder. Diesmal mit goldenen Augen.
Er drehte sich um. Aber da war nichts.
Nur Schatten.
Die Kunde vom Aschekreis hatte das Rudel gespalten.
Ein Teil der Wölfe – geführt von Korrin – forderte sofortige Jagd. Daniel müsse ausgelöscht werden, bevor er zur Waffe werde.
Andere – angeführt von der silberhaarigen Wölfin Mira – begannen zu zweifeln. „Wenn der Kreis erwacht ist“, sagte sie, „dann ist das kein Zufall. Dann hat sich das Rad erneut gedreht.“
Ben, noch gefesselt, wurde in den Ratssaal zurückgebracht. Er stand aufrecht, blutverkrustet, aber nicht gebrochen.
„Ich stehe zu ihm“, sagte er laut. „Nicht weil er mein Gefährte ist – sondern weil er wahrer ist als viele von euch hier.“
„Er ist eine Bedrohung“, entgegnete Korrin. „Du willst das Rudel mit einem Fluch teilen.“
Ben trat einen Schritt vor. „Wenn das Rudel zu schwach ist, um die Wahrheit zu ertragen, hat es sich selbst bereits verloren.“
Stille. Dann sprach Mira. „Lasst ihn gehen.“
Korrin fauchte. „Das ist Wahnsinn!“
„Oder Gerechtigkeit“, sagte Mira ruhig.
Die Abstimmung war knapp. Doch sie fiel zu Bens Gunsten.
Die Ketten wurden gelöst.
Daniel hatte die Hütte verlassen. Er wusste, er konnte nicht bleiben. Die Linie in ihm drängte nach Antworten. Nach Bindung.
Er spürte Bens Nähe, lange bevor er ihn sah. Wie ein zweites Herz, das näher kam. Dann – im Dunst des Waldes – stand Ben plötzlich vor ihm.
Beide atmeten kurz. Beide sahen sich an.
„Du hast dich verändert“, sagte Ben leise.
„Ich weiß nicht, was ich bin“, flüsterte Daniel. „Aber ich weiß, dass ich nicht allein sein will.“
Ben trat näher. „Du bist mein Gefährte. Das reicht mir.“
Doch noch ehe ihre Hände sich berührten – brach ein Heulen durch den Wald. Und diesmal klang es nicht mehr nur nach Wölfen.
Es klang fremd. Alt. Wie ein Kriegslied, das man vergessen hatte.
Hoch im Himmel, über den Baumwipfeln, kreisten dunkle Schatten. Nicht Krähen.
Nicht Adler.
Etwas anderes. Etwas, das nur erwacht, wenn ein Erbe aus Licht und Schatten wieder atmet.
Ein neuer Jäger betritt das Spiel.
Und Daniel spürt: Seine Wahl steht bevor. Und mit ihr – der Ausgang aller Dinge.
Der Wald war ein Labyrinth aus Nebel, Licht und Schatten. Daniel lief. Neben ihm Ben, groß und still, sein Blick ständig wachsam, seine Bewegungen präzise wie das Schnappen eines Rudeltiers. Doch unter dem Muskelspiel und dem kontrollierten Atem lag etwas anderes: Anspannung. Nicht nur wegen der Gefahr.
Sondern wegen ihm.
Daniel spürte es in jedem Blick, der zu lange auf ihm ruhte. In jeder Berührung, die flüchtig an seinem Arm verweilte.
Sie erreichten eine Höhle am Fuß eines Hanges, von Moos überwachsen und in vergessene Stille gehüllt. Drinnen war es dunkel, aber trocken. Ben entzündete ein kleines Feuer, und zum ersten Mal seit Tagen – seit Jahren, fühlte es sich an – erlaubten sie sich, einfach zu sein.
„Du zitterst“, sagte Ben leise, als Daniel sich an die Wand lehnte.
„Mir ist nicht kalt.“
„Ich weiß.“ Ben sah ihn an, als könnte er ihn lesen. „Es ist dein Inneres. Es tobt.“
Daniel nickte, dann flüsterte: „Ich weiß nicht, ob ich noch ich bin. Oder etwas anderes.“
„Du bist Daniel.“ Ben trat näher. „Und ich habe dich gefunden, als du nur eine Maus im Schlamm warst. Aber da war schon mehr in deinen Augen als Angst. Da war Leben. Da war… du.“
Daniel hob den Blick. Bens Stimme war tief. Warm. Wie ein Versprechen.
Für einen Moment war nur das Knistern des Feuers zwischen ihnen.
Dann streckte Daniel langsam die Hand aus. Berührte Bens Brust – seine Haut war warm, sein Herzschlag stark.
„Und wenn ich… etwas verliere? Wenn ich jemand werde, den du nicht mehr lieben kannst?“ Seine Stimme war kaum ein Hauch.
Ben fasste seine Hand, drückte sie an sein eigenes Herz. „Dann halte ich dich fest, bis du dich erinnerst, wer du bist. Oder ich werde dich daran erinnern. Mit jedem Atemzug.“
Etwas in Daniel brach. Kein Schmerz.
Erleichterung. Wie das Einreißen eines Dammes nach zu langer Stille.
Er trat vor, legte beide Hände an Bens Gesicht. „Ich habe solche Angst.“
Ben beugte sich vor. „Dann fürchte dich mit mir.“
Und als sich ihre Lippen trafen, war es nicht wild oder gierig. Es war zögernd, wie das erste Licht nach einer langen Nacht. Ein Kuss, der zitterte. Der zögerte. Und dann tiefer wurde. Wärmer.
Und als Daniel die Arme um Ben legte, als ihr beider Atem sich vermischte, fühlte es sich an wie Heimkehr. Nicht zu einem Ort. Sondern zu einer Seele.
Dann – ein durchdringendes Heulen.
Nicht aus der Ferne. Nicht wölfisch.
Ein Laut, wie aus einer anderen Zeit. Wie Knochen, die aneinander kratzen. Wie Stimmen, die in der Luft gefangen sind.
Ben riss den Kopf hoch. „Sie haben uns gefunden.“
Daniel stand auf. Die Glut auf seiner Brust pulsierte. „Wer sind sie?“
Ben sah ihn an. „Jäger. Aus den Linien, die nie hätten überleben dürfen.“
Vor der Höhle formieren sich Schatten. Nicht ganz Tier. Nicht ganz Mensch. Gebrochene Wesen mit leerem Blick und uralter Wut in den Gliedern. Die Jäger der Fluchlinie.
Und einer von ihnen trägt ein Medaillon. Es zeigt das Zeichen der Krähen.
Daniel erstarrt. Das war Tilos Amulett.
Die Jagd hatte begonnen. Doch es war nicht klar, wer Jäger – und wer Beute war.
Sie waren erschöpft. Der Wald, der sonst wie ein lebender Verbündeter wirkte, war zu einem stillen Zeugen ihrer Flucht geworden. Die Zweige rührten sich nicht. Kein Tier regte sich. Der Boden unter ihren Füßen schien das Echo alter Schritte zu tragen, als hätten schon andere diese Wege in Angst beschritten – vor Jahrhunderten.
Daniel spürte, wie sich etwas in ihm spannte. Wie ein Band, das zu reißen drohte. Er war nicht mehr nur Daniel. Nicht mehr nur Maus. Er war etwas Altes. Etwas, das aufwachte.
Ben spürte es auch. Er blickte ihn an, als sehe er in ihn hinein.
„Komm“, sagte er leise. „Ich weiß, wo wir sicher sind. Für den Moment.“
Die uralten Steine erhoben sich wie gebrochene Zähne aus der Erde. Der Kreis war überwuchert, aber deutlich spürbar – wie ein pulsierender Knoten in der Magie des Landes. Es war kein Ort für gewöhnliche Schwüre. Hier sprach man mit dem Blut.
„Dieser Ort“, sagte Ben, als sie in die Mitte traten, „war früher ein Bindungskreis. Lange vor den Rudeln, vor den Clans. Hier vereinten sich Seelen – nicht nur aus Liebe, sondern aus Bestimmung.“
Daniel streckte zögernd die Hand aus und berührte einen der Steine. Er zitterte. Spürte, wie Erinnerungen durch ihn flossen. Bilder. Schatten.
Ein Wolf und ein Krähenwandler. Zwei Männer. Inmitten eines Krieges. Blut und Küsse in der Dämmerung. Und dann – Feuer.
„Sie haben es getan“, flüsterte er. Ben nickte. „Und sie sind gestorben. Aber ihre Verbindung hat die Blutlinie erschaffen. Vielleicht… ist es unsere Aufgabe, sie wieder zu heilen.“
Ben zog das Messer. Keine Furcht in seinen Augen. Nur Entschlossenheit. „Ich binde mich an dich, Daniel. Nicht trotz deines Erbes. Sondern wegen ihm.“
„Auch wenn es dich zerstört?“
„Dann will ich an deiner Seite brennen.“
Er schnitt sich. Langsam. Tief. Das Blut tropfte auf die Erde.
Daniel nahm das Messer. Seine Hand zitterte – doch nicht aus Angst. Sondern wegen der Wucht dessen, was kam. Er schnitt. Sein Blut mischte sich mit Bens.
Der Boden glühte auf. Die Runen flackerten. Wind erhob sich, wirbelte um sie.
Ihre Hände fanden einander – und in dem Moment explodierte die Welt in Licht. Nicht heiß. Nicht brennend. Sondern wie ein warmer Strom, der durch ihre Körper schoss, ihre Gedanken verwebte.
Daniel spürte Bens Erinnerungen: Die Nächte allein unter Wölfen, das Gefühl, nie genug zu sein. Die Sehnsucht nach einem, den er nie benennen konnte.
Ben sah Daniels Narben. Nicht nur auf der Haut, sondern in der Seele. Die Jahre der Kontrolle. Der Scham. Und das flackernde Licht, das nie ganz erlosch.
Ihre Gedanken vermischten sich. Kein Anfang. Kein Ende.
Und dann – war da nur Sein. Ein tiefer, bebender Kuss – roh, ehrlich. Kein Zögern mehr. Hände auf nackter Haut. Berührung, die heilte. Ein Schwur, der nicht ausgesprochen werden musste, weil er bereits lebte.
Als sie sich voneinander lösten, lagen sie auf dem Boden des Steinkreises. Der Himmel war klar über ihnen. Kein Nebel. Kein Schatten.
Nur Stille.
„Ich spüre dich“, sagte Daniel. „Als wärst du immer noch in mir.“
Ben lächelte. „Weil ich es bin.“
Doch tief unter dem Kreis – im alten Wurzelnetz des Waldes – regte sich etwas. Eine Stimme, alt wie die Linie selbst, flüsterte:
„ Zwei, die einst getrennt waren, haben sich vereint……und das Gleichgewicht zerbricht erneut.“
Ein Riss erschien im Boden. Unsichtbar. Doch fühlbar für jene, die im Blut lesen konnten.
Und in einem längst vergessenen Teil des Landes – dort, wo einst die Krähenfeste stand – öffnete sich ein Augenpaar. Schwarz und glühend.
„Er lebt“, sagte eine Stimme. „Und er trägt mein Erbe.“
Die Welt war still, als Daniel erwachte.
Ben lag neben ihm, auf der noch warmen Erde des Steinkreises, das Gesicht friedlich, als hätte auch er zum ersten Mal seit langem geschlafen. Und vielleicht war es so. Vielleicht hatte dieser Ort ihnen mehr gegeben als nur einen Schwur.
Daniel richtete sich langsam auf. Etwas hatte sich verändert. Nicht nur zwischen ihnen. In ihm.
Er fühlte es unter der Haut: eine neue Präsenz. Nicht bedrohlich – aber wach. Etwas, das auf seine Stimme wartete. Auf seinen Befehl.
Als seine Fingerspitzen über das Moos strichen, zog sich plötzlich eine dünne Linie Feuer über den Boden. Kein heißes, zerstörerisches Feuer. Es flackerte blau, tanzte beinahe verspielt, verschwand dann wieder.
Daniel fuhr erschrocken zurück. Ben war sofort an seiner Seite. „Was war das?“
„Ich… ich weiß es nicht.“ Daniel hielt die Handflächen hoch. Kein Zeichen von Verbrennung. Nur Wärme.
Ben legte seine Hand über Daniels Herz. „Dein Blut antwortet. Du hast mehr als nur den Schwur vollzogen. Du hast etwas erweckt.“
Eine Welle rauschte über ihn hinweg – ein Bild: Eine alte Bibliothek, Regale voller Krähenfedern, in Tinte getauchte Runen, ein Junge, kaum zehn Jahre alt, mit schwarzen Augen. Er hielt ein Messer in der Hand – und schnitt sich selbst.
„ Nur das eigene Blut schützt vor dem Fluch“, sprach eine Frau mit silbernem Haar.
Dann das Bild von Feuer. Ein ganzer Flügel der Bibliothek brannte.
Ein anderes Kind – tot. Und Daniel, fliehend.
Er zuckte zurück. Die Vision zerriss wie Rauch.
Ben hielt ihn fest. „Was hast du gesehen?“
„Meine Herkunft. Oder ein Stück davon.“ Daniel sah auf seine zitternden Hände. „Ich glaube, ich habe früher schon… gebrannt.“
Sie verließen den Steinkreis und wanderten nach Norden. Dort, wo Daniels alte Zuflucht lag – ein verlassener Hof, tief in einem Senktal, umwachsen von Farn und Dornen. Daniel hatte nie gewagt, zurückzukehren. Doch jetzt spürte er: Er musste.
Als sie ankamen, fanden sie das Tor offen.
Frisch aufgestoßen.
Die Luft roch nach Asche.
Ben ging zuerst. Seine Haltung war angespannt, jeder Muskel bereit zum Angriff.
Im Innern fanden sie die Zeichen.
Ein Kreis aus verbrannter Erde, mitten im einstigen Schlafzimmer. In seiner Mitte: ein einzelner Krähenfuß, in Kohle gezogen.
„Das ist ein Rufzeichen“, sagte Daniel tonlos. „Eine Einladung. Oder eine Warnung.“
Ben antwortete nicht sofort. Dann: „Jemand kennt dich. Nicht von Hörensagen. Sondern wirklich.“
Sie kehrten in den Wald zurück, aber nichts war mehr wie zuvor.
Jede Lichtung, jeder Ast, jeder Windstoß trug nun Bedeutung. Daniel hörte Stimmen, wo keine waren. Fühlte Blicke, wo keine sein konnten.
Und tief in ihm antwortete etwas. Ein Feuer, das weder Wut noch Rache war. Sondern Wille.
Nachts, als Ben schlief, saß Daniel am Rande eines alten Baumstamms. Die Glut auf seiner Brust – das Zeichen, das einst so leise geglüht hatte – flackerte nun kräftig.
Er streckte die Hand aus. Ein kleines Flammenband löste sich von seinem Finger, formte eine schwebende Rune in der Luft.
Er konnte es lenken.
Hinter ihm bewegte sich etwas. Eine Stimme flüsterte aus dem Dickicht:
„Daniel Krähenkind… Du bist erwacht. Doch was wirst du entzünden? Hoffnung – oder den nächsten Krieg?“
Er wandte sich um. Aber da war niemand.
Nur eine Krähenfeder im Gras.
Der Pfad führte sie tiefer in das Krähenland.
Daniel hatte das Gefühl, jeder Schritt sei Teil eines alten Liedes, das sich nur erinnerte, wenn man es sang. Die Bäume flüsterten, Zweige bogen sich nach ihm. Immer wieder sah er Federn auf dem Boden – keine gewöhnlichen, sondern solche, die im Licht kurz silbern aufblitzten.
„Wir sind fast da“, murmelte er. Ben antwortete nicht. Seine Hand lag schützend auf Daniels Rücken, doch sein Blick war wachsam.
Vor ihnen öffnete sich der Wald in einen Kreis aus verkohltem Gras. Und mittendrin: eine Hütte aus schwarzem Holz, klein wie ein Unterschlupf, doch uralt in ihrer Präsenz.
Eine Frau trat aus dem Schatten. Groß. Hager. Die Haut von Falten durchzogen wie Rinde. Ihr Haar war von Krähenfedern durchflochten, ihre Augen – pechschwarz.
„Daniel.“
Er erstarrte. Die Stimme traf ihn wie ein Donner aus Kindheitstagen.
„Mira?“
Die Frau nickte. „Du lebst.“
„Du auch“, antwortete er leise. Seine Stimme bebte. „Ich dachte… nach dem Feuer…“
„Viele starben. Aber nicht alle. Ich habe dich geschützt, damals – mit einem Bann. Ich brachte dich fort. Dein Gedächtnis wurde getrübt, zum Schutz.“
Daniel wich zurück. „Du hast mich vergessen lassen? Alles? Meine Familie? Meine Gabe?“
Mira trat näher. „Dein Licht war zu groß. Es hätte dich verbrannt.“
Im Innern der Hütte war es dunkel, doch warm. Überall hingen Runen. Federn. Alte Bücher in zerfallenen Regalen.
Mira fuhr mit dem Finger über Daniels Handrücken, berührte das Zeichen auf seiner Brust.
„Du hast ihn gefunden“, flüsterte sie. „Deinen Gefährten. Deinen Anker.“
„Ben“, sagte Daniel. Und Ben neigte stumm den Kopf.
Mira nickte. „Der Schwur hat dein Erbe entfesselt. Du bist mehr als ein Wandler, Daniel. Du bist ein Erbe der ersten Linie. Ein Feuerseher.“
„Was heißt das?“
„Du kannst sehen, was war. Was brennt. Und vielleicht… was kommen wird. Doch diese Gabe ist kein Segen. Sie verlangt einen Preis.“
Mira trat an ein altes Becken aus schwarzem Stein. Sie schnitt sich in den Finger, ließ einen Tropfen hineinfallen.
„Sieh selbst“, sagte sie.
Daniel trat näher. Im Wasser zeigte sich: das Rudel. In Aufruhr. Einer von Bens Beta-Wölfen – Caleb – schrie vor versammelter Meute: „Ben hat uns verraten! Er bindet sich an das Feuer, das unsere Ahnen ausgelöscht hat!“
Der Ruf nach einem neuen Alpha wurde laut.
Dann: Bilder von Städten in Flammen. Von Wandlern, die sich gegenseitig bekämpften.
„Das ist eure Zukunft, wenn du schweigst“, sagte Mira.
„Und wenn ich spreche?“
„Dann führst du sie. Alle. Wolf. Maus. Krähe. Und du wirst entscheiden, wer überlebt.“
Als die Nacht hereinbrach, saßen sie draußen. Mira begann zu singen – eine Melodie ohne Worte, die tief durch Daniels Knochen kroch. Es war das alte Lied der Krähen.
Und während sie sang, begannen die Krähen sich zu sammeln. Hunderte. Auf Ästen, Dächern, Steinen. Sie starrten Daniel an.
Und sangen mit.
Später, als Ben neben ihm saß, fragte er leise: „Was wirst du tun?“
Daniel sah in die Nacht. Die Federn, der Wind, das Feuer in ihm – alles war bereit.
„Ich werde sprechen“, sagte er. „Und wenn ich brenne, dann nicht allein.“
Der Wald schien kälter, als sie zurückkehrten. Nicht wegen des Wetters – sondern wegen der Blicke. Die Wölfe standen in Gruppen beisammen, flüsterten, schauten weg, sobald sie Daniel sahen.
Ben hielt den Kopf hoch. Doch sein Schritt war schwerer als sonst. Er kannte seine Wölfe. Ihre Loyalität war brüchig geworden.
Am Versammlungsplatz – ein halbrunder Steinkreis, mitten im Herz des Reviers – wartete Caleb bereits. Die Haltung eines Kriegers. Die Augen eines Fanatikers.
„Alpha“, sagte er und spuckte das Wort beinahe aus. „Du bist zurück. Und du bringst ihn mit.“
Daniel trat an Bens Seite. Er wollte den Blick senken – wie er es früher getan hätte. Doch er hielt stand.
„Ja. Ich bin zurück. Und ich habe Antworten.“
Caleb lachte. „Antworten? Du bist eine Lüge! Ein Schatten der Krähenlinie! Dein Blut hat Leben gekostet!“
Ein zustimmendes Knurren ging durch die Menge.
Ben trat vor. Seine Stimme war fest.
„Ich habe mich gebunden. Freiwillig. Nach altem Recht. Daniel ist mein Gefährte. Wer das in Frage stellt, stellt mich in Frage.“
Caleb trat ihm entgegen. „Dann tue ich genau das. Du hast das Rudel verraten, Ben. Du hast uns in die Arme derer geworfen, die unsere Ahnen verbrannten. Ich fordere dich heraus!“
Ein Raunen. Dann Stille.
Daniel wollte etwas sagen, doch Ben hob die Hand.
„Nicht jetzt.“
„Doch“, sagte Daniel. Seine Stimme zitterte – aber nur einen Herzschlag lang.
„Ihr sprecht von Verrat“, rief er in die Menge. „Aber ich trage euer Schicksal mit mir. Ich war ein Kind, als eure Ahnen meine Familie verbrannten. Und trotzdem stehe ich hier – nicht als Feind. Sondern als Teil eines Bundes, der größer ist als eure Furcht.“
„Was willst du sein, Krähenkind?“ zischte Caleb. „König über Wölfe?“
Daniel trat vor. Er hob die Hand. Ein leises Knistern – und dann, in der Luft, erschien das Zeichen der Blutlinie: eine schwebende Rune aus Flammen und Asche.
Die Wölfe wichen zurück.
„Ich will keine Krone“, sagte Daniel. „Ich will, dass ihr überlebt.“
Caleb sprang. Ein einziger, wütender Satz, wie ein Sturm aus Muskeln und Klauen.
Ben war schneller.
Wolf gegen Wolf, Fell gegen Fell – sie krachten in den Kreis, ein Wirbel aus Zähnen und Gebrüll. Daniel wich zurück. Das Feuer in ihm loderte – bereit, sich zu zeigen.
Doch er hielt es zurück. Das war Bens Kampf. Noch.
Blut spritzte. Caleb traf. Ben taumelte. Ein Hieb. Ein Biss.
Dann – Stille.
Caleb lag im Staub. Ben stand über ihm. Zitternd. Keuchend. Er hatte nicht getötet.
„Ich bin dein Alpha“, sagte Ben. „Und das war deine einzige Chance.“
Er wandte sich an das Rudel. „Folgt mir – oder folgt ihm. Aber entscheidet euch jetzt.“
Langsam, einer nach dem anderen, traten die Wölfe vor. Die Ältesten zuerst. Dann die Krieger. Sie verneigten sich – vor beiden.
Ben. Und Daniel.
Caleb wurde davongeschleppt, bewusstlos, aber lebend.
Und in Daniels Brust brannte etwas Neues: Nicht nur das Feuer. Nicht nur die Gabe. Sondern Verantwortung.
In der Nacht lag Daniel wach. Ben neben ihm, die Wunden versorgt, das Gesicht ruhig.
Aus dem Fenster sah Daniel zum Himmel. Eine Krähe flog lautlos durch die Sterne.
Er spürte: Dies war nicht das Ende des Krieges. Nur das Ende der Blindheit.
Der Wald war stiller geworden, seit Caleb gefallen war.
Das Rudel bewegte sich wieder mit vertrauter Ordnung. Es gab knurrende Stimmen, gewiss – aber keine offenen Drohungen mehr. Ben hatte gesiegt. Und Daniel… war anerkannt.
Doch innerlich war in Daniel ein anderes Beben entstanden. Kein Zweifel mehr. Keine Angst. Sondern ein Hunger – nicht nach Macht, nicht nach Feuer – sondern nach Nähe. Nach ihm.
Ben.
Sie waren in eine abgelegene Höhle gezogen, auf Bens Vorschlag. Fern vom Rudel, fern von allem. „Nur für diese Nacht“, hatte Ben gesagt. „Nur wir.“
Das Feuer knisterte in einer Mulde, die Flammen warfen tanzende Schatten an die Wände.
Ben saß im Halbdunkel, der Oberkörper nackt, verbunden an der Schulter. Daniel sah zu ihm hinüber. Lange. Zu lange.
„Du starrst“, murmelte Ben ohne aufzublicken.
„Ich versuche zu verstehen, wie du so ruhig sein kannst.“
Ben sah auf. Sein Blick war weich, aber durchdringend. „Ich bin es nicht.“
Daniel trat näher. Ihre Knie berührten sich. „Dann tu nicht so, als wärst du aus Stein. Ich bin es auch nicht.“
Daniel beugte sich vor – zögernd, doch fest genug, dass es kein Zufall mehr war. Ihre Lippen trafen sich. Erst flüchtig. Dann verlangend.
Ben zog ihn an sich, eine Hand in Daniels Haar, die andere an seiner Hüfte. Daniel keuchte gegen seine Lippen, spürte das Feuer in sich aufflammen – doch diesmal war es warm, nicht wild. Wie geschmolzener Bernstein, wie vertrautes Licht.
Kleidung wurde fallengelassen, ohne Eile. Haut auf Haut traf auf glühende Sehnsucht. Daniel lag unter ihm, das Feuer in seinem Innern nicht mehr gefährlich, sondern lebendig – es flackerte über ihre Körper, sanfte Lichtzungen, die ihre Schatten umspielten.
Ben beugte sich über ihn, küsste eine Spur über Daniels Hals, seine Schulter, seine Brust. „Du zitterst“, flüsterte er.
„Weil du mich berührst, als würdest du mich nicht verlieren wollen.“
„Werde ich auch nicht“, antwortete Ben, mit einer Stimme, die brannte wie Wahrheit.
Als sie sich vereinten, war es nicht roh, nicht wild – sondern voller Ehrfurcht. Zwei Seelen, ein Schwur, ein Moment. Daniel vergrub die Hände in Bens Rücken, spürte jede Bewegung, jeden Herzschlag, als wäre es sein eigener.
Sie verloren sich ineinander – in Hitze, Atem, Nähe.
Und fanden sich.
Ben lag an Daniels Seite, den Kopf an dessen Hals gelegt, der Atem ruhig.
„Ich dachte nie, dass ich lieben könnte“, murmelte Daniel.
„Und ich dachte, ich müsste es nie wieder“, antwortete Ben.
Draußen setzte Regen ein. Leise, beruhigend.
Daniel zog die Decke über sie. „Was auch kommt – ich brenne lieber mit dir, als ohne dich zu überleben.“
Ben küsste seine Stirn. „Dann halte dich fest. Denn der Sturm beginnt gerade erst.“
Der Morgen war weich. Sonnenlicht tropfte durch das Höhlenloch wie Honig auf Stein. Ben schlief noch, sein Atem ruhig, sein Körper warm an Daniels Seite. Daniel lag wach, die Stirn an Bens Schulter gelehnt, die Decke lose über ihren entblößten Leibern.
Noch immer pochte sein Herz schneller, wenn er sich daran erinnerte, wie sie sich in der Nacht gefunden hatten. Nicht nur mit Händen, sondern mit allem, was sie waren.
Er lächelte leise – ein seltener Ausdruck, der seine Augen weicher machte.
Doch dann … eine Krähe. Sie stieß einen einzelnen, krächzenden Ruf aus und landete auf dem Felsvorsprung.
Daniel richtete sich auf. Ben war sofort wach.
„Was ist das?“ fragte Ben rau.
Daniel trat langsam zur Öffnung. Die Krähe flatterte nicht davon – sie wartete.
Dann fiel eine schwarze Feder zu Boden. Als Daniel sie aufhob, spürte er den Schlag: ein Echo aus Magie, dunkel, schwer – und alt.
Er drehte sie um.
Auf der Unterseite war ein Brandzeichen eingebrannt: ?ンルト? ?ンルハ?ンルタ ?ンルタ?ンルタ? ?ンルノ ?ンルホ?ンルテ?.
Ben trat neben ihn. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Was bedeutet das?“
„Es ist ein altes Gericht der Krähenlinie“, sagte Daniel langsam. „Eine Warnung. Oder ein Todesurteil.“
Sie kehrten eilig ins Rudellager zurück. Und fanden es in Bewegung. Aufgewühlte Stimmen, aufgescheuchte Wandler. Ein Jungwolf rannte auf Ben zu. „Sie ist hier.“
„Wer?“ fragte Daniel.
Der Jungwolf zitterte. „Die Weiße Krähe.“
Ben fluchte leise. „Ich dachte, sie sei tot.“
Daniel schüttelte den Kopf. „Sie stirbt nicht. Nicht, solange das Lied der Krähen unvollständig ist.“
Im Zentrum des Lagers hatte sich eine Gestalt versammelt – nicht groß, nicht bedrohlich auf den ersten Blick.
Eine alte Frau, in einen Umhang aus schneeweißen Federn gehüllt. Ihre Augen waren silbrig, fast blind. Doch ihre Präsenz war gewaltig.
„Daniel“, sagte sie mit einer Stimme, die klang wie Wind auf Grabsteinen. „Du hast dich erinnert. Du hast dich gebunden. Nun musst du wählen.“
„Ich habe gewählt“, sagte Daniel, während Ben sich schützend hinter ihn stellte.
„Nein“, sagte die Weiße Krähe. „Du hast dich verliebt. Aber du hast dein Volk nicht gewählt. Und ohne deine Stimme… wird das nächste Blutgericht nicht dich richten – sondern alle, die dir nahestehen.“
„Was willst du?“ knurrte Ben.
„Ich will ihn. Bei uns. In der Feste. Zur Prüfung.“
„Das ist Erpressung“, sagte Daniel leise.
„Nein. Es ist Schicksal.“
Ben packte Daniels Arm, seine Stimme rau, fast flehend: „Du musst das nicht tun. Lass sie ziehen. Wir verteidigen dich.“
Daniel sah ihn lange an. „Ich weiß.“
Dann trat er vor.
„Ich werde kommen“, sagte er zur Weißen Krähe. „Aber zu meinen Bedingungen.“
Sie neigte langsam den Kopf. „Du hast drei Nächte. Dann beginnt der Weg. Wer ihn verlässt, verliert mehr als sich selbst.“
Mit einem Schlag ihrer Flügel löste sie sich in Rauch und Federn auf.
In der Nacht saßen Daniel und Ben auf dem Dach der Haupthütte. Keine Worte. Nur das Ticken ihrer Gedanken.
„Du willst es tun“, sagte Ben irgendwann.
Daniel nickte. „Wenn ich fliehe, jagen sie uns. Wenn ich falle, jagen sie dich. Es gibt keinen Ausweg außer durch das Feuer.“
Ben nahm seine Hand. „Dann geh. Aber komm zurück. Zu mir.“
Daniel legte seine Stirn gegen Bens.
„Ich werde nicht nur zurückkommen. Ich werde brennen – für uns.“
Der Wald war still, als Daniel aufbrach. Ben hatte ihn bis zur Grenze begleitet – weiter durfte er nicht.
Sie standen sich gegenüber, die Finger ineinander verschränkt, als würden sie die Zeit festhalten wollen.
„Dreh dich nicht um“, flüsterte Ben.
„Ich würde nur wieder zu dir zurücklaufen“, erwiderte Daniel mit einem leichten Lächeln.
Ein letzter Kuss. Zärtlich. Voller Versprechen. Dann verschwand Daniel im Dunst des Morgens.
Die Feste war kein Ort – sie war ein Gefühl. Sie schälte sich aus Nebel und Erinnerungen, formte sich aus alten Liedern und vergangenem Schmerz.
Als Daniel vor dem schwarzen Tor stand, fühlte er sein Herz langsamer schlagen. Hier hatte seine Familie gelebt. Und gebrannt.
Die Weiße Krähe wartete bereits. Sie nickte ihm zu – nicht freundlich, aber anerkennend.
„Du bist gekommen.“
„Ich bin kein Kind mehr.“
„Nein. Du bist das Erbe.“
Erste Prüfung: Erinnerung. Er wurde durch Räume geführt, die sich veränderten, wenn er sie betrat: Das Kinderzimmer seines Bruders, das zerbrochene Ritualbecken, in dem einst seine Mutter gebetet hatte. Bilder, Stimmen, Rufe.
Er hielt stand.
Zweite Prüfung: Blut. Ein Spiegel aus Wasser. Darin sah er Ben – gefesselt, verletzt, die Augen voller Schmerz. „Entscheide“, flüsterte eine Stimme. „Rette ihn – oder rette dich.“
„Beides“, sagte Daniel. Und das Bild zersplitterte.
Dritte Prüfung: Wahrheit. Er trat vor einen Rat aus Schatten. „Wer bist du, Daniel?“
Er zögerte nicht. „Ich bin das Kind des Feuers, das im Schatten überlebt hat. Ich bin der Gefährte eines Wolfs und der Erbe der Krähen. Ich bin nicht euer Werkzeug. Ich bin euer Ende – oder euer Anfang.“
Stille. Dann: Ein Nicken. Ein Licht.
Drei Tage später stand er am Rand des Waldes. Ben wartete bereits.
Daniel hatte sich verändert – im Blick, in der Haltung. Er war nicht mehr nur das verfolgte Kind. Er war ganz.
Ben trat auf ihn zu. „Du bist zurückgekommen.“
Daniel lächelte. „Wie versprochen.“
„Und?“
„Ich habe die Vergangenheit begraben. Und entschieden, dass du meine Zukunft bist.“
Ben zog ihn an sich. Diesmal küssten sie sich nicht, um zu trösten – sondern weil sie frei waren.
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