Große Liebe / Nachkommenschaften - Gabriele Wohmann - E-Book

Große Liebe / Nachkommenschaften E-Book

Gabriele Wohmann

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Beschreibung

Wohmanns Fernsehspiel "Nachkommenschaft" wird hier als Drehbuch "Große Liebe" wiederauferlegt. Ihre Werke werden als einfühlsame, spöttische und präzise Beobachtungen einer Gesellschaft beschrieben.

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Seitenzahl: 182

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Gabriele Wohmann

Große Liebe / Nachkommenschaften

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Zwei Fernsehspiele von Gabriele Wohmann: einfühlsame, spöttische und präzise Beobachtungen unserer Gesellschaft.

Über Gabriele Wohmann

Gabriele Wohmann, geboren am 21. Mai 1932 in Darmstadt als Tochter eines Pfarrers, studierte Philologie und arbeitete als Lehrerin in einem Internat. Sie veröffentlichte zunächst unter ihrem Mädchennamen Gabriele Guyot den Erzählungsband «Mit einem Messer» (1958). Es folgten Gedichtbände, zahlreiche Romane und Erzählungen, Hör- und Fernsehspiele. Gabriele Wohmann erhielt mehrere Preise und Stipendien. Sie starb am 22. Juni 2015 in Darmstadt.

Inhaltsübersicht

Große LiebeNachkommenschaften1. Bild Landschaft/Zug2. Bild Zugabteil I3. Bild Auf den Feldern4. Bild Bahnhof I5. Bild Zeitungskiosk/Bahnhof I6. Bild Vor Bahnhof I7. Bild Parkplatz/Bahnhof I8. Bild Kartenkiosk/Bahnhof I9. Bild Kleinstadt/Im VW10. Bild Vor Hotel /W11. Bild Hotel /ezeption12. Bild Freilandgehege13. Bild Hotelzimmer I14. Bild Hotel /reppenhaus15. Bild Hotel /immer II16. Bild Hotelzimmer I17. Bild Kleinstadt /auptstraße18. Bild Veranstaltungssaal I19. Bild Parkplatz vor Veranstaltungssaal I20. Bild Lokal II21. Bild Kleinstadt /axistand22. Bild Am Fluß (mit Taxi)23. Bild Freilandgehege24. Bild Kleinstadt /axi25. Bild Kirche26. Bild Freilandgehege27. Bild Schrebergärten28. Bild Wohnung /ohnzimmer/Beim Veranstalter29. Bild Veranstaltungssaal II30. Bild Zugabteil II31. Bild Im Zuggang32. Bild Zugabteil II33. Bild Stadt in Nordwestdeutschland/Flughafen oder Busbahnhof34. Bild Hotelzimmer III35. Bild Stadt in Nordwestdeutschland im 2 CV36. Bild Vor Lenas Haus37. Bild Lenas Haus/Treppenhaus38. Bild Wohnung II/ei Lena39. Bild Supermarkt40. Bild Stadt in Nordwestdeutschland/Straße41. Bild Hotelzimmer-Rezeptionen Begegnungen mit Veranstaltern Fahrten zu Veranstaltungen Veranstalterrede u.Veranstalter Litanei im Off (keine Montage!)42. Bild Veranstaltungssaal/Nebenraum43. Bild Fotofirma Agnes44. Bild Wohnung Schweizer/Wohnzimme/ad/Küche45. Bild Wohnung Schweizer/Agnes’ Schlafzimmer46. Bild Wohnung/Mutter Schweizer/Eßzimme/chlafzimmer47. Bild Wohnung Mutter Schweizer/Küche48. Bild Lokal II/ahnhofsrestaurant49. Bild Gefängnis/Warteraum50. Bild Kirchen51. Bild Zeitschriftenbude52. Bild53. Bild Wohnung V/ohnzimmer54. Bild Bahnhof /nkunft im VW55. Bild Veranstaltungssaal III56. Bild Garten mit Laube/Mutter Schweizer57. Bild Wohnung /utter Schweizer58. Bild Wohnung Schweizer59. Bild Auf den Feldern

Große Liebe

Fernsehspiel

Personen:

Xenia

Xenias Mutter

Xenias Bruder Daniel

Tante Willi

Tante Natalie

Egmond Hecht

Egbert Stiehl

Stiehls Mutter

Direktorin

Kollegin

andere Kollegen

Schülerinnen der UIIB

Wirt

Wirtin

2 Lehrerinnen

Vater mit Keuchhustentochter

Postangestellte

Hausmädchen

Kind auf dem Postamt

Kind im Park des St. Vinzent-Heims

Kindergruppe in Kelk

Kindergruppe an der See

Kinder auf dem Schulgang

Fernsehspiel von Gabriele Wohmann

Inszenierung Johannes Schaaf

Sender Freies Berlin

Erstsendung: 1. 2. 66

Saal mit Tischen und Stühlen in einer freundlich-puritanischen, mit kargem Kunstgewerbe geschmückten Baracke, die zum Gebäudekomplex einer Art von evangelischer Akademie gehört. Gerade ging ein Vortrag zu Ende, am Tisch des Redners herrscht Unordnung mit verschiedenen Musikinstrumenten, der Redner räumt auf, während er sich mit einer Frau unterhält. Männer und Frauen erheben sich von ihren Plätzen, stehen in Gruppen herum, manche verlassen den Saal, andere wollen zum Redner. Eine Frau ist sitzen geblieben und wirkt unbeteiligt, abwesend: Xenia. Sie fällt etwas aus dem Rahmen, auch durch ein sehr strenges, hochgeschlossenes Kleid, etwas zu feierlich für den Anlaß. Ein Mann, vom andern Tischende aus, beobachtet sie, bevor er sich entschließt, auf sie zuzugehen, seine Annäherung ist zugleich keck und schüchtern: Stiehl. Mittelgroß, weiches, teils selbstgefälliges, teils ängstliches Gesicht, nun angestrengt beschäftigt mit Xenia. Sie bemerkt, daß er zu ihr will, und tut deshalb so, als interessiere sie sich für ihre Notizen, hantiert mit Zetteln, Heften, ihrer Mappe. Dann aber hebt sie den Kopf und blickt in Richtung auf Stiehl, der nun schon nah ist; Xenia steht halb auf, lächelt ihn freundlich und unentschlossen an, auch verlegen, ungeschickt.

STIEHL froh, aber mit gekränktem Unterton:

Ich hab Sie vorhin nicht entdeckt.

XENIA kurzes, unsicheres Auflachen:

Ja?

Stiehl setzt sich, nachdem sein fragendes Gesicht kurz zuvor «Darf ich?» angedeutet hat, zu irgendwelchem Gemurmel. Xenia hat genickt.

Aber ich war immer da, von Anfang an. Lacht.

STIEHL:

Ich hab Sie nirgendwo entdeckt. Überlegt, leckt sich die Lippen. Hat’s Ihnen gefallen?

XENIA hebt die Schultern, unsicher:

Gefallen – es war interessant, ich meine, nicht das Übliche –

STIEHL eifrig, unzufrieden:

Und doch, ich finde immer, wenn man aus der Praxis kommt – Vage Geste: Diese ganzen Abschätzig: Musikerzieher-Theorien –

Xenia hantiert wieder mit ihren Papieren. Unlust und Verlegenheit.

XENIA fast barsch:

Mir tut’s schon wohl, bloß weg zu sein – sechs Tage weg von der Schule … Alles andere ist mir ziemlich egal. Lacht, um es abzuschwächen.

STIEHL:

Ich nehme an, in der Stadt ist alles noch schwieriger, gerade Musikunterricht, problematischer – hab ich recht?

XENIA die Sache ist für sie viel zu wichtig, als daß sie in dieser Weise über sie reden könnte, deshalb: ausweichend, ohne Eifer:

Ich weiß nicht – kann sein.

Sie steht auf. Sie schwankt zwischen grundlosem Ärger auf Stiehl und dem Bedürfnis, freundlich zu ihm zu sein. Er steht auch auf, verläßt neben ihr den Saal. Sie treten ins Freie, in eine etwas fade, begärtnerte Landschaft, sonnig und windig. Musikerziehergruppen da und dort, auf und ab promenierende Lehrer und Lehrerinnen. Xenia kneift die Augen zusammen. Das Haar verweht; ohne in den Spiegel zu sehen, weiß Xenia, daß sie mit ihrem Haar nicht zufrieden sein kann, und sie zerrt etwas sinnlos daran herum. Insgesamt wirkt sie unsicher, unzufrieden und doch von irgend etwas erleichtert. Stiehl bemerkt und beachtet nichts davon. Ihm liegt nur daran, keine Gesprächspause zu lang werden zu lassen, damit das Vage zwischen ihm und ihr anhält.

STIEHL:

Sie müssen uns mal besuchen –

Als von Xenia nur ein ungewisses Lachen kommt, betont er fast töricht laut:

Doch, wirklich. Unbedingt.

Xenia, ihm voraus, geht ein paar zögernde Schritte in Richtung auf ein anderes flaches, langgestrecktes Gebäude. Wendet sich lachend zu ihm um –

XENIA:

Danke!

STIEHL froh und eifrig:

Es ist noch eine richtige Idylle.

XENIA:

O! Das kann anstrengend sein.

STIEHL gekränkt:

Wir finden es nicht anstrengend, meine Mutter und ich. Während sie gehen, starrt er ihr Profil an: Es gibt ganz nette Leute in Kelk.

XENIA:

Das hat Sie doch hoffentlich nicht gekränkt – Lacht: – die anstrengende Idylle! Lacht, sieht ihn an.

STIEHL mit wegwerfender Geste, laut, froh über ihre Beteiligung:

Ach wo! Er lacht nun mit. Übrigens kenne ich diese Einstellung gegen das Land – Bedeutungsvoll, schmerzlichstolz: Meine Braut langweilt sich jedesmal. Sie ist ein Stadtmensch.

Sie kommen in der Türnähe des Gebäudes an. An der Hausmauer eine Bank. Stiehls rechte Hand lädt zum Sitzen ein. Sie setzen sich.

Frühlingssonne –

XENIA:

Für Ferien ist das Land sicher gut. Und wenn ich käme, wären ja Ferien.

Beide lachen. Xenia sitzt unbeweglich in der Sonne und rückt weg, in den Schatten, weiter entfernt von Stiehl. Es fällt ihr auf, sie will ihn nicht kränken.

Es ist wegen der Sonne. Deutet rum, um sich verständlich zu machen: Oder ich käme zur Kur.

Während einer Gesprächspause bückt Stiehl sich nach einem Zweig, kratzt im Kies. Zeichnet Buchstaben. XENIA

STIEHL:

Xenia. Xenia. Lacht entzückt und kurz: Was für ein schöner Name.

XENIA schnell:

Ein blödsinniger Name. Er hat mich immer geärgert.

STIEHL:

Aber –

XENIA:

Er würde zu Gott weiß wem passen, bloß nicht zu mir.

STIEHL:

Er paßt wunderbar zu Ihnen.

XENIA:

Ich kann ihn nicht ausstehn. Ich hatte mal einen Schüler, der hieß Friedrich Schiller. Lacht: Er war so dämlich, er schrieb so miserable Aufsätze –

Beide lachen und hören ziemlich unvermittelt auf. Zwischen ihnen ist Verlegenheit, auf Xenias Seite größer, auf Stiehls Seite mit Neugier durchsetzt. Er zupft an seinem Zweig herum. Stößt Kiesel mit der Schuhspitze. Es ist kein eleganter Schuh, eher ein Wanderschuh.

STIEHL:

Wie heißt Ihr kleiner Bruder?

XENIA:

Klein! Er ist ein Riese. – Daniel. Lacht: Auch zu anspruchsvoll!? Mein Vater hatte viel mit uns vor.

STIEHL:

Meine Braut heißt Marlies. Das paßt ausgezeichnet. Betont, Wort für Wort: Sie ist ein liebes, einfaches Ding.

XENIA:

Haben Sie was gegen – Kopiert seine Deutlichkeit: – liebe, einfache Dinger?

STIEHL hebt bedeutungsvoll die Brauen, starrt Xenia an:

Nur manchmal. Dann ja. Doch.

Xenia hat gelacht, eine Weile seinem Starren standgehalten, sieht dann weg. Das Ganze macht ihr Spaß und Unbehagen. Der Spaß ist allerdings forciert. Er besteht nur darin, nicht ganz allein zu sein, für jemanden wichtig zu sein.

Xenia, wie denken übrigens Sie übers Heiraten? Warum so dagegen, hm?

XENIA rasch, gekränkt:

Dagegen? Gar nicht. Ich werd ja heiraten.

STIEHL neugierig, überrascht, enttäuscht:

Wirklich? Ist das wahr? Lacht, um seinen Schock zu bagatellisieren: So was von Geheimniskrämerei! Tztztztz – Ich erzähl Ihnen mein ganzes Leben –

XENIA zum erstenmal mit echtem Eifer:

Kein böser Wille, aber es stimmt, es ist ein Geheimnis. Ich kann nicht drüber reden. Das heißt, jetzt – Lacht: Jetzt wissen’s doch schon eine ganze Menge Leute. Wir sollten nicht drüber reden, er und ich. Er ist noch verheiratet.

STIEHL:

O – Stochert unzufrieden mit der Schuhspitze im Kies rum, sieht zu Xenia auf, sieht unzufrieden ihr nun abwesendes, angeregtes Gesicht: Und er wird sich scheiden lassen.

XENIA:

Ja. Wenigstens – er hofft es. Es ist schwierig.

STIEHL:

O ja. Ich wünsche Ihnen –

XENIA rasch, so daß sie ihn unterbricht:

Es wär nicht schlimm, ich meine, für mich, wenn wir so weitermachen müßten. Ich meine, es wär nicht das Schlimmste.

Ihr Ausdruck, die Unruhe ihrer Hände, ihre Sprechweise – alles an ihr beweist, daß sie das Gegenteil meint.

STIEHL:

Tja – also ich glaube, für mich, für meine Braut und mich, wenn wir immer alles im verborgenen –

XENIA:

Man gewöhnt sich dran.

STIEHL:

Aber immer mit dem Gefühl, einen andern Menschen –

XENIA grob:

Ich meine, ich bin nicht versessen aufs Heiraten. Wenn man so lang allein war. Es tut ihr leid, daß sie grob war, lacht: In meinem Alter –

STIEHL:

In Ihrem Alter!

Beide lachen erleichtert, sehen sich an, Xenia sieht weg. Sie holt aus der Mappe eine Tüte mit Bonbons, bietet Stiehl an, nimmt sich selber.

XENIA:

Doch, doch: ich bin nicht mehr aufsehenerregend jung.

STIEHL:

Wie alt – aber das darf man nicht fragen.

XENIA:

Bei mir schon. Aber raten Sie. Wenn’s schmeichelhaft ist, werd ich es nicht korrigieren.

STIEHL nützt die Gelegenheit aus, Xenia genau zu mustern:

Nun, dann –

XENIA rasch, enerviert durch sein beschämtes Zögern, durch seine indiskreten, sich anbiedernden Blicke:

Dreiunddreißig – um Ihnen die höfliche Lüge zu ersparen.

Xenia steht auf. Sie streckt sich etwas. Geht in Richtung Haustür. Stiehl folgt verwirrt, unerbittlich, zäh. Man sieht da und dort Tagungsleute. Xenia scheint auf eine Gruppe zugehen zu wollen, Stiehl folgt ihr schnell und erreicht sie.

STIEHL:

Ich hätt Sie aber wirklich für jünger gehalten, doch –

XENIA:

Nett.

STIEHL:

Wirklich. Ich bin fünfunddreißig. Und was für ein großer Altersunterschied zwischen Ihnen und Ihrem Bruder –

XENIA:

Es ist charakteristisch für meine Eltern. Bleibt stehen, besinnt sich, scheint plötzlich mehr an Stiehl interessiert zu sein: Übrigens, der Mann, den ich heiraten werde – Verlegen: Das ist wieder ein großer Altersunterschied. Lacht: Blöde Bemerkung.

Sie geht weiter, an der Hausmauer entlang, vor dem Eingang stehen viele Tagungsteilnehmer, und Xenia, die Stiehl voraus war, geht ihm in der Menge verloren. Er hastet ihr nach.

STIEHL ruft Xenia, die er fast wieder erreicht hat, nachdem er sie vorher nochmals verlor, fast aufgeregt zu:

Egmond? Heißt er so?

XENIA:

Ja.

Sie sind wieder nah beieinander.

Das ist ein holländischer Vorname. Ein Seebad heißt auch so.

Sie geraten wieder auseinander. Nun im Hausinnern. Stiehl holt Xenia vor einer Kommode ein, auf der Post liegt.

Xenia hält Stiehl ein Kuvert hin, deutet auf den Absender:

Und ein Fischnme als Nachname: Hecht. Lacht. Man sieht ihr an, daß sie Stiehl vorläufig nicht mehr nötig hat, und auch er merkt es, starrt unglücklich auf den Brief:In Egmond an Zee wollen wir heiraten. Oder wenigstens mal hin, vorher –

Der Parterreflur eines Hauses ungefähr aus dem Jahr 1930. Eine Standuhr, eine Biedermeierkommode, eine Garderobe. Alles ziemlich geräumig. Eine dicke alte Frau mit weißem Haar, zu winzigem Knoten am Hinterkopf zusammengekratzt, hebt Briefe dicht unter die kurzsichtigen Augen, bevor sie sie zurücklegt auf die Kommodenplatte.

TANTE NATALIE entziffert:

Von Egmond Hecht, wieder von ihm.

Eine der vier Türen, die auf den Flur gehen, die Küchentür am östlichen Ende, öffnet sich; eine magere dunkelhaarige, verhärmte Frau mit etwas gebücktem Ischiaskreuz kommt rasch und verärgert.

MUTTER:

Laß das, laß Xenias Post. Sie selber nimmt den Brief auf, betrachtet ihn, starrt über ihn weg und seufzt.

Eine langweilige, unbelebte Straße. An ihrem Ende erscheint Xenia. Sie trägt eine Mappe, wirkt müde, obwohl sie rasch geht. Sie trägt einen Mantel, keine Kopfbedeckung. Auf Fahrrädern überholen sie einige Mädchen, die grüßen und sofort weiterreden, lachen. Xenia grüßt zurück in einer Mischung aus übertriebener Zuvorkommenheit und Ablehnung, alles in allem zu hastig, zu nervös. Sie öffnet ein Gartentor in der Reihe zahlloser ähnlicher Gartentore, durchquert ein Vorgärtchen, das den anderen Vorgärtchen gleicht. Die ganze Szenerie ist gediegen-uncharakteristisch, einheitlich, gepflegt, öde. Sie steckt den Schlüssel, den sie schon seit einer Weile griffbereit hielt, ins Schloß der Haustür. Die Villa wirkt etwas abgeschabt, verblüht. Hinter der Entreetür kehrt Tante Natalie.

XENIA:

Post für mich?

Sie steht vor der Kommode. Ihre Hände sind aufgeregt zwischen ein paar Briefen.

TANTE NATALIE freundlich-dramatisch:

Wieder von dem Hecht – Kichert.

Xenia öffnet hastig, abgewandt von Tante Natalie. Was sie im Kuvert findet, ist bloß ein Zeitungsausschnitt. Am Rand steht ein Gruß. Wieder öffnet sich die Küchentür. Die Mutter steht erschöpft in Dampfschwaden. Xenia starrt noch das gedruckte Zeug an, steckt es dann zurück ins Kuvert. Beim Blick zur Mutter zwingt sie sich zum Lächeln, schwenkt das Kuvert.

XENIA ruft:

Rodrigo-Kritiken!

MUTTER seufzt:

Können wir gleich essen, Schatz?

XENIA dreht sich um:

Ja, von mir aus.

MUTTER:

Daniel ist auch schon da, der arme Liebling, zwei Arbeiten. Ich hab Pfannkuchen gemacht, für Danielchen.

XENIA matt:

Schön.

Xenia wendet sich langsam von der offenen Küchentür ab, will an der Kommode vorbei durch den Flur, in dem Tante Natalie mit dem Besen im Weg ist. Xenia geht in Richtung Treppe zum ersten Stock. Als sie an der Tante vorbeikommt, wird sie auf einmal von Wut gepackt. Sie bleibt stehen, entreißt der Tante den Besen, die Schulmappe fällt ihr dabei hin. Die Tante schreit auf.

XENIA böse, halblaut, zornbebend:

So rum. So. So wird gekehrt.

TANTE NATALIE jammernd:

Aua, au, du hast mir weh getan, ah! Xenia gibt den Besen ab, bückt sich nach der Mappe.

MUTTER ruft aus der nur halb geschlossenen Küche, in der Teig auf die heiße Pfanne zischt:

Was ist denn bloß los! Natalie!

XENIA steht auf der zweituntersten Treppenstufe:

Es ist nicht mitanzusehn. Immer kehrt sie mit dem Besen falsch rum.

Die Treppe hinunter, mit einem Knurren und blicklos an Xenia vorbei, kommt Daniel. Er stößt die trotzig wieder kehrende Tante, hebt dann lange Arme, bewegt sie wie Vogelflügel, streckt den langen Hals vor. Auf diese Weise, krähenhaft krächzend, geht er rasch über den Gang, während die Mutter ihm liebevoll-furchtsam entgegenstarrt, er öffnet die Tür, die sich im rechten Winkel zur Küchentür befindet und ins Eßzimmer führt, er läßt sie laut ins Schloß fallen.

MUTTER larmoyant-zärtlich, wendet sich der Pfanne zu:

Danielchen!

XENIA zur Tante, zu ihrem Rücken, begütigend:

Es wirbelt doch allen Staub auf, wenn du so rum kehrst. Verstanden?

Tante Natalie macht beleidigt und verkehrt weiter. Xenia geht seufzend hinauf. In ihrem Zimmer läßt sie, kurz hinter der geschlossenen Tür, die Mappe fallen, steht steif da, besinnt sich dann aufs Kuvert, holt es aus der Manteltasche, zieht wieder den Ausschnitt raus, betrachtet ihn und den Gruß, wirft dann alles weg, hebt die Hände zum Gesicht. Steht erstarrt, nun mit herunterhängenden Armen. Ihr Zimmer ist nicht groß, aber ziemlich hoch. Vor einem Fenster steht, verdunkelnd, ein Baum. Die Einrichtung wirkt sehr privat, durchdacht, auch behaglich, zu vollgestopft.

Gong, mehrmals, laut. Türenschlagen, Schritte.

Am Gong, der unmittelbar neben dem Treppenaufgang hängt, steht die Mutter mit schräg nach oben gehobenem Gesicht, sie hält den Schlegel, späht in Richtung ersten Stock, lauscht; bewegt dann wieder den Schlegel.

MUTTER zwischen Gongschlägen:

Essen! Kommst du!

Sie steht da und wartet. Ihr Gesicht ist mißbilligend, traurig. Es fällt ihr dann ein, am Gong herumzukratzen. Als sie damit fertig ist, hebt sie wieder das Gesicht nach schräg oben.

Xenia! Das Essen!

Gong, zweimal.

Die Mutter setzt sich in Richtung Eßzimmer in Bewegung. Oben in ihrem Zimmer zieht Xenia, noch immer mit versteinertem Gesicht, den Mantel aus, sie stößt Mappe und Kuvert mit der Schuhspitze an, dann rafft sie sich auf und verläßt das Zimmer. Auf dem oberen Flur zögert sie am Spiegel, blickt hinein, während sie ruft:

XENIA:

Sofort!

Um einen runden Tisch im dämmrigen Eßzimmer sitzen die drei anderen. Zwischen ihnen ein Pfannkuchenberg. Die Mutter nimmt Daniels Teller, legt zwei Pfannkuchen darauf, schneidet sie klein, in einzelne Bissen, während Daniel mit verschränkten Armen zurückgelehnt, gnädig abwartend, dabeisitzt, die Mutter bei der Arbeit beobachtet. Tante Natalie späht umher und will daraufhin schnell einen Bissen zum Mund führen. Daniel fährt unvermutet auf und erschreckt sie, sie zuckt zusammen.

DANIEL brüllt mit tiefer Stimme:

He! Fang nicht schon an!

Tür geht auf, Xenia mit nun beherrschtem Gesicht, sogar leicht lächelnd, tritt ein. Tante Natalie hat den Bissen zurückgelegt.

Erst wenn alle da sind.

Die Mutter schiebt Daniel den präparierten Teller hin. Daniel schiebt den Kopf vor in Richtung Tante Natalie.

Leise, böse:

Ohne zu beten, tz, tz!

Xenia setzt sich, entfaltet ihre Serviette, die sie aus einer Serviettentasche holte.

MUTTER vorwurfsvoll:

Xenia, bitte. Ich bin zu erschöpft.

XENIA irritiert, leise, verdrossen, schnell:

Sei unser Gast, Herr Jesu Christ, weil du der güt’ge Spender bist.

ALLE murmelnd erleichtert:

Amen.

MUTTER ruft:

Gesegnete Mahlzeit!

Die drei andern, durcheinandergemurrte Antworten. Unmittelbar danach:

Schmeckt’s?

Zu Daniel: Sind sie richtig?

Daniel hebt die Schultern, er kaut gemächlich und gelangweilt, an die Lehne seines Stuhls legt er seinen langen, trägen Rücken. Xenia betrachtet ihn gereizt.

XENIA:

Sie sind köstlich, Mamachen.

DANIEL:

Warum hast du Rosinen drin.

XENIA streng:

Weil sie mit Rosinen besser sind.

MUTTER:

Mach sie dir ruhig raus und gib sie mir.

XENIA zu Daniel, scharf:

Weil wir sie mit Rosinen lieber essen.

MUTTER eilig, zu Xenia:

Was will bloß Egmond Hecht dauernd von dir? Ist er nicht verheiratet?

XENIA gereizt, ruft:

Das weißt du doch. Ja. Beherrscht sich: Bis jetzt noch.

MUTTER:

Soll das heißen – Xenia – Schüttelt den Kopf.

DANIEL wütend, stochert auf dem Teller herum:

Ihr wißt alle inundauswendig, daß ich sie nicht ausstehn kann.

MUTTER ängstlich, sanft:

Mach sie doch raus –

XENIA scharf:

Man muß alles essen können.

MUTTER verzweifelt:

Komm, so gib schon her!

Mutter reißt Daniel den Teller weg und sucht selber die Rosinen, scharrt sie zu einem Häufchen zusammen. Tante Natalie ißt und ißt, holt sich mit verwegenen Seitenblicken zwei neue Pfannkuchen. Schweigen. Xenia rafft sich auf.

XENIA:

Hab ich dir’s nicht gesagt: er schickt mir eine Kritik vom «Rodrigo». Wir wollen’s sehen, demnächst.

Mutter, schwerer, vielsagender Seufzer.

Daniel empfängt wortlos seinen Teller. Tante Natalie bringt beim Essen die Gabelzinken an die Zähne. Schweigen. Gereizte Blicke Xenias, sie gelten der Tante und deren Geräuschen.

DANIEL schiebt den Teller wieder der Mutter hin:

Da sind noch massenhaft.

Die Mutter arbeitet wieder an Daniels Pfannkuchen. Xenia stützt plötzlich die Ellbogen auf, starrt die Tante an, die unverdrossen weiterißt.

XENIA zur Tante:

Bitte, laß das.

TANTE NATALIE ahnungslos, aber schon beleidigt:

Was denn?

XENIA hantiert wieder mit ihrem Besteck, starrt auf den Teller:

Worum ich dich immer und immer wieder bitte.

Tante Natalie ißt verständnislos wie vorher weiter. Die Mutter ist mit Daniels Teller fertig.

MUTTER munter:

So, nun laß dir’s endlich schmecken.

Zu Xenia: Schmeckt dir’s denn, Liebling?

XENIA:

Abgesehen von gewissen Geräuschen. Mühsam, gewaltsam freundlich: Aber deine Pfannkuchen sind köstlich.

MUTTER sie fällt über ihren eigenen Teller her und holt im Kauen auf:

Was denn für Geräusche, Schatz?

DANIEL:

Mit vollem Munde spricht man nicht. He, hier sind noch welche.

Wieder schiebt er den Teller weg, deutet mit der Gabel.

XENIA erregt:

Was ich ihr schon hundertmal gesagt habe. Sie schnickt den Kopf in Richtung auf die Tante: Sie bringt jedesmal die Gabel an die Zähne.

Tante Natalie ißt, ihr Ausdruck enthält beides: Verzweiflung und widerspenstige Verbohrtheit.

MUTTER vergnügt, etwas geringschätzig:

Merk ich gar nicht. Hier, Daniel, jetzt ist aber wirklich nichts mehr drin. Kein einziges Rosinenäuglein. Scharrt sich die Rosinen auf den eigenen Teller: Ich hab’s ja gut – oder willst du welche, mein armes Nervöses?

XENIA wehrt ab:

Das hörst du nicht! Paß mal auf, so: Sie zieht, der Mutter zugekehrt, die Gabelzinken langsam und laut über die Zähne.

MUTTER indigniert:

Schon gut.

Zur Tante, streng: Dann laß es. Es macht Xenia nervös. Ich hör es nicht, Schatz. Du bist nervös in letzter Zeit.

DANIEL grölt:

Weil sie’s selber macht, deshalb hört sie nicht. Stimmt einen albernen, dröhnenden Triumph an. Beugt sich weit vor zu Xenia und macht es nun selber: das Gabelgeräusch; lacht.

MUTTER verdutzt, unsicher in dieser Situation:

Ihr seid zu empfindlich, ihr zwei.

Xenia steht abrupt auf, aber schon im Stehen, als sie den Stuhl anschiebt, hat sie sich wieder einigermaßen gefaßt.

XENIA mit erzwungener Nettigkeit:

Ich hol schnell Tante Willichens Geschirr, ja?

MUTTER:

Bist du schon fertig?

XENIA angestrengt lustig:

Das Treppenlaufen wird mir neuen Appetit machen. Ruft, schon in der offenen Tür: Laßt mir was übrig!

MUTTER zu Daniel:

Was hat sie gesagt?

DANIEL deutlich, mit Genuß:

Wir sollen ihr nichts übriglassen, sie ist satt.