Eine gewisse Zuversicht - Gabriele Wohmann - E-Book

Eine gewisse Zuversicht E-Book

Gabriele Wohmann

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Beschreibung

Gabriele Wohmann erzählt sehr persönlich über ihren Glauben und die Bedeutung des christlichen Glaubens im Allgemeinen. Als Pfarrerstochter, die ihren Vater immer sehr bewundert hat, und als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen ist sie mit der christlichen Religion und Theologie bestens vertraut. Manchmal schnoddrig, manchmal kantig, aber immer voller Esprit gelingt es ihr, die großen Lebensthemen als Leseerlebnis zu gestalten.

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Seitenzahl: 194

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Gabriele Wohmann

Eine gewisse Zuversicht

Gedanken zum Diesseits, Jenseits und dem lieben Gott

Impressum

© KREUZ VERLAGin der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.kreuz-verlag.deISBN (E-Book): 978-3-451-33932-5ISBN (Buch): 978-3-451-61064-6

Inhaltsübersicht

Zum Geleit

Der Vater meines Vaters

Das Pfarrhaus

Schreibwand

Das Buch, mit dem ich lebe

Meine Gedichte

Der Sprung in die Freiheit

In kleinen Epiphanien öffne ich mich dem Heiligen Geist

Der doppelte Vater

Meine Leidenschaft für Martin Luthers Bibelübersetzung

Die Selbstverständlichkeit des Unzeitgemäßen

Über das Schreiben, das Scheitern und die Sehnsucht nach Gott

Psalm 131

Das unvorstellbare Glück

Über Diesseitiges hinaus

Ein Jesus-Jedermann wäre enttäuschend

Diese Liebe währt ewig

Offiziell könnte Weihnachten ausfallen

Meine Wunschkirche

Höchste Leidenschaft

Endlich bricht der Tränenkrug

Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben

Auf dieser Seite des Todes

Freiheit nach dem Tod

So ist die Lage

Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht

Unbeschreibliche Freude

Tod und Ewigkeit

Wenn der Vorhang erst richtig aufgeht

Der unentbehrliche Glaube

In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Weltüberwunden

Gottes Frieden

Wie alt wollen wir werden?

Was mir die Auferstehung Christi bedeutet

Zum Geleit

»Wie kann, darf, sollte ein Mensch in unserer Zeit Christ sein?« Zaudernd und zugleich pragmatisch duckt die Frage sich vor der prinzipiellen Entscheidung: Nehme ich das Geschenk an, das die Freiheit selber ist, den Glauben an Gott? Jedes zeitbezogene Zögern zwingt Gottes Zusage an den Menschen auf eine kläglich-bodenständige Plattform herunter, als handle es sich um eine Clubmitgliedschaft mit beliebiger Funktion.

In geänderten Zeiten ändern sich zwar die Beziehungen des Menschen zu Gott– Gott aber ändert sich nicht. Im gleichfalls unveränderten Evangelium verscheucht den »Geist der Feigheit« die unveränderliche Verkündigung. Mit Gottes Treue könnte also nur des Menschen Vertrauen konkurrieren, unbehindert von aktuellen Unschlüssigkeiten.

Trends unterworfen ist der Glaube nicht. Entweder – oder. Gab es etwa Zeiten, in denen Gott leichter verstanden werden konnte? Was ist speziell heute so fraglich an Christi Zusicherung: »In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden«?

Das Lesen in der Bibel verhilft zu zahllosen Imperativen gegen die uns einwohnende Angst. Insofern müsste der unermessliche Nutzwert aufscheinen, ein Christ zu sein! Ein Christ ist jemand, in welcher Zeit auch immer, zunächst sich selber zuliebe. Denn Gott profitiert ja nicht von des Menschen Gläubigkeit, nicht er braucht uns, wir aber brauchen nichts dringender als ihn.

Voraussetzungen für solche Erfahrungen sind zuallererst Eltern, die ihrem Kind die wichtigste Empfindungsmöglichkeit seiner zukünftigen Biografie nicht vorenthalten. Kierkegaard notiert: »Der beste Beweis für die Unsterblichkeit der Seele, dafür, dass es einen Gott gibt usw., ist eigentlich der Eindruck, den man davon in seiner Kindheit empfängt, also der Beweis,… das ist ganz sicher, denn mein Vater hat es mir gesagt.« Die ganze Schöpfung liegt in Angst und sehnt sich nach Erlösung. Angst hat auch der Christ. Karl Barth erinnert ihn an seine Berufung zu beten. Im Gebet, das weder »schön« noch »fromm« sein muss, sondern von der Angst besetzt sein darf, antizipiert der Christ seine Befreiung von der Angst, der Gottes Autorität die Grenze setzt.

Jetzt dürfen wir aber nicht folgern: Aha, ein Christ zu sein, das bietet Annehmlichkeiten, ist die Idealtherapie. Zuvor müssen wir lernen, worum es sich handelt. Das Herauspicken begünstigender Zitate genügt nicht. Wir sollten uns täglich anstrengen, und unser Fleiß wird Folgen haben. Was nach innen gekehrt ist, muss nach außen treten, wirksam werden. Mutprobe? Heute noch?

Ich denke an die gefährdeten Berufsjahre meines Vaters, der im Widerstand gegen das Naziregime als Pfarrer einen christlichen Schwesternverband leitete: Das war schlimmer als nur unbequem und nicht bloß Privatsinngebung – die schöne »Sehnsucht nach Gott«: Kierkegaard–, sondern darüber hinaus christliche Praxis, Glaubenskampf in der Nächstenliebe, bespitzelt von Gegnern.

Der Christ hat deutlich umrissene Aufgaben, die ihm Jesus selber formuliert hat. Ein Alibi-Christsein, vereinfacht zur Ersatzhumanität, drückt sich vor dem Ursprung der Lehre, und der Name Gottes ist ihm peinlich. Jemand kann ein »guter Mensch« sein, doch ist er darum noch kein Christ, dem nämlich Gott Ausgangspunkt und Ziel ist, der sich vor Gott als »unnützen Diener« kennt, wodurch es überhaupt erst zu seinen Anstrengungen kommt. Mit todesbewusstem, ewigkeitsverlangendem Ernst probt er den Gehorsam gegenüber Gottes Geboten, lebenslänglich. Seinen engsten Umkreis überspringt er nicht.

Erst aus der Freude meines Allernächsten, die ich ihm gemacht habe und die zuerst nur seine Freude war, entsteht meine eigene Freude. Befangen in eigenen Interessen, Wünschen, auch Egoismen, wird eben diese Ausstrahlung der Freude von uns viel zu wenig bedacht. Dabei kann das Gleichnis vom verlorenen Sohn heute jeden Tag in unseren Handlungen wiederholt werden.

Ein Letztes zur Gnade, ein Christ sein zu dürfen: Wenn ich scheitere, immer wieder nicht genüge, und dann nicht an Gottes Vergebung glaube, dann, so Kierkegaard, »ärgere« ich Gott. »So wie ein Vater seine Kinder liebt…«: nachlesen! Eine schönere Liebesgeschichte ist nirgendwo zu entdecken.

Der Vater meines Vaters

Wer war er, der Vater meines Vaters, mein Großvater Johannes Guyot? Im schwarzgerahmten Nachruf auf ihn, 5.Jahrgang 1910, Neue Evangelische Blätter, Organ der »Freien Landeskirchlichen Vereinigung für das Großherzogtum Hessen«, lese ich: »Am 2.Juni, abends 7 1/2Uhr, ist der Begründer und erste Leiter der Freien Landeskirchlichen Vereinigung, D.Johannes Guyot, Pfarrer in Heppenheim a. d. B., nach kurzem Krankenlager im noch nicht vollendeten 49.Lebensjahr uns jählings entrissen worden. Noch zwei Tage vorher hatte er mit Frau und Freunden in gehobener Stimmung einen mehrstündigen Ausflug unternommen und dabei die Absicht ausgesprochen, am nächsten Tag einer Vorstandssitzung des Hessischen Diakonievereins beizuwohnen. Abends nach der Heimkehr hatte er noch Besuch empfangen, dann setzte gegen 10Uhr ein Schüttelfrost ein, am nächsten Tag trat eine Gallenentzündung, am darauffolgenden ein heftiges Cerebralfieber hinzu, und der schwerkranke Körper unterlag unaufhaltsamer Auflösung. Er hatte es längst gewusst, dass seine Lebensbahn nur noch kurz bemessen sei und eines Tages plötzlich abbrechen werde…« Weiter ist dort von »klaglosem Leiden«, heiterer »Fassung« und »Gottergebenheit« die Rede, auch vom 25-jährigen Amtsjubiläum des Vorjahrs und der ihm dargebrachten »innigen Verehrung«.

Schon aus diesen paar Zeilen habe ich etwas über ihn dazugelernt, noch ein Amt, eine Gründung: Von der Freien Landeskirchlichen Vereinigung habe ich bisher nichts gewusst. Nur sehr fragmentarisch konnte ich Fragen nach ihm beantworten: Pfarrer in Heppenheim, davor in Darmstadt, Johannes-Gemeinde, Gründer des Hessischen Diakonievereins, er wurde nur so alt wie Anton P.Tschechow. Höchste Zeit für die Aufgabe, über ihn zu sprechen, zu einer retrospektiven Zeitreise aufzubrechen. Schon der kleine liebevolle altertümliche Nachruf hat meine Neugier zu Recherchen inspiriert.

Aber auch jetzt mit gründlichem Bescheidwissen habe ich ihn als den Menschen, der er inmitten seiner unermüdlichen vielseitigen Aktivitäten privat war, nicht kennengelernt. Bis auf etwas äußerst Sympathisches: Bei der nachgeholten Suche nach ihm bin ich auf seine leidenschaftlichen Plädoyers für die Toleranz gestoßen. Zwar geht es in den Aufzeichnungen von damals um ihn als den Mann in seinem Beruf, doch gleichzeitig erfahre ich damit viel über sein Naturell. Toleranz und deren Vermittlung, Inspiration, Ideenreichtum, Engagement und Wille, sie ließen ihn, instabiler Gesundheit zum Trotz, in seinem kurzen Leben so erstaunlich vieles, und das mit in die Zukunft reichender Nachwirkung, vollbringen.

Wer aber war er als der Vater seiner fünf Kinder? Hatte er Humor und viele Interessen neben der Theologie wie mein Vater, und war er nicht streng und ein Freund der Kinder wie er, den Kinderunglück, klein und vorübergehend, noch unglücklicher machte als das Kind (für das nur er den idealen Trost wusste)? Wie war er als Mann seiner Frau? Sie, meine Großmutter, kenne ich besser, von ihr kann ich mir ein Bild machen. Es ist überliefert von meiner Mutter, der zwar unser mit uns selbst beschäftigter Kinder-Egoismus keine Chance gab (so wenig wie meinem Vater), in zusammenhängenden Geschichten von ihr zu erzählen, aber das Wenige und überhaupt nicht Geringfügige über sie wirkte intensiv, und meine Phantasie ergänzte es zur Gesamterscheinung einer ungewöhnlichen Frau mit charismatischer Ausstrahlung. Es spricht für die Gutartigkeit meiner Mutter, immerhin eine Schwiegertochter, die eine Schwiegermutter neidlos rühmte, also gar nichts Selbstverständliches tat, wenn sie oft voll dankbarer Bewunderung anlasslos mitten im gewöhnlichen Alltag schwärmte: Was für eine gütige, liebevolle, wunderbare Frau eure Großmutter doch war! Sie hatte sie erst als Witwe kennengelernt, ihren Mann konnte sie uns deshalb nicht charakterisieren. Mein Vater wird zu diskret gewesen sein und auch mit seinem Sinn für Kinder verstanden haben, dass die, vertieft in ihre Gegenwartsangelegenheiten des eigenen kleinen wichtigen Lebens, nicht rufen würden: Erzählt doch! Erzählt von euren Eltern! Wie waren die Vorfahren? Vater, sprich von deinem Vater!

Nach all dem, was ich jetzt von ihm weiß, hätte mein Vater das sicher getan. Mein ältester Bruder, traditionsbewusster als ich, allerdings auch erst später in seiner Biografie, hat sich auf die Spuren des Großvaters gesetzt, unter anderem dessen Reise nach Pragela in den provençalischen Waldenser-Tälern wiederholt, von wo aus in der Hugenotten-Zeit auch unsere protestierenden Ahnen in sichere Regionen emigrierten, unsere Guyots nach Hessen, und er hat in einer dicken Dokumentenmappe alles gesammelt, was er an Gedrucktem über Jean Guyot, wie er damals genannt wurde, auftreiben konnte. Wegen meiner vielen Kenntnislücken fühle ich mich mit diesem Faktenmaterial an meinem Schreibplatz sicher.

Mein Versäumen der Erzählt-doch-Bitten an die Eltern, immerhin Hauptpersonen vom ersten Lebensmoment an, es macht mir kein schlechtes Gewissen: Ich halte mich an die vom Großvater vererbte Toleranz. Und seit wir uns in der überhaupt nicht das Denken erleichternden Ära der genomdechiffrierten Bioethik und -politik befinden, könnten wir ja zu Dreivierteln das an uns, womit wir nicht ganz einverstanden sind, das Defizitäre, plötzlich wie einen Gewissensschutz genetisch nennen. Aber nein, ausgerechnet von diesem Großvater kann ich mein unzulängliches Interesse an den biografischen Wurzeln nicht geerbt haben. Er hat, im Gegensatz zu mir, die existenziellen Fragen »Woher komme ich, wohin gehe ich« nicht nur transzendierend, sondern ganz konkret irdisch gestellt und auch beantwortet. Als er schon aus seiner Traditionsbeeinflussung in seine theologische Zukunft blickte, hat mich, auf meine Kinderart auch zukünftig, auch theologisch, die einschüchternde Vergänglichkeit beschäftigt, denn habe ich nicht, ohne mir dessen bewusst zu sein, doch unterschwellig nach ihm und nach Gott gefragt, wenn die Zirkusvorstellung, die Theateraufführung gerade erst begonnen hatten (und damit der Glückszustand): Wie lang dauert es denn noch? Ist es auch nicht schon bald vorbei? Ich weiß nicht, wie er als Kind war, mein Vater konnte es, selbst noch ein Kind bei seinem Tod, nicht wissen. Ich weiß aber, dass Jean, das Kind, in seiner Dorfgemeinde mit ihren drei verschiedenen Konfessionen Zerstrittenheit erlebte, wodurch er den Wert der Toleranz erkannte.

Während ich als Kind mich in der Außenwelt Nazizeit im Pfarrhaus wie in einem Widerstandsnest sicher genug für Kritik und Rebellion unter anderem gegen die Intoleranz fühlte. Der Lehrstoff unterschied sich, das Lernziel, in Wahrheit unsere Veranlagung, war das gleiche. Der bis jetzt ferne Großvater und die charismatische Großmutter rücken mir näher. Vor allem durch das in jeder Lebensminute nützliche, in seiner Vereinfachung unübertreffliche Glaubensbekenntnis des Sören Kierkegaard, das den komplizierten Stoff zusammenfasst: »Ich glaube, weil mein Vater es mir gesagt hat.« Wenn ich wiederum Toleranz als Erbe unterstelle, dann ging es Jean bei seinem Vater wie mir mit meinem, der »es« mir nicht in kinderermüdenden Belehrungen, sondern durch sein Wesen, durch die liebevolle sanftmütige Art und Weise, in der er mit uns umging, »gesagt hat«, gleichberechtigt zusammen mit seiner Frau, meiner Mutter, die trotzdem, wenn auch nicht in Demutshaltung, zu ihm aufblickte: Sie tat es aus Liebe. Und deren Klima war es, die mit lebenslänglicher Nachwirkung zwischen Gott und uns vermittelt hat. In der Kindheit war uns diese höchste Instanz, als der liebe Gott fast familiär, unüberdacht vollkommen selbstverständlich. Und genau so selbstverständlich, obwohl das Fundament, in dem mein Großvater gewiss ein Baustein ist, nicht wankte, wurde mit dem Erwachsensein das Aufrechterhalten des Himmelspakts schwieriger: Der Zweifel mischt sich ein, ihm muss, täglicher Bemühungsprozess, widersprochen werden.

Von jeher schien mein Vater mir so einmalig und von niemandem zu übertreffen, dass ich mir meinen Großvater nicht wie ihn vorstellen kann. Ich weiß nicht, ob auch er ein Familienmensch war: Für meine Mutter, für uns Kinder wäre mein Vater durchs Feuer gegangen. Ob er Humor hatte? Gern mit seinen Kindern spazieren ging, wie mein Vater mit uns Kindern (die wir, so lang er lebte, für ihn blieben), Goethe zitierend und unsere verballhornenden Unterbrechungen mit amüsiertem Seufzen sogar genoss? Ob auch sein Vater gemeinsame Ferien organisierte? Gewiss kamen damals noch nicht aufwendige Sommerwochen am Meer vor. Wie viel Zeit wir doch gehabt hätten, die Eltern nach ihrer Vergangenheit auszufragen! Es ist seltsam und fast ungerecht: Je wohliger geborgen, vertrauensvoll zufrieden ein Kind unter der Regie seiner Eltern ganz und gar ein Kind sein kann, in Ruhe gelassen von Gedanken über deren Probleme, desto weniger beschäftigt es sich mit ihnen. Je glücklicher das Kind durch glücksvermittelnde Eltern, desto uninteressierter ist es daran, sie zu erforschen: Es geht ihnen ja gut, sie haben keinen Streit, man muss sich nicht um sie kümmern. Sie sind die pure, erst später beim Nachdenken über sie wunderbare, unwiederholbare Selbstverständlichkeit, wie Komplizen, irdische Vollstrecker dieses selbstverständlichen lieben Gottes, von dem sie »gesagt« haben. Ich stelle mir vor, so bedingungslos wurde auch mein Vater als Kind geliebt, nie gekränkt, nie in die Enge getrieben, gestraft, und insofern verwöhnt und nicht auf die Brutalität des Lebens vorbereitet. Oder gerade doch? Es ist paradox: Nichts von den niederzwingenden gewöhnlichen Schrecken des Erwachsenenlebens kann eine gelungene Kindheit auslöschen. Die früh erlebte Liebe stabilisiert. »Das Weiche wird das Harte besiegen«, sagt Dostojewski. Die Erinnerung ist die Basis, und wir leben, indem wir uns erinnern.

Fotografien meiner Vater-Familie: Drei Brüder (verschmitzt lacht mein Vater), zwei Töchter, die Mutter mit ihrem schönen intelligenten Gesicht (ein großes Portrait von ihr und ein kleineres hängen bei mir, auch Landschaftsbilder, die sie selbst mit großem, von der Romantik geprägtem Talent malte) und der Vater rahmen ihre Kinder ein, und der Vater mit randloser Brille sieht ernst aus, älter als heutige jüngere Männer. Für den ernsten Ausdruck sind vielleicht der dichte Vollbart und das Fotografier-Gesicht verantwortlich. Doch früher als heutzutage begannen ja damals junge Männer ihre Karrieren, und früh vollendete er die seine. Das spiegelt sein kluges, vergeistigtes Gesicht wider, Selbstdisziplin und Energie, die er sich, vielseitig in seinem Beruf, voll Elan und über seine Kräfte hinaus abverlangte.

Auf meinem Schreibtisch hält sein schwarzer Marmorbriefbeschwerer zwischen den aufgeschlagenen Seiten zweier Bücher die Balance, Karl Barth, links, Kierkegaard rechts; die Gravur der ziselierten Initialen, das J. vom G., trennt als Griff ein zwerghuhnformatiges weißliches Marmorei.

Ich stelle mir die Schreibarbeitsszenerie vor, in der dieser Gegenstand meinem Großvater nicht einfach nur nützlich sein sollte, sondern auch eine Anblicksfreude (wie jetzt bei mir, zwei Generationen später), und falls der Briefbeschwerer kein Geschenk war, dann ist mein Großvater auch, wie eine Generation nach ihm sein Sohn, ein Ästhet gewesen, und sein Schreibtischzubehör nun für mich ein kleines Denkmal.

Ich blicke in den Dokumentenband meines Bruders, der mit dem Nachruf aus den Neuen evangelischen Blättern von 1910 anfängt. Ein zweiter Nachruf ohne Quellenvermerk, umfangreicher, rekapituliert die Lebensstationen des Großvaters, informiert über seine beruflichen Aktivitäten. Als Sohn des reformierten Schullehrers Daniel Guyot wurde er am 14.7.1861 in Heubach/Odenwald geboren. Erwähnt werden die drei Konfessionen, reformierte, lutherische, katholische, die im Dorf ihr Zusammenleben übten, und die Kindheitserfahrung mit Disharmonien, aus der ich seine Entdeckung von der Unentbehrlichkeit der Toleranz folgere, für die er dann sein Leben lang eintrat. Jean hatte einen zehn Jahre älteren Bruder, drei ältere Schwestern. 1880-1884Studium der Theologie, zuerst in Gießen, dann in Göttingen. Nach der Pfarrertätigkeit in einigen Mainzer Landgemeinden wurde er vom Kirchenvorstand zum Aufbau und der Organisation der Johannesgemeinde (damals Johannisgemeinde) in Darmstadt abberufen, arbeitete dort von 1891-1897.Es handelte sich um eine Arbeit, die er, wie er sagte, »mit Zagen und großen Sorgen« aufnahm: in einem damals schwierigen Neubaugebiet voll sozialer Kontraste. Schon 1892 konnte die Grundsteinlegung zur neugotischen Johanneskirche stattfinden, und ich rechne, ich vergleiche: Mit 23Jahren arbeitete er schon im Beruf. In diesem Alter studierte ich noch dieses und jenes ohne genau definiertes Berufsziel (dank der an meinen Vater vererbten Toleranz?); dem 31-Jährigen bezeugten damalige Mitarbeiter seine ungewöhnliche Effizienz, des »seltenen Manns«, wie sie ihn nannten. Aus gesundheitlichen Gründen, es fiel ihm schwer, wechselte er über in die kräfteschonendere Pfarrei Dortelweil bei Bad Vilbel, nachdem er die Basis der Johannesgemeinde in Darmstadt geschaffen hatte und noch dort eine seiner Helferinnen heiratete, meine Großmutter Caroline Schimpff, Tochter des 1887 gestorbenen Pfarrers Wilhelm Christof Schimpff, zuletzt Superintendent in Wimpfen am Neckar. Zwischen 1896 und 1902 wurde er fünffacher Vater. Er, der nie den Kontakt zu seinen akademischen Lehrern wie den berühmten Harnack, Troeltsch, Ritschel und vielen anderen verlor, die Diskussion mit ihnen aufrechterhielt, gründete zusammen mit ähnlich diskursfreudigen und problembewussten Kollegen die »Frankfurter Konferenz Hessischer Geistlicher«, ebenso, 1906, die »Freie landeskirchliche Vereinigung«, innerhalb derer dann der Diakonieausschuss dringend um Problemlösung bat; sie blieb bis in unsere Gegenwart aktuell. Nämlich: Ärzte und Kommunalpolitiker beklagten den Schwesternmangel in Kliniken und Gemeinden. Mein Großvater muss spätestens daraufhin über Abhilfe nachgedacht haben, wobei ihm gewiss die Erfahrungen bei der Gründung der Johannesgemeinde mit ihrem Aufbau eines gut funktionierenden Gehilfinnen-Systems nützlich waren.

Als Pfarrer in der neu errichteten Pfarrstelle Heppenheim, an der Heilig-Geist-Kirche, war er erster Pfarrer von 1901 bis zu seinem Tod 1910, führte seine Ämter auf Landesebene weiter und gründete 1906 den Hessischen Diakonieverein, der im Gegensatz zum Diakonieverein Berlin-Zehlendorf nicht mehr nur Höhere Töchter zu Schwestern ausbildete, sondern auch Volksschulabsolventinnen; ebenso stand er im Kontrast zum Diakonissenverein. Bei meinen Antworten auf autobiografische Fragen hob ich diesen wichtigen Unterschied zu den Diakonissen immer etwas angeberisch hervor. Nein, seine Schwestern tragen nicht wie die Diakonissen knöchellange Röcke und beinah nonnenähnliche Hauben, ihre Schwesterntracht ist viel moderner, die Hauben sitzen auf dem Hinterkopf, ihre Röcke sind kürzer, und sie dürfen heiraten, Familien haben, sie werden nach Tarif bezahlt. Sie waren Pioniere, mein Großvater und mein Vater, erste Feministen! Im Lauf fortschreitender Säkularisierung, die mein Großvater nicht mehr erlebte, dann erst recht in der Nazizeit, durch die mein Vater unter riskanten Schwierigkeiten seinen Schwesternverband lavierte.

Im Zusammenhang mit dem Diakonieverein, ohne den eine Rückblende in meine und meiner Geschwister Kindheit und Jugend undenkbar ist, bin ich von dem Gründer-Großvater beeinflusst. Mein Vater übernahm aus Treue das begonnene Werk seines Vaters, das er später um den Rheinisch-Westfälischen Diakonieverein erweiterte, den er mit den schon angedeuteten Gefahren und Problemen über die Nazizeit hinwegrettete und der, wie auch erwähnt, in unserer immer weniger religiös-christlich interessierten Gesellschaft schrumpft, erst recht nach Pensionierung, dann Tod meines Vaters. Wie begierig begleiteten wir ihn früher auf seinen Dienstreisen in Gemeinden und Krankenhäuser! In der Kindheit war der Kontakt zum sogenannten Heimathaus neben unserem Pfarrhaus auf dem geräumigen Gartengelände eng, wir nahmen an Andachten teil, die mein Vater sonntags und zu kirchlichen Festen hielt, liebten die attraktiven Feiern mit Krippenspiel und Weihnachtsgeschenken und das Ostereiersuchen; unsere und unserer Mutter Freundinnen waren die Schwestern, für uns Junge, Neugierige speziell die Schwesternschülerinnen, kaum älter als wir. Uniformiert fanden wir sie schöner, alle. Im Freizeit-Zivil enttäuschten sie mit ihrer dann selbst gemachten modischen Privatgeschmack-Verwandlung, sofort wirkten sie weniger kompetent, nurmehr wie alle andern. Die Frau Oberin, eine originelle gebildete Person mit viel Humor, stapfte mutig bergsteigerhaft zum Kirchenliedergesang über die Bodentasten der kleinen Orgel im Andachtssaal und war unsere »Tante Line« und eine Freundin meiner Mutter. Wenn sie munter zur Teezeit meinen Vater mit Dienstlichem aufstöberte, seufzte er, doch hatte er sie gern und war sie nicht zu kränken. Speziell mich interessierten die Frauen Dina und Minna. In der Unterwelt ihrer großen Küche erzählten sie vom Dorfleben, fremde Welten. Vor düsteren Spülbecken half ich beim Geschirrabtrocknen und profitierte von einer wie mit den viel Älteren gleichaltrigen Gemeinsamkeit. Der Lift für Speisen hinauf in den Esssaal imponierte mir, mich inspirierten die unterirdischen Gänge im Keller des langgestreckten Jugendstilgebäudes »Heimathaus« entlang der Rohrsysteme von der Küche in die Waschküche, in der mich die wuchtigen alten Maschinen faszinierten: Ich schaute in die Waschpulverwassergischt, die an der massigen Trommel wie Meeresbrandung hochschwappte, abwärtsfallend aufgab.

Meine Erinnerung, hier nur in Splittern, überlebten den Abriss von Jugendstilgebäude und Pfarrhaus, das Verschwinden der Gärten mit altem Baumbestand, Licht- und Schattenzauber der Gewächse, aber für mich tauchen sie jederzeit empor, und im Blick verschwimmt das heutige Bautenkomplex-Monster, das sie verdrängt und doch nicht getilgt hat. All die unzerstörbaren Erinnerungen, verbinden sie mich nicht, wenn ich es genau bedenke, mit meinem Großvater, setzen sie nicht dessen erste Spuren fort? Als konkret-reale Variante zum Glauben, »weil mein Vater es mir gesagt hat«? Ich bin geradezu erleichtert, denn endlich werde ich jetzt, befragt nach meiner Herkunft, auch über ihn reden können; bisher war es nur die Großmutter und ihre Verwandtschaft, mütterlicherseits, mit der Familie Textor. Schon als Kind prahlte ich: Über die Textors bin ich mit Goethe verwandt!

Mit »zündenden Reden«, lese ich in den Dokumenten, hielt Jean Guyot den Festvortrag zur Einweihung eines Denkmals für die mutigen, glaubenskämpferischen Ketzer-Vorfahren bei der Gründung der kleinen Waldenser-Kolonie im provençalischen Pragela. Und anlässlich der Konstituierung des Hessischen Diakonievereins im Juni 1906 nannte man ihn »die Seele des Ganzen«; wegen seiner neuen Ideen zu Seminaren für Kranken-, Gemeinde- und Kinderpflegerinnen, fortschrittlich und von seinen Visionen motiviert, »von Gott getrieben«, wie es von ihm heißt und für alles gilt, was er bewirkte. Die Theologische Fakultät der Universität Gießen verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. Erwähnt werden unter anderem seine drei Schöpfungen: die »neue volksnahe Auffassung« vom Amt des Gemeindepfarrers, die »Freie Landeskirchliche Vereinigung«, der Diakonieverein in moderner Gestalt. Mit ihnen habe er »ein Stück hessischer Kirchengeschichte« geschrieben. In der Begründung der Promotion würdigt die Fakultät Johannes Guyots »Vertiefung und Vereinigung wissenschaftlicher Tüchtigkeit mit kirchlicher Gesinnung zur harmonischen Geistesart«.

Obwohl mein Großvater selbstverständlich Martin Luthers Verdikt zur Rechtfertigung des Menschen vor Gott gekannt haben muss – vor Gott zählen nicht unsere Werke, sondern einzig unser Glaube–, er, »von Gott getrieben«, nutzte seine knapp bemessene Lebenszeit für die Werke, nicht um einer guten Zensur von Gott, sondern um der Menschen willen.

»Von Gott getrieben« – sein Erbe an uns, seine Nachkommen, stimmt mich zuversichtlich, und wie unauffällig, aber mit starker Nachwirkung, muss auch mein Vater von Gott getrieben gewesen sein: Wir spürten das als bedingungslose Liebe. Paulus schreibt im 1.Korintherbrief 13,13: »Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.« Und 16,14: »Alle eure Dinge lasset in der Liebe geschehen.« Mit meinem zuvor so fernen, fremden Großvater, der mir während der Recherche zuerst imponierte, dann mehr und mehr gefiel, verbindet mich, wie ich es nun endlich empfinde, die Liebe. Vom Nichtdiesseitigen stammte seine Obsession und trieb ihn an, im Diesseitigen zu wirken: Damit hat er das Jammertal nach dem ihm verliehenen Talent verbessert, nicht dem nicht buchhalterischen Gott zuliebe, aber aus Liebe.

Manchmal, während ich über den Großvater nachdachte und schrieb, einen Mann, der aus meinem Alter betrachtet bei seinem Tod ein junger Mann war, fiel mir die Paradoxie auf: Ich könnte einen neunundvierzigjährigen Sohn haben. Ich bin viel älter, als er je wurde. Ich könnte die Mutter meines Großvaters sein! Und doch war mir, seltsam und schön, die ganze Zeit über kindlich zumute.