Schönes Gehege - Gabriele Wohmann - E-Book

Schönes Gehege E-Book

Gabriele Wohmann

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Beschreibung

Was bestimmt das Maß des Glücks in der intimen Beziehung zwischen Menschen? Was wissen wir voneinander? Was verschweigen wir? Gabriele Wohmanns Roman erzählt von der Ehe eines berühmten Schriftstellers, der vor den Ansprüchen der Öffentlichkeit immer wieder in ein häusliches «Schönes Gehege» flüchtet.

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Gabriele Wohmann

Schönes Gehege

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Über dieses Buch

Was bestimmt das Maß des Glücks in der intimen Beziehung zwischen Menschen? Was wissen wir voneinander? Was verschweigen wir?

Gabriele Wohmanns Roman erzählt von der Ehe eines berühmten Schriftstellers, der vor den Ansprüchen der Öffentlichkeit immer wieder in ein häusliches «schönes Gehege» flüchtet.

Über Gabriele Wohmann

Gabriele Wohmann, geboren am 21. Mai 1932 in Darmstadt als Tochter eines Pfarrers, studierte Philologie und arbeitete als Lehrerin in einem Internat. Sie veröffentlichte zunächst unter ihrem Mädchennamen Gabriele Guyot den Erzählungsband «Mit einem Messer» (1958). Es folgten Gedichtbände, zahlreiche Romane und Erzählungen, Hör- und Fernsehspiele. Gabriele Wohmann erhielt mehrere Preise und Stipendien. Sie starb am 22. Juni 2015 in Darmstadt.

Inhaltsübersicht

Endlich hinter Ziegenfeld ...

Endlich hinter Ziegenfeld wurde die Mittelgebirgsgegend brauchbar für A.P. Roll und das Team und die Dreharbeiten. Ist es hier nicht so ähnlich, wie Sie es beschrieben haben? Das ist das Angenehme an den deutschen Mittelgebirgen, der Taunus könnte der Spessart sein, der Harz könnte der Westerwald sein, fast auch der Odenwald. Alles eins, mehr oder weniger.

Plath wollte beides dringend: widersprechen und zustimmen. Er entschied sich für die Zustimmung. Er wollte endlich aufatmen. Er war längst durch Zeitverluste wieder ein ungeduldig-unvernünftiger Plath, dem egal war, in was für eine neue Verfälschung der Wirklichkeit er mit dem Team schlitterte, angeführt von Roll.

Wir sind genug rumgefahren, wir müssen jetzt mal anfangen, hatte er schon ungefähr vor einer Stunde gesagt.

In unserem Beruf brauchen wir eine hartnäckige Ausdauer, gerade bei der Motivsuche, hatte Roll geantwortet.

Plath war mittlerweile viel zu enerviert, um noch an Genauigkeiten zu denken, das mit den Mittelgebirgen stimmte nicht, die Filmgegend hier erinnerte allerdings ausreichend an die wirkliche Gegend von jenem heiklen DAMALS, auf dessen Wiederholung Roll versessen war. Plath dachte nervös an Johanna, die wahrscheinlich weder nervös noch überhaupt an ihn dachte, jetzt, inmitten einer Beschäftigung, die sie beanspruchte, und die deshalb daran dachte, woran gedacht werden mußte, wie immer korrekt im jeweiligen Moment, darin sie sich befand.

Ja, bestimmt, Sie haben recht: Hier ist es typisch und auswechselbar. Hier ist es charakteristisch und so wie sonstwo. Hier könnte es auch gewesen sein. Dort drüben auch. Bleiben wir in diesem Umkreis. Die beiläufige Hanglage. Plath gab dem Team ungefragt dauernd recht. Suchen wir eine Möglichkeit zum Parkieren. Hier machen wir’s jetzt endlich. Das unspezifische Bauerwartungsland. Eine Bundesstraße wie zahllose Bundesstraßen. Durch diese Bundesstraße könnte ich genauso gestört worden sein wie durch die, die mich wirklich gestört hat. Damals, verdammt, ich muß doch wenigstens so viel Ruhe bewahren, gleichgültig wie spät es wird, um wenigstens mir dieses verdammte DAMALS nicht filmisch-schockierend und wasweißich aus der Hand nehmen zu lassen. In Rolls Kopf war ein Plathsches Chaos fest verankert. Die DAMALS-Sequenzen hatte Roll vollgestopft mit düsterem übelschmeckendem Panikmaterial.

Plath dachte: Ich muß doch, und selbst wenn wir heut um Mitternacht erst nach Haus kommen, drauf achten zu betonen, wie überholt mir heute diese Vergangenheit vorkommt, erstens. Und zweitens, besonders: Wie wenig exemplarisch und schicksalsschwer und verhängnisvoll sie war, wie wenig sie dem entspricht, was Roll mit ihr im Sinn hat.

Trotzdem wollte er jetzt auch wieder keine Zeit mehr verlieren mit noch mehr Motivsucherei. Die wirkte überdies gar nicht so berufszähseriös, wie Roll vorgab. Im Gegenteil: Sie war schlampig und so mittelvergnügt wie alles beim Team, so leicht angesoffen, leicht beschickert, unpräzise. Der Kameramann Nr. 1 fing am Ende einer eben erzählten Seemannsgarnschmutzgeschichte die nächste an.

Warum lache ich eigentlich über die dreckigen Pointen mit, auch über die, bei denen ich vorher nicht aufgepaßt habe, so daß ich überhaupt nichts verstehe. Warum bin ich wieder so verflucht mitläuferhaft, so höflich, so leichtfertig. Wann werde ich endlich eine Arbeit, die zu allererst mich selber angeht, ernst genug nehmen, eine Zusammenarbeit speziell, und zwar zum richtigen Zeitpunkt, und zwar jetzt nämlich, wann bin ich endlich während der Entstehung dieser Art von teamwork ernsthaft vorbeugend genug, damit ich nicht später, also wenn es zu spät ist, wieder mein leichtsinniges Einwilligen, Nachgeben, Mitmachen bereuen muß, damit ich endlich mal wenigstens diesem Film-Portrait ohne Entsetzen zuschauen kann, beim Sendetermin ruhig, gefaßt, womöglich mit einer gewissen Vorfreude, weil alles, was mich erwartet, mich und die paar Personen, an denen mir gelegen ist, mich nicht exhibitionistisch korrumpiert, wann denn endlich bin ich so?

In Plath, der zwar mit Nachdruck ICH BIN WIEDER LEICHTFERTIG empfand, war doch wieder das ihm bekannte Vorgefühl vom bekannten Wunsch, wenn es erst ernst und aus den ganzen Vorbereitungen der Film entstanden war, das meiste wieder rückgängig zu machen, vieles zurechtzubiegen, sozusagen alles ungeschehen zu machen.

Jetzt aber mal JA dazu sagen, später kommt der Schneidetisch, auf den Schneidetisch hoffen, auf meinen Einspruch dann, auf meinen Mut und auf meine rigorosen Vetos dann.

Ja: das ist ein geeignetes Postamt, ja, hier könnte ich ebenso gut wie sonstwo auf einem Postamt telefoniert haben. Schon auch wieder so eine Fahrlässigkeit, das mit den Postamttelefonaten, warum habe ich das je erwähnt, dachte Plath. Halbwegs versöhnte ihn von neuem der Gedanke an den Schneidetisch und ans Eliminieren des Postamts, auch des Postamts.

Aber hier wie dort: das städtische Grün, das umbaute Grün, das mickrige Alibi-Grün, das unbenutzte Grün, der törichte Aufbau in einem Gehege: Kinderspielplatz. Hier könnte ich vorbeigelaufen sein. Einverstanden, jetzt. Man kann später meine gesamte reaktive akute Erschöpfungsgreuelgeschichte, die keine Greuelgeschichte war, aus dem Portrait-Film rausschneiden. Wir werden genug überflüssiges Material haben. Alles wird sowieso immer zu lang. Gut zureden. Der Schauplatz ist wirklich nicht schlecht, man sollte jetzt nicht noch mehr Zeit verlieren. Die Grüntöne auch dieser Anlage da: Für keinerlei Sehnsucht wie geschaffen. Der charakteristische, spurenhaft im Original erhaltene, sonst weitgehend, also wie überall, verunstaltete Ortskern von Kieferstein. Alles so ungefähr wie nirgends. Der Sparkassenneubau da wie dort, Stolz der Gemeinde und der Ansichtskartenfotografen. Die Mehrzweckhalle. Das zersiedelnde Bauvorhaben im Kahlschlag. Der bevorstehende Kahlschlag da drüben. Wirklich, alles paßt. Die Umgehungsstraße und die geplante zusätzliche Umgehungsstraße. Ringsum Ausbaufähigkeit, Nahverkehrseignung, Verbaubarkeiten, Straßenbauchancen und Bauverdacht zusätzlich, die nicht mehr sehr lang störenden Bäume, bald weg damit. Ein kreisstädtisches Unwesen, von vielen als erste oder zweite Heimat brutal geliebt, mißverstanden, eine Kreisstadt, stolz auf eingegliederte Nachbargemeinden und ein paar ausländische Partnerstädte.

In dieser Kreisstadt könnte mein Hotel so gut gestanden haben wie da, wo es wirklich steht, sagte Plath, und es stimmte fast, fast nicht, fast doch.

Eine Kreisstadt mit üblichem Ehrgeiz, die im Winter, wenn es nicht schneit, und im Sommer, wenn sie keinen Schatten bietet, so schlecht zu ertragen ist wie unzählige andere Kreisstädte. Frühjahr und Herbst fallen vielleicht weniger peinlich auf. Das Neubaugebiet, die vorgetäuschte Natur in niedriger Bepflanzung als Ausrede zwischen Wohnstangen und Schwerpunktterrassenhäusern. Die einheitlichen Fassaden und ihr Recht auf Sonne, das Unrecht der Architektengemeinschaften, die Trabantenstadt, die räumliche Ungefaßtheit und die Zukunft der kommunalen Geldquellen, der Kaufhäuser der Durchlegungen, der Trassen, die Zukunft auch der Opfer: eine Gasse, gelegentlich ein schiefes altes Haus, ein altmodischer Vorgarten. Die verschwinden noch. Alles wie Erinnerungen von anderswoher, die Gebote der ersten Stunde, die Erfüllungen der zweiten Stunde, die besseren Zeiten, die Langzeitprogramme, die Unattraktivität von Individual- und Kommunalverkehr. Die Ambitionen der Stadtväter. Der Stummel FUSSGÄNGERZONE.

Übrigens ist es auch hier heilklimatisch. Das Prädikat wenigstens steht auf einem Schild. Man spürt ja nicht alles, was man liest und einatmet, nicht wahr? Herr Plath, auch Sie waren doch Hotelgast in einem heilklimatischen Luftkurortstädtchen. Wie gesagt, Herr Roll, hier hätte es gut sein können.

Die höhere Gehaltsklasse lockt, die Stadtväter planen. Das Naherholungsgebiet mit Richtungshinweis. Die Zuwachsrate. Die Gemeinde, auch diese, begeht Jahrestage ihrer verschollenen Bewohnbarkeit, sie feiert Feste ihrer Vergrößerung, sie empfindet eine gerührte Verachtung für die Vergangenheit und eine geldgierige, großmannssüchtige Vorfreude auf noch mehr entstellende Verstädterung. Der Festredner spornt an zu mehr Bevölkerungsexplosion, Sozialprodukt, Gemeinsinn, er macht seine Versprechungen, ihr Bürger, wartet nur, es geht steil bergauf mit Tiefgaragen und Umweltschutzgesinnung, aber erst mal muß Umwelt weg, so wie sie jetzt ist. Zerstören, dann aber. Die unwiederbringlichen Tage mit einer Art Lebensqualität, als es den Begriff noch nicht gab, statt dessen aber Bäume. Alles in ganz naher Zukunft. Das Freizeitzentrum. Jeder hat ein Recht auf. Der öffentliche Grillplatz lockt Leute in den Wald, der weniger wird für mehr Leute. Der Hobby-Park und noch eine neue Idee. Und noch ein Schwimmbad, Freibad, Hallenbad. Das Hotelprojekt. Das Solarium. Hier werden bald lauter tiefgebräunte Leute rumlaufen. Diese winzige GRÜNE LUNGE da, genannt Park. Nur die wichtigsten Bäume bleiben stehen. Dann schätzt man den einzelnen Baum auch erst richtig. Die Bäume können jederzeit sowieso als krank erklärt und niedergemetzelt werden. Die gegen Baumstämme genagelten Anweisungsschilder der deutschen Trimm-Bewegung. Jeder Abzweig von der Hauptstraße führt auch hier in eine bauliche Zerfaserung.

Ganz netter Platz, fand das Team. Jeder Anblick ist eine Zumutung, fand Plath.

Der Aufstieg des Bürgermeisters in eine bessere Tarifgruppe. Am Ende der Unteren Grabengasse der elfgeschossige Stolz nicht nur des Bauherrn. Die Profitarchitektur, die Konfliktkulisse der örtlichen Bürgerinitiativen, die Wohnungsschilder der Tarifpartner, der gemeinschaftlichen Benutzungsrechte der Leserbriefschreiber.

***

Plath fühlte sich miserabel auf der Geburtstagsparty. Mein Blutdruck muß heute verdammt labil sein, verdammt niedrig, dachte er. Er konnte keine fünf Minuten lang stehen. Sein körperliches Desaster verhinderte es, daß er zwischen sich und der allgemeinen Ausgelassenheit eine Beziehung herstellen konnte. Ihm ist nicht klargeworden, ob er die Party und die Leute als unwirklich empfand oder sich selber, ob er nicht nur unzugehörig zu der Party war oder ob er sich abwesend von sich selbst fühlte, nicht bei sich.

Immer hat irgendeine unabsichtliche Beobachtung Plaths Ekel erregt. Das Gelbe auf dieser Unterlippe. Speichel zwischen diesen Mundwinkeln. Die Hautporen dort. Der Atemgeruch hier. Alle Leute stehen gern sehr nah bei allen Leuten. Schon wenn es Plath gut ging, schon wenn er schwindelfrei den Stehzwang von Parties absolvieren konnte, war er unfähig, sich in einer geselligen Gruppierung wohl zu fühlen. Er suchte ständig nach einer Rückendeckung, er lavierte gegen Unterhaltungsprozesse, er wich aus, er verstellte sich und tat so, als sei er angetan, gelockert, interessiert und belustigt, in angebrachter Verfassung, maximal untergebracht an diesem Schauplatz, in dieser Gesellschaft, mit diesem Selterswasser zu diesen fast völlig ungewürzten Leckerbissen. Nach Salz suchte er unter Garantie immer.

Er vermied es, in ein Gespräch zu geraten außer als Statist, er machte sich aus dem Staub, wenn er thematisch dran kam, er stellte sich zu einer andern kleinen Gruppe ziemlich an den Rand und machte ein interessiertes Gesicht, damit ihn keiner, der vorbeikäme, für abrufbar hielte und in eine Hauptrolle drängen könnte. Daß sich bloß nichts anbahnt, dachte er permanent. Er stahl sich entlang der Ränder von Cliquen, er durfte sich nur bei den Vollbeschäftigten und Überbeschäftigten aufhalten und mußte Bogen machen um Vereinzelte, die sich eben ihr Glas neu gefüllt hatten und nun beutegierig zu allem bereit auf der Lauer waren, in ihrer kleinen Pause völlig neu verfügbar – so auf der Hut mußte er sein, um nicht das kleine Wohlbefinden zu vernichten, mit dem er, in günstigen Fällen, gekommen war, das aber oft schon mit ersten Begrüßungen unterbrochen wurde und unterm Leistungsdruck verschiedener Launigkeiten und dem Erfolgszwang der Pointen abhanden kam.

Plath fühlte sich in den Umarmungen der Bekannten nicht wohl. Das war eine ihm unausstehliche Mode geworden, diese bescheuerten Andeutungsküßchen links, rechts, die überdrehte Überschwenglichkeit der Umarmerei blindlings reihum. Plath stellte sich ins Abseits. Dennoch strichen dauernd Personen in seiner Nähe herum, die irgendeinen Gewinn von ihm haben wollten. Da sah er Johanna. Sie unterhielt sich mit einem jüngeren Mann, den er nicht kannte. Sie hatte ein Glas Wein in der Hand. Sie hörte einer Frage zu und wußte sofort ohne Aufregung eine geschickte Antwort, auch ausführlich, GESCHICKT, dachte Plath, denn Johannas Sprechpartner hörte interessiert zu und reagierte sofort. So unterhielt man sich vernünftig. So blieb man gelassen. Johanna trank ihr Glas aus, sie ließ sich bereitwillig gleich wieder nachschenken, sie verfleckte und veränderte sich überhaupt nicht bei Parties. Nach Parties sah sie nicht wie die andern um Jahre gealtert aus. Was sie auch anhatte, es paßte zu ihr, es stand ihr gut. Jemand Neues kam zu den beiden, und da fiel Plath erst recht auf, was Johanna so richtig machte: sie machte nicht mit. Aus purer Anbiederei und Partymode ließ sie sich vom Hinzugekommenen nicht umarmen, sie machte bei der abgeschmackten Abknutscherei nicht mit. Plath nahm sich vor: So, von nun an stehe ich entschlossen hier auf der Stelle, wie eine schwere Enttäuschung über mich und wie ein Irrtum der andern über mich, in der zwar nicht abgesicherten Gegend, aber es liegt an mir, sie wieder zu meiner eigenen Gegend zu machen, ich kann die Leute abwimmeln, ich muß das können.

In diesem Augenblick hielten ihm pappige parfümierte Frauenhände die Augen zu. Wer hatte sich denn zwischen ihn und das Bücherregal quetschen können. WER BIN ICH? TRÄUMST DU? Plath sagte LEIDER NICHT, fand sich gut, aber danach bei Sätzen mit Agnes Offenheim nicht mehr. Ich rede mit einem künstlichen Kehlkopf, sagte er. Du Gangster, sagte Agnes Offenheim. Bist du nun ein Spaßvogel oder ein Spielverderber?

Vielleicht ist einfach alles zu anstrengend für mich, schon ein normaler Tag, dachte Plath. Ich bin ja nie mehr schlecht gelaunt und schwer zu behandeln. Ich gebe mir eine tägliche Mühe.

Kommen Sie, hätten Sie nicht Lust, diesen alten Herrn da drüben am Kamin kennenzulernen. Hochinteressanter Mann. Emigrant und hochbegabt. Plath verdrückte sich, es war nicht schwer, bei so vielen beschickerten Leuten. Die Frauen waren überwiegend phantastisch kostümiert und in voller Kriegsbemalung. Der hochinteressante alte Mann schien pausenlos zu reden. Soviel Plath mitbekommen hatte, konnte der alte Knabe alles, Komponieren, Dirigieren, Malen, Bildhauern, Essays schreiben, Kunstausstellungen machen und eröffnen.

Plath, dachte Plath, ist nie mehr einfach zufällig so oder so nicht. Selbst wenn ich keinen besonders arbeitsreichen Tag hinter mir habe beim Auftauchen auf einer Party, habe ich bewußt einen Tag hinter mir, ich habe keine einzige unkontrollierte Minute hinter mir.

Einige Leute bereiten sich regelrecht auf einen vor, sagte er zu Johanna.

Sie war auch nicht scharf auf Parties. Einige fand sie aber ganz animierend. Du brauchst ja kein Partyhengst zu sein, aber nun neurotisiere doch auch nicht gleich jede Geselligkeit.

Man wird gemein ausgepreßt von so gewissen Leuten, sagte Plath.

Je besoffener die Leute, desto stocknüchterner Plath.

Das mußt du halt verstehen, man stürzt sich auf Prominente. Denk mal an den Albert oder an die Tina, wie stolz die wären, in deiner Lage, sagte Johanna.

Neulich las ich NOTWEHR, rief Frau Kaiser Plath zu, hab ich ein Glück, daß ich Sie endlich ausfindig gemacht habe. Sie stand so nah bei Plath, daß er ihre verschiedenen Sprays und Cremes und nebenbei die ihnen überlegenen körpereigenen Duftstoffe riechen mußte. NOTWEHR. Eine sehr nachdenklich stimmende Auseinandersetzung mit dem Tod, sagte Frau Kaiser. Mimisch begabt, sah sie sogleich auch nachdenklich aus, obschon rosascheckig wie eine rohe Bratwurst, alkoholisiert.

Die Frau, die wir die Schwäbin genannt haben, im vorvorletzten Sommer, ich werde Johanna dran erinnern, an das schinkige Gesicht, und an ihren in regelmäßigen Abständen erschütternd aus einer Tiefe heraus hustenden Mann. Vielleicht haben die Schwäbin und ihr Mann, den jeder Hustenanfall blau färbte, so wenig, ja gar nichts miteinander geredet, damit der Mann durchs Sprechen keinen Hustenreiz bekommen würde, aber die Frau sah immer sehr beleidigt aus. Wir haben die schinkige Schwäbin einmal auf einem Abendspaziergang allein getroffen, und da sah sie aus, als hätte sie sehr geweint. Sah sie nicht suizidal aus? Bei diesem Abendgang hat sie uns zum erstenmal leid getan und wir haben sie zum erstenmal gegrüßt. Es ist bei jedem Ferienaufenthalt das gleiche Dilemma: Wir hassen die Verbrüderungsbegrüßungen von Tisch zu Tisch, wenn wir auf dem Weg zu unserem Tisch sind, vor allem hassen wir den Gruß MAHLZEIT und gebrauchen ihn auch nie, wir nehmen uns vor, diesmal gleich vom ersten Tag an wenigstens ein paar Leute, die unmittelbarsten Tischnachbarn, zu grüßen, was macht das schon, es ließe uns doch mehr in Ruhe als unser Verweigern, mit dem wir irgendwann dann doch aufhören, so daß vielleicht, nehmen wir die langen Sommerferien, nach der zweiten Hälfte ein paar Leute denken: Doch ganz nettes Ehepaar, diese zwei, sie sagen jetzt GUTEN TAG.

Frau Kaiser stupste Plath mit dem Zeigefinger auf eine Körperstelle, die sie so wenig was anging wie jede andere Körperstelle, und zwar dahin, wo Plath vor der Party sich Johanna gegenüber geweigert hatte, eine Krawatte hängen zu lassen.

Wirklich, Herr Plath, ich konnte zuerst gar nicht fassen, daß das von Ihnen geschrieben sein sollte, Sie werden uns doch nicht etwa noch fromm.

Dann hätte ich Glück, sagte Plath.

Frau Kaiser zum Schweigen zu bringen, bedurfte es aber noch verblüffenderer Aussagen. Der Tod war ja wohl schon immer Ihr wahres Thema oder wie, und sind Sie da jetzt einen Schritt weiter, oder ist das bloß ein Annäherungsversuch.

Es sind lauter Annäherungsversuche, von jeher, sagte Plath, und dann ganz schnell: Ah, ich glaube, es gibt jetzt da drüben was zu essen. Weg war er.

Es kam Plath obszön vor, in dieser beduselten Lage über den Tod zu reden. Er wollte sich aber auch an keinem seriöseren Treffpunkt zum Klatsch über den Tod verabreden. Dann schon lieber ganz und gar beschickert nah dem kalten Buffet.

Frau Kaiser erwischte ihn bei den kalten Spinatomeletts, nach denen er gierig war. Wie? So einen vollen Teller ausgerechnet in Ihren Händen? Sind Sie etwa ein hungriger Mensch? Allerdings, sehr. Viele Male täglich. Plath freute sich über die Enttäuschung der Frau Kaiser. Der Tod, Herr Plath, fing sie an.

Plath sagte mit vollem Mund und kauend: Wenden Sie sich doch lieber an einen Theologen. Es ist zwar mit großer Wahrscheinlichkeit heut abend keiner da, aber es wimmelt von Atheisten. Die reden auch gern drüber. Es wird sicher aufschlußreich.

Ich verstehe es, daß Sie jetzt beim Essen ungestört sein wollen, aber andererseits, es muß Ihnen doch leichtfallen, mir eine Frage zu beantworten, Sie haben das doch gewissermaßen parat. Aus diesem Text NOTWEHR konnte man sich wirklich zum erstenmal bei Ihnen so bißchen was wie Lebenshilfe herausklauben.

Das ist ja entsetzlich, sagte Plath. Ich bin kein Laienprediger. Lebenshilfe!

Erschrecken Sie nicht vor dem Begriff, sagte Frau Kaiser, nun ihrerseits mit vollbeladenem Teller. Erst morgen wird bereut. Heut sündige ich mal.

Plath war es wie immer zuwider, wenn Frauen, ja das war endlich wirklich typisch weiblich, zu ihren Nahrungsaufnahmen SÜNDIGEN sagten. Halt den Mund, gebot er sich, diese Frau wird sich auf meinen Ekel vor dieser Sprechgewohnheit stürzen. So von der Sünde zu reden, bei Pralinen oder Froschschenkeln, das ist Sünde.

Lebenshilfe, der heutige Mensch braucht sie mehr denn je. Nichts gegen ästhetische Reize, aber – o weh, ich seh mich schon nachher über die mousse au chocolat herfallen, sagte Frau Kaiser. Kennen Sie mousse au chocolat? Ich bin süchtig danach, wahrhaftig.

Plath wußte nicht, ob er den Bissen von der Grillwurst – das war später in der Nacht und fand im Freien statt – lieber aus Höflichkeit und aus Respekt vor sich selber und dem Tod, seinem noch etwas halbseidenen Werkstattkomplizen, auf seinen Plastikteller zurückspucken sollte; weiterkauen, runterschlucken ging auch schlecht. Die Wurst war ein Mißgriff. Soll ich der Literatur zuliebe ersticken?

Und du kannst tatsächlich vier Wochen Ferien ertragen so an einem Stück, du kannst es aushalten, so lang nicht zu schreiben? Auf deine Lebensbedingung zu verzichten? Aber Notizen wirst du doch machen. Das war jetzt die immer von Beschäftigungen besessene Frau des besten Freundes der beiden Plaths. Margot. Bald Kellertheater, bald Logopädie, Kurse, Tagungen, Pantomime, Amnesty International. Hugo, der langsam und immer monochromer malende Freund, litt mit suggeriertem Stolz unter dem Arbeitswahn seiner Frau. Während sein Weiß immer weißer werden sollte, plante sie jetzt sogar ein Buch. Die neue Obsession gab sie jeweils als ihren ureigensten ältesten Wunsch aus. Margot ertrug höchstens 14 Tage Ferien im Zusammenhang, doch auch während solcher 14 Tage schrieb sie, plante sie, bereitete sie vor und blieb besessen. Hugo behalf sich mit einem Zeichenblock als Alibi und kam natürlich keinen Schritt weiter, er sehnte sich aus den touristischen Szenerien, in die es Margot trieb, weg in seine weißen Melancholien aus weißem Öl, aus Japanpapier. Vom Nordkap oder von Formentera oder von wo aus immer träumte er sich in die Langsamkeit seiner Atelierbewegungen.

Margot stellte sich vor und sagte es Plath: Ich stelle mir vor, auf Schritt und Tritt überfällt es einen wie dich. Du bist so wie ich. Du hast zwar viel Gemeinsames so im Denken mit Hugo, aber im Beruflichen bist du mehr wie ich. Umhergetrieben. Rastlos.

Ich glaube kaum, sagte Plath.

Das Schreiben kam ihm wie etwas Unanständiges vor, wie eine Verdauungsabnormität des Gehirns, wenn er so als Halbwahnsinniger, so obstinat, darauf festgenagelt wurde. Diese Aushorcherei mit dem Wunsch, ich sei ein Besessener, macht das Schreiben gleichzeitig pathetisch und lächerlich. Unanständig. Abnorm stehe ich wieder in meinem eigenartigen Gehege, ich lasse mich beäugen, es ist spannend zuzuschauen, welches Futter ich annehme und welches nicht. Ich werde auf der Stelle verblöden, wenn das so weitergeht.

Klar, Margot, überaus gut kann ich es vier Wochen lang ohne diese elende Scheißschreiberei aushalten. Mal Klartext reden. AUSHALTEN ist in diesem Zusammenhang schon ein Mistwort. Es denunziert meinen Genuß. Doch, Margot, ich genieße es, nichts zu schreiben. Ich habe eine Superschließmuskulatur zwischen meinen Ganglien oder wo die sonst hingehört. Mach doch aus diesem Beruf nicht so einen grauenhaften Erguß. Ordinär.

Das meiste an diesem Schreibberuf ist mir mittlerweile sowieso verhaßt, sagte Plath zu Roll. Alles Verhaßte paßt ins Drehbuch, stimmts?

Ja, schon, aber über die Kunst, und über Ihre Kunst, dürfen Sie bitte nicht so reden.

Es ist mir verhaßt, was sich an notwendigem Kontakt ergibt. Die Sekundärarbeit, das Gerede drüber, Herzeigen, vorschlagen, besprechen, die unterdrückten wichtigtuerischen Spielregeln. Am schlimmsten ist die Zudringlichkeit des Schreibens. Ich denke an mein Privatleben. Mit meiner Frau will ich eine Privatperson sein, kein Schriftsteller. Ich ekle mich vor Arbeitsgesprächen. Werkstattgesprächen. Nicht schwindelfrei, setze ich alles dran, eilig davonzukommen, in die Küche, in den Wald, zwischen die Äcker, ins angrenzende Wohnviertel, in den Schalterraum der Sparkasse, damit es realer und ruhiger zugeht. Ganz euphorisch bin ich gestern ganz normal gewesen.

***

Wir behaupten also: Hier sind Sie herumgelaufen, hat Herr Roll gesagt, hier haben Sie versucht, sich wieder in die Außenwelt zu integrieren. Das Hotel als Stütze und im Hintergrund wäre vielleicht dort die Hangstraße hinauf denkbar, und Plath hat es sich nicht nur Herrn Roll zuliebe vorstellen können. Auch die historische Burgruine über dem Film-Schauplatz erinnert an die historische Burgruine, die Plath in der Wirklichkeit auf die Nerven gegangen ist und die auch hier einmal im Jahr festlich auffällt anläßlich des historischen Burgfests mit Burgbeleuchtung. Ja, das stimmt sicher alles so weit mit der Wirklichkeit überein, diese Wirklichkeit hier, die wir verwenden werden.

Doch auch eigentlich ein Platz zum Ausspannen, gerade weil er so wenig Verwunschenes und Weltabgeschiedenes hat, sagte Roll.

Plath hat im überholten DAMALS an allem Anstoß genommen. Er empfand auch der Film-Stadt gegenüber hauptsächlich einen Abscheu. Die kleinformatige Ausgabe der Macht, die ihm einen Ekel gar nicht erst in Erinnerung zu bringen brauchte. Der radikalkapitalistische Soziale Wohnungsbau, behutsam und sanft ausbeuterisch: der Arbeiterbauverein, die Punkthäuser.

Jetzt, im Auto mit dem Team, einwilligend in das Tagesvorhaben und in das Portrait-Vorhaben überhaupt, benahm Plath sich sozusagen als Mittäter und spürte es, mit etwas zu wenig Verachtung für sich selber, obgleich mißgestimmt.

Wie doch immer auch der Individualismus sich austobt zum Beispiel auf den kleinen Balkonen, wie geschmacklos dieser Individualismus leider ist, wie er seine Gelegenheit, sich gegen Gleichmacherei zu wehren und etwas Übles zu verbessern, von Balkon zu Balkon versäumt. Wie dieser Individualismus schon gar keiner mehr ist, weil er das einheitliche Konsumangebot blindlings annimmt und demnach die gleichen schlechten Einfälle, also diese ganzen Reinfälle demonstriert. Die Plastikvordächer und die Plastikabschirmungen zwischen den Balkongitterstäben. Die verschiedenen Leute haben die gleichen Wünsche. Das bevorzugte Gelb.

Auf einem ganz ähnlichen Gelände, hier wo es etwas besser ist, hier wo die finanzkräftigeren Leute wohnen und die Zuzüger, die Großstadtflüchter, hinter dieser Kurve könnte das Hotel HIRSCHEN liegen, die Straße runter Richtung Grüngürtel, später Wald, durch diese Verunstaltung, Ausödung, vorbei an jenem schlechten Geschmack und an dieser Übelkeit, an diesem Rasenmäherbesessenen, diesem Schmerz, dieser Anstößigkeit, an keinem Unterbringungsort für ein Heimweh, an diesem Bauvorhaben BÜRGERHAUS vorüber, und nun entlang dem blaumarkierten Spazierweg mit verbaubarem Talblick, hier könnte ich gewesen sein. Dort drüben die Pension SCHÖNWALD. Im trassenverdächtigen stadtnahen erkrankten Erholungswald. Mit Regine heimlich. Mit Regine anschließend im Zimmer 15 der Pension SCHÖNWALD. Ich ließ sie nie in den HIRSCHEN. Ich hatte immer Angst. Ich hatte zu wenig Angst.

Bei der Mittagspause im CENTRAL hat Roll wieder etwas besorgt zugeschaut, als Plath aß: ziemlich rasch und viel, das Ganze auch noch mit Appetit, obschon nicht weiter genüßlich, aber wieso hatte einer wie Plath überhaupt erst mal Appetit? Die Drehzeit zermürbt Roll nämlich so langsam. Aber nicht wie sonst und sowieso und produktiv. Es ist nicht die Arbeit, denn die Arbeit ist Rolls Lebenselixier, sobald er nach der Arbeit, und was sie ihm ist, gefragt wird oder wenn er sie ungefragt interpretiert. Ihn kränkt bei diesem Projekt PORTRAIT PLATH vielmehr der dauernde Kontrast des Privaten zum Drehbuch, des Gegenwarts-Plath zum vergangenen Plath. Zum Plath im Kopf von Roll. Dauernd entspricht Plath nicht Rolls Vorstellung von Plath. Zwischen Hauptgang und gemischtem großen Eis hat Plath den Roll mit der Zusicherung ICH NEHME GARANTIERT NICHT ZU/ICH WERDE KEIN GRAMM FETTER SOLANG WIR DREHEN wieder kaum von seiner Irritation befreien können. Je mehr Plath aß, desto verweisender brachte Roll fast keinen Bissen mehr runter. Zielstrebig, bestrafend, fastete er bei sich steigernder Alkoholzufuhr.

Durch einen kleinen Weißweinschwindel im Gehirn allmählich in seinem Zwiespalt schwereloser und fast erlöst, hat Roll dann immerhin seine Verstörungen neu formulieren können. Wir machen hier zwar einen Rückblick, und zwar in dieser Sequenz einen auf schlechte Zeiten des Autors Plath, und selbstverständlich kann es Ihnen heute gut gehen, allerdings, wir hoffen das ja auch und wünschen es. Roll sah nicht nach der behaupteten Hoffnung und nach dem behaupteten Wunsch aus. Also innerhalb dieses Rückblicks, den wir jetzt, heute und so weiter machen, können Sie getrost wieder obenauf sein oder weißichwas, obwohl ich persönlich da meine Zweifel habe … egal: was wir anstreben müssen ist und bleibt das: wir müssen Sie glaubhaft machen, und zwar als den Plath, dem es damals schlecht ging, vorerst mal lassen wir dieses Mädchen weg. Sie müssen versuchen, sich als Leidenden, sagen wir ruhig als Patienten darzustellen, und nur so können Sie glaubhaft werden, wir alle mit Ihnen, in diesen Erinnerungssequenzen, ja, da müssen Sie schon die angegriffene Person von damals sein, zumindest: zu sein versuchen. Es müßte Ihnen gelingen, da Sie sowieso, wie Sie sich auch immer jetzt fühlen mögen, nicht gerade strotzend und saftig vor Lebenslust aussehen. Wir können ja die Vergangenheit nur nachträglich, nur in der Gegenwart abfotografieren. Wir sind aufs Reproduzieren von Vergangenem hier einfach angewiesen. Wir müssen den Zuschauer glauben machen, daß wir zu der bestimmten Zeit dabeigewesen sind und eben nichts nachgestellt haben, diese Mogelei ist nicht nur erlaubt, sie ist sogar geboten, anders geht es nicht, läuft nichts, wirds nicht filmisch und schon gar nicht authentisch und aussagekräftig, und wir wollen ja Erschütterung erreichen.

Plath sagte, ERSCHÜTTERUNG sei in seinem Fall, auch über die nachzustellenden schlechten Zeiten, aber einfach nicht angebracht.

Roll sah erneut mißgestimmt, ja ERSCHÜTTERT aus. Wir müssen dem Zuschauer zu Hilfe kommen, und was sollte ihn denn fesseln, wenn keine ERSCHÜTTERUNG aufkommt? Wir dürfen den Zuschauer nicht loslassen, Sie dürfen ihm nicht gleichgültig werden, gerade in diesen Sequenzen nicht. Ganz ohne Tricks und Beschummeln geht es nie in unserem Gewerbe. Und zwar ausgerechnet der Wahrhaftigkeit wegen, ihr zuliebe. Das ist paradox aber durchaus legitim. Paradox, was?

Plath fand es weiterhin unnötig, das Paradoxe und Legitime, alles im Zusammenhang mit der Erschütterung. Keinem Publikum der Welt zuliebe wollte er sich zum Gegenstand von Erschütterung machen lassen. Jetzt mal mutig das sagen. Statt dessen aß er sein Eis weiter und verlegte, was er hätte aussprechen sollen, in die Aktion Eisessen. Das war, wieder mal zu wenig aussagekräftig fürs Team.

Übrigens, in Ihrem eigenen Beruf gehts doch ganz ähnlich zu, ich meine mit den Tricks, sagte Roll. Er fing an, sich wieder wohler zu fühlen, goß einen großen Weinschluck drauf. Im Grunde sind Sie ja sowieso gut, eigentlich echt gut, sagte er, weil Sie sich äußerlich nicht in einen Gesundheitsprotz verwandelt haben, wie bereits erwähnt, also nimmt man Ihnen schon ganz viel ab von unserer Pseudovergangenheit, Sie können ruhig weiter einfach so rumstehen, gar nichts weiter herstellen, Sie wirken eigentlich schon sowieso – nehmen Sie mir das nicht übel – irgendwie trostlos, irgendwo, doch vielleicht auch mürrisch oder so was – aber komischerweise stört mich Ihre Gegenwart, ich meine, so wie Sie selber sich privat uns gegenüber präsentieren. Es kommt mir so vor, als wollten Sie sich da mit Absicht querlegen. Als spielten Sie DA eine Rolle, also JETZT. Den gefaßten, den beinah geradezu heiteren Plath. Da kann doch was nicht stimmen.

Plath störte Roll mit der Bemerkung, er sei es, er, Roll, der sich absichtlich und prinzipiell täusche über Gegenwart und Vergangenheit. Er sagte: Sie müssen mich schon so sein lassen, wie ich bin und wie ich war, und ich war niemals so theatralisierbar, wie Sie es sich wünschen, damit der Film zugkräftiger wird. Aber bitte, dann suchen Sie sich ein anderes Opfer, eins, das wirklich mal ein Opfer war oder sich als Opfer empfand. Wenn Sie aber mich meinen, sogar meine Hotelpause war ziemlich normal, ich bin für Sie unergiebig. Jetzt, dachte er, muß ich dringend anbringen, daß ausgerechnet das ziemlich Normale ergiebig ist und demnach für den Verbraucher ergiebig gemacht werden muß. Daß das natürlich unheimlich viel schwieriger ist. Das Landläufige, das, was Unzähligen zustoßen kann, zustößt, ohne Paukenschlag, reißt keinen vom Stuhl, rüttelt keinen auf. Aber warum eigentlich nicht? Aber AUFRÜTTELN ist ja sowieso nie, was ich vorhabe, weil ich es einfach saublöd finde, schon als Wort.

Was Sie wollen, mit Ihren Büchern oder mit einem Film wie diesem, das ist doch, den Rezipienten zum Überprüfen der eigenen Lage zu zwingen, sagte Roll, das aber gelingt nur, wenn wir die dargestellte Lage als eine exzeptionelle meinetwegen etwas frisieren.

Ich weiß überhaupt nicht, was ich mit dem Rezipienten will, behauptete Plath, um sich zu behaupten und teilweise fast auch ehrlich. Um noch mehr zu behaupten, einfach um zu widersprechen, behauptete er, er sei und an ihm sei nichts, was zum Prädikat EXZEPTIONELL berechtige. Gelogen, rief er sich selber zu, stumm. Ich bin leider herzzerreißend verquer, ich habe Schwierigkeiten noch und noch mit mir selber. Als gestern morgen der Dekorateur wegging, als ich unterschrieben hatte unter KUNDE/AUFTRAGGEBER, als die Jalousie repariert war, schwand mir wieder mal, das häuft sich bedenklich und passiert jetzt einfach so, mitten im Tagesablauf, auch ohne Mittagsschlaf, denn nach dem Mittagsschlaf ist es plausibler, schwand mir wieder mal jede Beziehung zur Wirklichkeit, und mir kam alles völlig unwahrscheinlich vor, mein Zusammenhang mit der Welt ist geschrumpft, kurz drauf ganz weggewesen, ich dachte nur noch ICH MÖCHTE LAUT HEULEND DURCH DEN WALD GEHEN und bin mit ausgedörrtem Mund im Haus umhergegangen, ich hatte Herzklopfen und Angst und alles innerhalb dieses unaufhaltbaren Verlusts. Verdammt exzeptionell. Kein Wort drüber zu Roll. Verdammt normal und zufrieden sein.

Plath sagte: Es hat sich eine Verlogenheit in die nachgestellte Vergangenheit eingeschlichen, eigentlich in das gesamte Konzept. Höflicher ausgedrückt: Ihr Irrtum über mich. Sie wollen aus mir eine dramatische Fallstudie machen. Alles soll schicksalsschwer sein. Falls es nicht bei andern Leuten, denen ebenfalls mal so was wie ein Abstecher von der Ehe einfällt, nicht auch schicksalsschwer zugeht, ging es auch bei mir nicht schicksalsschwer zu. Sie müssen sich schon entschließen, entweder eine gewisse Langeweile zu filmen oder gar nichts. Ich meine, weil Sie das Unübliche für die Langeweile halten. Ganz im Unterschied zu mir.

Auch an jedem meiner grundsätzlich durchaus was richtigstellenden Sätze hier ist grundsätzlich auch durchaus was unrichtig, empfand Plath. Unterdessen erinnerte Roll ihn an sein freiwillig gegebenes Einverständnis mit dem Portrait-Projekt, an sein eigenes prinzipielles JA.

Plath erwiderte, es sei wohl seine vergeßliche Verkennung von Filmwahrheiten, seine eigene Blödheit und deshalb seine eigene Schuld, nicht mit den Verzerrungen der Wirklichkeit gerechnet zu haben beim JA-Sagen. Wieder etwas unwahr. Natürlich kannte er sich aus und wußte, weil er genug Erfahrungen mit Interviews aller Art gemacht hatte, daß ein Anreiz des Anrüchigen gerade bei ihm hergestellt werden würde. Die Anrüchigkeit seiner Sensibilitäten, seine anstößige, selbstgefährliche Subjektivität. WENN DU SO SCHREIBST WIE DU SCHREIBST, KANNST DU NICHTS ANDERES ERWARTEN: ein Johanna-statement, hoher Wahrheitsgehalt wie immer bei ihren statements, und doch wie immer fand Plath, es gebe was, wogegen er anreden müsse, etwas, das ihn noch mehr isolierte, indem es ihm näherkam.

Er blieb zu seiner inneren Genugtuung in der Widerspruchsverfassung, sogar verbal, also wirklich vernehmbar. Dauernd unterwandern wir die einförmigere Wirklichkeit durch Schnitte und Montagen und Raffungen und Verkürzungen, überall lassen wir gewissenhaft weg, was nicht das Ungewöhnliche oder gar das Erschütternde herbeischwindelt. Gestern habe ich gelacht, bei der Einstellung AUSFLUGSLOKAL/KELLNER, und Sie haben das sofort zum Wegwerfmaterial erklärt. Ich bin jemand, der auf keinen Fall lachen darf. So zeigt man aber sogar nicht einmal meine Wahrheit. Ich lache nämlich, auch ich, ja, gelegentlich. Damals auch. Auch damals war ich nicht einfach eine trübe ausgeödete Person. Resignation wäre bestimmt bekömmlicher für mich, aber Leute, die sich abgefunden haben und trostlos munter fatalisieren, kotzen mich an. Nein, so zeigt man nicht einmal wirksam Ihren Lieblingszustand, den Sie mir zugedacht haben, die Bedrohung oder so was, die Verzweiflung, den Schrecken, die Angst, weil man ja nie erfahren läßt, wie möglich auch Fröhlichkeit oder Lebensfähigkeit sein kann bei so einer Person wie der gefilmten und wie sehr so eine Person einer Möglichkeit zu leben sogar fähig ist, oder wäre. Sie lacht, sie lacht gern, die Person. Ist das nicht viel trauriger? Ich meine, wenn es nicht viel zu lachen gibt, wenn die Person aber lachen will und lachen kann?

Jemand weiß, er könnte dies oder jenes lieben, genießen, sich daran und daran freuen, er KÖNNTE – kann aber vielleicht gerade mal nicht. Wenn man das Vorhandensein der Möglichkeit einfach wegschneidet, bleibt sie auch fast unwichtig, Ihr Bild vom Schrecken ist alternativelos. Jemand, der als so glücksunfähig erscheint wie ich bei Ihnen, dem wird auch ganz rasch kein Glück mehr gewünscht, gegönnt, Glück wird nicht mehr inständig erhofft für ihn. Diese Filmperson da hält man für eine, die man getrost so lassen kann wie sie ist, sie gibt sich ja selber keine Chancen, sie hat für sich selber nichts übrig, hat nichts mehr mit sich vor, ist kaputt, und weil sie selber nicht mehr das Geringste für sich übrig hat, hat der Beobachter schließlich auch nichts mehr für sie übrig, sie macht sich nichts aus sich – das ist gleich: man macht sich nichts aus ihr, so eine Person ist keine Mühe wert, keinen Gefühlsaufwand. Beendete Hoffnungen.

Ich bin für team-work ungeeignet, dachte Plath, weil ich aus Höflichkeit zum bloßen Material werde, ich kann nicht auf die Dauer ehrlich sein, was man so nennt, ehrlich, redlich, meine Höflichkeit kommt mir dazwischen, ich bin daher für die andern, für alle außer mir selber, sehr geeignet, sehr brauchbar. Mit mir, so hat es den Anschein, kann man Pferde stehlen ohne mich und gegen mich. Rede ich denn weiter? Sage ich das? Warum sage ich das nicht? Warum spreche ich nicht aus, was mir auch an der Film-Gegenwart nicht paßt? Ich sage nicht: Herr Roll, warum wollen Sie auch da wieder verschleiern und entstellen, was wirklich zu konstatieren wäre? Es geht mir gut. Zumindest zeitweise. Vielleicht sogar: prinzipiell. Das stimmt vielleicht allerdings nicht, doch würde es mir passen, wenn wir, da wir sowieso manipulieren, eben DAS behaupteten. Ich bin um so viel ernster geworden, daß ich mich für fähiger halte, fröhlich zu sein. Ach verdammt, es stimmt seit den letzten Wochen wieder gar nicht, aber verschweigen wir eben mal DAS. Ich habe wirklich vor, ständig an der Ermöglichung von irgendwas Gutem, Richtigem, Schönem zu arbeiten, an diesen winzigen Anstiftungen zum Glück.

Roll weiß nun mal, daß ein wohlgesonnener gelassener glücksfähiger Plath die Leute nicht interessiert. Das Schöne: nicht bei Plath, das Gelingen des Schönen: nicht bei Plath, da schon gar nicht.

Plath sagte oder sagte nicht: Ich kann mich nicht darum kümmern, was andere interessiert, darum können die sich kümmern, die es interessiert. Ich kann nur ehrlich und vielleicht dann ganz gut sein, wenn ich über das rede, schreibe, Filme mache, was mich selbst interessiert. Es ist mir egal, ob das jemand für elitär und unzeitgemäß hält. Mein Interesse an mir kann nicht brennend genug sein und auch nicht subjektiv genug, und so subjektiv, als ein ICH SELBER, als Robert Plath, geht mein Interesse dann erst von mir ab und auf die Außenwelt zu. Wenn überhaupt was in Gang kommen soll: bei mir muß es anfangen.

Der unglücklich aussehende A.P. Roll. Das etwas betretener als vorher Alkohol konsumierende übrige Team. Mein Ausgangspunkt ist eigentlich die Unheilbarkeit, hat A.P. Roll gesagt. Mit dem EIGENTLICH machte er seine Unverschämtheit fast wieder bescheiden und so sah er auch aus. Was ich sichtbar machen will, ist ja durchaus der Zustand danach, Ihre Gegenwart und Ihre Befindlichkeit darin, aber eben: was für eine. Befindlichkeit. Was für ein Zustand. Bestimmt doch keiner zum Jubeln. Einen hoffnungslosen, untröstlichen Zustand, den habe ich im Kopf, und da kann er nun mal nicht heraus, wie empört auch immer Sie opponieren. Plaths Antwort WÄRE ICH HOFFNUNGSLOS, GINGE ES MIR WAHRSCHEINLICH AUSGEZEICHNET hat Roll nicht verstanden. Ich meine: HOFFNUNGSLOS, das muß relativ einfach sein, sagte Plath. Das wäre so ein Zustand ohne Erwartungen, einer, mit dem man sich abgefunden hat, indem man sich mit allem einfach mies und übellaunig abgefunden hat. Bei mir ist es genau das Gegenteil. Ich habe unheimlich große Hoffnungen. Und UNTRÖSTLICH? Das ist auch so abschließend. Ich bin scharf auf Trost. Und tröstbar. Immer von Fall zu Fall.

Sehen Sie, da schränken Sie doch wieder stark ein. Ihr Zustand ist ein von Verzichtleistungen, Anpassungsprozessen abgemagerter Zustand, behauptete Roll.

Dann werden Sie nicht meinen Zustand und nicht mich zeigen, hätte Plath sagen müssen, müßte er sofort sagen, oder nach einer Pause. Ganz bestimmt: SAGEN. Und wiederholen: Ich bin ganz unheimlich für Trost empfänglich und auch tröstbar, und ich fange jeden Tag mit einem Hoffnungstraining an, und ich wäre gern die Therese von Konnersreuth, und ich bin so versessen auf Trost, daß ich mir viele Trosttricks in den Tagesablauf eingebaut habe. Es versteht sich von selbst, daß es, wie immer mit Tricks und wenn man noch am Anfang seiner Akrobatenlaufbahn steht, daß es Mißerfolge gibt, Ausrutscher und so was. Vor dem Einschlafen bin ich am besten dran. Ich rede mit dem lieben Gott, also mit euch, die ihr mir zu nah steht, ich gehe eure Todeserwartungen durch, ich betrachte meine eigenen Hände und muß das an mir selber üben, damit ich eure Vergänglichkeit besser verstehe angesichts meines eigenen Fleischs, meiner Haut, meiner engsten aller Verbindungen, an mir, mit mir: Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, damit wir klug werden – falls es nicht AUF DASS heißt. Alte Eltern, die älter und älter werden. Die anhaltende Schonzeit für das Coronarsystem meines Vaters. Fünf ärztlich genehmigte Schritte am Tag. Eine Treppe ist eine Treppe zu viel. LIEBER GOTT-Sagen ist möglich. Das liegt an mir. Ich habe das geschrieben, könnte ich Roll sagen, ich könnte ihm so einen positiven Satz – verdammtes Klischee – in meinem Gedicht zeigen – aber so weit will ich eigentlich nicht mit ihm gehen, das heißt, nicht so nah heran zu mir, nicht so intim. Mehr durch Verhalten demonstrieren, was los ist, was also möglich ist.

Ich rede euch, in meiner vornächtlichen Komplizenschaft mit dem Himmel, ein bißchen von mir weg, damit ich euch ruhiger anschauen kann. Ich denke uns ein bißchen auseinander, damit wir nicht wie Eingeweide aneinanderkonstruiert sind, so wie tagsüber oft, manchmal, bald mehr, bald weniger, wenn ich mich selber vergebens suche, wenn ich mein Selbst völlig verloren habe, wenn ich besinnungslos und bewußtlos werde, von einer Minute zur andern, vor Angst. Keine Bekenntnisse für Roll, obwohl sie alles widerlegen, was er mit seiner trüben Hoffnungslosigkeit im Sinn hat. Ich erkenne vorm Einschlafen unsere Beziehungen auf Stehkadern. Ich schaue mir das dann mit mehr Vernunft und kaum noch mit Beklemmung an, fast ohne Angst, schließlich, wenn das Schlafmittel mich völlig fromm macht, ganz ohne Angst.

Beim Aufwachen ist es schwieriger, doch ich überrede mich und mache da weiter, also weiter, falls es gelingt, mit dem lieben Gott und mit uns paar Personen, das raubt mir keine Zeit und erst danach kann ich mich von uns losreißen. Ach verdammt, zur Zeit ganz schlecht. Ich denke ganz gerührt, sicher psychotisch gerührt, an meine Frau. Ich fühle mich völlig infantil, ich will heut mit ihr auf die Sparkasse gehen, ich will mich fünf Minuten lang im Schalterraum, während sie am Schalter steht und während ich auf sie warte zwischen wartenden Rentnern und ein paar Müttern und Krankenschwestern, ganz behütet fühlen, und ich will, daß wir uns an Straßenkreuzungen bei der Hand nehmen, daß wir Hand in Hand über die Straße gehen, wo keine Ampel ist. Ich mache Morgengymnastik. Ich zwinge mich zu einer bestimmten Zahl zum Beispiel bei den Arm- und Beindrehungen und dem ganzen gesunden kreislaufanregenden Quatsch, zu der Zahl, an die ich glaube: heut 21 mal, mindestens 21 Tage lang, vorerst wird jemand noch nicht sterben.

Höre ich mich eben sagen: So monomanisch wie früher bin ich auch nicht mehr – habe ich das gesagt? Hätte es gestimmt? Herr Roll, und das würde genau stimmen, sehen Sie mal: Ich bin so wahnsinnig hoffnungsvoll, daß ich nämlich LEBE. Ich lebe überhaupt nicht ungern. Sterben würde ich frühestens dann erst wollen, wenn ich unumstößlich sicher wäre, daß es auch nach dem Sterben nicht aus ist mit mir. In das GAR NICHTS kann ich einfach nicht einwilligen. Ich hasse diesen Fatalismus, oder: dieses NA JA, aus und vorbei, nichts als Asche, Erde, Gewürm, Nichts. Ich mache das nicht mit. Das Nichts macht mir einen Ekel. Ich komme ohne Hoffnung keinen Schritt durchs Haus. Ich sitze ohne Hoffnung keinen Moment im Sessel mit der Zeitung, beim Fernsehen, meiner Frau gegenüber beim kleinen Schwarzen, dem Espresso, beim Tee, einsilbig oder aufgelegt zu einer Gesprächigkeit. Es darf in mir keine Sekunde geben ohne Hoffnung, mein Existieren ist überhaupt nicht anders denkbar. Es bleibt selbstverständlich eine Dauerschwierigkeit, in den Vorgang LEBEN den täglichen Tod oder den Tod täglich zu integrieren. Den der anderen, denn das ist auch meiner. Es wäre ja bequem, VOR denen, die ich liebe, abzuhauen; meine Flucht, bevor es überall Ernst wird, aber die Richtung Tod geht halt doch nicht, aus ganz selbstsüchtigen Gründen hauptsächlich, eben weil ich weiterhin noch unstigmatisiert, keine Therese von Konnersreuth bin, ohne sichtbare Gewißheit. Weil ich nicht – außer vorm Einschlafen – getröstet an meine und an unser aller schöne sichere endlich ruhige Unterkunft denken kann, weil ich wieder mit diesen Unsicherheiten, keineswegs hoffnungslos wohlgemerkt, durch meinen Tag japse.

Alles schon eine verdammte Akrobatik, aber ich bleibe beim Üben, darauf können Sie sich verlassen. Ich habe bessere und vielfach schlechtere Tage. Wann lernt man das zu Ende. Leute, die im Begriff sind zu sterben, sollen, so ziemlich kurz vorher, in den letzten Stunden, plötzlich ganz ruhig sein, meistens, ganz einverstanden, wahrscheinlich also gläubig, sagen Ärzte. Nur GLÄUBIG stammt von mir. Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß es den Leuten sonst mit dem Ruhigsein gelänge. Kurz vor dem Ende lernt man also vielleicht das Ende zuende. Eine Spur Trost, immerhin, wenn auch reichlich spät, leider. Denn warum wollen die Todeskandidaten fast bis zu diesem letzten ZULETZT im Grunde nie sterben. Plath fiel zum Glück die erfrischende Wirkung ein, die ein Goethe-Zitat jeweils auf ihn ausübte, wenn er sich – ungenau wie immer mit Zitaten – an es erinnerte. Ziemlich streng verweisend, fast herrisch, Goethe: Die Natur ist dazu verpflichtet, mir ein anderes Dasein zuzuweisen.

Dem Roll, dem Team, dem Film mit Goethe kommen, ganz entschieden sein, sozusagen imperativ. Statt dessen befanden sich jetzt in Plaths Kopf lauter erschöpfte, fast erledigte, todmüde Sätze: Ich habe oft überhaupt keinen Antrieb mehr. Morgens, während der ersten mechanischen Handgriffe, geht es noch. Mit einem gewissen Glücksgefühl für die Dauer des Moments, in dem ich den ersten Kaffeebecher in der Küche trinke, trinke ich den ersten Kaffeebecher. Ich gehe mit einem ähnlichen Glücksgefühl, mit einem Gefühl, für einen noch kürzeren Moment untergebracht und in Sicherheit zu sein, die Treppe zu meinem Arbeitsplatz hinauf. An einem Kalender, den uns unsere Versicherungsgesellschaft jährlich spendiert, schiebe ich mein Leben mit dem roten Schieber, auf dem die Versicherungsgesellschaft namentlich in Goldbuchstaben eingeprägt ist, um einen Tag weiter. Ich habe etwas erledigt. Wenn ich den üblichen Kram mit dem Bettzeugtransport, den täglichen Aufräumarbeiten in der Küche, den Hinterlassenschaften von Johannas Frühstück – sie ist schon im Volvo abgefahren – hinter mir habe, stehe ich wieder vor einem Rätsel, diesem Tag. Ich muß eine tiefe Unlust, eine weitausgreifende schwere Lustlosigkeit in mir abtöten. Zugleich ist das der Moment, in dem ich unruhig und überdreht werde.

Alles, was an diesem Tag an Handlung vorkommen wird, scheint mir lästig, auch geradezu widerlich. Wie werde ich es heute schaffen. Womit werden wir den Tag zerstückeln, in welche für mich zu begreifenden, existierbaren Augenblicke, Handlungssplitter. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Johanna heute bereits wieder etwas Ausführliches oder überhaupt etwas auf der Sparkasse zu erledigen hat. Ich werde nicht für die Dauer ihrer Verhandlungen mit dem Kassierer in der Obhut des Schalterraums ruhig atmen können. Es wird nicht nötig sein, in der Stadt irgendwelche Besorgungen zu machen, selbst wenn ich zwei oder drei Sachen weiß, die wir gebrauchen könnten; es wird Johanna unrationell vorkommen, denn wir bestellen die Lebensmittel per Telefon, einen größeren Vorrat, erstens. Zweitens hat sie gestern erst mit dem Auto einen Zwischendurch-Einkauf gemacht. Aber der Wald wird ihr einleuchten. Gehen für die Gesundheit bei mir, Gehen für ihre Figur, auf die sie aufpaßt. Trotzdem wird nichts ganz genügen und es wird Augenblicke der größten Ratlosigkeit geben.

Wie immer wird GENUG IST NIE GENUG passen, als hätte C.F. Meyer das Leitmotiv für mein Leben notiert.

Sogar der Wald ist nicht sicher vor mir selber, denn ich werde vielleicht in einer so schlechten Verfassung sein, daß ich alles denunziere, sogar den Wald, ich werde die abholzenden Förster und die Stadtverwaltung, den Staat und den Magistrat beschimpfen, ich werde unser Haus miesmachen, unsere günstige Wohnlage, ich werde die Stadt, in der wir leben, schlechtmachen, ich werde einen Haß und einen Ekel vor mich hin reden, leider, denn ich werde das leider so lang tun, bis leider Johanna einfach angesteckt wird von meiner Übellaunigkeit, die ich verabscheue, und bis es, von da an, erst recht bergab geht mit mir. Es wird mir verdammt leid tun, daß ich Johanna mit mir bekümmere und kränke. Ich werde nicht wieder richtig einrenken können. Wir bringen jetzt, durch meine Schuld, keine Freundlichkeit mehr für einander auf. Ich bin nun erst recht am Ende. Das Selbstverständliche ist erst recht in weiter Ferne. Der Abend, die Mahlzeit, alles noch zu Tuende, liegt wie eine schwere Last der Verantwortung, nicht zu bewältigen, auf mir.

Johanna, erinnere mich bloß auf keinen Fall an das, was zu tun ist: auf meinem Schreibtisch, mit dem Postkram, das viele zu Erledigende. Ich finde keine Annäherung. Ich bekomme gerade noch mit, was wirklich ist, aber aus großer Entfernung. Wie die Gegenstände im Haus, so ist mir jedes Blatt Papier, das ich beschrieben habe, jeder Satz, den ich zu Ende bringen müßte, in eine ganz widerliche Distanz gerückt. Ich habe keinen Zusammenhang mit diesen Wirklichkeiten. Laß uns übers Wochenende in ein Hotel im Schwarzwald fahren. Laß uns irgendwohin, sonstwohin verreisen.

Da werden, in diesem Hotelzimmer, zwei benutzbare Sessel stehen. Da wird es einen Fernblick geben, den ich, wie erlöst, aufgetaucht aus undurchsichtigen struppigen Niederungen und in diese Höhe laviert, genießen und vor allem: beinah ganz verstehen kann. Wirklich weg sein, um wirklich zu sein. Eine Adresse hinterlassen, eine Telefonnummer sogar für die bevorstehenden Notfälle, und auf einem Waldweg dennoch erreichbar zu sein. Durch Kilometer, ein paar Stunden nur, wird mein Schrecken gefiltert. Ich kann durchatmen. Diese Melancholie hier am Reiseschauplatz ist geradezu angenehm, sie ist angebracht, ich kann mit ihr umgehen, ich kann in aller Ruhe mir den nächst fälligen Tod vorstellen, ich werde etwas verspätet eintreffen.

Aber wir werden immer zurückkommen müssen. Auf der Rückfahrt reise ich nach der jeweiligen Richtgeschwindigkeit in mein Unheil. Wir fahren mit 120 in meine Angst hinein. Wieder versperrt mir meine altbekannte Barriere meinen Alltag, meine Verantwortungen. Johanna, wir hätten doch demnächst wieder 4 Tage Zeit für einen ganz netten Platz, das Hotel war doch passabel, die Lage war doch gut, die Wanderwege waren doch angenehm, die Luft war doch bekömmlich, ich war unzugehörig, also erlöst von meinen Wirklichkeitsblockaden, es war ein fremder Ort. Es muß die Fremde sein, seit ich das Fremdheitsgefühl hier, wohin ich gehöre, wo alles uns gehört, hier und ringsum das HIER bedrückend empfinde.

Jede Zukunftsvorstellung macht mir einen Ekel. Schreiben ist eine Krankheit, Nichtschreiben auch. Das Tun ist ein Zwang, das Nichttun auch. Ich bin jetzt ganz und gar vergittert. Du stehst mir mit einem Schallplattenkonzert bei. Allerdings legst du zwischendurch die mir viel zu heitere Hochzeitskantate auf, ein einziges Gelächter. Ich weiß: du meinst es gut mit mir, deshalb schneidest du eine Grimasse beim Wort TOD, und ich grinse zurück, ich würde lieber weinen. O doch, das alles sind ganz gut verlaufende Tage.

***

Nun, Sie sind nicht wie alle andern, sagte Roll. Ich möchte sehr gern sein wie alle andern, sagte Plath. Das nehme ich Ihnen aber nicht ab, DAS nicht, sagte Roll.

Doch, doch, es ist genau so, nur unerreichbar.

Doch ich wiederhole, ich bestehe darauf: Ich verfüge über so eine Art Heimkehr-Kontakt mit dem lieben Gott. Ich sehe Zeichen und Vorzeichen und Hinweise, doch. Selbstverständlich klappt es damit nicht immer.

Plath ließ weg, daß es zeitweise, in dieser Zeit jetzt, oft überhaupt nicht klappte. Zu oft kam ihm eine Kontrolle über sein Bewußtsein abhanden. Es kann ja wieder werden. Notfalls mit dem Skalpell. In den USA sind Gehirnoperationen, überwiegend an Gewalttätigen, längst keine Seltenheit mehr. Nun gut, man schneidet mir mehr und mehr störendes Material aus dem Gehirn. Die Neuropsychiatrie geht längst nicht mehr nur den chemotherapeutischen Weg. Wir operieren. Noch nichts gehört vom Sweet-Mark-Projekt? Die Öffentlichkeit ist allerdings beunruhigt, besonders die Neger sind beunruhigt. Kalifornien war schon immer ein Pionierland. Nun also auch auf dem Sektor Gewalttätigkeitsbekämpfung mit Neurochirurgie. Die beunruhigten Neger wissen: die weiße Bevölkerung hält Gewalttätigkeit innerhalb der schwarzen sozusagen für selbstverständlich. Häftlinge und Neger stehen an der Spitze, wenn medizinisch für den Fortschritt gearbeitet wird. Mein Schädel ist geöffnet. Um das Gewalttätigkeitszentrum geht es in meinem Fall nicht. Dennoch müssen es gewisse Gehirnzellen sein, die an meinen Verstörungen und an den Abweichungen von der Norm in Schädeln schuld sind. Elektroden werden an das Gehirn geschlossen, Nerven werden paralysiert, Gehirnzellen werden entfernt.

Findet das OP-Team die Angst, die Entfremdung, die Unlust, die Übertriebenheit, findet es meine spezifischen Symptome abnormen Verhaltens – oder: weniger des Verhaltens, mehr des Denkens, das ein Befürchten ist?

Nehmen wir an, die Operation sei gelungen. Tabletten, Mittagsschlaf, Ohrfeigen, Arreste, Strafen, Schallplattenkonzerte, Spaziergänge, Ortsveränderungen, Tage der Ruhe und der Entspannung und Polizeiknüppel: auf die Dauer hat ja vorher nichts geholfen. Wie steht es nun? Bin ich endlich wie alle andern? Es hat ja kaum einer gemerkt, daß ich, wenn auch nicht gewalttätig, so doch extrem asozial war. Wahrscheinlich hat es gerade deshalb kaum einer gemerkt, weil es sich bei mir nicht um Gewalttätigkeit gehandelt hat. Die wäre allen aufgefallen, sie hätte sich demonstrativ in Aktionen ausgewirkt.

Auch ich kann in eine dumpf dahinvegetierende Kreatur verwandelt werden. Auch MEINE Innenwelt läßt sich kahlschlagen. Bin auch ich nach dem neurochirurgischen Eingriff endlich zahm und unterwürfig? Lasse ich mich nunmehr leicht manipulieren? Kommt meine abgestumpfte Persönlichkeit keinem mehr in die Quere, und sogar auch mir selber nicht, nie mehr?

Sofern dieses Ziel nicht erreicht worden ist, muß die Operation wiederholt werden. Mancher Gewalttätige, Häftling oder einfach auch Neger, ist beim zweitenmal schließlich gezähmt worden, indem größere und immer größere Teile des Gehirns entfernt wurden. Ich, auch ich, habe selbstverständlich bei gelungener Operation mit Nebenwirkungen zu rechnen, also mit Gedächtnisschwund, Tagträumen, mit stark verringerter Intelligenz und Reaktionsfähigkeit, mit dem Verlust von schöpferischer Begabung, mit einer allgemeinen Abstumpfung, selbstverständlich. Mir, auch mir, wird weder der Schrecken noch das Schöne mehr zu nah treten. Vielmehr: ich werde die zu große Nähe des Schreckens oder des Schönen nicht mitkriegen. Auch aus mir kann man eine Art von lebendigem Leichnam machen, das ist wahrscheinlich; das ist wahrscheinlich für Außenstehende nicht unangenehm, und für den lebendigen Leichnam, da er ja seinen Zustand nicht mitkriegt, ist es auch nicht unangenehm, und insgesamt wird nichts Unerwünschtes mehr bei mir auffällig werden.

Übrigens, da hab ich was für dich, sagte Johanna unerwartet bereitwillig, wenngleich nicht ohne die thematisch angebrachte Lustlosigkeit, überprüf mal, ob du wissenschaftlich auf dem neuesten Stand bist, ich meine, über deinen Tick mit Gehirnen und so was, hier.

Plath nahm Illustrierte nicht gern überhaupt schon in die Hand, er fürchtete immer, sich womöglich in einer verbilligten Belehrungsöde festzulesen, aber er überflog den Artikel und machte sogar ein paar Notizen, er äußerte allerdings Johanna gegenüber, daß er das meiste ohnehin wußte, und zwar weniger populär verkindischt, also genauer. Aber er dankte ihr, ohne Worte, für sich, und seine Dankbarkeit war ehrlich, er war gerührt über seine Frau.