Wir sind eine Familie - Gabriele Wohmann - E-Book

Wir sind eine Familie E-Book

Gabriele Wohmann

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Beschreibung

Die Einsamkeit der Unangepaßten, die Zwänge des Familienlebens, Fremdheit unter Verwandten, die Ungeschicklichkeit der Liebenden: Auch in diesen meisterlichen Geschichten erzählt Gabriele Wohmann von der Schwierigkeit der Menschen, glücklich zu werden.

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Seitenzahl: 87

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Gabriele Wohmann

Wir sind eine Familie

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Über dieses Buch

Die Einsamkeit der Unangepaßten, die Zwänge des Familienlebens, Fremdheit unter Verwandten, die Ungeschicklichkeit der Liebenden: Auch in diesen meisterlichen Geschichten erzählt Gabriele Wohmann von der Schwierigkeit der Menschen, glücklich zu werden.

Über Gabriele Wohmann

Gabriele Wohmann, geboren am 21. Mai 1932 in Darmstadt als Tochter eines Pfarrers, studierte Philologie und arbeitete als Lehrerin in einem Internat. Sie veröffentlichte zunächst unter ihrem Mädchennamen Gabriele Guyot den Erzählungsband «Mit einem Messer» (1958). Es folgten Gedichtbände, zahlreiche Romane und Erzählungen, Hör- und Fernsehspiele. Gabriele Wohmann erhielt mehrere Preise und Stipendien. Sie starb am 22. Juni 2015 in Darmstadt.

Inhaltsübersicht

Wir sind eine FamilieSonntagZwei Stunden ZeitZeigt mir die ReiherDer Himmel war schwarzDie ProbeJupiter und ein wenig IndividualitätMein SohnIm TalVersöhnungIch habe RuheDu bist der JosephGerechtigkeitEin außergewöhnlicher Abend

Wir sind eine Familie

Das sind Vater und Mutter. Und hier, am Fenster, Rhesa, meine Schwester. Sie ist schon fast erwachsen, seit ein paar Wochen fällt ihr Haar wolkenhaft über die Schläfen, die jetzt schmaler aussehen, und wir haben entdeckt, daß ihr Haar glänzend blond ist. Da am Fenster steht sie und starrt hinaus. Vater und Mutter am Tisch, Vater auf dem kleinen Sofa in seinem angestammten Eckplatz, Mutter auf dem Sessel, der bei jeder ihrer Bewegungen quietscht. Die Kerzen brennen.

 – Also gut, ruft die Mutter, natürlich sieht Rhesa das ein: sie bleibt über Silvester hier bei uns. Vater will es nun mal. Hast du gehört, Rhesa? Du wirst nicht weggehen.

 – Denk doch an dein Schwesterchen, sagt der Vater. Dein kleines Schwesterchen.

Die gelben Flammenschwänze wedeln sacht über den Dochten. Die Kerzen sind ungleichmäßig abgebrannt, Weihnachten ist vorbei und es wird nicht mehr streng auf Ordnung geachtet. Jetzt brennen jeden Tag vom Morgen bis in den Abend die Kerzen. Es sind heiße Tage im Haus mit geschlossenen Fenstern, wir sitzen immer beieinander. Rhesa hat sich einen Laden hochgezogen und sieht hinaus. Der Götterbaum krampft seine Bürstenarme in den mehltrüben Himmel, die Zweigspitzen haben sich im Grau verhakt. Da starrt sie hin. Über die Kieferkuppeln zieht die dunkle flockige Wolkenherde, vor einem Nachmittagsmond mit eingeschnurrtem Gesicht. Die Berberitzenhecken sehen wie zusammengeduckte heimlichtuende Vögel aus mit mausernden Federn.

 – Wir werden wie jedes Jahr im Keller Blei gießen, sagt die Mutter.

 – Du weißt doch, wie lustig das ist, wir lassen uns wieder weissagen, jammert der Vater.

Wir werden am Heizungskessel stehen und den Glühwein überall im Kopf haben. In unser Gelächter wird Rhesas Stimme plötzlich steif und abwesend, mit einem gefürchteten Klang, sich bohren: «Aber was ist denn das, was ist denn das bloß?» Sie wird etwas in der Form eines Herzens oder eines Schnurrbarts oder eines Rings gegossen haben. Ich werde wie jedes Jahr meinen Vogel in dem schmählichen Klumpen Grau erkennen, werde rufen: «Seht nur, er will wegfliegen, wie breit seine Flügel sind!» Aber Rhesa wird ihre kleine einleuchtende Figur anstarren, wie sie jetzt den Himmel anstarrt, und mich nicht hören, wie sie uns jetzt nicht hört.

 – Wir hatten jedes Jahr unseren Spaß, sagt die Mutter. Sie zieht den Strumpf über das Stopfei. Ich sehe gern zu, wenn ihre Nadel sich vorsichtig eine zuverlässige Fährte durch die Maschen mit auf- und abwärtsschwankender Spitze bahnt. Wenn Rhesa den Fensterplatz aufgäbe, könnten wir nebeneinander in den Sessel kriechen wie früher; obwohl sie fast erwachsen ist, ist sie nicht dicker geworden, wir hätten immer noch genug Platz nebeneinander.

 – Dein kleines Schwesterchen wäre sehr traurig, wenn du uns über Silvester verlassen würdest, sagt der Vater.

 – Laß doch, ruft die Mutter, feststeht, daß sie hier bleibt, wenn ihr Vater das wünscht, du brauchst sie nicht zu bitten, sie wird ihrem Vater zuliebe hierbleiben.

Wo starrt sie hin? Wozu glänzt ihr Haar; es schimmert im Abend. Sie bewegt sich nicht. Der Mond fängt an, gelb zu werden, seine Herde schwärzt sich, hetzt dahin. Früher hatten wir Schnee um diese Zeit. Rhesa und ich öffneten und schlossen die Fenster unserer Weihnachtskalender und wir erzählten uns Geschichten. Ich hoffe, dieses Jahr wird jeder in dem grauen Häufchen Blei die ausgespannten Schwingen meines Vogels erkennen.

 – Gezwungen soll sie sich nicht fühlen, sagt der Vater. Dies sind Vater und Mutter am Tisch, versammelt um die zuckenden Flammenschwänze. Da steht Rhesa am Fenster, sie hat kein Mitleid. Wir sind eine Familie. Wir halten uns auf und verlassen uns und kommen wieder zueinander. Ich kann Rhesas schmalen Arm, der auf dem Fensterknauf liegt, nicht leiden, ich kann die Art nicht leiden, wie ihr Haar blond im Abend ruht und mit dem Mond leuchtet. Jetzt stehe ich auf, der Vater sagt:

 – Siehst du, dein kleines Schwesterchen hast du tüchtig traurig gemacht.

 – Siehst du, nun geht sie, sagt die Mutter.

Ich laufe davon, ich strebe meinem Platz im Keller entgegen: zuerst die Treppe hinunter – schon riecht es nicht mehr nach den stickigen Festtagen, hier unten ist es fast schon Nacht. Im Gang zum Kohlenkeller wartet unter dem mit rostrotem Draht vergitterten Fenster mein Platz auf mich. Ich habe in den Nischen der flachgelegten Klappleiter meine Verstecke. Dort bewahre ich zwischen Steinen und Nadelbüscheln einen Zettel auf, den ich Rhesa gestohlen habe, ein abgerissenes Stück von einem Brief, ich kann nur ein paar Worte lesen, die keinen Zusammenhang ergeben, aber die Tinte und die Schrift, in der sie da stehen, könnte ich keinen Augenblick lang für harmlos halten. Mir fällt jetzt, in diesem schrecklichen Abwarten, während sie oben Streit haben, nichts Entscheidendes und Endgültiges ein, das ich mit dem Fetzen Papier tun sollte. Durch das Fenster sehe ich die Berberitzenhecke, das Dickicht ihrer schwarzen Stämme, die Schäfte, die im braunen Kies stecken. Das Gitter zieht ein dunkles Karonetz darüber. Von hier unten aus sehe ich den Himmel nicht, Rhesas Himmel, den sie anstarrt. Ich stelle mich auf einen Stuhl: jetzt gibt es erst recht nur noch Kies und schwarzes Holz. Beim Abspringen steigt Himmel hinter dem Borstengestrichel der Zweige. Wo aber ist der Mond, wo ist Rhesas von schwarzen Wipfeln beflaggter Himmel? Ich kauere mich an den kalten Boden. Oben im Zimmer in der Hitze der Kerzen müssen sie miteinander verwandt sein.

Sonntag

Der Boden war aufgeweicht, rote Erde, die sich um ihre Schuhe klumpte. Die schmalen Blätter der Kastanien verfleckten den Weg, jetzt rötete sich ihr Gelb an den Rändern. Sie riß ein Blatt vom Zweig, strich es durch die Finger, faltete es, rollte es. Ach, der schöne Anzug, was für ein guter Stoff. Und er ging so klobig neben ihren kurzen Schritten her, das hatte etwas Wartendes, Langsames.

 – So ein schöner Sonntag, sagte sie.

Wo kam diese Stimmer her, dickzüngig, aus ihrer Kehle etwa?

 – Wirklich ein schöner Sonntag, sagte er.

Seine Schritte hielten sich zurück, oder kam ihr das nur so vor, daß er langsamer gehen, den Abstand zu den andern vergrößern wollte? Sie verbrauchte ihre ganze Kraft, um ihn zu verstehen, sich auf ihn einzustellen – sie bemühte sich sehr, nichts zu verpassen.

Der Regen hatte Schnecken auf den Weg gelockt, glitschig, rot wie die Blattränder glänzten sie im Laub und in den Erdbröseln.

 – So viele Schnecken, sagte sie. Ihre Finger zerkrümelten das Kastanienblatt.

 – Man muß aufpassen, daß man nicht drauftritt, sagte er. Das ist eine Schutzfarbe, die zu nichts nutz ist.

 – Ja, sagte sie.

Heute hatte sie ein buntes Kleid an mit weißen Einfassungen. Aber in der Woche sah sie wie alle andern im Laden aus, oh, dieser elende nette Arbeitskittel. In der Woche war’s schwer, den Tritten auszuweichen, so schwer, daß es jetzt auch schon die Sonntage ein bißchen verdarb.

Ach, aber er – das war einer ohne Angst, der ließ sich nicht treten. Sie achtete auf seine großen zögernden Schritte – was tun, was tun?

 – Ui je, sagte sie, die andern kann man fast schon nicht mehr sehn.

Aber mit den andern wär’s natürlich einfacher: ein johlender Spaziergang im Kastanienwald, der letzte Kupfersonntag im Herbst, feucht, wollüstig breites und schweres Licht, laubgesprenkelt. Mit den andern war’s auch einfach gewesen, ihn neben sich sitzen zu haben im Vorortzug, sein graues Hosenbein dicht, seinen glänzenden duftenden Kopf schwarz im Augenwinkel, oh mit den andern überschrie man einfach dieses Pappige in der Kehle, das ging gut mit den andern.

 – Wollen wir sie einholen, fragte er; seine Schritte hieben auf den Boden. Was wollte er denn, was denn nur?

Sie fing wieder das Kichern an, schnell, flüssig, da floß es weg, floß weg aus ihr, etwas Haltloses, Flinkes, floß weg und sie hätte es vielleicht gebraucht, alles brauchte sie, was zu ihr gehörte, um ihr bei ihm zu helfen. Irgendein Widerstand. Sie hatte keinen; war flüssig, formlos. Wenn er sie jetzt küssen wollte, könnte er sie küssen.

Der Wald hörte plötzlich auf, und so weit waren die anderen gar nicht von ihnen entfernt, nur eine Wegbiegung, da liefen sie, mit ihrem Geschrei. Und hier draußen war es heller, der Himmel ein fahler milchiger Qualm, ein Zug keifender Saatkrähen darin wie wegsprühende Asche, vom Tal herauf wölkte sich nasser fetter Nebel. So war es: als gingen sie durch den Rauch und die Trümmer eines toten Feuers.

 – Es wird früh kalt, sagte er.

Ihr Kleid sah blasser aus als im Wald; die Jacke war nicht mehr warm genug.

 – Na ihr! krisch Lu ihnen entgegen. Peter stülpte die Lippen vor, schmatzte in die Luft:

 – Na, hat’s geschmeckt?

Mit den andern war alles einfach. Mit den andern und dem heißen Kamin im Wirtshaus und den Schnäpsen auf der Holzbank hinter dem Holztisch im trüben Licht, das vom Feuer herüberflackerte, da war es einfach: sein Bein und der gute dunkle Anzug, sein Bein; manchmal seine Schulter, die Wattierung strich gegen ihr Kleid, sein Bein; da war es einfach. Die Wärme quoll auf in ihr, machte sie weich und schwer. Mit den andern war es einfach und angenehm, aber sie wünschte sie weg, alle weg, alles weg was herumstand und herumlief, auch das Feuer, auch die Schnäpse und die Musik, nur die Bank und er und sie – aber so war es einfach und angenehm.