Abschied für länger - Gabriele Wohmann - E-Book

Abschied für länger E-Book

Gabriele Wohmann

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Beschreibung

Eine junge Frau nimmt mit 33 Jahren von ihrem Elternhaus «Abschied für länger». Doch es haftet ihr weiter an – mit Erinnerungen, die nicht zu verbannen sind. Da ist der in seiner ängstlich verdeckten Sorge rührende Vater, der Bruder mit seiner Schlagermusik und seinen Kampffischen, die gar nicht kämpfen – ein Symbol für das Verhalten der Personen des Romans –, die beängstigende tatkräftige Mutter, die beiden sich ewig streitenden Tanten. Auch Ruthie, die vor zwanzig Jahren tödlich verunglückte Schwester, an die sich die Erzählerin in Gedanken wendet und an deren Tod sie sich mitschuldig fühlt, erinnert sie an die Vergangenheit. Ihr Geliebter Strass ist Fachmann für Betriebsorganisation und ständig auf Geschäftsreisen, auf denen die Erzählerin ihn begleitet. Das Leben der beiden wird vom Terminkalender und vom Leerlauf des modernen Berufslebens bestimmt. In den Gesprächen mit Strass ist von allem die Rede, nur nicht von der Zukunft, denn er ist verheiratet und hat einen Sohn. Außerdem hat er ein unheilbares Leiden. In dieser ausweglosen Situation kommt die Erzählerin auf den Gedanken, Strass die Qualen eines langsamen Sterbens zu ersparen. Doch ihr Versuch, befreiend einzugreifen, scheitert, und sie reist zurück zu ihren Eltern. Dieser Roman ist eine Komposition aus Gesprächen und Erinnerungen, aus Erdachtem, Erträumtem und Erhofftem. Er bietet das genaue Bild einer Gesellschaft, in der die menschlichen Beziehungen zermürbenden Belastungen unterworfen sind.

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Seitenzahl: 181

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Gabriele Wohmann

Abschied für länger

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine junge Frau nimmt mit 33 Jahren von ihrem Elternhaus «Abschied für länger». Doch es haftet ihr weiter an – mit Erinnerungen, die nicht zu verbannen sind. Da ist der in seiner ängstlich verdeckten Sorge rührende Vater, der Bruder mit seiner Schlagermusik und seinen Kampffischen, die gar nicht kämpfen – ein Symbol für das Verhalten der Personen des Romans –, die beängstigende tatkräftige Mutter, die beiden sich ewig streitenden Tanten. Auch Ruthie, die vor zwanzig Jahren tödlich verunglückte Schwester, an die sich die Erzählerin in Gedanken wendet und an deren Tod sie sich mitschuldig fühlt, erinnert sie an die Vergangenheit. Ihr Geliebter Strass ist Fachmann für Betriebsorganisation und ständig auf Geschäftsreisen, auf denen die Erzählerin ihn begleitet. Das Leben der beiden wird vom Terminkalender und vom Leerlauf des modernen Berufslebens bestimmt. In den Gesprächen mit Strass ist von allem die Rede, nur nicht von der Zukunft, denn er ist verheiratet und hat einen Sohn. Außerdem hat er ein unheilbares Leiden. In dieser ausweglosen Situation kommt die Erzählerin auf den Gedanken, Strass die Qualen eines langsamen Sterbens zu ersparen. Doch ihr Versuch, befreiend einzugreifen, scheitert, und sie reist zurück zu ihren Eltern.

Dieser Roman ist eine Komposition aus Gesprächen und Erinnerungen, aus Erdachtem, Erträumtem und Erhofftem. Er bietet ein genaues Bild unserer Gesellschaft, in der die menschlichen Beziehungen zermürbenden Belastungen unterworfen sind.

Über Gabriele Wohmann

Gabriele Wohmann, geboren am 21. Mai 1932 in Darmstadt als Tochter eines Pfarrers, studierte Philologie und arbeitete als Lehrerin in einem Internat. Sie veröffentlichte zunächst unter ihrem Mädchennamen Gabriele Guyot den Erzählungsband «Mit einem Messer» (1958). Es folgten Gedichtbände, zahlreiche Romane und Erzählungen, Hör- und Fernsehspiele. Gabriele Wohmann erhielt mehrere Preise und Stipendien. Sie starb am 22. Juni 2015 in Darmstadt.

Inhaltsübersicht

III

I

Mein Bruder stand da, er bewegte seine kalten Füße nicht. Mein Vater trug einen Pullover unter dem Rock. Diesmal war ich es, die wegfuhr, Ruthie, die Bahnhofsstimmung der beiden da unten galt diesmal nicht dir.

Am Gleis gegenüber zog ein Mann mit Overall und Schildmütze Schrauben an. Sein Gehilfe stand bloß so da, das Arbeitsgerät in der Hand. Er schaute herüber. Willst du denn rückwärts fahren, fragte mein Vater.

Meine Mutter hatte mich beim Packen mit einem Sommerkleid ertappt. So lang bleibst du weg, fragte sie. Wieder betrachtete sie mich, als habe ein rätselhafter Zufall sie in diese Familie verschlagen. Dann haben wir nur noch den Manfred, sagte Tante Leonie. Du hast dir einen leichteren Abgang verschafft, Ruthie-Schwester. Tante Gusta hat meine Hand nicht loslassen wollen, wie sechs Monate später beim Abschied in der Anstalt. Ich wußte noch nichts von der Anstalt, ihrem Garten, ihren Besuchszeiten, vom besonders heißen Sommer dieses Jahres, vom Fehlen der Bäume und ihrer Schatten auf den geometrisch streng verlaufenden Kieswegen der Anstalt, und riß meine Hand aus ihrer.

Der beschäftigte Gleisarbeiter richtete sich auf und sagte etwas zu dem andern Arbeiter; jetzt sahen sie beide zu uns herüber. In diesem Augenblick grüßte mein leicht gekrümmt stehender Bruder Manfred eine Gruppe von kleinen Burschen, die seit der letzten gescheiterten Versetzung seine Klassenkameraden waren. Manfreds Hals, wieder ohne Schal, war etwas eingezogen, als rechne er mit einem Steinwurf. Was suchen denn die auf dem Bahnhof, fragte ich ihn. Er machte den Mund auf, aber er mußte anscheinend nicht gähnen. Meine Mutter war mit den Betten fertig, erst jetzt zeigte der Ischiasanfall seine wahre Stärke. Tante Gusta wollte Tante Leonie den Mop entreißen.

Viele Grüße an die Kampffische, sagte ich und wußte noch nichts von Zimmer neun im Hotel Wachtturm und von den Sätzen zwischen Strass und mir über die Kampffische meines Bruders. Darauf freute ich mich, auf etwas in dieser Art. Manfred hatte bei geringem Fieber ausgedehnte Dämmerstunden im Bett vor sich, wie er sie schätzt, wie die Eltern sie schätzen wegen der dadurch ruhigeren Vormittage, die sie aber auch fürchten, denn sie ziehen schlechte Leistungen in der Schule nach sich. Neue Bittschriften gegen neue Repetitionen; durch Sensibilität und Anfälligkeit meines Sohnes Manfred leider.

Ich merkte erst jetzt, daß die Arbeiter das Gleis verlassen hatten. Meinem Vater weiter einzureden, ich bliebe nur kurz fort, mochte ich jetzt nicht mehr. Die Mitschüler Manfreds, zusammengerottet und auffällig schweigsam, schlenderten an uns vorüber, machten kehrt, und diesmal suchten sie ihren Weg zwischen dem Waggon und den beiden Wartenden.

Also wie ist’s, willst du nicht wieder aussteigen? Mein Vater rief das noch, als der Zug schon wegglitt. Ich spielte verschrecktes Theater, so als wolle ich wirklich aussteigen, ich winkte. Mein Vater ließ ein riesiges weißes Taschentuch vom unbewegten hochgestreckten Arm herabwehen. Manfred rührte keine Hand, wie bei jedem Abschied. Mein bald rudernder, bald segelnder Arm, den ich ihnen immer noch zeigte, ein Köder, der für sie unerreichbar war, mein Lächeln, mein Abschied von der Familie galten zuletzt, hinter Ablaufberg, Entschlackungsgrube und Kohlenbansen, nur noch den beiden Arbeitern und ihren groben freundlichen Zurufen; im selben Augenblick waren Vater und Manfred nicht mehr zu sehen.

Ich setzte mich auf meinen Fensterplatz und merkte, daß ich im Abteil nicht mehr allein war. Eine große alte Frau betrachtete mich mit ruhiger Neugier.

Die Mitschüler gaben es schon dem Omnibusbahnhof gegenüber auf, dieses komische Paar zu verfolgen, meinen kleinen Vater mit den kleinen Schritten neben dem nur widerspenstig sich vorwärtsbewegenden, um zwei Köpfe höheren Manfred. Sie gingen zu Fuß nach Haus. Sie fühlten sich etwas verloren, aber auch ruhiger, nun, da die Trennung vollzogen war. Es ändert wenig, ob ich weg bin oder bei ihnen. Manfred habe ich nie zur Rebellion überreden können. Meiner Mutter vermochte ich die Freude an Durchzug, Süßigkeiten, Naturhaarbesen, fettem Fleisch und Wettspielen nicht auszureden. Ich half Tante Gusta nicht mit Anweisungen zum Lesen, Stopfen, Sticken, Bügeln über das erste Stadium ihres Wahnsinns weg. Nichts lieferte ich als Beitrag zu Tante Leonies Monologen. Bei Wochenendbesuchen meines Bruders Reinhard und seiner Familie war ich meist außer Haus. Vor dir versteckte ich Süßigkeiten und Lieblingsbücher, Ruthie, bevor du vom Baum fielst und die Blutlache um deinen Kopf das Laub färbte.

War unser Abteilfenster schmutziger als die andern? Nun, mir lag nicht viel an der Aussicht. Ich sah nur diese zwei, meinen Vater und Manfred. Sie machen einen Umweg, so gut gefällt ihnen der Spaziergang. Manfred hat angefangen zu reden. Er erklärt wieder einmal den Vorgang der Farbentfaltung seiner beiden Kampffische, die nicht kämpfen, obwohl es sich um die teuren malaiischen handelt, mein Vater sah freundlich aus, hörte nicht zu und begann, sich bei seinen eigenen Gedanken wohl zu fühlen. Sie gehen noch um einen anderen Block, um ein Stückchen Kiefernwald zu erreichen. Manfred friert nicht mehr besonders, aber er schützt Halsschmerzen vor. Er wird bald im Bett bleiben.

Auch Strass mag es nicht, Schwarzfärberei. Ich fuhr ab, gut. Ich brachte die Stadt hinter mich, in der ich nach dreiunddreißig Jahren nicht mehr leben wollte. Es ging auch immerhin um Strass und mich. Die Frau gegenüber schmatzte, ohne zu essen. Das novafilm-Angebot habe ich blindlings angenommen, wie man eine vorübergehende Beschäftigung annimmt. Und selbst wenn ich insgeheim plante, danach mein Leben mit der Familie nicht wiederaufzunehmen – schön. Eine Sache wie die zwischen Strass und mir läßt sich nicht über ungefähr sechshundert Kilometer weg abwickeln.

Die Greisin beobachtete mich, allerdings mit dem Ausdruck der Gleichgültigkeit. Manfred redet über die Gleichgültigkeit der Kampffische und des Zebrafinkenpaars, nur daß diese beiden im Streit oder durch Sympathie keine besonderen Farben entwickeln könnten, daß es also egal sei – er redet und redet. Mein Vater kennt alles, er lacht dann ruckartig, ruft tztz und macht hmhm an den richtigen Stellen, ohne zuzuhören. Sie fühlen sich zur Zeit außerordentlich wohl, es ist ihr eigenbrötlerisches Behagen, jetzt ungestört.

Die Familie aufgeben! Das stammt von mir. Euer Wortschatz ist viel argloser. Höchstens meine Mutter, in den Augenblicken, in denen sie uns rätselhaft schockiert ansieht, plötzlich als Fremde zwischen uns, und auch, mit dem Fortschreiten ihrer Verkalkung, Tante Gusta, höchstens diese beiden übertreiben manchmal. Mir haben alle zugeredet, aufzubrechen und wegzufahren, um woanders etwas anzufangen, Strass auch. Strass und ich, wir waren bis dahin zu häufig getrennt voneinander in unseren verschiedenen Städten.

Ich fuhr zu Strass. Ich sah den hirschbraunen, etwas fleckigen Regenmantel und ihn, Strass, sehr gerade stehen an irgendeiner Haltestelle, mit hochgerecktem Hals, so wie beim Tanzen, er sieht komisch aus beim Tanzen, als mache er sich darüber lustig, er macht sich aber nicht lustig darüber, er schätzt Tanzen. Er notiert Für und Wider bei den Aufträgen mit geringem Auftragswert. Während er sich damit beschäftigt, hat sein Gesicht einen neugierigen und zustimmenden Ausdruck. Zu ihm fuhr ich, zu Strass, nicht weg von der Familie, diese Auslegung trifft es nicht – aber warum werde ich schon wieder laut. Das Unbeherrschte an dir, ich weiß ich weiß, der Name Rudolf muß nicht erst erwähnt werden, auch sonst keiner. Wenn du es bist, die aus dem Takt kommt, brauchst du uns nicht anzuschreien, schrie Rudolf mich an, als wir noch verlobt waren. Meine Mutter klopfte munter auf die Tasten, sie sah aber sehr ängstlich aus und wagte sich mit den Augen nicht einmal, um den Einsatz zu geben, in Rudolfs Richtung. Rechthaberisch dirigierte er uns zwei Takte vor und schonte seine sämige Baritonstimme, die gefühlvoller war, als man erwartete.

Mein jähzorniges Schätzchen, gib doch Ruhe! Sobald ich will, höre ich die Stimme meines Vaters, und ich will nicht. Die Stimme unseres Vaters, Ruthie, seine sanfte Stimme: Mein jähzorniges Schätzchen oder so, sanfte Worte. Wer wird denn sein Schwesterchen so garstig petzen. Das Geschaukel auf seinem Knie. Das frisch auseinandergefaltete Taschentuch, später Zügen schlaff nachwehend, damals mit dem Geruch seines Schranks in meinem Gesicht.

Ein Bastler bestellt bei der EFH drei Spezialschrauben, Umsatz 0,50DM. Abwicklung des Auftrags 5DM. Erlös 0,05DM. Strass wird vielleicht von seinem kleinen Sohn abgelenkt, er fragt nach Zahlen über hundert. Welche Packeinheiten sind optimal? Strass im weinroten Pullover und mit Schuhen, die an Zehen und Fersen offen sind und in denen er seine empfindlichen Füße schont.

Die Alte mir gegenüber fuhr röchelnd aus einem anscheinend bösen Traum. Es war nicht mehr sonnig. Vater und Manfred verließen das Wäldchen. Die Tanten stritten in der Küche um Mengen und Zutaten, meine Mutter versuchte, sich eine starkfärbende, nach Fichtennadeln duftende Flüssigkeit ins Kreuz zu reiben. Sie hat das von mir, den Zorn, sagte meine Mutter und betrachtete mich neugierig unverwandt. Du Zorngickel, zorniges Schätzchen, es paßt nicht zu kleinen Mädchen, es kommt wahrscheinlich von der Schilddrüse wie bei deiner Mutter; und dann ihre freundlichen Finger mit zartem Druck auf meinem Hals, über meinem Kehlkopf; ich weiß nicht, Ruthie, ob ich lediglich diesen Untersuchungen meine Abneigung gegen enge Kragen verdanke.

Meine Mutter hatte auch jetzt mit dem Haushalt keine zusätzliche Arbeit. Manfred verschlechterte seine Leistungen in der Schule nicht. Die Tanten schrien einander nicht häufiger an. Mein Vater lachte nicht seltener. Mein Abschied bedeutete wenig. Ich fuhr jetzt durch Schwaben.

Mir wurde schlecht, als Rudolf wieder singend seine Stimme über uns erhob. Meine Mutter, zuckend wie ein Huhn, um den Takt zu halten, beugte ihr Gesicht gegen die Notenblätter. Meine Mutter ist kurzsichtig. Ihre geschwollenen Lider waren zusammengekniffen. Ich verzerrte den Mund, stupste die Zungenspitze gegen die Lippen und drehte mich trotz Rudolfs Verbot wieder weg von den andern.

Ich nenne es aufgeben, alles was ich im Rücken hatte auf meinem Platz Richtung Süden und Strass. Ich kannte die Kreisstadt noch nicht, den Friedhof nicht, den Stadtpark nicht, kein Grab, kein Hotel Wachtturm, keine Fairlop Road, aber ich erwartete immerhin ähnliches, während ich von der Stellung, die ich bei den novafilm-Leuten übernehmen sollte, etwas mehr wußte, und noch mehr von Strass, ungefähr welchen Anzug er trüge; ich wußte aber wieder nicht genau, wo ich ihn wiedersähe in der neoklassizistischen Stadt, die ich nur flüchtig kannte und deren Dialekt, Fassaden, wäßriges Bier ich sowieso nicht mochte.

Das schlapprige Wollkleid der Greisin im Zug hätte von der Schneiderin unserer Tanten stammen können. Die Donnerstage mit der Schneiderin von Tante Gusta, ich fuhr davon weg. Die Greisin bezahlte für Hühnersuppe mit einem Geldschein und merkte nicht, daß der Speisewagenkellner ihr deshalb grollte. Mit Würde machte sie ihm Scherereien. Dann löffelte sie träge, aß zwischendurch Brote, die Broten aus unserer Küche ähnlich sahen, sie erinnerten mich an den Schmerz meiner Mutter, als ich ihre Reisebrote ablehnte.

Strass dachte über neue Rabatte nach. Sein kleiner Sohn fragte nach zwei Sätzen unter einem Bild, worauf ein spitzgiebeliges Haus mit rotem Dach, qualmendem Schornstein und weißer Mauer zu sehen war, davor ein Mann und eine Frau, die sich an der Hand hielten und in deren Kleidung die Farben des Hauses wiederkehrten, ein Kind, das wie ein Mädchen aussah, aber Hosen anhatte, und ein scheckiger Baum. Strass las die beiden Sätze vor. Ich wußte noch nichts von Unterhaltungen zwischen Strass und mir zum Beispiel über die scheckige Verfärbung des Platanenlaubs im Stadtpark. Warum wird ein Teil der Platanenblätter im Herbst bloß gelb, während die arideren ein Apfelrot zustandebringen? «Im Gärtchen vor dem weißen Haus, spielt mit den Eltern unser Klaus.» Das Zwitterkind auf dem Bild stand ohne Spielzeug breitbeinig vor den Eltern und starrte den Leser an. Strass beantwortete die Frage seines Sohnes – Was spielt das Kind? – mit der Vermutung, es handle sich um ein Ratespiel oder um Lügensträußchen-Binden – falls dies Spiel Strass bekannt ist.

Die Platane westlich unserer Terrasse ist seit deinem Absturz nicht mehr gewachsen. Davon habe ich Strass ebenfalls erzählt, von unserer Wette und meiner Schuld an deinem Sturz, er hat aber wohl nicht richtig zugehört, auch liebt er Übertreibungen nicht, er war erschöpft nach einer wenig angenehmen Auseinandersetzung mit einem der EFH kritisch gegenüberstehenden Vertragsfirmeninhaber, ich habe es erzählt, auch daß es mir nie gefiel, wenn du waghalsig warst, Strass ist vielleicht eingeschlafen, ich hatte Angst vor Bäumen und Tieren, es ist auch übertrieben, dies Gerede von Schuld. Aber vor Erwachsenen hatte ich keine Angst, nicht wie du. Deine Schüchternheit war mir bequem, ich übertrumpfte dich, überall hieß es: die Kleine hat Charme, sie ist reizend, die Kleinere. Du bist von diesem Baum gefallen, und Schluß. Deine Zukunft geht vor, sagten die Eltern.

Der Zug hielt im Inselbahnhof eines kleinen Städtchens, die Station stand nicht im Fahrtprogramm, das die Greisin verwirrt durchblätterte. Sie schien bei dieser Unstimmigkeit sofort am Gelingen der ganzen Reise zu zweifeln. Ausflügler in Sonntagskleidung, denen unser Zug die Langeweile vertrieb, gafften vom Perron zu uns herauf.

Strass kennt jetzt die Leute, die in die Sprechstunde des Hals-Nasen-Ohrenarztes kommen, hauptsächlich Kinder, die sich nicht vertragen und nicht aufstehen wollen, wenn Erwachsene eintreten und keinen Platz mehr finden und vorwurfsvoll die Kinder fixieren, die Praxis geht gut, dann ein älterer Chorleiter und ein womöglich verrückte Frau mit selbstgeschnittenen Haaren – Doch als mein Zug am Inselbahnsteig der kleinen Stadt hielt und Strass vielleicht im weinroten Pullover, in Schuhen ohne Kappe und Ferse, seinem Sohn den zweiten Satz «Was qualmt da aus dem Schornstein raus? Es kommt vom Ofen in dem Haus» vorlas oder über ein Problem der innerbetrieblichen Organisation nachdachte, hat er dieses Sprechzimmer, diese Leute nicht gekannt, auch nicht den Hals-Nasen-Ohrenarzt, obwohl er damals bereits Beschwerden hatte, aber zögerte, eine Heilung ist allerdings nur durch frühzeitige Behandlung zu erreichen. Strass konsultierte seinen Hausarzt, der unschlüssig war.

Regen beunruhigte jetzt die Ausflügler auf dem Perron und lenkte sie von uns ab. Regen, Ruthie. Wir haben uns immer viel draus gemacht. Unsere ganze Familie, versessen auf Regen. Haben wir nicht auch etwas Verregnetes? Strass ist mehr für Sonne, er, der ehemalige Mathematikstudent. Wir fuhren weiter. Das novafilm-Angebot betraf gewisse Interviews und Texte, die ich zu schreiben hätte. Die Greisin mir gegenüber betrachtete die Landschaft ehrfürchtig. Sie sah keinem ähnlich, der mir einfiel, und erinnerte mich doch an jemanden. Dich, Ruthie, fand man damals kaum inmitten von Blut und Laub. Niemand hat geglaubt, daß du drüber wegkämst, und jeder fand, daß es ein Wunder war, und in unseren kleinen Hausandachten von damals dankten wir in abendlichen Extragebeten dafür, bis wir uns daran gewöhnt hatten. Und mir ist keiner mit Vorwürfen gekommen, ich war auch noch zu klein. Bis heute weiß ich nicht, ob ich in meinem Geheul um dich unsere Wette verraten habe. So oder so, was immer sie davon wissen, das Ergebnis bleibt gleich: die eine klettert auf den dünnen Ästen bis in die Platanenkrone, für nichts, oder für einen Hund aus Zelluloid. Erwachsene vom Schlag unserer Eltern finden da keinen Unterschied. Und die andere, die Kleinere? Unschuldig, auf jeden Fall. Dein Kätzchenkleid war übrigens zu retten, kam in die Reinigung und gehörte mir bereits, als es noch zu lang und zu weit für mich war. Zwischen Unfall und Infektionskrankheit hast du keine Zeit mehr gehabt, es zu tragen. In diesen Monaten hat man dein Versagen immer auf den Schädelbruch geschoben und ließ dich früher aus der Schule. Ob ein Zusammenhang bestand oder nicht, blieb ungeklärt. Ungeklärt auch, ob die komische fiebrige Erkrankung damit zu tun hatte, diese Art Hirnhautentzündung. Ähnlich hielten wir es mit meiner Schilddrüsengeschichte. Wir waren so, von jeher. Kein hartes Wort, überhaupt kein Wort mehr.

Ich denke jetzt an unser gutes Einvernehmen, sagte ich zu Strass, der unter Umständen schon schlief, vielleicht auch über Fräulein Maltans Schwierigkeiten mit der ältesten Fakturiermaschine und über ihr glattes Haar nachdachte. Wir hatten Frieden zu Haus, und das war uns wichtig.

Zu meiner Mutter, die erschlagen vom Ischias auf dem Bett lag, verkrümmt wie sie sich dorthin an Land gezogen hatte, zu meinem Vater, der sie anstarrte, versessen auf seinen Tee, den sie ihm nun nicht kochen konnte, zu meinem Bruder Manfred habe ich gesagt – anders anfangen, ruhig. Die novafilm-Leute brauchen mich, sagte ich zu diesen drei Verwandten, sie brauchen genau so jemanden wie mich – Sag, daß du weg willst, sagten sie nicht.

Wenig Genuß auf dieser Fahrt, es fiel mir schon schwer rauszusehen, die Strecke war langweilig, aber seit wann fand ich Wegstrecken langweilig, wie gern fuhr ich früher mit Strass im R 8, vor seiner Versetzung und Beförderung zum Organisationsberater der EFH, früher, diese Strecken zu ländlichen Filialen seiner damaligen Firma, und wie sehr genoß ich jeden eintönigen Ausblick, es lag also an diesem Tag. Wir würden sie wiederaufnehmen, Strass und ich, gemeinsame Fahrten im R 8, falls ich frei bekäme von meinem unbekannten novafilm-Vorgesetzten Kobler. Strass befindet sich zu fünfzig Prozent der Zeit auf Reisen. Sein Posten bei der EFH wurde gewissermaßen für ihn erst geschaffen. Regelmäßig besucht er die Vertragsfirmen, die Handels- und Werkstättengeschäfte betreiben, Beratungsbesuche. Er hält auch Informationsvorträge, und zwar vor Verkaufsleitern und Gebietsbearbeitern. Mit einem belustigten, auch zustimmenden Ausdruck, der sein Gesicht beim Nachdenken um die Augen verändert, redet er über innerbetriebliche, zwischenbetriebliche und betriebsvergleichende Organisation meistens in gemieteten Hotelräumen, in Konferenzsälen, wenn es sich um größere Hotels handelt, in Vortragsräumen der Betriebe, wenn es sich um größere Betriebe handelt, er redet ziemlich frei vom Konzept, zeigt aber aus Schüchternheit oder Bescheidenheit nicht, wie wenig er überhaupt sein Konzept braucht, und hält daher den Kopf immer etwas zum Pult geneigt, auch weil er für die meisten Pulte zu groß ist, man sieht sein Gesicht leicht schräg nach unten gekippt, während er auch Verkaufsfragen erörtert.

Ich wiederhole: fünfzig Prozent auf Reisen. Fünfzig Prozent Büro, das hieß zwar: in der Stadt bleiben, auf die ich zufuhr, doch abzuziehen war einmal seine Arbeitszeit, die Zeit bis siebzehn Uhr. Außerdem wußte ich damals noch nichts von dreijähriger Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft, deshalb dachte ich auch an die vielen Abende, die Samstage und die Sonntage, die Strass mit seiner Frau und den Kindern verbringen müßte. So viel, meine Liebe, bliebe für mich nicht übrig von Strass, auch wenn ich da jetzt in seine Nähe zog, du siehst das ein.

Die Greisin entnahm einer Medizinflasche mit der Aufschrift Aktivan zwei Löffel dunkler Flüssigkeit. Sie stärkte sich also. Sie war alt und unverdrossen, während Manfred beim Mittagessen, das die Familie völlig stumm einnahm, die Mutter oben, seinen Halswehplan durchdachte.

In dem eiskalten Schlafzimmer der Carters in Nummer 180 der Fairlop Road, mir am Tage meines Abschieds von der Familie noch unbekannt, habe ich Strass, der in der rechten Hand unsere Taschenflasche mit Whisky hielt und rechts vor mir lag, zum Beispiel auch erzählt, daß ich dich sogar beneidet habe, wenn ich dein Los mit meinem verglich. Hör auf, sagte Strass freundlich wie immer und leise, er kopierte, mit seinem gesunden und mit dem erkrankten Stimmband, so irgendwas aus unserm Repertoire, er sagte, hör auf mit traurigen Sachen und pfiff oder summte, und ich selber bin es leid zu sehen, wie gut ich mit Dingen wie übler Nachrede zurechtkomme. Was war so unleidlich an jemand doch ganz Nettem namens Rudolf? Seine Stimme schlug weich an, schwang sich auf, Rudolf sang, er habe genug, seine Augen wurden klein und töricht.

Ich nahm mir vor, mich allmählich zu freuen, nicht übermäßig, auf das andere Leben – ich wußte noch nichts von Schloß Eisern Hand – auf die vielleicht netten novafilm-Leute – ich wußte noch nichts vom Schock des Sonntags in der schlammigen Auffahrt der Aumühle – und selbstverständlich auf alles mit Strass, mich zu freuen. Der Zugrevisor betrachtete mein Billet mit Argwohn. Die Greisin zeigte zur Ergänzung ihrer Fahrkarte zwei abgegriffene Ausweise, die sie umständlich aus blinden Plastiketuis zerrte. Wahrscheinlich war sie invalid und zeterte in einem dürftigen Bekanntenkreis um verlorene Heimat. Es war neblig, ich kannte noch nicht den Nebel der Fairlop Road, es war selbst im Abteil nicht richtig warm. Eigentlich übertrieben, gerade im Januar abzufahren, findest du nicht?