Herz aus Nacht und Scherben - Gesa Schwartz - E-Book

Herz aus Nacht und Scherben E-Book

Gesa Schwartz

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Beschreibung

» Seine Augen waren wie eine Frage, deren Antwort sie ersehnte und zugleich fürchtete, und sie spürte instinktiv, dass ein einziger Schritt auf ihn zu sie ins Bodenlose führen würde … ein einziger Schritt, der alles ändern konnte, was sie zu sein glaubte

In Venedig gerät die siebzehnjährige Milou in die Welt der Scherben: das Reich der verlorenen Gedanken, der zerschlagenen Träume, der unvollendeten Geschichten und vergessenen Wünsche. Auf der Suche nach spurlos im Nebel verschwundenen Menschen verliebt sie sich in den mysteriösen Rabenwandler Nív, doch sie weiß: Seine Welt ist nicht für sie bestimmt. Und mit jedem Augenblick zieht das Reich der Scherben sein Netz enger …

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Seitenzahl: 832

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Gesa Schwartz

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag ­keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

© 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock

(Aleshyn_Andrei, Renata Sedmakova, manfredxy)

mg • Herstellung: wei

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19270-9V001

www.cbt-buecher.de

Mei­ner Mut­ter,

die mich flie­gen lehr­te

1

Der Ne­bel zog in geis­ter­haf­ten Schlei­ern durch Ve­ne­digs Gas­sen. Tief­schwarz thron­te der Nacht­him­mel über den Dä­chern, die Ka­nä­le glüh­ten im Schein der La­ter­nen, als be­stün­den sie aus dunk­len Spie­geln, und wäh­rend Mi­lou durch die ver­wais­ten Stra­ßen lief, konn­te sie die Stil­le at­men hö­ren: wis­pernd wie ein Ge­heim­nis. Sie lieb­te es, Ve­ne­dig in die­ser Jah­res­zeit zu be­su­chen, wenn der na­hen­de Win­ter die Schat­ten schon am Nach­mit­tag in den Hin­ter­hö­fen tan­zen ließ und nur das leuch­ten­de Rot ih­res Kof­fers die Il­lu­si­on stör­te, in eine Schwarz-Weiß-Fo­to­gra­fie aus lang ver­gan­ge­ner Zeit ge­ra­ten zu sein. Die Som­mer­mo­na­te, in de­nen die schma­len Gas­sen aus al­len Näh­ten platz­ten und rie­si­ge Kreuz­fahrt­schif­fe im Ha­fen an­lan­de­ten, wa­ren fern, und mit je­dem fros­ti­gen Pin­sel­strich ver­wan­del­te die Stadt sich stär­ker zu­rück in das, was sie ei­gent­lich war: eine Zau­be­rin, ge­gen de­ren Ma­gie Mi­lou seit je­her macht­los ge­we­sen war.

Ihr Kof­fer rum­pel­te in stör­ri­schem Stak­ka­to über das Pflas­ter, als woll­te er sei­nen Un­mut da­rü­ber kund­tun, dass sie ihn durch die hal­be Stadt zerr­te, ob­wohl es doch ver­flucht noch eins kür­ze­re Wege gab, um an ihr Ziel zu kom­men. Fast mein­te sie, in dem är­ger­li­chen Pol­tern die Stim­me ih­res On­kels Ma­this zu hö­ren, der ihr ein­dring­lich ge­ra­ten hat­te, die Stre­cke vom Bahn­hof mit ei­nem Vapo­retto zu­rück­zu­le­gen. Sie sah ihn vor sich, wie sie sich in Pa­ris ver­ab­schie­det hat­ten: das Ge­sicht so sor­gen­voll, als hät­te er sie in ein Kriegs­ge­biet fah­ren las­sen, und die Au­gen dun­kel um­wölkt wie im­mer, wenn der sel­te­ne Fall ein­trat, dass er in ei­ner An­ge­le­gen­heit kei­ne Wahl hat­te. Er hass­te nichts mehr, als kei­ne Wahl zu ha­ben. Aber die Re­no­vie­rungs­ar­bei­ten in sei­ner Woh­nung ver­zö­ger­ten sich, und wäh­rend er in die­ser Zeit auf Ge­schäfts­rei­se war, hat­ten Ma­ler und Bo­den­le­ger Mi­lou ob­dach­los ge­macht. Sie selbst hät­ten Farb­ge­ruch und Bau­lärm nicht ge­stört, doch Ma­this be­stand da­rauf, dass sie sich auch in den Fe­ri­en dem Ler­nen wid­me­te. Denn trotz der teu­ren Pri­vat­schu­len, auf die er sie in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ge­schickt hat­te, war es ihr nicht ge­lun­gen, ihre Leis­tun­gen sei­nen An­sprü­chen an­zu­pas­sen. In we­ni­gen Wo­chen wür­de da­her eine Ar­ma­da von ex­zel­len­ten Nach­hil­fe­leh­rern auf sie war­ten, um sie un­ter Ma­this’ stren­gem Blick durch das letz­te Schul­jahr zu be­glei­ten, und so hat­te er ei­nen ru­hi­gen Ort für sie fin­den müs­sen, an dem sie sich an­ge­mes­sen da­rauf vor­be­rei­ten konn­te. Das war al­les an­de­re als ein­fach ge­we­sen. Er selbst konn­te auf Rei­sen kei­ne Ab­len­kung ge­brau­chen, ihre bes­te Freun­din Ce­line war mit ih­ren El­tern in Me­xi­ko, und Mi­lou muss­te grin­sen, als sie da­ran dach­te, wie sie nach ei­ner an­ge­mes­se­nen Pau­se Ve­ne­dig vor­ge­schla­gen und Ma­this’ Ge­sicht sich ver­fins­tert hat­te. In der­sel­ben Se­kun­de hat­ten sie bei­de ge­wusst, dass die Stadt in der La­gu­ne ihre ein­zi­ge Mög­lich­keit war. Und so ver­brach­te sie die Fe­ri­en bei Non­na, ih­rer Groß­mut­ter – zum Un­wil­len ih­res On­kels und zu ih­rer Freu­de.

Non­na war die warm­her­zigs­te, ver­rück­tes­te Per­son, die Mi­lou kann­te. Sie hat­te kei­ne Ah­nung von Com­pu­tern oder Han­dys, schick­te ihr aber re­gel­mä­ßig Brie­fe mit ge­press­ten Blu­men und Fo­tos ih­rer Kat­zen (wo­bei sie stets be­ton­te, dass sie viel mehr den Kat­zen ge­hör­te als um­ge­kehrt), sie tanz­te bar­fuß im Re­gen, sie setz­te sich lus­ti­ge Hüte auf und lief da­mit durch die Stra­ßen, wenn sie Mi­lou zum La­chen brin­gen woll­te, sie düste mit ih­rem knall­rot ge­stri­che­nen Mo­tor­boot so ra­sant durch die Ka­nä­le, dass selbst er­fah­re­ne Ve­ne­zi­a­ner auf dem Was­ser vor ihr Reiß­aus nah­men, und sie sang düs­te­re Lie­der aus dem Reich der Sa­gen und Le­gen­den. Bis­wei­len hat­te sie Mi­lou in Pa­ris be­sucht, dann war sie wie ein far­bi­ger Fleck ge­we­sen in die­ser rie­si­gen Stadt und hat­te Ma­this’ nüch­ter­nes Pent­house mit Blu­men und bun­ten Bil­dern voll­ge­stellt. Im­mer wie­der hat­te Mi­lou ih­ren On­kel in den letz­ten Jah­ren ge­drängt, ihr ei­nen Ge­gen­be­such ab­stat­ten zu dür­fen, doch meist hat­te er ab­ge­lehnt, kühl und sach­lich wie im­mer, viel­leicht aus Furcht vor den Er­in­ne­run­gen, die auch ihn zwi­schen die­sen Häu­sern heim­su­chen könn­ten, viel­leicht auch aus Sor­ge vor die­sen Gas­sen, die das Träu­men so leicht mach­ten, dass all­zu schnell jede Stren­ge und Ra­ti­o­na­li­tät, die er Mi­lou in den ver­gan­ge­nen Jah­ren müh­sam ver­sucht hat­te bei­zu­brin­gen, in flüs­tern­den Schat­ten un­ter­gin­gen. Ra­ti­o­na­li­tät. Mi­lou muss­te lä­cheln, als sie die Stim­me ih­rer Groß­mut­ter über die­ses Wort stol­pern hör­te, als wäre es nichts als eine Il­lu­si­on für all jene, die nicht ge­nug Fan­ta­sie hat­ten, die Wahr­heit rings um sie he­rum zu er­ken­nen.

Sie ließ den Blick über die vom Hoch­was­ser ge­zeich­ne­ten Fas­sa­den schwei­fen und stell­te sich vor, wie Ma­this die­se Gas­sen be­trach­ten wür­de: ab­schät­zig und mit küh­ler Stren­ge in sei­nen hel­len blau­en Au­gen, als be­gut­ach­te­te er eine der ma­ro­den Fir­men, die er auf­kauf­te, um sie ge­winn­brin­gend wie­der los­zu­schla­gen. Sie seufz­te. Ma­this hat­te es gut ge­meint, als er ihr zu dem Was­ser­ta­xi ge­ra­ten hat­te. Er selbst leg­te größ­ten Wert auf kom­for­tab­les Rei­sen. Aber er ver­stand nicht mehr von Ve­ne­dig als ihr Kof­fer, und da­her wuss­te er nicht, dass es für sie nur eine Art gab, wirk­lich in die­ser Stadt an­zu­kom­men. Schritt für Schritt hat­te sie in das La­by­rinth der Gas­sen ein­tau­chen und den Ge­ruch in sich auf­neh­men müs­sen, den sie nir­gends so in­ten­siv wahr­neh­men konn­te wie hier: den Duft ih­rer Kind­heit nach Meer, Ge­heim­nis und Aben­teu­er … ein Duft vol­ler Er­in­ne­run­gen, den Ma­this ver­ab­scheu­te, so sehr, dass er es nicht über sich ge­bracht hat­te, sie durch die­se Gas­sen zu be­glei­ten.

Mi­lou nahm es ihm nicht übel. Zu deut­lich sah sie ihn vor sich, wie er in je­ner Nacht vor vie­len Jah­ren auf dem Flur im Kran­ken­haus von Ve­ne­dig ge­stan­den hat­te, ihr küh­ler, un­nah­ba­rer On­kel, die Hand ge­gen die Tür ge­stützt, hin­ter der ihre El­tern den Kampf um ihr Le­ben ver­lo­ren hat­ten. Nie hat­te sie Ma­this wei­nen se­hen bis zu die­sem Mo­ment. Eine Schwes­ter hat­te sie den Gang hi­nauf­ge­tra­gen. Er hat­te Mi­lou nicht be­merkt, aber sie hat­te die­sen Au­gen­blick der Schwä­che nie ver­ges­sen, der so viel mehr Stär­ke in sich ge­tra­gen hat­te als je­der Mo­ment da­nach, als Ma­this mit der ihm ei­ge­nen Elo­quenz alle An­ge­le­gen­hei­ten ge­re­gelt und sie bei sich auf­ge­nom­men hat­te. Sie ka­men aus ver­schie­de­nen Wel­ten, er der ziel­stre­bi­ge Kar­ri­e­re­mensch, der gro­ßen Wert leg­te auf ge­sell­schaft­li­ches An­se­hen und Vo­ran­kom­men, sie die Träu­me­rin, die viel lie­ber in den Rei­chen ih­rer Bü­cher leb­te als in dem, was Ma­this Re­a­li­tät nann­te. Aber sie res­pek­tier­ten ei­nan­der, und seit je­ner Nacht im Kran­ken­haus emp­fand Mi­lou eine stil­le Zärt­lich­keit, wenn sie in die blau­en Au­gen ih­res On­kels schau­te, ganz gleich, wie kühl sie bli­cken moch­ten – wuss­te sie doch, dass da­rin die­sel­be Trau­er lag, die auch sie tief in sich ver­gra­ben hat­te.

Mu­sik und lei­ses Stim­men­ge­wirr durch­dran­gen ihre Ge­dan­ken, als sie an ei­nem klei­nen Res­tau­rant vor­bei­lief. Es war Jah­re her, seit sie ihre Groß­mut­ter zum letz­ten Mal be­sucht hat­te, und doch hat­te sich das Vier­tel Ca­stello kaum ver­än­dert. Noch im­mer war es das Se­stie­re der ein­fa­chen Leu­te, je­nen re­bel­li­schen Frei­geis­tern, die trotz of­fi­zi­el­len Ver­bots im Som­mer wei­ter­hin ihre Wä­sche­lei­nen zwi­schen ih­ren Fens­tern spann­ten. Noch im­mer schau­ten die Häu­ser in den ver­win­kel­ten Stra­ßen aus wind­schie­fen Fens­ter­au­gen auf Mi­lou he­rab und lehn­ten sich an­ei­nan­der, als müss­ten sie sich an­ge­sichts des dro­hen­den Un­ter­gangs am brö­ckeln­den Putz ih­res Nach­barn fest­klam­mern, und noch im­mer fiel es ihr nicht schwer, die Fa­bel­we­sen zu er­ken­nen, die sie schon frü­her in den hu­schen­den Schat­ten der Gas­sen ge­se­hen zu ha­ben glaub­te. Sie zog ih­ren Kof­fer die Pon­te Mar­cel­lo hi­nab und be­ob­ach­te­te, wie ein Sche­men, der ge­ra­de noch ver­teu­fel­te Ähn­lich­keit mit ei­nem Ko­bold ge­habt hat­te, als Kat­ze aus ei­nem Haus­ein­gang her­vor­sprang. Ein Lä­cheln glitt über ihr Ge­sicht. Es war eine ver­lang­sam­te, kost­ba­re Welt, in der Non­na leb­te, und es er­füll­te sie mit ei­nem un­ru­hi­gen Glücks­ge­fühl, zu­rück zu sein … zu­rück in der Ku­lis­se ih­rer Kind­heit, die noch im­mer wie ein Mär­chen war, in dem die Zeit still­stand.

Sie hat­te ge­ra­de die Cal­le Borg­olocco be­tre­ten, als ein Flüs­tern an ihr Ohr drang, lei­se nur und doch so ein­dring­lich, dass sie ste­hen blieb und sich um­sah. Sie schien al­lein zu sein, aber ein Schau­er flog über ih­ren Rü­cken wie frü­her, wenn sie mit den an­de­ren Kin­dern in der Däm­me­rung he­rum­ge­lau­fen war und sie sich ge­gen­sei­tig Gru­sel­ge­schich­ten er­zählt hat­ten. Kurz mein­te sie, das Ge­läch­ter der an­de­ren an den Fas­sa­den der Häu­ser wi­der­klin­gen zu hö­ren, und ob­wohl sie ih­ren Weg rasch fort­setz­te, tauch­ten die Spuk­bil­der von da­mals vor ih­rem geis­ti­gen Auge auf. Sie sah un­heim­li­che Ge­stal­ten mit blei­chen Glie­dern, die laut­los aus den Ka­nä­len kro­chen und al­les Le­ben­di­ge in ihr eis­kal­tes Reich zerr­ten, Geis­ter­frau­en in we­hen­den Ge­wän­dern, de­ren Hän­de den Tod brach­ten, und Clowns in den fins­te­ren Häu­ser­ni­schen, die Zäh­ne rot vom Blut un­schul­di­ger Kin­der. Lang­sam sog sie die Luft ein. Sie wuss­te, dass die­se Bil­der nichts als Aus­ge­bur­ten ih­rer wil­den Fan­ta­sie wa­ren, Ge­dan­ken, die nur in ih­rem Kopf exis­tier­ten. Und den­noch schau­te sie wie da­mals als Kind in den ge­spens­ti­schen Ne­bel, als bräuch­te sie nur die Hand aus­zu­stre­cken, um den Schlei­er über ih­rer Wirk­lich­keit fort­zu­zie­hen – die­se dün­ne Haut, die sie je­des Mal be­rühr­te, wenn sie in ihre Bü­cher ein­tauch­te, wenn sie mit­ten in der Nacht er­wach­te, als hät­te eine stei­ner­ne Klaue ihre Wan­ge ge­streift, oder wenn sich für ei­nen Wim­pern­schlag das Licht ver­än­der­te, das auf den re­gen­nas­sen As­phalt von Pa­ris fiel, schil­lernd wie in ei­nem Ka­lei­dos­kop aus tau­send Far­ben. In sol­chen Mo­men­ten hielt Mi­lou den Atem an, und manch­mal konn­te sie es noch im­mer spü­ren: das Ge­heim­nis, das sie in ih­rer Kind­heit mit ei­ner Mi­schung aus Sehn­sucht und Furcht hin­ter je­dem flüs­tern­den Blatt und je­dem fla­ckern­den Schat­ten er­ahnt hat­te und das ihr seit je­her zu­raun­te, dass es mehr in der Welt gab, als ihre Au­gen se­hen konn­ten … so un­end­lich viel mehr als das. Sie hielt inne, als der Ne­bel vor ihr auf­wall­te wie ein le­ben­di­ges We­sen, und für ei­nen Mo­ment woll­te sie nichts mehr, als auf ihn zu­zu­tre­ten – ih­ren Weg zu ver­las­sen und sich in den wei­ßen Schlei­ern zu ver­lie­ren, als wäre sie noch im­mer das klei­ne Mäd­chen von da­mals, das auf den Schwin­gen sei­ner Ge­dan­ken flie­gen ge­lernt hat­te. Doch gleich da­rauf riss sie ih­ren Blick vom Ne­bel fort und dräng­te die Bil­der zu­rück, wäh­rend sie die Pon­te dei Preti über­quer­te. Sie führ­te sich auf wie ein Klein­kind. Wenn Ma­this sie jetzt se­hen könn­te, wür­de er …

Das Flüs­tern strich wie ein Atem­zug über ihre Wan­ge. Mi­lou fuhr zu­rück, so hef­tig, dass sie sich den Arm am Brü­cken­ge­län­der stieß, aber ehe sie noch et­was hin­ter sich hät­te er­ken­nen kön­nen, ver­lor sie das Gleich­ge­wicht, rutsch­te über die Stu­fen ab­wärts und schlug am Bo­den auf. Ihr Kof­fer lan­de­te ne­ben ihr. Kra­chend brach er aus­ei­nan­der, und all die Bü­cher, die sie mü­he­voll ver­schnürt und zu­sam­men­ge­packt hat­te, er­gos­sen sich über das feuch­te Pflas­ter. Be­nom­men kam sie auf die Bei­ne. Ihr Schä­del puc­kerte, so hef­tig war sie auf den Stei­nen auf­ge­kom­men, und kurz dräng­te der Schmerz je­des an­de­re Ge­fühl zu­rück. Dann je­doch nahm sie die Stil­le wahr, die sie nun wie­der um­gab. Sie hat­te je­des an­de­re Ge­räusch ver­schlun­gen, und zum ers­ten Mal, seit Mi­lou die Stadt be­tre­ten hat­te, kam sie ihr un­heim­lich vor – wie ein Luft­ho­len vor ei­nem ent­setz­li­chen Fluch. Seuf­zend straff­te sie die Schul­tern. War es nicht schlimm ge­nug, dass sie we­gen ei­nes lä­cher­li­chen Flü­sterns die Stu­fen hi­nab­fiel? Muss­te sie nun auch noch an­fan­gen, sich Ge­schich­ten aus­zu­den­ken? Be­tont ge­las­sen be­gann sie, ihre Bü­cher in den lä­dier­ten Kof­fer zu­rück­zu­stop­fen, aber sie brach­te es da­bei nicht über sich, den Ne­bel aus den Au­gen zu las­sen, der nun in di­cken Schwa­den über die Mau­ern des Ka­nals trat und auf sie zu kroch, lang­sam wie ein zum Sprung be­rei­tes Tier. Im sel­ben Mo­ment kehr­te das Flüs­tern zu­rück.

Noch im­mer fühl­te Mi­lou es eis­kalt an ih­rer Wan­ge und sie zö­ger­te nicht län­ger. Ei­lig griff sie nach ih­rem Kof­fer, klemm­te sich die üb­ri­gen Bü­cher un­ter den Arm und setz­te sich in Be­we­gung. Jede Ver­zau­be­rung, die sie ge­ra­de noch emp­fun­den hat­te, wur­de von dem selt­sa­men Wis­pern zer­rie­ben und ließ nichts in ihr zu­rück als ra­sen­de An­span­nung. Sie zwang sich, nicht zu lau­fen, wuss­te sie doch, dass es mit ja­gen­dem Puls schier un­mög­lich wer­den wür­de, die auf­kei­men­de Angst in sich klein zu hal­ten. Statt­des­sen zerr­te sie ih­ren Kof­fer über das Pflas­ter, als wäre er ein bo­cki­ger Hund, und ver­such­te ver­geb­lich, das Flüs­tern zu ig­no­rie­ren, das ihr rasch nach­glitt. Mit klop­fen­dem Her­zen schau­te sie über die Schul­ter zu­rück, aber ihr Blick perl­te an der Wand aus Ne­bel ab wie Re­gen von Glas, und sie wich er­schro­cken zu­rück, als die Stra­ßen­la­ter­nen zu fla­ckern be­gan­nen.

Je­des Mal, wenn das Licht der La­ter­nen für die Dau­er ei­nes Atem­zugs er­losch, schie­nen sich die Gas­sen rings­he­rum zu ver­än­dern. Die Fas­sa­den der Häu­ser wur­den brü­chig, als be­stün­den sie aus ver­brann­tem Pa­pier, das Pflas­ter knack­te un­ter Mi­lous Schrit­ten wie bre­chen­des Eis, und selbst das Licht wan­del­te sich wie in je­nen sel­te­nen Au­gen­bli­cken voll­kom­me­ner Stil­le, die nie­mand wahr­zu­neh­men schien als sie selbst. Mi­lou schau­te zu den Häu­sern auf, die in der Dun­kel­heit wirk­ten wie aus Blei ge­gos­sen, und sie lief auf die er­leuch­te­ten Fens­ter zu, die nicht weit ent­fernt ihr Licht in die Nacht sand­ten. Eine tie­fe Er­leich­te­rung brach in ihr auf, als sie die Men­schen in ih­ren Woh­nun­gen sah, wie sie vor dem Fern­se­her zu­sam­men­sa­ßen oder in der Kü­che mit­ei­nan­der spra­chen, ge­wöhn­li­che Ve­ne­zi­a­ner, die ver­mut­lich laut la­chen wür­den, soll­ten sie das Mäd­chen aus der fer­nen Stadt mit hoch­ro­ten Wan­gen durch al­ber­nen Ne­bel het­zen se­hen, als wäre der Teu­fel hin­ter ihm her. Auf­at­mend strich Mi­lou sich das Haar zu­rück und ver­lang­sam­te ihre Schrit­te. Doch kaum, da das Licht aus den Woh­nun­gen ihre Haut traf, ho­ben die Men­schen die Köp­fe, ruck­ar­tig wie wit­tern­de Tie­re, und ihre Züge ver­zerr­ten sich zu ent­stell­ten Frat­zen.

Nur im letz­ten Au­gen­blick un­ter­drück­te Mi­lou ei­nen Schrei. Sie starr­te in die Fens­ter, die plötz­lich ver­git­tert und dun­kel wie To­ten­au­gen da­la­gen, als hät­ten sie nie et­was an­de­res ge­zeigt als reg­lo­se Nacht. Dann riss sie ih­ren Blick fort und be­gann zu ren­nen. Ihr Kof­fer sprang über das Pflas­ter, als hät­te auch ihn der Schreck er­fasst, und Mi­lou ge­lang es nicht, auf die mah­nen­de Stim­me in ih­rem In­ne­ren zu hö­ren, die ihr zu­rief, dass sie sich be­ru­hi­gen und die ver­nünf­ti­ge Er­klä­rung für die Er­eig­nis­se su­chen soll­te. Denn die gab es, die muss­te es ein­fach ge­ben. Zu ein­dring­lich ver­folg­te sie das Flüs­tern im Rhyth­mus ih­rer ei­ge­nen Schrit­te. Im­mer schnel­ler jag­te es ihr mit Schwa­den aus kleb­ri­gem Ne­bel hin­ter­her, glitt an ihr vor­bei und trieb sie von Brü­cken und Stra­ßen zu­rück, bis der Dunst so dicht ge­wor­den war, dass sie nicht mehr sa­gen konn­te, wo sie war. Atem­los bog sie um eine Ecke – und fand sich in ei­ner Sack­gas­se wie­der. Sie fuhr he­rum. Haus­hoch türm­te der Ne­bel sich vor ihr auf, und ge­ra­de, als sie mit dem Rü­cken ge­gen die Wand stieß, ver­stumm­te das Flüs­tern.

Mi­lous Herz schlug so hef­tig, dass sie mein­te, es in den Stei­nen in ih­rem Rü­cken wi­der­klin­gen zu füh­len. Sie press­te die Hand­flä­chen ge­gen die Mau­er, bis die schar­fen Kan­ten sich in ihr Fleisch gru­ben, und starr­te in den Ne­bel, der sich ihr laut­los nä­her­te. Ir­gend­et­was in ihr rief ihr zu, dass sie sich zu­sam­men­rei­ßen muss­te, dass es nichts als Ne­bel war, dass ihre Fan­ta­sie ihr ei­nen Streich spiel­te wie so oft. Aber ganz gleich, was die­se Stim­me in ihr sa­gen moch­te – sie fühl­te, dass et­was in die­sem Ne­bel sie an­starr­te, reg­los und lau­ernd, und sie hör­te auf zu at­men, als sich ein schat­ten­haf­ter Um­riss aus dem Dunst hob.

Im ers­ten Mo­ment mein­te Mi­lou, die Ge­stalt ei­nes Mi­no­tau­rus mit mäch­ti­gem Stier­kopf und mes­ser­schar­fen dunk­len Hör­nern er­ken­nen zu kön­nen. Dann zog der Sche­men sich zu­sam­men. Sie glaub­te, Luft­bal­lons von ei­nem Clown in Plu­der­ho­sen auf­stei­gen zu se­hen, und schließ­lich be­gann die Ge­stalt zu fla­ckern wie die Stra­ßen­la­ter­nen zu­vor, so schnell, dass ihr schwind­lig wur­de. Schritt für Schritt trat sie auf Mi­lou zu und blieb schließ­lich ste­hen, halb noch vom Ne­bel um­schmei­chelt. Es war ein Mäd­chen, etwa sieb­zehn Jah­re alt, ein we­nig pum­me­lig mit lan­gen dunk­len Lo­cken und bei­na­he kind­li­chem Ge­sicht, die Brau­en in leich­tem Trotz ver­zo­gen. Mi­lou wich das Blut aus dem Kopf. Sie selbst war es, die da vor ihr stand, reg­los wie eine Fi­gur aus Eis. Doch an­stel­le ih­rer dunk­len Au­gen prang­ten Spie­gel in dem blas­sen Ge­sicht, Spie­gel, die das Meer zeig­ten … das Meer in sturm­um­tos­ter Nacht.

Mi­lou stand da wie ge­lähmt. Die Bü­cher glit­ten ihr aus den Hän­den, aber sie hör­te sie kaum am Bo­den auf­schla­gen. Al­les, was sie deut­lich wahr­nahm, war das Meer, das sich mit töd­li­cher Kraft um ihre Keh­le schlang und ihr die Luft ab­press­te, ohne dass sie auch nur das Ge­rings­te da­ge­gen tun konn­te. Es fühl­te sich an, als schlös­se sich eine ei­si­ge Hand um ihr Herz, gna­den­los und kalt wie … eine Er­in­ne­rung … Das Mäd­chen vor ihr schien zu lä­cheln, so grau­sam, dass Mi­lou zu zit­tern be­gann. Sie mein­te schon, die Gischt des Mee­res auf ih­rer Haut füh­len zu kön­nen, doch ge­ra­de als ihr schwarz vor Au­gen wur­de, ging ein Ton durch die Luft – so laut und durch­drin­gend, dass der Ne­bel vor ihm zu­rück­wich und jede Stil­le zer­brach. Es war der Schrei ei­nes Ra­ben.

Ab­rupt riss das Mäd­chen vor ihr den Kopf he­rum, und Mi­lou mein­te, ein Knur­ren aus ih­rer Keh­le drin­gen zu hö­ren, dun­kel wie bei ei­nem Tier. Dann fuhr ihr Spie­gel­bild he­rum und ohne sich noch ein­mal um­zu­dre­hen, tauch­te es im flie­hen­den Ne­bel un­ter.

Die Läh­mung wich so plötz­lich aus Mi­lous Glie­dern, dass sie sich an der Wand ab­stüt­zen muss­te, um nicht zu fal­len. Schwer at­mend hob sie den Blick, und da sah sie eine hoch­ge­wach­se­ne Ge­stalt am Ende der Gas­se ste­hen, ei­nen Mann, in ei­nen schwar­zen Man­tel ge­klei­det, ka­pu­zen­be­wehrt und um­ge­ben von Schat­ten. Mi­lou er­kann­te kein Ge­sicht in der Dun­kel­heit und doch er­schien ihr ir­gend­et­was an die­sem An­blick selt­sam ver­traut. Lang­sam rich­te­te sie sich auf, die Fin­ger noch im­mer in die Mau­er ge­krallt, aber sie wand­te sich nicht für ei­nen Wim­pern­schlag von dem Frem­den ab. War es sei­ne Reg­lo­sig­keit, die sie bann­te? Das Schwei­gen, das sich wär­mend um ihre Schul­tern leg­te und je­des Flüs­tern aus ih­ren Ge­dan­ken ver­trieb, oder das halb­lan­ge, sei­dig schim­mern­de Haar, das in der Düs­ter­nis glüh­te wie eine sil­ber­ne Flam­me? Kurz mein­te Mi­lou, ein Lä­cheln in der Finsternis un­ter der Ka­pu­ze er­ah­nen zu kön­nen, stolz und spöt­tisch und zu­gleich von ei­ner sanf­ten Vor­sicht, die sie auf den Frem­den zu­tre­ten ließ, ins­tink­tiv, als wür­de in sei­ner Dun­kel­heit et­was auf sie war­ten, das sie lan­ge ge­sucht hat­te, ohne es zu wis­sen – wie da­mals als Kind, wenn sie im Haus ih­rer Groß­mut­ter an ihr Fens­ter ge­tre­ten war und hi­naus in die Nacht ge­se­hen hat­te in der Hoff­nung, je­mand wür­de die­sen Blick er­wi­dern.

Sie hielt inne. Wie lan­ge hat­te sie nicht mehr da­ran ge­dacht? Die Fins­ter­nis un­ter der Ka­pu­ze schien auf­zu­glü­hen wie eine Ant­wort und im sel­ben Mo­ment über­kam Mi­lou hef­ti­ger Schwin­del. Sie griff er­neut nach der Haus­wand, als wür­de ein ein­zi­ger wei­te­rer Schritt auf die­se Dun­kel­heit zu ge­nü­gen, um ihr den Bo­den un­ter den Fü­ßen zu neh­men. Die Schat­ten am Ende der Gas­se be­gan­nen zu tan­zen. Sie muss­te die Au­gen zu­sam­men­knei­fen, um den Frem­den noch er­ken­nen zu kön­nen, und ihr ging der Ge­dan­ke durch den Kopf, ob er über­haupt wirk­lich da war. Sei­ne Um­ris­se ver­schwam­men be­reits, und wie er so da­stand, von Fins­ter­nis um­tost, sah er aus, als wäre er ein Traum … nichts als ein Traum aus Nacht und Schat­ten. Kurz schien es Mi­lou, als wür­de er vor ihr den Kopf nei­gen. Dann lo­der­te die Dun­kel­heit um ihn he­rum auf und er war ver­schwun­den.

Mi­lou schwank­te an­ge­sichts der fla­ckern­den Düs­ter­nis und schloss die Au­gen, um den Schwin­del zu­rück­zu­drän­gen. Lang­sam at­me­te sie ein, und als sie auf­schau­te, war der Ne­bel gänz­lich ver­schwun­den. Das Licht der Stra­ßen­la­ter­nen fiel ihr ins Ge­sicht, sie hör­te Ge­läch­ter von ei­nem na­hen Bal­kon, und die Häu­ser, die ge­ra­de noch wie in Blei ge­bannt da­ge­stan­den hat­ten, zeig­ten nun ihr ver­trau­tes, von Wel­len und Men­schen ge­beu­tel­tes Ge­sicht. Mi­lou stieß die Luft aus. Ver­flucht, was war los mit ihr? Ge­nüg­te tat­säch­lich schon ein we­nig Ne­bel, um eine ge­wöhn­li­che Ta­schen­die­bin für sie in eine Spuk­ge­stalt zu ver­wan­deln? Mit al­ler Kraft dräng­te sie die Ge­dan­ken an ihr Eben­bild mit den Spiege­lau­gen zu­rück und griff nach ih­ren Bü­chern. Sie war kein Kind mehr, das sich von die­sen Gas­sen ver­he­xen ließ wie frü­her! Är­ger­lich wühl­te sie in ih­rer Ta­sche he­rum und hol­te ihr Pfef­fer­spray he­raus. Soll­te noch ein­mal je­mand auf die Idee kom­men, sie zu be­läs­ti­gen, wür­de sie sich zu hel­fen wis­sen, so viel war si­cher.

Mit ent­schlos­se­nen Schrit­ten setz­te sie sich in Be­we­gung. Sie sah Ma­this vor sich, die Sor­ge in sei­nem Blick – und das nur halb un­ter­drück­te spöt­ti­sche Fun­keln an­ge­sichts der Hirn­ge­spins­te, de­nen sie sich of­fen­sicht­lich noch im­mer mit der­sel­ben Fas­zi­na­ti­on hin­gab wie da­mals als Kind. Da­bei gab es et­li­che na­he­lie­gen­de Er­klä­run­gen für das, was ge­sche­hen war. Ver­mut­lich war sie ei­ner Die­bes­ban­de auf den Leim ge­gan­gen, die sie mit ge­spens­ti­schem Flüs­tern durch die Gas­sen ge­jagt hat­te, nur um sie dann mit ei­ner bil­li­gen Frau­en­mas­ke und dunk­ler Pe­rü­cke in Angst und Schre­cken zu ver­set­zen. Die Frat­zen hin­ter den Fens­tern wa­ren ih­rer ei­ge­nen Pa­nik ge­schul­det ge­we­sen, eben­so wie die Fas­sa­den aus Blei, und fla­ckern­de Stra­ßen­la­ter­nen wa­ren in die­ser Stadt nun wirk­lich kein An­lass zur Be­un­ru­hi­gung. Die Er­leich­te­rung strich kühl durch ihre Glie­der, wäh­rend ihr Ver­stand die Er­eig­nis­se an ei­nen harm­lo­sen Platz rück­te, und ihr Herz­schlag hat­te sich schon fast wie­der be­ru­higt, als sie das Ende der Gas­se er­reich­te.

Kurz nur wand­te sie den Blick in die Schat­ten, und im sel­ben Mo­ment ging ein Ton durch die Luft, ge­ra­de dort, wo der rät­sel­haf­te Frem­de ge­stan­den hat­te. Der Laut fuhr Mi­lou ins Mark, so durch­drin­gend, dass sie sich erst nach ei­ni­gen Au­gen­bli­cken dazu zwin­gen konn­te, ih­ren Weg fort­zu­set­zen. Mit fes­tem Griff zog sie ih­ren Kof­fer über das Pflas­ter. Pol­ternd sprang er über die Stei­ne und dräng­te jede Er­in­ne­rung an das merk­wür­di­ge Flüs­tern in ihr zu­rück. Der Ton vom Ende der Gas­se je­doch ging ihr nach, lei­se und be­tö­rend, und so sehr sie es auch ver­such­te: Es ge­lang ihr nicht, ihn aus ih­ren Ge­dan­ken zu ver­trei­ben. Ein La­chen war es, so ver­traut, als hät­te sie es vor lan­ger Zeit schon ein­mal ge­hört, und doch fern … so fern wie aus ei­ner an­de­ren Welt.

2

Die Cal­le de la Ma­don­eta emp­fing Mi­lou in nächt­li­chem Schwei­gen. Die ur­al­ten Fens­ter­lä­den, die für ge­wöhn­lich bei je­dem noch so lei­sen Wind­hauch klap­per­ten, schwie­gen be­däch­tig, die ver­wit­ter­ten Häu­ser dräng­ten sich schla­fend an­ei­nan­der, und die Fins­ter­nis des Him­mels war auch hier in jede Ni­sche ein­ge­drun­gen und hat­te die klei­ne Gas­se schwarz ge­färbt. Selbst das Pflas­ter, auf dem Mi­lou sich frü­her un­zäh­li­ge Male die Knie auf­ge­schla­gen hat­te, gab nur schwach den Schein der Stra­ßen­la­ter­nen zu­rück. Das Haus ih­rer Groß­mut­ter je­doch glüh­te in der Dun­kel­heit wie ein grü­ner Stern.

Das Licht, das hi­naus auf die Gas­se fiel, rühr­te von dem grü­nen Kris­tall her, der seit Mi­lou den­ken konn­te an ei­ner Lam­pe im Kü­chen­fens­ter ih­rer Groß­mut­ter hing und ihr um­ge­hend ein Lä­cheln aufs Ge­sicht zau­ber­te. Ins­tink­tiv be­schleu­nig­te sie ihre Schrit­te und eil­te über die Stra­ße ih­rer Kind­heit auf das Haus zu wie frü­her, wenn sie nach dem Spie­len mit den Nach­bars­kin­dern heim­ge­lau­fen war. Und wie da­mals wur­de auch nun die Tür auf­ge­ris­sen, noch ehe sie über­haupt die Schwel­le er­reicht hat­te. In grü­nen Strö­men er­goss sich das Licht auf Mi­lous Wan­gen und da stand ihre Groß­mut­ter, die Haa­re zu ei­nem lo­cke­ren Knäu­el er­grau­ter Lo­cken am Hin­ter­kopf zu­sam­men­ge­dreht, die brau­nen Au­gen strah­lend vor La­chen, und brei­te­te die Arme aus.

»Da bist du end­lich!«, rief sie. »Wie habe ich dich ver­misst!«

Mi­lou um­arm­te Non­na herz­lich, die die­se Wor­te im­mer zur Be­grü­ßung zu ihr sag­te, ganz gleich, ob sie nur we­ni­ge Stun­den oder et­li­che Mo­na­te von­ei­nan­der ge­trennt ge­we­sen wa­ren. »Es tut mir leid, dass es spä­ter ge­wor­den ist«, sag­te sie und kam sich für ei­nen Au­gen­blick tat­säch­lich vor wie da­mals als Kind, als sie die Zeit ver­ges­sen und ihre Groß­mut­ter mit ge­spiel­ter Stren­ge auf sie he­rab­ge­se­hen hat­te. »Ich bin vom Bahn­hof ge­lau­fen, und der Weg bis hier­her hat doch län­ger ge­dau­ert, als ich dach­te. Aber ich woll­te …«

»… den Duft Ve­ne­digs ein­at­men, be­vor du in mei­ne Kü­che kommst?« Non­na lach­te und zog sie ins Haus. »Das war ein wei­ser Ent­schluss, denn ich habe Knob­lauch­brot ge­ba­cken und Fede­ri­co hat drei mei­ner So­ßen an­bren­nen las­sen, was für ein noch kräf­ti­ge­res Aro­ma ge­sorgt hat.«

»Nicht je­der kann ein Händ­chen fürs Ko­chen ha­ben!«

Die war­me, dunk­le Stim­me ließ Mi­lou he­rum­fah­ren, und mit ei­nem Freu­den­schrei fiel sie Fede­ri­co in die Arme, der mit mehl­be­deck­ten Hän­den und Kü­chen­schür­ze im Tür­rah­men stand und sie la­chend auf­fing. Er führ­te seit ei­ner Ewig­keit den Buch­la­den in der Nähe, ge­hör­te eben­so lan­ge prak­tisch zur Fa­mi­lie und war so groß, dass er in den nied­ri­gen Räu­men ih­rer Groß­mut­ter im­mer ein we­nig den Kopf ein­zie­hen muss­te. Auch nun stand er da wie ein Bär, leicht ge­duckt und mit die­sem schel­mi­schen Fun­keln in den Au­gen, das ihm et­was Jun­gen­haf­tes ver­lieh, und hielt Mi­lou ein Stück weit von sich weg, um sie zu mus­tern. Für ge­wöhn­lich konn­te sie es nicht aus­ste­hen, so ge­nau be­trach­tet zu wer­den. Sie war sich be­wusst, dass ihre Fi­gur nicht ganz den I­de­al­ma­ßen ent­sprach, die den meis­ten Mäd­chen in der Schu­le so wich­tig wa­ren, und hat­te da­mit ei­gent­lich auch kein Pro­blem. Da­für hat­te sie ein gu­tes Buch ein­fach schon im­mer mehr zu schät­zen ge­wusst als ein Work­out im Fit­ness­stu­dio. Aber die Bli­cke man­cher Leu­te tra­fen sie mit ei­ner Ver­ächt­lichk­eit, als wür­de je­des Fett­pöl­ster­chen mehr da­rü­ber aus­sa­gen, was für ein Mensch sie war, als ihre Wor­te es ge­konnt hät­ten, und das är­ger­te sie. Fede­ri­co je­doch sah sie auf eine Wei­se an, die je­des Un­wohl­sein so­fort im Keim er­stick­te. Sein Haar stand nach al­len Sei­ten von sei­nem Kopf ab und gab dem prü­fen­den Aus­druck, den er auf sei­ne Züge leg­te, eine ko­mi­sche Note.

»Mi­lou, Mi­lou«, sag­te er und seufz­te wie je­des Mal, wenn das Lä­cheln nach die­sem Ri­tu­al auf sein Ge­sicht zu­rück­kehr­te. »Es ist viel zu lan­ge her, seit du das letz­te Mal hier ge­we­sen bist.«

Sie grins­te. »Ob du das auch noch sa­gen wirst, wenn ich erst wie­der die Bü­cher dei­nes La­dens durch­ei­nan­der­ge­bracht habe? Nicht, dass es ir­gend­wem au­ßer dir selbst in dei­nem Cha­os auf­fal­len wür­de, aber ich er­in­ne­re mich an dei­ne Ver­zweif­lung vom letz­ten Mal, als du nichts wie­der­ge­fun­den hast.«

Fede­ri­co lach­te, doch ehe er et­was ent­geg­nen konn­te, ging ein Zi­schen durch die Luft und Non­na schob sich ei­lig an ihm vor­bei in die Kü­che. »Him­mel­herr­gott, wenn ich nicht auf­pas­se, ver­brennt auch noch der Pud­ding«, rief sie und we­del­te mit ei­nem Ge­schirr­tuch he­rum. »Los, los! Bringt das Ge­päck nach oben. Mein Es­sen war­tet auf nie­man­den!«

Fede­ri­co schnapp­te sich Mi­lous Kof­fer und wuch­te­te ihn die schma­le Trep­pe hi­nauf. »Wie ich sehe, hast du ge­nug Bü­cher da­bei, um mei­nem La­den fern­blei­ben zu kön­nen«, stieß er aus und stütz­te sich schnau­fend an der Wand zwi­schen den Fa­mi­li­en­fo­tos und hin­ter Glas ge­bann­ten Blü­ten­blät­tern ab. »Was ist mit dei­nem Kof­fer pas­siert, hat er auf­ge­ge­ben un­ter der Last von so viel Wis­sen?«

Mi­lou schau­te prü­fend die Trep­pe hi­nab, doch ihre Groß­mut­ter han­tier­te laut­stark in der Kü­che he­rum und schien nichts ge­hört zu ha­ben. Mit viel­sa­gen­dem Blick be­deu­te­te sie Fede­ri­co, den Weg fort­zu­set­zen, und folg­te ihm über den ver­win­kel­ten Flur bis in ihr al­tes Kin­der­zim­mer. Die Tür öff­ne­te sich knar­rend, als woll­te auch sie Mi­lou will­kom­men hei­ßen, und kaum, dass sie den Raum be­trat, um­fing sie der ver­trau­te Ge­ruch von Thy­mi­an, Lak­ritz und Wachs­mal­stif­ten, der seit sie den­ken konn­te da­rin herrsch­te. Noch im­mer stand ihr wei­ßes Me­tall­bett un­ter der Schrä­ge ne­ben der Tür, ge­gen­über dem ­ur­al­ten Holz­schrank, vor dem sie sich als Kind ge­fürch­tet hat­te, bis Non­na ihr er­zählt hat­te, dass da­rin ein Ko­bold hau­sen wür­de, sehr scheu und sehr haa­rig, aber aus­ge­spro­chen er­picht da­rauf, klei­ne Mäd­chen vor Un­ge­heu­ern un­ter ih­rem Bett zu be­schüt­zen. Seit­her hat­te Mi­lou den Schrank ge­liebt und bis­wei­len so­gar heim­lich Milch­reis und an­de­re süße Spei­sen da­rin ver­staut, um ih­rem Mit­be­woh­ner et­was Gu­tes zu tun. Ein Lä­cheln flog über ihr Ge­sicht, als sie da­ran dach­te, wie ihr Va­ter ei­nes Ta­ges dem ste­chen­den Ge­ruch in ih­rem Zim­mer auf den Grund ge­gan­gen und beim An­blick von drei ver­faul­ten Milch­reis­schäl­chen ganz grün im Ge­sicht ge­wor­den war.

»Also?«, frag­te Fede­ri­co und riss sie aus ih­ren Ge­dan­ken. »Was ist mit dem Kof­fer pas­siert?«

Mi­lou dreh­te sich seuf­zend zu ihm um. Er lehn­te ne­ben der Tür, und ein Blick in sei­ne Au­gen ge­nüg­te, um sie wie­der acht Jah­re alt sein zu las­sen und eben­so glä­sern, wie sie seit je­her für ihn ge­we­sen war. Im­mer schon hat­te er ein Ta­lent da­für ge­habt, ihre Ge­dan­ken zu er­ra­ten … und nie, selbst bei dem größ­ten Un­fug, den sie an­ge­stellt ha­ben moch­te, hat­te er die­se Gabe ge­gen sie ver­wen­det. Statt­des­sen war er stets ihr Ver­bün­de­ter ge­we­sen, und sie er­in­ner­te sich an so man­chen Scha­ber­nack, den sie zu­sam­men aus­ge­heckt hat­ten. Doch die­ses Mal war es et­was an­de­res. Sie hat­te auf dem Weg zu ih­rer Groß­mut­ter so vie­le ra­ti­o­na­le Er­klä­run­gen für die Er­eig­nis­se im Ne­bel ge­fun­den, dass sie sich vor­ge­kom­men war wie Ma­this, wenn er sie frü­her nach ei­nem ih­rer Alb­träu­me ge­trös­tet und ihr er­klärt hat­te, dass es schlicht kei­ne Mons­ter un­ter dem Bett gab. Die An­span­nung war von ihr ab­ge­fal­len, doch nun, da sie Fe­deri­cos Blick er­wi­der­te, hör­te sie noch ein­mal das selt­sa­me Flüs­tern, das ihr durch den Ne­bel ge­folgt war, und ein Schau­er glitt über ih­ren Rü­cken, als wür­de es zu­rück­keh­ren, laut und über­mäch­tig, wenn sie ihm auch nur mit ei­nem Wort Be­deu­tung gab. »Ich bin ge­fal­len«, sag­te sie des­halb und er­in­ner­te sich so ge­nau an ih­ren Sturz von der Brü­cke, dass ihre Hand ins­tink­tiv zu ih­rer Schlä­fe fuhr. »Wie sagst du im­mer: die Nase in den Wol­ken und ei­nen Fuß über dem Ab­grund. Er­zäh­le bit­te Non­na nichts da­von. Sie wür­de sich nur Sor­gen ma­chen, und es ist ja nichts pas­siert.«

Noch im­mer mus­ter­te er sie ein­dring­lich, und für ei­nen Mo­ment hat­te Mi­lou das Ge­fühl, als wür­de er wis­sen, dass sie ihm nicht die gan­ze Wahr­heit er­zählt hat­te, ganz ge­nau so, wie er frü­her stets als Ers­ter he­raus­ge­fun­den hat­te, wenn sie heim­lich streu­nen­de Kat­zen in ih­rem Zim­mer ver­steckt und sie dort durch­ge­füt­tert hat­te. Dann je­doch nick­te er und Sor­ge trat in sei­nen Blick. »Ich wer­de ihr nichts er­zäh­len, wenn du mir ver­sprichst, auf dich acht­zu­ge­ben. Du weißt doch: Ve­ne­digs Gas­sen sind tü­ckisch, und die Stadt birgt mehr, viel mehr, als un­se­re sterb­li­chen Au­gen se­hen.«

Mi­lou lä­chel­te über die­se Wor­te, mit de­nen er frü­her so oft die Mär­chen ein­ge­lei­tet hat­te, die er den Kin­dern in sei­nem La­den er­zählt hat­te. »Kei­ne Sor­ge. Ich kann auf mich auf­pas­sen.«

Er nick­te. »Dann gilt un­ser Ver­spre­chen also«, raun­te er ver­schwö­rer­isch. »Jetzt und für im­mer?«

Mi­lou hat­te nicht ver­ges­sen, dass sie auf die­se Wei­se stets ihre ge­hei­men Be­teu­e­run­gen be­sie­gelt hat­ten, und sie spür­te die­sel­be Fei­er­lich­keit wie da­mals, als sie noch ein Kind ge­we­sen war und die­se Wor­te wiederholt hat­te. »Jetzt und für im­mer«, flüs­ter­te sie, und als er ihr Lä­cheln er­wi­der­te, wich zum ers­ten Mal, seit sie dem Ne­bel ent­kom­men war, jede Käl­te von ih­rem Leib. Ge­ra­de öff­ne­te Fede­ri­co den Mund, um et­was zu sa­gen, als ein Schep­pern aus der Kü­che drang, dicht ge­folgt vom hei­se­ren Fau­chen ei­ner Kat­ze. Seuf­zend schüt­tel­te er den Kopf. »Dei­ne Groß­mut­ter wird nie ler­nen, dass ge­bra­te­ner Fisch und eine Hor­de Kat­zen in ei­ner Kü­che zu al­lem füh­ren kön­nen – aber ga­ran­tiert nicht zu ei­nem le­cke­ren Es­sen.«

Mi­lou muss­te la­chen. »Geh du schon vor und fang den ers­ten Zor­nes­schwall für mich ab. Ich kom­me gleich nach.«

»Fede­ri­co, der Wel­len­bre­cher«, mur­mel­te er und grins­te. »Je­der braucht ei­nen wah­ren Na­men, ist es nicht so?«

Da­mit lief er die Trep­pe hi­nab und ließ Mi­lou al­lein. Es war selt­sam, wie­der zu­rück in die­sem Zim­mer zu sein, das sie als Kind ver­las­sen hat­te und nun als jun­ge Frau wie­der be­trat. Fast schien es ihr, als wäre sie in eine Sei­fen­bla­se ge­ra­ten, in der die Zeit kei­ne Macht hat­te, und sie muss­te da­ran den­ken, was ihre Mut­ter ihr ge­ra­de an die­sem Ort ein­mal über Er­in­ne­run­gen er­zählt hat­te. Nimm sie mit dir, hat­te sie ge­sagt. Die Ge­dan­ken, Ge­füh­le, Wor­te, die dir an ei­nem be­son­de­ren Platz be­geg­net sind. Denn Er­in­ne­run­gen sind wie Herz­tö­ne, die durch die Dun­kel­heit hal­len.Und die Schlä­ge ei­nes Her­zens sind das Le­ben. Sie trat ans Fens­ter und schau­te in die Dun­kel­heit jen­seits ih­res Zim­mers. Frü­her hat­te sie sich vor­ge­stellt, durch ihr ei­ge­nes Spie­gel­bild in an­de­re Wel­ten rei­sen zu kön­nen. Sie hat­te Mär­chen­wäl­der und Fa­bel­we­sen in ih­ren Au­gen ge­se­hen, und sie hat­te sich ge­trös­tet ge­fühlt von der Dun­kel­heit, die so viel mehr in sich zu ber­gen schien, als ihre Au­gen se­hen konn­ten. Noch im­mer fühl­te sie, wie ihr Blick auf­ge­fan­gen wur­de, und sie stell­te sich vor, dass er tat­säch­lich er­wi­dert wür­de – von den Schat­ten, von der Dun­kel­heit, von et­was, das mehr war als al­les, was sie kann­te.

Sie leg­te die Hand ge­gen die Schei­be wie frü­her, wenn sie heim­lich aus dem Fens­ter ge­klet­tert war, um ge­mein­sam mit ih­ren Freun­den auf der Su­che nach den Wun­dern in den Schat­ten durch die Nacht zu strei­fen. Für ei­nen Mo­ment er­schien es ihr, als wür­de ihr Spie­gel­bild ihr zu­lä­cheln, als wür­de es sa­gen: Komm he­raus… komm he­raus in die Dun­kel­heit, Träu­me­rin, und du wirst alle Zwei­fel hin­ter dir zu­rück­las­sen in die­sem Licht, das oh­ne­hin nie für dich be­stimmt war. Doch gleich da­rauf stieß sie seuf­zend die Luft aus. Ver­flucht, sie war kein Kind mehr, Ma­this hat­te recht. Die Zei­ten, da sie da­ran ge­glaubt hat­te, von ei­nem gol­de­nen Dra­chen ab­ge­holt und in eine ma­gi­sche Welt ge­bracht zu wer­den, wa­ren lan­ge vor­bei.

Und doch mein­te sie, die Stim­men ih­rer El­tern im Ne­ben­raum hö­ren zu kön­nen, ge­nau wie frü­her, wenn sie Non­na über die Fe­ri­en und Wo­chen­en­den be­sucht hat­ten. Nach­denk­lich ging sie über den Flur und ließ die Hand über die Tür des Zim­mers strei­fen. In­zwi­schen hat­te ihre Groß­mut­ter da­rin ein Näh­zim­mer ein­ge­rich­tet, aber Mi­lou hör­te noch im­mer das La­chen ih­rer Mut­ter und die dunk­le Stim­me ih­res Va­ters, und wie von selbst folg­te sie der Trep­pe wei­ter auf­wärts, schob die Tür zum Dach­gar­ten auf und trat hi­naus.

So­fort um­fing sie der Duft der Ro­sen, die seit je­her an dem al­ten Mau­er­werk aus ro­ten Zie­geln wuch­sen. Sie konn­te nicht zäh­len, wie vie­le fröh­li­che Stun­den sie in den Som­mer­mo­na­ten an die­sem Ort ver­bracht hat­te. Der Ge­ruch trug ihr Bil­der ih­rer Groß­mut­ter zu, so in­ten­siv wa­ren bei­de mit­ei­nan­der ver­knüpft, und als der Wind ihr das Haar zu­rück­strich, trat sie an die Brüs­tung. Sanft und rät­sel­haft war er, die­ser Wind, den ihre El­tern ge­liebt hat­ten, so als ber­ge er alle Ge­heim­nis­se der Welt, ohne auch nur ein ein­zi­ges je­mals zu ver­ra­ten. Mi­lou schau­te über den nacht­be­schie­ne­nen Rio di San Sev­ero in Rich­tung der La­gu­ne, und sie konn­te das Meer rie­chen, die­ses Un­ge­tüm, das sie zu­gleich sehn­süch­tig lieb­te und fürch­te­te. Für ei­nen Wim­pern­schlag kehr­ten die to­sen­den Wel­len zu ihr zu­rück, die sie in den Spiege­lau­gen des Mäd­chens im Ne­bel ge­se­hen hat­te, und sie mein­te, ein Grol­len hö­ren zu kön­nen … so fern wie ein dunk­ler Traum.

Sie war noch ein Kind ge­we­sen, als sie mit ih­ren El­tern in den Sturm ge­ra­ten war, weit drau­ßen auf der Ad­ria, und so sehr sie es in all den Jah­ren da­nach auch ver­sucht hat­te: Sie er­in­ner­te sich nicht an jene Nacht. Das ers­te Bild, das dazu tief in ihr ver­gra­ben lag, war die De­cke des Zim­mers im Kran­ken­haus, in dem sie er­wacht war. Ma­this hat­te an ih­rem Bett ge­ses­sen und sie mit selt­sa­mem Aus­druck an­ge­se­hen, und da hat­te sie ge­wusst, dass ihre El­tern tot wa­ren, ver­schlun­gen vom Meer, das ihr bis zu die­sem Au­gen­blick stets als zärt­li­cher Freund er­schie­nen war. Die Ärz­te hat­ten ge­glaubt, dass sie den Tod ih­rer El­tern nicht be­grif­fen hät­te, weil sie für eine lan­ge Zeit nicht hat­te wei­nen kön­nen. Aber sie hat­te ihn ver­stan­den, mit je­der Fa­ser ih­res Kör­pers. Noch im­mer spür­te sie die Er­schüt­te­rung, die sie in die­sem Mo­ment durch­zo­gen hat­te. Das Ge­fühl war so leicht ab­ruf­bar, dass sie bin­nen ei­ner Se­kun­de in das Kran­ken­haus zu­rück­keh­ren und wie­der sie­ben Jah­re alt sein konn­te, und in je­nen Au­gen­bli­cken war sie dank­bar, die Nacht nicht noch ein­mal er­le­ben zu müs­sen: die Nacht, in der ihre El­tern ge­stor­ben wa­ren und die in ih­rem Kopf nichts mehr war als ein töd­li­ches, sturm­ge­peitsch­tes Meer.

Sacht strich Mi­lou über die Ker­ben der stei­ner­nen Brüs­tung, wie sie es auch frü­her so oft ge­tan hat­te. Sie er­in­ner­te sich an die Wär­me, die Fede­ri­co ihr in je­ner Zeit ge­ge­ben hat­te, an die lei­sen Trä­nen ih­rer Groß­mut­ter, die ein Stück ih­rer ei­ge­nen Ver­zweif­lung mit sich fort­ge­spült hat­ten, und an de­ren Um­ar­mung, als sie mit Ma­this fort­ge­gan­gen war. So fest hat­te Non­na sie ge­drückt, als woll­te sie ein Stück von ihr da­be­hal­ten. Und nun, da Mi­lou sich von der Brüs­tung lös­te und zu­rück ins Haus ging, fühl­te sie, dass es ge­nau so ge­kom­men war. Ein Teil von ihr hat­te die­se Stadt nie ver­las­sen. Ein Teil, der es lieb­te, am Saum des Mee­res zu sit­zen und den Wel­len zu­zu­se­hen und der nun, zag­haft und vor­sich­tig, wie­der zu ihr zu­rück­kehr­te.

Die Trep­pe knarzte un­ter ih­ren Fü­ßen, als sie Fe­deri­cos La­chen in die Kü­che folg­te. Wie im­mer war der Raum ret­tungs­los über­füllt. Un­zäh­li­ge Kräu­ter stan­den auf den Re­ga­len, rank­ten sich von den Hän­ge­schrän­ken und bau­mel­ten von der De­cke. Tel­ler, Pfan­nen und Töp­fe be­völ­ker­ten die Ab­la­gen, und ein rie­si­ger Tisch stand in der Mit­te des Raums und war mit Spei­sen be­la­den, die ei­nen komp­let­ten Stra­ßen­zug für min­des­tens eine Wo­che satt ge­macht hät­ten. Und da­zwi­schen, woh­lig schnur­rend an­ge­sichts der Wär­me in dem klei­nen Raum und der er­beu­te­ten Fisch­stück­chen, lag ein knap­pes Dut­zend Kat­zen. Mit be­ein­dru­cken­der Ge­wandt­heit stieg Fede­ri­co kreuz und quer über sie hin­weg, wäh­rend er die Ge­de­cke auf­leg­te, und Mi­lou muss­te lä­cheln, als sie Non­na da­bei be­ob­ach­te­te, wie sie mit ei­ner me­cha­ni­schen Greif­zan­ge das Ba­si­li­kum zu sich he­rab hol­te, das auf ei­nem Schrank ge­stan­den hat­te. Fast hät­te man mei­nen kön­nen, dass die­se bei­den Men­schen mit­samt ih­ren tie­ri­schen Ge­hil­fen je­den Abend ein sol­ches Fest­es­sen ver­an­stal­te­ten, wenn man sich ihre Rou­ti­ne da­bei an­sah.

»Setz dich, setz dich«, for­der­te Non­na sie auf und deu­te­te auf den Tisch, als wür­de Mi­lou sonst auf die Idee kom­men, sich in ei­ner Schub­la­de nie­der­zu­las­sen. »Wenn du war­test, bis eine der Herr­schaf­ten für dich Platz macht, wirst du dort in der Tür ver­hun­gern.«

Ziel­stre­big ging Mi­lou zu ei­nem der Stüh­le hi­nü­ber, doch der Ka­ter, der da­rauf lag, schau­te sie nur an, als wäre er der Kö­nig der Welt und sie ein ein­fäl­ti­ger Hof­narr, der es wag­te, vor sei­nen Thron zu stol­pern. Erst als sie An­stal­ten mach­te, sich auf ihn zu set­zen, rutsch­te er mur­rend ein Stück bei­sei­te und klet­ter­te, nach­dem sein em­pör­ter Blick sie nicht ver­trei­ben konn­te, auf ih­ren Schoß, um sich strei­cheln zu las­sen. Sein Fell war sei­den­weich un­ter ih­ren Fin­gern, und Fede­ri­co zwin­ker­te ihr zu, als er die bei­den Kat­zen, die den Stuhl ihr ge­gen­über blo­ckier­ten, mit et­was Fisch fort­lock­te und auf­at­mend Platz nahm. »Es ist gut, heim­zu­kom­men, nicht wahr?« Er lä­chel­te, als wür­de er den Ge­ruch der Ro­sen wahr­neh­men, und Mi­lou nick­te.

»Es ist das bes­te Ge­fühl der Welt«, stell­te sie fest.

»Aber nur fast so gut wie mei­ne haus­ge­mach­ten Tor­tell­ini«, sag­te Non­na und stell­te eine Schüs­sel mit damp­fen­den Nu­deln auf den Tisch. Sie ließ sich so plötz­lich auf ei­nen Stuhl fal­len, dass die Kat­ze da­rauf nur im letz­ten Mo­ment Reiß­aus neh­men konn­te, und da­mit be­gann das Fest­es­sen. Mi­lou hat­te nicht be­merkt, wie hung­rig sie ei­gent­lich war. Doch als das Knob­lauch­brot auf ih­rer Zun­ge zer­ging und der Ge­ruch der Tor­tell­ini ihr in die Nase stieg, schien es ihr, als hät­te sie seit Jah­ren nichts An­stän­di­ges mehr ge­ges­sen. Wie frü­her aß sie sich durch Ber­ge von Nu­deln, duf­ten­des Brot und ge­bra­te­nen Fisch, pro­bier­te ver­schie­de­ne Fei­gen­sor­ten, die Non­na ext­ra auf dem Markt für sie ge­kauft hat­te, und ließ wie Fede­ri­co im­mer wie­der un­auf­fäl­lig klei­ne Le­cker­bis­sen für die Kat­zen zu Bo­den fal­len, die sich mit woh­li­gem Schnur­ren da­rü­ber her­mach­ten. Sie aßen und lach­ten und aßen noch mehr, und nach­dem Fede­ri­co al­ler­hand Anek­do­ten sei­ner Kund­schaft zum Bes­ten ge­ge­ben hat­te, er­zähl­te Mi­lou von ih­rem Le­ben in Pa­ris und den Ver­rückt­hei­ten, die die­se gro­ße Stadt je­den Tag aufs Neue her­vor­brach­te.

»Pa­ris hat sich ver­än­dert«, sag­te Non­na schließ­lich, als sie papp­satt auf ih­ren Stüh­len hin­gen. »Ich wür­de die Stadt wahr­schein­lich gar nicht wie­der­er­ken­nen.«

Fede­ri­co nick­te. »Da lobe ich mir die­se alte klei­ne Bas­ti­on auf dem Meer. Oze­an und Mensch zeh­ren an ih­ren Kräf­ten, aber sie wird nie­mals un­ter­ge­hen. Und wenn doch, wird sie un­ter den Wel­len in sil­ber­nem Licht er­strah­len, ge­ra­de so, wie es die al­ten Lie­der er­zäh­len.«

»Ve­ne­dig ist die Kö­ni­gin der Ma­gie«, stimm­te Non­na ihm zu. »Sie ver­wan­delt je­den, der durch ihre Gas­sen geht, und sie birgt Wun­der, wo­hin man auch schaut.«

Mi­lou dreh­te das Glas mit Trau­ben­saft in ih­rer Hand. »Das habt ihr mich früh ge­lehrt. Ver­mut­lich habe ich mei­ne gan­ze Ver­spon­nen­heit, über die Ma­this im­mer die Au­gen ver­dreht, nur euch zu ver­dan­ken.«

Non­na lä­chel­te. »Dei­ne Mut­ter hat min­des­tens eben­so viel An­teil da­ran. Schon als klei­nes Kind hat sie mit den Geis­tern un­ter ih­rem Nacht­tisch ge­spro­chen, die ich bis heu­te nicht zu Ge­sicht be­kom­men habe. Und dein Va­ter war der ge­bo­re­ne Ge­schich­ten­er­zäh­ler, ganz ge­nau­so wie du. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft du mit den Nach­bars­kin­dern hier um die­sen Tisch oder in Fe­deri­cos La­den ge­ses­sen hast. Du hast ih­nen Ge­schich­ten er­zählt von tan­zen­den Feen und wan­dern­den Häu­sern, von Pfen­ni­gen, die um die Welt rei­sen, und Fi­schen, die bis hi­nauf zum Mond flie­gen.«

Mi­lou muss­te la­chen. »Ich er­in­ne­re mich. Und der Dra­che aus Feu­er und Gold, der sich mit al­ler Kraft ge­gen sein ei­ge­nes Volk stell­te, um die Men­schen vor den Mäch­ten des Bö­sen zu be­schüt­zen.«

»Oh ja!«, rief Fede­ri­co und riss die Au­gen auf. »An den er­in­ne­re ich mich. Ich war so ge­spannt, wie es wei­ter­ge­hen wür­de, dass ich mit al­len Tricks ver­sucht habe, das Ende der Ge­schich­te aus dir he­raus­zu­be­kom­men.«

»Das stimmt«, er­wi­der­te Mi­lou grin­send. »Ein­mal woll­test du mich mit Scho­ko­la­den­eis be­ste­chen, aber das ist nach hin­ten los­ge­gan­gen. Es ist mir aus der Hand ge­rutscht und auf ei­nem hal­ben Dut­zend al­ter Bü­cher ge­lan­det. Ich wuss­te üb­ri­gens selbst nicht, wie die Ge­schich­te aus­ging. Sie hat ein­fach ihre Flü­gel aus­ge­brei­tet und mich auf ih­nen flie­gen las­sen.«

»Das sind die bes­ten Ge­schich­ten«, warf Non­na ein. »Und du hast alle da­mit be­geis­tert.«

Mi­lou seufz­te lei­se. »Ja, weil es nied­lich ist, wenn ein klei­nes Mäd­chen von Dra­chen und Ko­bol­den er­zählt und da­ran glaubt, flie­gen zu kön­nen. Heu­te ist das was ganz an­de­res. Ir­gend­wann scheint man ein­fach zu alt da­für zu sein. Ma­this sagt mir im­mer wie­der, dass ich eine Träu­me­rin bin, und auch wenn er es auf sei­ne ganz spe­zi­el­le Art si­cher lie­be­voll meint, weiß ich doch, was da­hin­ter­steckt. Er meint da­mit, dass ich ver­spon­nen bin, dass ich ziel­los durch die Welt stol­pe­re und mir selbst Ge­schich­ten er­zäh­le, die nur dazu füh­ren, dass ich mich fort­seh­ne, weil ich das ja im­mer tue, fort, nur fort von den Or­ten, an de­nen ich ge­ra­de bin, ohne zu wis­sen, wo­hin ich sonst ge­hen könn­te. Frü­her hat er sich mei­ne Ge­schich­ten an­ge­hört, mei­ne Tag­träu­me­rei­en und ver­rück­ten Ideen, aber in­zwi­schen fin­det er sie eher al­bern, und viel­leicht … nun ja, viel­leicht hat er da­mit gar nicht so un­recht.«

Mi­lou dreh­te ihr Glas zwi­schen den Hän­den. Sie sah Ma­this vor sich, sei­nen stil­len Blick, mit dem er sie manch­mal be­trach­te­te, wenn er glaub­te, sie wür­de es nicht mer­ken, und der ihr je­des Mal ei­nen Stich ver­setz­te. Sor­ge lag da­rin … und der kleb­ri­ge Schat­ten von Mit­leid, als wäre sie ein arm­se­li­ges Tier mit ge­bro­che­nen Bei­nen, das es nie schaf­fen wür­de, sich in der rau­en Wirk­lich­keit zu be­haup­ten. Erst als sich das Schwei­gen rings­um auf ihre Schul­tern leg­te, hob sie den Blick und schau­te in die erns­ten Ge­sich­ter von Non­na und Fede­ri­co. Schnell räus­per­te sie sich und wisch­te durch die Luft, als könn­te sie so die Wor­te zu­rück­neh­men. »Hört nicht auf mich, ich habe nur Un­sinn ge­re­det. Das tue ich stän­dig und trei­be Ma­this da­mit in den Wahn­sinn.«

Sie lä­chel­te, aber ihre Groß­mut­ter sah sie ernst an. »Ein biss­chen Wahn­sinn hat noch nie­man­dem ge­scha­det. Das­sel­be gilt für die Sehn­sucht, denn selbst wenn wir manch­mal gar nicht wis­sen, wo­her sie kommt oder wo­hin sie uns führt, ist sie doch die ein­zi­ge Kraft, die uns über uns selbst hi­naus­wach­sen lässt, die Ver­än­de­rung bringt und Mau­ern ein­reißt, sei­en es nun äu­ße­re Gren­zen oder Bar­ri­ka­den in un­se­rem Kopf. Und was die Ge­schich­ten be­trifft, die man sich selbst er­zählt … was soll­te man an­de­res tun, wenn nie­mand sonst zu­hört?«

Fede­ri­co nick­te viel­sa­gend. »Ge­nau­so ist es. Lass dir das von ei­nem Mär­chen­er­zäh­ler sa­gen, über den all die klu­gen Leu­te seit Jahr­zehn­ten den Kopf schüt­teln und der sich den­noch nie da­von ab­hal­ten ließ, in vol­ler Laut­stär­ke von El­fen und Feen zu re­den und von so vie­len an­de­ren Kre­a­tu­ren, die das schnapp­atm­ige Hirn ei­nes wis­sen­schaft­lich auf­ge­klär­ten Zeit­ge­nos­sen nie­mals ganz be­grei­fen wird. Den­noch, sag­te ich … nun ja … oder viel­leicht ge­ra­de des­halb? So ganz bin ich nie da­hin­ter­ge­kom­men.«

Er zwin­ker­te und Mi­lou lä­chel­te ein we­nig. »Ich habe es ge­liebt, wenn du mir Ge­schich­ten er­zählt hast. Und Non­nas alte Lie­der von den Feen und den Ko­bol­den und dem grü­nen Kris­tall …« Sie schau­te zu der Lam­pe im Fens­ter hi­nü­ber. Der Kris­tall glüh­te und warf das Licht zu­rück, als wäre er in ei­nen Schwarm Glüh­würm­chen ge­ra­ten. Als sie ihre Groß­mut­ter ein­mal ge­fragt hat­te, wa­rum die­se Lam­pe in ih­rem Fens­ter stand, hat­te Non­na sie bei­na­he er­staunt an­ge­se­hen.

Na, für die We­sen in den Schat­ten, hat­te sie ge­ant­wor­tet. Für die Ni­xen, die Feen, die Trol­le und die Bä­ren mit dem flie­der­far­be­nen Fell, da­mit sie wis­sen, dass hier ein Mensch wohnt, der ih­nen freund­lich ge­son­nen ist.

Dann hat­te sie ge­lacht, und Mi­lou hat­te gan­ze Näch­te da­mit ver­bracht, heim­lich hin­ter der Gar­di­ne zu ho­cken und auf die Stra­ße zu schau­en, wie ihre Groß­mut­ter es ih­rer­seits als jun­ges Mäd­chen ge­tan hat­te. Die Hoff­nung, Bä­ren und Trol­le mit ei­ge­nen Au­gen se­hen zu kön­nen, hat­te Mi­lou stun­den­lang aus­har­ren las­sen. Und manch­mal, so hat­te sie da­mals ge­glaubt, war es ihr tat­säch­lich ge­lun­gen.

»Die­ser Kris­tall hat mir im­mer Glück ge­bracht«, sag­te Non­na nun. »Seit ich ein Mäd­chen war. Und er er­in­nert mich da­ran, dass wir die Welt um uns he­rum mit un­se­ren Ge­dan­ken er­schaf­fen. Es liegt an uns, ob wir da­raus eine Wüs­te oder ein Zau­ber­reich ma­chen. Ich für mei­nen Teil habe mich vor lan­ger Zeit für ei­nen Weg ent­schie­den, und ganz gleich, was ir­gend­wel­che klu­gen Leu­te dazu sa­gen, de­ren Fan­ta­sie ge­ra­de ein­mal bis zur nächs­ten Stra­ßen­e­cke reicht: Ich bin heil­froh, dass ich bis heu­te die Flüs­ter­trol­le un­ter den Brü­cken die­ser Stadt hö­ren kann, von de­nen schon mein Va­ter mir er­zähl­te.«

Fede­ri­co war ih­rem Blick ge­folgt, und das Lä­cheln, das sich beim An­blick des Kris­talls auf sein Ge­sicht ge­legt hat­te, ver­wan­del­te sich in ein Grin­sen. »Und manch­mal höre ich so­gar die Geiz­ko­bol­de in den Geld­bör­sen mei­ner Kund­schaft – gru­se­lig, sage ich euch.«

Mi­lou ki­cher­te und Non­na lach­te herz­lich. »Es gibt mehr als eine Wirk­lich­keit«, sag­te sie dann und sah Mi­lou an. »Du hat­test im­mer schon die Gabe, das zu se­hen, und manch­mal, in sei­nen ge­hei­men Mo­men­ten, ahnt dein On­kel das auch. Hast du ver­ges­sen, wie er hier in mei­ner Kü­che saß und sich das Lied der dunk­len Kö­ni­gin an­hör­te, da­mals vor ein paar Jah­ren, als du mich das letz­te Mal be­sucht hast?«

Mi­lou nick­te. Sie hat­te lan­ge nicht mehr da­ran ge­dacht, aber nun er­in­ner­te sie sich, wie Ma­this in sei­nem teu­ren An­zug und den glän­zen­den Schu­hen auf ei­nem wack­li­gen Ho­cker ge­ses­sen und wie schlaf­wand­le­risch die Kat­ze ge­strei­chelt hat­te, die ihm auf den Schoß ge­sprun­gen war. Erst als Non­nas Lied ver­klun­gen war, hat­te er sich hei­ser ge­räus­pert und war mit ver­klär­tem Blick in die Re­a­li­tät zu­rück­ge­kehrt. Ihre Groß­mut­ter nick­te, als hät­te sie ihn ge­ra­de eben­falls vor sich ge­se­hen.

»Nichts da­ran ist al­bern, dem Wis­sen zu fol­gen, das tief in dir liegt«, sag­te sie lei­se. »Ganz im Ge­gen­teil. Ge­schich­ten, Fan­ta­si­en, Träu­me ver­wan­deln uns in Feu­er, mit ih­nen ent­zün­den wir die Welt. Lass dir von nie­man­dem et­was an­de­res ein­re­den, auch nicht von ihm.«

Mi­lou senk­te den Blick. »Manch­mal er­scheint es mir leicht, da­ran zu glau­ben. In mei­nen Bü­chern, in man­chen Ge­sprä­chen, in Re­fu­gi­en wie hier. Aber dort drau­ßen … dort drau­ßen in der rich­ti­gen Welt, wie Ma­this sa­gen wür­de, ist es un­glaub­lich schwer. Dort sind mei­ne Träu­me wie Sei­fen­bla­sen um mich he­rum, bei de­nen ein Luft­zug ge­nügt, um sie zer­plat­zen zu las­sen.«

Für ei­nen Mo­ment schau­te Non­na sie nur an. Dann streck­te sie die Hand nach ihr aus und strich ihr über die Wan­ge. Die Be­rüh­rung war zart, bei­na­he flüch­tig, und doch reich­te sie aus, um Mi­lou in die Näch­te nach dem schreck­li­chen Un­fall zu­rück­zu­tra­gen, als sie schrei­end aus tiefs­tem Schlaf er­wacht war und all ihre Träu­me zum Teu­fel ge­schickt hat­te.

»Dei­ne Träu­me sind mäch­ti­ger, als du glaubst«, sag­te Non­na nun wie da­mals. »Nur sie kön­nen dich ge­sund ma­chen, dich hei­len von dem, was die­se Welt dir an­ge­tan hat – sie al­lein. Ver­giss das nie­mals.«

Mi­lou er­wi­der­te ihr Lä­cheln und sah erst nach ei­ner Wei­le, dass eine ein­zel­ne Trä­ne über Non­nas Wan­ge rann. Rasch wisch­te ihre Groß­mut­ter sie fort und stieß die Luft aus. »Him­mel­herr­gott, da­bei hat­te ich mir doch fest vor­ge­nom­men, bei un­se­rem Wie­der­se­hen nicht zu wei­nen!« Kopf­schüt­telnd griff sie nach der Kü­chen­rol­le und putz­te sich die Nase, wäh­rend Fede­ri­co sich zu Mi­lou he­rü­ber­beug­te.

»Al­les, was dei­ne Groß­mut­ter ge­sagt hat, ist wahr«, sag­te er lei­se. »Und wenn es ei­nen Ort gibt, der dich da­ran er­in­nern kann, so ist es Ve­ne­dig. Von tie­fem Traum be­siegt, vom Tode ein­ge­wiegt, schläft hier die Zeit…«

»…und al­les Le­ben scheint so weit, so weit«, setz­te Mi­lou das Ge­dicht fort, das Fede­ri­co ihr schon frü­her so oft vor­ge­sagt hat­te. »Hier will ich ganz al­lein durch alte Gas­sen gehn, bei Fa­ckel­schein an Gon­del­trep­pen stehn, in blin­de Fens­ter sehn, bang-glück­lich wie ein Kind im Dun­keln sein.«

Die letz­ten Wor­te spra­chen sie zu­sam­men. Dann be­rühr­te er ihre Stirn, ge­ra­de so wie die Hel­den in vie­len sei­ner Ge­schich­ten es ge­tan hat­ten, ehe sie ihre Knap­pen in die Schlacht ent­las­sen hat­ten. Mi­lou er­wi­der­te sein Lä­cheln, be­vor sie sei­nem Blick zu Non­na folg­te. In Ge­dan­ken ver­sun­ken schau­te die­se zum Fens­ter hi­nü­ber. Ihr Ge­sicht war das ei­ner al­ten Frau, aber ihre Au­gen blitz­ten im Schein des Kris­talls. Mi­lou konn­te sie vor sich se­hen, wie sie am Fens­ter stand und mit die­sem Aus­druck auf die Stra­ße hin­aus­schau­te, der die­sel­be Fei­er­lich­keit in sich trug wie das Ge­dicht von Hes­se – so, als wür­de sie auf et­was war­ten, das sie mehr er­ahn­te als mit Hän­den grei­fen konn­te und das doch so nah bei ihr war, dass es nichts als Sehn­sucht in ih­ren Au­gen zu­rück­ließ … et­was, das ihr Lä­cheln mit stil­lem Glanz er­füll­te wie da­mals, als sie ein jun­ges Mäd­chen ge­we­sen war.

3

Mi­lou brauch­te ei­nen Mo­ment, um zu be­grei­fen, wo sie war. Das Licht der Stra­ßen­la­ter­nen drang nur schwach durch die Vor­hän­ge, und fast er­war­te­te sie, in ih­rem Schein die Um­ris­se ih­res Zim­mers in Pa­ris zu se­hen. Doch statt­des­sen fiel ihr Blick auf den Ko­bold­schrank und die Un­men­gen von Ein­kaufs­tü­ten, die ne­ben ihm an der Wand lehn­ten. In den ver­gan­ge­nen zwei Ta­gen war sie mit Non­na von ei­nem Ge­schäft ins nächs­te ge­wan­dert, hat­te Kla­mot­ten und Sü­ßig­kei­ten ge­kauft und sich abends in der Kü­che la­chend über ihre wun­den Füße be­klagt. Sel­ten hat­te sie so tief ge­schla­fen wie seit ih­rer An­kunft in Ve­ne­dig und war so aus­ge­ruht am nächs­ten Mor­gen er­wacht. Aber nun war es mit­ten in der Nacht und sie spür­te noch im­mer den Schreck in ih­ren Glie­dern. Ir­gend­et­was hat­te sie ge­weckt.

Mit klop­fen­dem Her­zen setz­te sie sich auf und lausch­te. Ver­ein­zelt hör­te sie Schrit­te auf dem Pflas­ter, die Rufe der Mö­wen über den Dä­chern … und ei­nen Ton, lei­se zu­erst, doch rasch so durch­drin­gend, dass sie den Atem an­hielt. Sie konn­te sich nicht er­in­nern, je­mals et­was Ähn­li­ches ver­nom­men zu ha­ben. Es war ein Laut wie aus ei­nem Re­qui­em, zart und kraft­voll zu­gleich, und als sie ans Fens­ter trat und den Blick über den nächt­li­chen Ka­nal schwei­fen ließ, schwol­len die Klän­ge zu be­tö­ren­den Ge­sän­gen an. Sie muss­te an den Kar­ne­val den­ken, den sie vor et­li­chen Jah­ren ein­mal in Ve­ne­dig er­lebt hat­te und bei dem fan­tas­tisch ge­wan­de­te Sän­ger in den schwar­zen Gon­deln der Stadt über die er­leuch­te­ten Ka­nä­le ge­fah­ren wa­ren und ihre Stim­men wie ma­gi­sche For­meln durch die Gas­sen ge­schickt hat­ten. Es war ein be­we­gen­des Schau­spiel ge­we­sen, und als die Ge­sän­ge nun an­schwol­len, zö­ger­te sie nicht län­ger. Rasch schlüpf­te sie in Stie­fel und Man­tel und schlich sich aus dem Zim­mer.

Ein Lä­cheln flog über ihr Ge­sicht, als die Trep­pe lei­se un­ter ih­ren Fü­ßen knarzte. Sie konn­te nicht mehr zäh­len, wie oft sie sich als Kind noch am spä­ten Abend aus dem Haus ge­schli­chen hat­te, ge­duckt und wach­sam wie ein Dieb, um sich bei ei­nem der Nach­bars­kin­der auf dem Dach­bo­den zu tref­fen und in glit­zern­den The­a­ter­kos­tü­men oder ur­al­ten See­manns­tru­hen he­rum­zu­stö­bern. Es war ein auf­re­gen­des Ge­fühl, das nun mit kind­li­cher Über­macht in ih­ren Ma­gen zu­rück­kehr­te, und sie spür­te die Käl­te der Nacht kaum, als sie auf die Stra­ße trat und den Stim­men folg­te, die mit den Fin­gern des Win­des nach ih­rem Haar grif­fen und sie vor­wärts­zo­gen.

Die Ge­sän­ge wir­bel­ten wie un­sicht­ba­re Blät­ter durch die Luft. Sie scho­ben Mi­lou über den Rio di San Sev­ero, als wäre sie selbst nicht mehr als ein flat­tern­des Blatt, und sie zwang sich, nicht auf den Ne­bel zu ach­ten, der aus den Ka­nä­len auf­stieg. Zu un­be­schwert wa­ren die Stim­men rings­he­rum, zu hei­ter, als dass sie sich die­ses Er­leb­nis von düs­te­ren Ge­dan­ken zer­stö­ren las­sen woll­te. Be­schwingt wich sie den Pas­san­ten aus, die ihr ver­ein­zelt ent­ge­gen­ka­men, und als sie die Scu­ola Gran­de di San Marco er­reich­te, de­ren wei­ße Fas­sa­de im Schein der Nacht leuch­te­te, schwol­len die Ge­sän­ge an. Sie bra­chen über die Gas­sen he­rein, als wä­ren sie düs­te­re Wel­len, und je­der Ton da­rin wur­de so drän­gend, als er­klän­ge er nur für Mi­lou al­lein. Sie be­gann zu ren­nen, schnell, im­mer schnel­ler, als wäre der Schmerz in ih­ren Fü­ßen nicht mehr ge­we­sen als eine Il­lu­si­on. Sie glaub­te fast, sich auf den Tö­nen in die Luft er­he­ben zu kön­nen, so leicht fühl­te sie sich. Erst als die Gischt über ihre Füße schlug, blieb sie ste­hen und stell­te fest, dass sie die Fon­dam­en­te Nove er­reicht hat­te. Die ge­heim­nis­vol­len Stim­men hat­ten sie an den Rand des Mee­res ge­führt.

Mi­lou schau­te über die Wel­len hin­weg. In ei­ni­ger Ent­fer­nung er­hob sich die Fried­hofs­in­sel San Mich­ele wie eine düs­te­re Fata Morg­ana hin­ter dem Dunst des auf­ge­peitsch­ten Was­sers. Doch sie konn­te we­der Gon­deln noch Sän­ger oder an­de­re Quel­len des Ge­sangs se­hen, der nun mit er­neu­ter In­ten­si­tät um sie he­rum auf­bran­de­te. Sie zog die Schul­tern an, als ein hef­ti­ger Wind­stoß sie ei­ni­ge Schrit­te vom Ufer zu­rück­trieb, aber die Käl­te blieb selt­sam fern und ver­schwand voll­stän­dig, als sie tief un­ten in den Wel­len ei­nen Schat­ten ent­deck­te. Sie hat­te schon Aale, See­zun­gen und klei­ne Tin­ten­fi­sche in der La­gu­ne Ve­ne­digs ge­se­hen, aber die Sche­men, die sie nun dort un­ten im Was­ser er­kann­te, wa­ren et­was an­de­res. In ge­schmei­di­gen Be­we­gun­gen glit­ten sie durch die Wel­len, und als Mi­lou neu­gie­rig nä­her he­ran­ging, mein­te sie, die Um­ris­se mensch­li­cher Kör­per in der Dun­kel­heit zu er­ken­nen, um­spielt von tief­blau­em Haar – und mäch­ti­ge Fisch­schwän­ze. Sie riss die Au­gen auf, und kurz schien es ihr, als wür­den Ge­sich­ter aus den Wel­len tau­chen, Dut­zen­de schma­le, be­tö­rend schö­ne Ge­sich­ter mit dunk­len Rätse­lau­gen, die Mün­der zu lo­cken­dem Ge­sang ge­öff­net.

Mi­lou stieß mit dem Fuß gegen ei­nen ver­ros­te­ten Pol­ler. Im sel­ben Mo­ment bra­chen die Wel­len vor ih­rem Blick, und sie schau­te noch ein­mal in die Au­gen des Spie­gel­mäd­chens, die nichts als tief­schwar­zes Meer in sich ge­tra­gen hat­ten. In plötz­li­cher Atem­not griff sie sich an die Keh­le, doch als die Ge­sän­ge er­neut mit al­ler Macht um sie auf­wall­ten, er­losch ihre Pa­nik, als wäre sie nicht mehr ge­we­sen als eine tö­rich­te klei­ne Flam­me. Mi­lou mein­te, die Stim­men ih­rer El­tern in all den Tö­nen hö­ren zu kön­nen, und sie fühl­te das Ver­spre­chen, das in je­dem ein­zel­nen Laut lag. Die­se Wel­len bar­gen Näch­te aus flie­ßen­der Sei­de und Ge­sän­ge voll­en­de­ter Har­mo­nie, sie kann­ten die tiefs­te Fins­ter­nis des Oze­ans eben­so wie das Leuch­ten des ers­ten Sterns am Abend, und sie zo­gen Mi­lou nä­her, noch nä­her zu sich he­ran. Ihr Blick stürz­te in die Tie­fe. Sie fühl­te, dass sie das Gleich­ge­wicht ver­lor, aber der Schreck da­rü­ber blieb selt­sam dumpf. Zu mäch­tig wa­ren die Stim­men, die sie zu sich rie­fen und in de­nen jede Schwe­re, jede Furcht en­den wür­de.

Der Schrei kam so plötz­lich, dass er Mi­lou wie ein Schlag vor die Brust traf und sie von dem Ab­grund zu­rück­trieb. Grell peitsch­te er über das Was­ser, und sie mein­te, ei­nen Ra­ben dicht über den Wel­len da­hin­ja­gen zu se­hen, so deut­lich hör­te sie sei­nen Ruf. Vol­ler Zorn bäum­ten sich die Stim­men rings­um auf. Noch ein­mal schien es, als hö­ben sich dunk­le Lei­ber aus den Flu­ten, tü­ckisch nun und mit schar­fen Klau­en. Dann zer­brach der Ge­sang, und ehe Mi­lou noch wuss­te, was sie im To­sen der Wel­len ge­se­hen hat­te, tauch­te je­der Sche­men in der Tie­fe des Mee­res un­ter. Mit ra­sen­dem Her­zen starr­te sie in die Flu­ten, nicht wis­send, ob sie ei­ner op­ti­schen Täu­schung auf­ge­ses­sen war oder et­was an­de­res dort un­ten ge­se­hen hat­te … et­was, das wirk­lich da ge­we­sen war.

»Dei­ne Wirk­lich­keit ist eine Il­lu­si­on«, raun­te da eine dunk­le Stim­me di­rekt hin­ter ihr.

Mi­lou er­schrak so sehr, dass sie den Halt ver­lor. Ihr lin­ker Fuß rutsch­te über den Kai­rand, doch ehe sie in die Tie­fe stürz­te, wur­de sie ge­packt und zu­rück an Land ge­zo­gen. Atem­los schau­te sie zu ei­nem jun­gen Mann auf. Sein halb­lan­ges Haar war so hell, dass es fast farb­los wirk­te. Im Schein des Mon­des je­doch, der nun durch die Wol­ken brach, schim­mer­te es sil­bern und um­spiel­te ein er­ha­be­nes, von küh­lem Stolz ge­zeich­ne­tes Ge­sicht. Die An­deu­tung ei­nes Lä­chelns lag auf sei­nen Lip­pen, und in sei­nen Au­gen spie­gel­te sich das Meer, so schwarz wa­ren sie. Eine rät­sel­haf­te Glut stand in ih­rer Mit­te, und Mi­lou kam es so vor, als wür­de die Dun­kel­heit da­rin als Schwin­gen­schlag über ihre Haut glei­ten, zärt­lich und selt­sam ru­he­los zu­gleich. Noch nie hat­te sie sol­che Au­gen ge­se­hen.

»Ich ken­ne dich«, sag­te sie und stell­te zu ih­rem ei­ge­nen Er­stau­nen fest, dass sie ih­ren Ge­dan­ken laut aus­ge­spro­chen hat­te. »Du warst in der Gas­se, als … der Ne­bel kam.«

Der Frem­de zog sie vom Rand des Kais zu­rück. Sie konn­te die Kraft spü­ren, die in sei­nem Kör­per lag, von ei­nem star­ken Wil­len be­herrscht und doch lo­hend wie bei ei­nem Raub­tier. Aus ir­gend­ei­nem Grund sah sie sich für ei­nen Wim­pern­schlag von au­ßen: mit zer­zaus­ten Haa­ren, die Schlaf­an­zug­ho­se in die Stie­fel ge­steckt, als wäre sie ge­schlaf­wan­delt. Doch der Frem­de schien nichts Un­ge­wöhn­li­ches an ih­rem Auf­zug zu fin­den. Statt­des­sen ver­stärk­te er sein Lä­cheln. »Ich war dort. Mir schien es, als hät­test du dich im Ne­bel ver­irrt.«

Sei­ne Stim­me war ei­gen­ar­tig, rau und sanft zu­gleich, und auf ein­mal wa­ren die Bil­der aus der Gas­se wie­der da, das Ge­sicht des Mäd­chens mit den Spiege­lau­gen, die ent­stell­ten Frat­zen der Men­schen in den Woh­nun­gen, die blei­grau­en Fas­sa­den der Häu­ser. Mi­lou schluck­te. Ir­gend­et­was in den Au­gen des Frem­den lösch­te jede ra­ti­o­na­le Er­klä­rung für die­se Er­eig­nis­se in ihr aus. Ins­tink­tiv schlang sie die Arme um ih­ren Leib und fürch­te­te schon, dass die Er­in­ne­rung an das un­heim­li­che Flüs­tern in ihr auf­bre­chen wür­de, als der Frem­de den Kopf neig­te. Das Mond­licht fing sich in sei­nen Au­gen. Mi­lou stell­te ver­wun­dert fest, dass sie hin­ter ei­nem hauch­zar­ten Schlei­er la­gen, silb­rig schim­mernd im Schein der Nacht, und im sel­ben Mo­ment san­ken die Bil­der aus dem Ne­bel tief in sie zu­rück.

»Ich war vom Weg ab­ge­kom­men«, er­wi­der­te sie, als sie merk­te, dass der Frem­de sie ab­war­tend an­schau­te. »Ich bin schon seit ei­ner gan­zen Wei­le nicht mehr in der Stadt ge­we­sen, und of­fen­bar habe ich doch mehr ver­ges­sen, als ich dach­te. All die Schleich­we­ge mei­ner Kind­heit zum Bei­spiel.«

Er schwieg für ei­nen Mo­ment. Mit je­dem Wort, das sie sag­te, schie­nen sei­ne Au­gen dunk­ler zu wer­den. »Mit der Zeit wirst du dich er­in­nern. Ganz geht man nie mehr fort, wenn man ein­mal hier ge­we­sen ist, sagt man das nicht?«

»Das ist wahr«, stimm­te sie ihm zu. »Und was ist mit dir? Streunst du jede Nacht durch die Gas­sen und ret­test un­vor­sich­ti­ge Mäd­chen?«

Die Glut in sei­nem Blick glomm auf, und er lä­chel­te un­merk­lich. »Es gäbe Schlech­te­res, das man mit sei­ner Zeit an­fan­gen könn­te, nicht wahr?«