In der Rose liegt die Kraft - Michelle Zerwas - E-Book

In der Rose liegt die Kraft E-Book

Michelle Zerwas

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Beschreibung

Zwischen Helena und ihrer Lehrerin Anne bahnt sich eine zarte Liebe an. Doch dann schlägt das Schicksal zu und Anne erkrankt an Leukämie. Ein Kampf um Leben und Tod beginnt und trotz Höhen und Tiefen weicht Helena nicht von Annes Seite.

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Michelle Zerwas

In der Rose liegt die Kraft

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

1. Kapitel

Helena ließ ihren Blick über die Autos auf dem Lehrerparkplatz schweifen. Sie wusste, welches Auto welchem Lehrer gehörte, aber eigentlich interessierte es sie nicht sonderlich. Wichtig war einzig der kleine rote Mazda MX5. Wenn sie den Wagen auf dem Lehrerparkplatz entdeckte, war für sie der Tag gerettet. Dann wusste sie, dass es ein guter Tag werden würde, denn es bedeutete, ihre Lehrerin Anne Richter war in der Schule. Ganz egal, wie beschissen der Tag sonst wurde, konnte sie alles viel besser ertragen, wenn Anne, ihre große Liebe, in der Nähe war.

Jeden Morgen begann mit der Angst, der kleine rote Mazda könnte nicht da sein und jeden Morgen atmete sie erleichtert auf, wenn sie ihn entdeckte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen und voller Vorfreude schritt sie über den Schulhof und hielt dabei heimlich Ausschau nach Anne. Ihr gesamter Schultag bestand darin möglichst immer ganz genau zu wissen wo sich Anne gerade aufhielt und wenn möglich ihre Nähe zu suchen.

An diesem Morgen hatte sie kein Glück, Anne war weit und breit nicht zu sehen. Vermutlich war sie bereits im Lehrerzimmer. Oft gelang es Helena beinahe zur gleichen Zeit mit ihr in der Schule anzukommen, sodass sie am frühen Morgen häufig kurz miteinander sprechen konnten oder sie sich zumindest lächelnd aus der Ferne begrüßten.

Helena ermahnte sich immer selbst, sich nicht allzu große Hoffnungen zu machen, ihre Liebe könnte sich erfüllen, und dennoch spürte sie etwas zwischen ihnen. Anne behandelte sie anders als ihre anderen Schüler, sie bevorzugte sie in vielen Situationen, redete oft und gerne mit ihr, nicht nur über schulische, sondern auch über private Dinge. Sie verstanden sich richtig gut, viel besser als es zwischen Lehrerin und Schülerin üblich war.

Helena überquerte den Schulhof, begrüßte hier und da einige ihrer Mitschüler, hielt sich jedoch nirgends länger auf als nötig und stand als eine der ersten vor dem Klassenzimmer, in dem die erste Stunde stattfinden sollte. Sie war schon immer eher eine Einzelgängerin gewesen. Dabei war sie nicht unbeliebt, sie verstand sich mit fast allen Mitschülern, wurde häufig um Rat gefragt, weil sie gut in der Schule war, aber enge Freundschaften ging sie nicht ein. Es störte sie allerdings auch nicht. Sie war gern allein und konnte sich gut mit sich selbst beschäftigen.

Als es zur ersten Stunde klingelte und ein Haufen Schüler ins Gebäude stürmten, lehnte Helena lässig an der Wand und besah sich das Gedränge interessiert. Obwohl sie versuchte sich so klein wie möglich zu machen, wurde sie ein paar Mal unsanft angerempelt.

Sobald das schlimmste Gedränge vorbei war und Helenas Blick auf die Eingangstür fiel, klopfte ihr Herz schneller. Anne trat gerade durch die Tür und kam lächelnd auf sie zu. Ihre langen dunkelbraunen Haare trug sie heute offen, sie wirkten wie flüssige Seide und Helena verspürte den Wunsch sie zu berühren.

„Guten Morgen“, begrüßte sie Helena lächelnd und für einen Augenblick schien die Zeit um sie herum still zu stehen.

Helena erwiderte Annes Lächeln. „Guten Morgen.“

Anne kämpfte sich zum Klassenzimmer vor und schloss die Tür auf. Sofort drängte die Meute in den Klassenraum. Helena ließ ihren Mitschülern den Vortritt und folgte als Letzte.

Nach der morgendlichen Begrüßung, die von allen gelangweilt dahin gemurmelt wurde, legte Anne gleich los.

„Wer von euch weiß noch, wo wir letzte Woche stehen geblieben sind?“

Einige wenige Schüler meldeten sich, doch die meisten starrten entweder interessiert aus dem Fenster oder auf ihre Hefte und Bücher, die vor ihnen auf dem Tisch lagen.

Anne lächelte Helena fast unmerklich zu. Sie wusste, dass Helena perfekt vorbereitet war und entschied sich deshalb für einen anderen Schüler.

Während Marco lang und breit wiederholte, was sie in der letzten Biologiestunde besprochen hatten, blieb Helena genug Zeit Anne heimlich zu beobachten. Obwohl Anne versuchte es zu verbergen, sah Helena, dass es ihr nicht gut ging. Sie wirkte erschöpft. Das gefiel ihr gar nicht, denn wenn Anne sich plötzlich schlechter fühlte und zu Hause blieb, musste sie die Schultage ohne sie überstehen.

„Sehr gut, Marco“, sagte Anne. „Und um euch das Ganze zu verdeutlichen, habe ich einen Film zu diesem Thema mitgebracht, den wir uns jetzt ansehen werden. Wer hilft mir mit der Technik?“

Sofort fanden sich mehrere Freiwillige und Helena ließ ihnen nur zu gerne den Vortritt, denn mit technischen Dingen stand sie meist auf Kriegsfuß. Sie wollte sich ungern vor der ganzen Klasse blamieren und erst recht nicht vor Anne.

Sobald der Film lief und alle wieder auf ihren Plätzen saßen, hatte Helena genug Zeit Anne weiter heimlich zu beobachten. Das Filmgeschehen bekam sie nur am Rande mit, Anne war viel wichtiger. Helena konnte sehen, dass Anne immer wieder kurz die Augen schloss und tief durchatmete. Ihr schien es wirklich nicht gut zu gehen. Anne tat ihr leid. Nur zu gerne hätte sie sie in den Arm genommen, aber das war natürlich nicht möglich. Ihre Sorge wuchs von Minute zu Minute, je länger sie Anne betrachtete und der Film interessierte sie zum Schluss gar nicht mehr.

Kurz bevor die Stunde zu Ende war, endete der Film und Annes freiwillige Helfer kümmerten sich bereitwillig um die Technik. Als es kurz darauf klingelte, stürmten alle Schüler nach draußen, um rechtzeitig zur nächsten Stunde zu kommen. Helena war es egal, wenn sie zu spät kam, sie musste wissen was mit Anne los war, die inzwischen den Kopf in die Hände gestützt hatte.

Zögernd trat sie ans Lehrerpult. „Geht’s Ihnen nicht gut?“, fragte sie leise.

Anne sah auf und für einen Moment wirkte sie erschrocken, lächelte aber als sie Helena sah und spürte, dass ihr Herz schneller schlug.

„Kopfschmerzen, weiter nichts. Wahrscheinlich habe ich nicht genug geschlafen. Meine beiden Kater haben die Nacht zum Tag gemacht“, erklärte sie.

Helena liebte es, dass Anne immer sofort drauflos plauderte und ihr auch private Dinge anvertraute.

„Ich habe Schmerztabletten dabei“, bot Helena ihr an.

„Lieb von dir, aber ich habe heute Morgen schon eine genommen.“

Trotz ihrer Schmerzen schenkte sie Helena ein strahlendes Lächeln, das Helena erwiderte. Ihr Herz raste. Es war so schön mit Anne allein zu sein und locker zu plaudern. Doch ihre Zweisamkeit wurde jäh unterbrochen, als ein neuer Schwall Schüler den Biologiesaal betrat.

„Du musst los, sonst kommst du zu spät zur nächsten Stunde“, wandte sich Anne an sie. Es klang keineswegs tadelnd oder nach Befehl, Helena hatte eher den Eindruck Bedauern in Annes Stimme zu hören. Vielleicht bildete sie es sich aber auch nur ein. Wenn man verliebt war, konnte es leicht passieren, dass man sich Dinge einbildete.

„Wir sehen uns ja später nochmal“, fügte Anne hinzu und zwinkerte Helena kaum merklich zu.

„Ich hoffe, es geht Ihnen bis dahin besser“, sagte Helena zum Abschied.

Sie lächelten sich noch einmal zu, bevor Helena den Raum verließ. Ehe sie die Tür hinter sich schloss, warf sie einen letzten Blick zu Anne und stellte fest, dass Anne ihr traurig hinterher sah. Sofort schlug ihr Herz wieder schneller. Konnte es sein, dass es doch keine Einbildung war und Anne mehr für sie empfand, als sie jemals als Lehrerin für ihre Schülerin empfinden durfte?

Helena spürte ein gewaltiges Glücksgefühl in sich aufsteigen, das sich wie eine warme Welle in ihrem Körper ausbreitete.

Die Gänge der Schule waren wie ausgestorben, die nächste Stunde hatte bereits begonnen und alle Schüler saßen bereits wieder in ihren Klassenzimmern. Helena wusste, dass sie sich beeilen sollte, um keinen Ärger zu bekommen. Doch eigentlich war es ihr egal. Das kurze Gespräch mit Anne war jeden Ärger wert gewesen.

Kurz darauf versuchte sie heimlich ins Klassenzimmer zu huschen, was natürlich nicht klappte.

„Du bist fast zehn Minuten zu spät“, rügte Herr Bermel ihr Mathelehrer.

„Es tut mir leid, aber ich musste noch etwas mit Frau Richter besprechen.“

„Mach das beim nächsten Mal bitte in der Pause oder in einer Freistunde“, sprach Herr Bermel, der am liebsten das letzte Wort hatte.

Helena erwiderte nichts mehr. Nur zu gerne hätte sie sich auf eine Diskussion mit ihrem Mathelehrer eingelassen. Sie hatte das Gefühl durch das kurze Gespräch mit Anne beinahe übermenschliche Kräfte erlangt zu haben. Doch stattdessen setzte sie sich auf ihren Platz und packte ihre Sachen aus, während Herr Bermel mit dem Unterricht fortfuhr.

 

Die letzte Stunde hatte sie wieder bei Anne. Für Helena gab es fast nichts Schöneres als die letzte Stunde mit Anne zu verbringen, denn dadurch startete sie quasi mit Anne zusammen in ihren Nachmittag und meistens unterhielten sie sich noch kurz, bevor sich ihre Wege trennten. Doch heute war alles anders. An Annes Stelle betrat Herr Hansen den Klassenraum. Er schlurfte lustlos zum Lehrerpult, knallte die Bücher auf den Tisch und sorgte für Ruhe.

„Wo ist Frau Richter?“, fragte Jens, ohne vorher die Hand zu heben.

Helena war froh, dass er fragte, denn sie selbst hätte sich nicht getraut.

„Das geht dich zwar nichts an, aber ihr ging es nicht gut, deshalb ist sie vorzeitig nach Hause gefahren. Du musst mit mir vorlieb nehmen, wenn es recht ist.“

„Warum bekommen wir nicht frei?“

„Ihr habt viel zu oft frei. Ich diskutiere jetzt nicht weiter. Bücher raus, wir haben Unterricht.“

Helena fühlte sich grauenhaft und eine eiskalte Hand aus Angst und Sorge legte sich um ihr Herz und quetschte es immer fester zusammen. Anne musste es wirklich schlecht gehen, wenn sie vorzeitig nach Hause gefahren war. Helena wurde schlecht bei dem Gedanken.

Ich kann nicht mal bei ihr sein, dachte sie.

Sie bemühte sich dem Unterricht zu folgen, aber er war nicht annähernd so spannend wie bei Anne. Herr Hansen rasselte Geschichtsdaten herunter und erwartete, dass seine Schüler alles fleißig notierten. Bei Anne lief der Unterricht völlig anders ab. Obwohl Geschichte eigentlich ein eher langweiliges Schulfach war, gelang es Anne jedes Mal die Unterrichtsstunden spannend zu gestalten. Alle hatten ihren Spaß und Langeweile kam so gut wie nie auf. Helena bewunderte Anne für diese Fähigkeit und wünschte sich, es gäbe mehr Lehrerinnen wie sie.

Nach einer Weile schaltete ihr Gehirn auf Standby und Herr Hansens Stimme wurde zu einem monotonen Summen, das einschläfernd wirkte.

Nicht nur ihr ging es so. Mindestens die Hälfte der Klasse hatte gelangweilt den Kopf in die Hände gestützt und schien mit den Gedanken völlig woanders zu sein. Kaum jemand folgte dem Unterricht, doch Herr Hansen ließ sich davon nicht beirren. Er zog die Stunde gnadenlos und ohne Unterbrechung durch.

Als das erlösende Klingeln endlich ertönte, stopften alle in wahnsinniger Geschwindigkeit ihre Hefte und Bücher in die Taschen und flüchteten aus dem Klassenzimmer. Bloß weg hier!

Bevor Helena sich auf den Weg nach Hause machte, ging sie am Vertretungsplan vorbei. Vielleicht konnte sie daran erkennen, ob Anne länger fehlte. Mit klopfendem Herzen suchte sie die richtige Spalte und hätte beinahe losgejubelt vor Freude. Laut Vertretungsplan war Anne morgen wieder da. Nun konnte sie doch einigermaßen beruhigt nach Hause gehen.

2. Kapitel

Jule Herzig kam wie ein kleiner Wirbelsturm ins Zimmer und wirkte wie das blühende Leben.

Anne brachte nur ein schwaches Lächeln zustande. Sie lag eingekuschelt in eine dicke Decke auf dem Sofa, um sie herum lagen Taschentücher verstreut und sie sah aus wie ein Häufchen Elend.

Jule ließ sich neben dem Sofa im Sessel nieder. „So Schwesterherz und nun starten wir das schwesterliche Pflegeprogramm, damit du schnell wieder fit bist.“ Sie begann eine prall gefüllte Tüte aus der Apotheke auszupacken und drapierte Hustensirup, Hustenbonbons, Taschentücher, Nasenspray und diverse andere Mittelchen gegen grippale Infekte auf dem Wohnzimmertisch.

„Damit bist du ganz bestimmt schnell wieder auf den Beinen.“

„Danke, aber du sollst doch nicht immer so viel Geld für das ganze Zeug ausgeben. Die Grippe kommt von allein und sie geht auch wieder von allein.“

„Na ja, aber geschadet haben die Medikamente bisher auch nicht, oder?“

„Da hast du auch wieder recht“, musste Anne zugeben.

„Na also, rein mit dem Zeug!“ Jule machte sich an den Packungen zu schaffen und versorgte Anne mit allem was sie brauchte.

„So, und nun koche ich dir eine Hühnersuppe.“

Anne versuchte zu protestieren.

„Keine Widerrede! Ich weiß, dass du keine Hühnersuppe magst, aber sie hilft und deshalb wirst du sie essen.“

Jule machte sich auf den Weg in die Küche und Anne fügte sich in ihr Schicksal. Eigentlich war ihr sowieso alles egal. Sie war viel zu schwach, um mit Jule zu diskutieren. Schon lange hatte sie eine Grippe nicht mehr so heftig außer Gefecht gesetzt, jede kleinste Bewegung war ihr zu viel. Sie hörte Jule in der Küche herumwuseln, schlief zwischendurch kurz ein, erwachte aber jedes Mal wieder, wenn ein Hustenanfall sie quälte. Deshalb wusste sie nicht wie viel Zeit vergangen war, als Jule mit zwei Tellern Suppe ins Wohnzimmer zurückkehrte. Sie stellte die Teller auf dem Tisch ab, half Anne sich aufzurichten und stopfte Kissen in ihrem Rücken zurecht.

„Kannst du allein essen oder soll ich dich füttern?“

Ein vorwurfsvoller Blick von Anne traf sie. „Ich bin doch kein Kleinkind.“

„Also gut, dann rein mit dem Zeug.“ Sie reichte Anne den Suppenteller und während Anne widerwillig die Brühe löffelte, aß Jule genüsslich.

„Du machst ein Gesicht als müsstest du etwas richtig Ekliges essen.“

„Es ist ja auch so.“

„Du bist echt undankbar, weißt du das? Ich stehe ewig in der Küche, um dir eine kräftige Brühe zu kochen und du meckerst nur.“

„Du weißt doch, dass ich das Zeug nicht mag. Ich hab’s noch nie gemocht.“

Jule seufzte. „Ich weiß. Wenn du magst kann ich dir gleich ein Brot schmieren, zum Nachtisch sozusagen, aber erst wird die Hühnersuppe gegessen.“

Schweigend löffelte Anne weiter. Der Teller wollte einfach nicht leer werden. Manchmal konnte Jule schlimmer sein als die strengste Krankenschwester.

„Ich soll ab morgen einen Teil deiner Unterrichtsstunden übernehmen“, sagte Jule.

„Sorry, dass du wegen mir jetzt noch mehr Stress hast.“

„Du kannst doch nichts dafür, dass du krank bist.“

„Wirst du auch die 10c unterrichten?“, wollte Anne wissen. Sie versuchte ihre Stimme unbeteiligt klingen zu lassen, während sie die ganze Zeit Helenas Bild vor Augen hatte.

„Ich weiß es noch nicht genau. Morgen kann ich dir bestimmt mehr dazu sagen. Warum interessiert dich das?“

„Nur so“, wich Anne aus.

Jule musterte ihre Schwester prüfend. „Na komm schon, du kannst mir nichts vormachen. Deine Frage hat doch einen Grund.“

„Wie war das jetzt mit dem Brot zum Nachtisch?“, lenkte Anne ab und reichte Jule ihren leeren Teller.

„Gut gekontert, aber ich krieg´s schon noch raus.“ Nach diesen Worten verließ sie das Wohnzimmer.

Anne blieb nachdenklich zurück. Sie hätte gerne mit Jule über Helena geredet, aber sie brachte nicht den nötigen Mut auf. Eigentlich konnten sie sich immer alles sagen und sich gegenseitig vertrauen, aber es gab Dinge, die man nur mit sich selbst ausmachen konnte.

 

„So bitteschön, dein Nachtisch.“ Jule reichte ihr wenig später einen Teller mit einem Käsebrot.

„Danke, das ist eindeutig besser als Suppe“, sagte sie und biss herzhaft hinein.

Jule sah ihr lächelnd beim Essen zu.

„Also, wie war das jetzt mit der 10c? Ich glaube, du wolltest mir etwas erzählen.“

Anne wurde augenblicklich warm und dafür war nicht allein das Fieber verantwortlich.

„Ich weiß nicht, was du meinst. Musst du nicht nach Hause? Simon fragt sich bestimmt schon, wo du bleibst.“

„Erstens weiß er, dass ich bei dir bin, zweitens kommt mein Mann auch mal einen Abend ohne mich aus…“

„Und drittens bin ich kein Kleinkind, das bemuttert werden muss“, unterbrach Anne Jules Redefluss.

„Du musst nicht die ganze Nacht an meinem Bett sitzen und auf mich aufpassen.“

„Und du musst mich nicht gleich so an pampen. Ich hab’s nur gut gemeint.“

„Sorry, aber es ist einfach ätzend krank zu sein.“

„Du wärst viel lieber in der 10c, als im Bett zu liegen, stimmt’s?“ Jule grinste sie an.

„Ich gehe lieber arbeiten, als mit Grippe im Bett zu liegen“, wich Anne einer direkten Antwort aus.

„Ich krieg schon noch raus was du mir verschweigst“, drohte Jule spielerisch und packte anschließend ihre Sachen zusammen.

Anne wollte sich lieber nicht vorstellen, wie Jule reagierte, wenn sie hinter ihr Geheimnis kam.

„Ich bin dann mal weg“, verkündete Jule. „Wenn was ist kannst du mich jederzeit anrufen.“

Anne nickte. „Mach dir keine Sorgen, ich komme schon klar. Danke, dass du da warst.“

„Morgen vor der Schule komme ich bei dir vorbei. Keine Widerrede!“, setzte sie hinzu, weil sie merkte, dass Anne protestieren wollte.

„Also gut, bis morgen.“

„Schlaf schön.“

„Du auch.“ Nach diesen Worten verließ Jule das Haus. Kaum war sie weg tauchten Annes Kater Blacky und Pepper auf. Sie sprangen zu ihr aufs Sofa, begannen sofort zu schnurren und machten es sich auf ihr gemütlich. Das Schnurren hatte eine beruhigende Wirkung und ließ sie sanft einschlafen.

 

3. Kapitel

„Anne, hörst du mich?“

Als Anne mühsam die Augen öffnete, sah sie Jule, die sich über sie gebeugt hatte.

Anne brauchte einen Moment, um richtig wach zu werden. Dann merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie lag nicht in ihrem eigenen Bett und als sie ein wenig zur Seite sah, bemerkte sie, dass sie an einem völlig anderen Ort war und nicht zu Hause.

„Wo bin ich?“, brachte sie krächzend hervor. Ihre Kehle schien völlig ausgetrocknet.

„Du bist im Krankenhaus.“

Anne räusperte sich. „Wieso? Wegen einer Erkältung?“

„Von wegen Erkältung“, schnaubte Jule. „Du hast mir einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Als ich heute Morgen nach dir sehen wollte, warst du nicht mehr ansprechbar und hattest hohes Fieber, deshalb habe ich den Rettungsdienst gerufen.“

Ehe Anne etwas erwidern konnte, betrat ein Arzt das Zimmer und Jule machte ihm sofort Platz.

„Frau Richter, wie fühlen Sie sich?“

„Besser, danke.“

„Sehr schön. Die Medikamente haben angeschlagen, das ist gut. Trotzdem werden wir Sie noch eine Nacht hier behalten und morgen noch einige Untersuchungen durchführen.“

„Muss das wirklich sein?“

„Frau Richter, Sie wurden mit dem Rettungswagen eingeliefert, waren nicht ansprechbar und es ging Ihnen sehr schlecht. Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“

Anne fügte sich in ihr Schicksal.

„Also gut, dann sehen wir uns morgen. Ich wünsche eine angenehme Nacht.“

Nach einer kurzen Verabschiedung verließ der Arzt das Zimmer.

„Warum tun alle so als ob ich schwer krank wäre?“, wandte sich Anne an Jule.

„Ich finde es gut, dass du mal ordentlich durchgecheckt wirst, schließlich geht es dir schon länger nicht gut.“

„Ich habe einfach viel Stress im Job, nichts weiter. Da wäre wohl jeder ein wenig erschöpft und eine Erkältung bekommen andere auch ohne gleich ins Krankenhaus zu fahren.“

„Dann hast du ja nichts zu befürchten und nach den Untersuchungen hast du schwarz auf weiß, dass alles okay ist.“

„Wenn es dich beruhigt“, sagte Anne genervt. „Dann werde ich die Nacht eben hier drin verbringen.“

Angewidert ließ sie den Blick durchs Zimmer schweifen. Zugegeben, ein Ort zum Wohlfühlen war es nicht, das musste Jule auch eingestehen.

„Ich hole dich morgen ab. Versprochen!“

„Kümmere dich lieber um Blacky und Pepper. Damit hilfst du mir viel mehr.“

„Das mache ich sowieso, ist doch klar. Deshalb werde ich auch jetzt fahren. In der Aufregung heute Morgen habe ich völlig vergessen die Katzen zu füttern.“

„Das geht ja gut los“, meinte Anne.

„Dafür werde ich sie ganz besonders verwöhnen. Und du ruhst dich aus. Verstanden!“ Jule drohte ihr mit dem Zeigefinger.

„Was denkst du denn? Glaubst du, ich feiere hier eine wilde Party?“

„Zutrauen würde ich es dir, immerhin scheint es dir schon deutlich besser zu gehen als heute Morgen. Was so ein paar Medikamente doch bewirken können.“

„Doping“, erwiderte Anne schmunzelnd. „Legales Doping wird hier betrieben.“

„Hauptsache es geht dir besser. Wie die Ärzte das geschafft haben, ist mir eigentlich egal.“

Sobald Jule das Zimmer verlassen hatte, empfand Anne die Stille regelrecht erdrückend. Beinahe wünschte sie sich einen Bettnachbarn, mit dem sie reden konnte, aber da ihr dieser Wunsch gerade verwehrt blieb, widmete sie sich den Büchern, die Jule mitgebracht hatte. Manche kannte sie schon, die sortierte sie gleich aus, doch es blieb noch ein gewaltiger Rest übrig und am Ende entschied sie sich für einen spannenden Krimi.

 

Anne hatte die halbe Nacht gelesen und fühlte sich deswegen am nächsten Tag wie gerädert, als sie in aller Frühe unbarmherzig von der Krankenschwester aus dem Schlaf gerissen wurde.

„Guten Morgen, haben Sie die Nacht gut überstanden?“

„Ja, danke.“

„Ich muss Ihnen jetzt leider etwas Blut abnehmen“, verkündete die Krankenschwester und packte ihre Instrumente aus.

„Das geht ja gut los am frühen Morgen“, versuchte Anne zu scherzen und entblößte ihren Arm.

„Zur Belohnung gibt es in wenigen Minuten Frühstück.“

„Das ist jetzt aber ein schwacher Trost“, meinte Anne, während die Krankenschwester das Band um den Oberarm legte, fest zog und die Haut desinfizierte. Kurz darauf folgte ein kleiner Stich und das Blut floss in mehrere Röhrchen. Nur Sekunden später wurde die Nadel aus ihrem Arm gezogen und mit einem Pflaster versorgt.

„So, das war’s schon. Das Blut wird nun im Labor untersucht und Sie haben heute Nachmittag um 15:30 Uhr einen Termin bei Dr. Michalsky. Einen schönen Tag noch.“

Nach diesen Worten verließ die Krankenschwester das Zimmer und wieder blieb Anne allein zurück. Viel Zeit zum Durchatmen blieb ihr allerdings nicht, denn fast im selben Moment meldete sich ihr Handy.

„Hey Jule“, begrüßte Anne ihre Schwester.

„Na Schwesterchen, wie geht’s dir?“

„Ich wurde gerade um einige Milliliter Blut erleichtert.“

„Und sonst geht’s dir gut?“

„Ja, ich weiß nicht welche Drogen durch meinen Körper geflossen sind, aber die Erkältung ist viel besser.“

„Siehst du, Medikamente sind nicht immer schlecht.“

„Wer weiß, was ich alles genommen habe in den letzten Stunden ohne es zu wissen.“

„Und wie geht’s jetzt weiter? Folgen noch weitere Untersuchungen?“

„Ich muss heute Nachmittag zum Gespräch mit dem Arzt. Dann erfahre ich bestimmt mehr.“

„Ich komme nach der Schule sofort ins Krankenhaus. Eigentlich wollte ich vor der Schule auch kurz vorbei kommen, aber ich schaff´s nicht.“

„Mach dir keinen Stress, Jule. Ich komm schon klar. Wie geht’s Blacky und Pepper?“

„Ich glaube, sie vermissen dich, aber es geht ihnen gut. Ich bin gerade noch bei ihnen und mache mich jetzt auf den Weg zur Schule. Brauchst du was? Das könnte ich dir dann später mitbringen.“

„Nein, ich hoffe ja, dass ich heute hier raus komme.“

„Das hoffe ich auch. Wir sehen uns später.“

Kaum hatte Anne das Handy zur Seite gelegt, öffnete sich auch schon wieder die Tür zu ihrem Zimmer. Heute ging es wirklich Schlag auf Schlag.

 

Jule hielt ihr Versprechen und tauchte nachmittags bei Anne im Krankenhaus auf.

„Gibt es schon was Neues?“, fragte sie, statt einer Begrüßung.

„Bis jetzt vertreibe ich mir hier bloß sinnlos die Zeit und warte auf meinen Termin.“

„Soll ich mitkommen zu deinem Gespräch?“

„Dafür bist du doch gekommen, oder nicht?“

„Erwischt“, sagte Jule lachend. „Übrigens haben dich in der Schule ziemlich viele vermisst.“

„Du hast aber niemandem erzählt, dass ich im Krankenhaus bin?“, fragte Anne erschrocken.

„Nein. Ich habe nur gesagt, dass du krank bist. Mehr müssen die Kollegen erstmal nicht wissen.“

„Auf dich ist Verlass.“

Jule zückte ihr Handy und hielt es kurz darauf Anne hin. „Ich hab dir ein paar Fotos von Blacky und Pepper mitgebracht. Ich kann sie dir auch später schicken, bis jetzt bin ich noch nicht dazu gekommen.“

„Ich will nicht, dass du dich wegen mir so stresst.“

„Ich muss mich doch um dich kümmern, wenn es dir schlecht geht.“

„Das ist lieb von dir, aber du musst auch an dich denken.“

Jule winkte ab. „Mach dir keine Sorgen, es geht jetzt erstmal um dich. Wann musst du zum Gespräch mit dem Arzt?“

„Halb vier.“

Jule sah auf die Uhr. „Dann sollten wir uns auf den Weg machen.“

Sie mussten sich durchfragen, um ihr Ziel zu erreichen und pünktlich um halb vier klopfte Anne an die Tür des Arztes.

„Guten Tag“, grüßte Anne.

„Hallo, Frau Richter, kommen Sie bitte herein.“

„Darf meine Schwester mitkommen?“

„Natürlich, kommen Sie. Nehmen Sie Platz!“

„Danke!“

Anne spürte, dass ihre Hände schwitzig wurden und ihr Herz vor Aufregung raste. Was würde sie wohl erwarten? War alles ganz harmlos oder wartete eine Hiobsbotschaft?

Dr. Michalsky blätterte in der Krankenakte und räusperte sich kurz, ehe er das Gespräch eröffnete.

„Die Ergebnisse der Blutuntersuchung liegen uns nun vor.“ Er machte eine kurze Pause und obwohl solche Gespräche für ihn eigentlich tägliche Routine waren, hatte Anne den Eindruck, dass es ihm nicht leicht fiel das Ergebnis mitzuteilen.

„Ihre Erythrozyten und Thrombozyten sind stark verringert und der Hämoglobingehalt ist sehr niedrig.“

Anne wurde blass. Als Biologielehrerin war sie zwar noch längst keine Ärztin, aber ein wenig kannte sie sich dennoch mit dem menschlichen Körper aus, deshalb waren ihr die Fachbegriffe nicht unbekannt. Jule hingegen verstand nur Bahnhof, deshalb richtete sie nun ihre Worte an Dr. Michalsky. „Was heißt das jetzt genau?“

„Es sind zu wenig rote Blutkörperchen und Blutplättchen vorhanden.“

Immer noch hatte Jule keine Ahnung, was das bedeutete. Sie runzelte irritiert die Stirn. „Ist das sehr schlimm?“

„Das wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Dafür sind weitere Untersuchungen notwendig.“

„Aber Sie müssen doch eine Vermutung haben“, sagte Jule nun etwas eindringlicher.

„Sicher, aber…“

„Nichts aber, sagen Sie uns die Wahrheit.“

Dr. Michalsky warf Anne einen fragenden und zugleich unsicheren Blick zu. Reden Sie offen mit mir!“, bat Anne. „Ich gehe davon aus, die Ergebnisse sind nicht besonders gut. Dennoch möchte ich lieber gleich die Wahrheit erfahren. Sie müssen nichts beschönigen.“

Dr. Michalsky atmete tief durch. „Es könnte sein, dass wir es mit Leukämie, also Blutkrebs zu tun haben.“

Nach diesen Worten wurde Jule kreidebleich und sah zuerst den Arzt und dann Anne geschockt an, ehe sie die Hand vor den Mund hielt und fluchtartig den Raum verließ.

Obwohl es um sie selbst ging, nahm Anne die Diagnose gefasster auf. Vielleicht lag es daran, weil sie die Ältere war.

„Wie gesagt, genaueres kann ich erst sagen, wenn wir weitere Untersuchungen gemacht haben“, sprach Dr. Michalsky rasch weiter.

„Das heißt, ich werde noch eine Weile hier bleiben müssen?!“

Dr. Michalsky nickte. „Wir werden gleich morgen Ihr Knochenmark untersuchen, um zu schauen, ob Krebszellen enthalten sind. Sollte das Ergebnis positiv sein, werden weitere Untersuchungen nötig sein, um herauszufinden in wie weit einzelne Organe bereits befallen sind.“

Stille breitete sich im Raum aus. Anne wusste nicht was sie sagen sollte. Auch wenn sie sich bemühte nach außen hin stark zu sein, war sie innerlich aufgewühlt und der Schock über die Diagnose breitete sich nur sehr langsam in ihrem Verstand aus. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass eine harmlose Erkältung so eine schreckliche Diagnose nach sich ziehen konnte.

„Haben Sie noch weitere Fragen?“, wurde Anne von der Stimme des Arztes aus ihren Gedanken gerissen.

„Nein, im Moment nicht.“

„Gut, dann schauen Sie vielleicht mal nach Ihrer Schwester.“

Anne verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Als sie auf den langen Flur trat, entdeckte sie Jule, die zusammengekauert auf einem der Besucherstühle hockte. Sofort war Anne an ihrer Seite und legte den Arm um Jule.

„Julchen, alles wird gut.“

Jule schmiegte sich an sie. „Es tut mir leid, dass ich abgehauen bin“, sagte Jule. „Mir ist plötzlich schlecht geworden. Ich musste mich übergeben.“

„Geht’s dir denn jetzt besser?“

Jule antwortete nicht, stattdessen befreite sie sich aus Annes Umarmung und sah sie überrascht an. „Du fragst, ob es mir gut geht? Ich bin ja wohl gerade völlig egal, es geht um dich. Ich hätte bei dir bleiben müssen.“

„Du musst gar nichts, Jule. Ich schaffe das schon.“

„Du warst schon immer die Stärkere von uns beiden.“

„Ich bin ja auch die Ältere.“

„Was hat der Arzt noch gesagt?“

„Sie wollen morgen weitere Untersuchungen machen. Noch steht nicht fest, dass es Krebs ist.“

„Ich kann das einfach alles nicht glauben“, sagte Jule.

„Frag mich mal, aber wir sollten nicht zu schwarzsehen.“

„Siehst du das wirklich so oder bist du nur für mich stark?“

Anne wusste keine Antwort auf diese Frage. Natürlich versuchte man als ältere Schwester immer die Jüngere zu beschützen. War das nicht völlig normal?

 

Nach diesem schockierenden Tag wollte Jule gar nicht gehen. Am liebsten hätte sie ein Krankenbett bezogen und sich in Annes Zimmer einquartiert. Sie wollte Anne nicht allein lassen, obwohl Anne sie immer wieder drängte nach Hause zu fahren.

Schließlich sorgte die Nachtschwester dafür, dass Jule nach Hause fuhr und wieder blieb Anne allein zurück, weil bisher noch kein weiterer Patient in ihr Zimmer gezogen war.

 

4. Kapitel

Helena schleppte sich lustlos zur Schule. Sie wusste ganz genau, dass sie Anne wieder nicht sehen würde. Der Vertretungsplan war in den letzten Tagen zu ihrem besten Freund geworden und Tag für Tag hoffte sie, dass keine Vertretung für Anne eingetragen war. Wenn das noch lange so weiter ging, wurde sie verrückt. Bisher hatte sie nicht herausfinden können, was mit Anne war, weil keiner der anderen Lehrer darüber Auskunft geben wollte. Wenn es darum ging über private Dinge zu sprechen, hielten Lehrer zusammen wie Pech und Schwefel und kein Sterbenswörtchen kam über ihre Lippen.

An diesem Morgen hatte sie sogar für einen Moment darüber nachgedacht die Schule zu schwänzen, aber dabei hatte ihr Pflichtbewusstsein nicht mitgespielt, deshalb war sie nun hier und fügte sich in ihr Schicksal.

 

„Guten Morgen.“ Jule Herzig betrat den Klassenraum und wurde mit einer lustlos gemurmelten Begrüßung empfangen.

Es war das erste Mal, dass sie die Klasse 10c unterrichtete und Helena hatte Jule Herzig bisher nur im Vorbeilaufen gesehen. Sie war noch nicht lange an der Schule, deshalb musste sie sich den Respekt der Schüler erst noch erarbeiten. Sie legte jedoch einen recht guten Start hin, denn schon nach kurzer Zeit hatte sie für Ruhe gesorgt.

„Einige von euch kennen mich vielleicht noch nicht. Ich bin Jule Herzig und werde eine Weile die Unterrichtsstunden von Frau Richter übernehmen.“

Eine Weile. Helena hatte das Gefühl ihr Herz müsste jeden Moment stehen bleiben nach diesen Worten. Eine Weile, das klang nach einer längeren Zeit und bedeutete, dass es Anne sehr schlecht gehen musste. Ihr gesamter Körper war augenblicklich von Panik erfüllt, es fiel ihr schwer still sitzen zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen. Sie verspürte das Bedürfnis herumzulaufen, wollte vor ihrer eigenen Panik fliehen. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl jemand schnürte ihr den Atem ab. Um sie herum verschwamm alles und jegliche Geräusche drangen nur noch dumpf zu ihr durch. Sie nahm nichts mehr wahr und verlor jegliches Zeitgefühl. Da legte sich plötzlich eine warme Hand sanft auf ihre Schulter.

„Geht es dir nicht gut?“

Helena tauchte langsam aus ihrer Versunkenheit auf, nahm nach und nach ihre Umgebung wieder wahr und erkannte Jule Herzig, die sie besorgt ansah.

„Du siehst blass aus. Möchtest du ein paar Minuten an die frische Luft?“

Immer noch leicht verwirrt, starrte Helena Jule Herzig an.

„Es… geht schon wieder“, stammelte Helena.

„Bist du sicher?“

Helena nickte schwach.

„Also gut, dann stell doch bitte ebenfalls ein Schild mit deinem Namen auf.“

Helena sah sich um, während Jule Herzig zum Lehrerpult zurückkehrte. Alle, bis auf Helena hatten ihr Namensschild bereits aufgestellt. Helena spürte, dass sie rot wurde. Es war ihr peinlich im Mittelpunkt zu stehen, alle starrten sie an. Das war gar nicht ihr Ding. Zum Glück ließ Jule Herzig von ihr ab und fuhr mit dem Unterricht fort, während Helena versuchte sich zusammen zu reißen und zumindest ein wenig dem Unterricht zu folgen. Sie kämpfte gegen ihre eigenen Gedanken und konzentrierte sich stattdessen auf Jule Herzigs Ausführungen. Irgendwann gelang es ihr einigermaßen dem Unterricht zu folgen, doch nach kurzer Zeit galt ihre einzige Aufmerksamkeit Jule Herzig. Helena musterte sie ganz genau, jede ihrer Gesten. Oft gelang es Helena anderen Menschen ihren Gemütszustand vom Gesicht abzulesen und bei Jule Herzig bemerkte sie sofort, dass sie traurig und besorgt wirkte, obwohl sie versuchte es geschickt zu verbergen. Die meisten Menschen hätten es vermutlich nicht bemerkt, aber Helenas Gespür täuschte sich meistens nicht, weil sie genau hin sah. In diesem Moment wurde ihr klar, dass Frau Herzig wusste was mit Anne los war und sie überlegte fieberhaft wie sie es herausbekommen konnte. Sie konnte natürlich versuchen einfach nachzufragen, aber sie rechnete sich keine großen Chancen auf Erfolg aus und ihr Herz wurde schwer.

 

Der Schultag plätscherte ungewöhnlich eintönig für Helena dahin. Niemandem gelang es an diesem Tag mehr zu ihr durchzudringen, weil ihr Kopf nur noch einen einzigen Gedanken zuließ.

Nach der letzten Stunde lief sie schlecht gelaunt und im Herzen voller Sorge und Trauer nach Hause. Am liebsten wollte sie sich in ihrem Zimmer verschanzen, die Decke über den Kopf ziehen und sich in den Schlaf weinen, doch sobald sie die Haustür aufschloss, empfing sie der Trubel zu Hause. Ihre Mutter wuselte in der Küche herum. Ihre Schwester Fee raste an ihr vorbei, dicht gefolgt von ihren Brüdern, die mit lautem Indianergeheul und ausgestattet mit Federschmuck und Lassos hinter Fee her jagten.

Es war ihr unbegreiflich, wie ihre Mutter bei dem Lärm so ruhig und gelassen bleiben konnte, aber Hanne Sturm ließ sich eigentlich durch nichts so schnell aus der Ruhe bringen.

Helena wollte an der geöffneten Küchentür vorbei schleichen, aber ihre Mutter hatte sie trotz des Trubels kommen hören und tauchte im Türrahmen auf.

„Hallo, mein Schatz. Wie war es in der Schule?“

„Wie immer“, murmelte Helena.

Ein durchdringender Blick ihrer Mutter traf sie. Sie spürte gleich, dass etwas nicht in Ordnung war. „Ist was passiert?“, fragte sie, wohl wissend, dass sie vermutlich so zwischen Tür und Angel keine zufriedenstellende Antwort bekommen würde.

Helena schüttelte den Kopf. „Alles gut.“

„Wirklich?“, bohrte Hanne Sturm nach.

„Ja. Ich werde jetzt mal die wilde Meute einfangen. Es gibt doch sicher gleich essen.“ Krampfhaft versuchte Helena vor ihrer Mutter so zu tun, als wäre alles okay. Während Hanne Sturm wieder in der Küche verschwand und sich den Töpfen widmete, nahm Helena die Verfolgung ihrer Geschwister auf.

 

Eine halbe Stunde später saßen alle bei Tisch.

„Gefangene bekommen ihr Essen zum Schluss“, verkündete Leon. Er zog den Spaghetti Topf zu sich und streckte seiner Schwester die Zunge raus.

„Du bist gemein!“, schrie Fee und Tränen traten in ihre Augen.

„Kein Streit, bitte“, versuchte Hanne Sturm zu vermitteln. „Es ist für jeden genug da.“ Sobald Leon sich den Teller mit Nudeln gefüllt hatte, schob sie Fee den Topf hin. Doch da sprang Simeon auf und griff nach dem Löffel.

„Ich bin zuerst dran.“

„Du setzt dich jetzt erstmal wieder ordentlich hin“, ermahnte Hanne Sturm ihn. „Und wenn Fee sich Nudeln genommen hat, bist du an der Reihe.“

Wütend verschränkte Simeon die Arme vor der Brust und schmollte. „Das ist gemein. Ich bin älter als Fee.“

„Und deshalb darfst du gemein zu deiner Schwester sein, oder was?“, sagte Hanne Sturm.

Helena verfolgte die Auseinandersetzung beinahe schon amüsiert. Zum ersten Mal an diesem Tag schafften es ihre Geschwister sie ein wenig von ihrer Sorge um Anne abzulenken.

Im Gegensatz zu ihren Geschwistern nahm sie sich nur eine kleine Portion Spaghetti. Eigentlich hatte sie gar keinen Appetit, aber wenn sie nichts aß, wurde ihre Mutter misstrauisch. Trotzdem ertappte sie sich dabei, dass sie lustlos in ihrem Teller herumstocherte und jeder Bissen eine Herausforderung für sie war, während ihre Geschwister rein hauten, als hätten sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Das hatte den Vorteil, dass sie still waren, solange sie mit Essen beschäftigt waren.

„Kommst du gleich mit zu Oma und Opa?“, wandte sich ihre Mutter an sie.

„Ich glaube nicht. Ich muss noch lernen.“

„Schreibt ihr eine Klassenarbeit?“, bohrte Hanne Sturm nach.

Manchmal konnte sie echt nerven mit ihrer Fragerei, fand Helena. Andererseits war es aber auch schön, dass sie sich für alles interessierte und sich stets Zeit nahm, obwohl sie mit vier Kindern, Haushalt und Job schon genug an der Backe hatte.

„Mathe“, antwortete Helena.

„Brauchst du Hilfe?“

„Nee, ich komm klar. Es ist nicht so schwer. Soll ich den Abwasch übernehmen?“, fragte Helena, um das Thema zu wechseln. Eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust dazu, aber noch weniger wollte sie weiter von ihrer Mutter mit Fragen gelöchert werden.

„Das wäre sehr lieb von dir, Helena.“ Anschließend wandte sie sich an die restliche Rasselbande, die inzwischen mit dem Essen fertig war und schon wieder anfing zu streiten. „Sachen zusammen packen, anziehen. In zehn Minuten fahren wir zu Oma und Opa.“

Fee, Simeon und Leon stoben davon.

„Sie können einem den letzten Nerv rauben“, sagte Hanne Sturm und zwinkerte Helena zu. „Bist du sicher, dass du hier allein klar kommst?“

„Klar, ich bin kein Kleinkind mehr“, erwiderte Helena etwas zu heftig. Sie stand auf und begann demonstrativ den Tisch abzuräumen.

„Soll ich dir noch schnell helfen?“, bot ihre Mutter an.

Doch im selben Moment ertönte aus dem Obergeschoss lautes Geschrei und somit hatte sich das Hilfsangebot erledigt.

Während ihre Mutter aus der Küche eilte, drehte Helena den Wasserhahn auf und ließ heißes Wasser ins Spülbecken laufen.