Pfefferkuchenküsse im Sternschnuppenschein - Michelle Zerwas - E-Book

Pfefferkuchenküsse im Sternschnuppenschein E-Book

Michelle Zerwas

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Beschreibung

Manchmal sind sich zwei Seelen so nah und wissen nichts voneinander, obwohl sie wie geschaffen füreinander sind. Genauso ergeht es Vera und Lars. Sie leben in derselben Stadt, nicht weit voneinander entfernt und kennen sich nicht. An einem kalten Winterabend schließt Lars das Fenster nicht richtig und seine Katze Schneeflocke entwischt. Er und vor allem seine Tochter Elisabeth sind untröstlich. Nach einer abenteuerlichen Reise durch den Schnee landet Schneeflocke auf Veras Terrasse und die Lebenswege von Vera und Lars kreuzen sich auf magische Weise.

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Michelle Zerwas

Pfefferkuchenküsse im Sternschnuppenschein

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

1. Kapitel

Lars betrat das Kinderzimmer, seine Tochter Elisabeth saß auf dem Fußboden und spielte Mensch - ärgere - dich - nicht gegen ihre Stofftiere.

„Zeit ins Bett zu gehen“, sagte Lars. „Es ist schon spät.“

„Nicht jetzt, Papa. Ich gewinne grade.“ Elisabeth sah ihren Vater nicht an. Stattdessen würfelte sie und rückte mit einer der Spielfiguren fünf Felder weiter.

Lars schmunzelte. Elisabeth hatte denselben Dickkopf wie ihre Mutter und ließ sich nicht gerne etwas vorschreiben. Es fiel ihm schwer sich dennoch gegen sie durchzusetzen, denn sie wusste genau, wie sie ihren Vater um den Finger wickeln konnte.

„Für heute hast du genug gespielt. Wenn du morgen aus der Schule kommst, kannst du weiter spielen.“

„Das dauert aber so lange.“

„Elisabeth“, sagte Lars etwas strenger. „Ich werde das jetzt nicht mit dir diskutieren.“

Maulend stand sie auf.

„Ab ins Bad, umziehen, Zähne putzen!“, bestimmte Lars.

„Ich hab schon Zähne geputzt“, behauptete Elisabeth, sah ihren Vater aber nicht an.

„Schwindelst du mich wieder an?“, fragte Lars. „Du weißt, dass ich es sehen kann, wenn du lügst. Zähne putzen ist wichtig, sonst kommt heute Nacht das böse Zahnmonster und malt alle deine Zähne schwarz.“

Elisabeth lachte. „Jetzt lügst du mich an, Papa. Das Zahnmonster gibt es nicht.“

Lars fiel in das Lachen seiner Tochter ein. „Kann sein, aber Zähne putzen musst du trotzdem.“

„Liest du mir danach noch eine Geschichte vor?“

„Es ist schon spät.“

„Bitte, Papa“, bettelte sie und sah ihren Vater mit großen Augen an. Sie hatte die blauen Augen ihrer Mutter und es war unmöglich bei diesem Anblick nicht schwach zu werden.

„Na gut. Du ziehst dich um und putzt deine Zähne ordentlich, während ich ein Buch aussuche. Einverstanden?“

„Ja!“, jubelte Elisabeth und flitzte aus dem Zimmer.

Lars sah ihr lächelnd hinterher. Er hätte sich nie träumen lassen einen Menschen jemals so sehr lieben zu können, wie er seine Tochter liebte.

Er ging hinüber zu dem kleinen Bücherregal und besah sich die bunten Buchrücken. Er kannte sie alle, jedes einzelne Buch, weil er sie Elisabeth bereits unzählige Male vorgelesen hatte. Ponybücher standen neben Märchenbüchern, dicht an dicht mit spannenden Abenteuergeschichten und liebevoll illustrierten Tiergeschichten. Neben bekannten deutschen Autoren, standen auch viele Bücher von schwedischen Autoren im Regal. Seine Frau war Schwedin gewesen und der Liebe wegen, seinetwegen, nach Deutschland gekommen. Sein Blick fiel auf das gerahmte Foto seiner Frau Freya, das ebenfalls auf dem Regal stand. Es zeigte sie gemeinsam mit Elisabeth. Sie hatten es an einem strahlenden Sommertag aufgenommen, beide lächelten in die Kamera und trugen einen bunten Blumenkranz im Haar, der in Schweden am Mitsommer unumgänglich war.

Lars musste für einen kurzen Moment lächeln, als er an den Tag zurückdachte, an dem das Foto aufgenommen worden war. Doch fast im selben Augenblick kehrte der Schmerz zurück. Das Leben konnte so grausam sein, so ungerecht und hart. Er spürte wie ihm Tränen in die Augen traten und wischte sie rasch weg. Elisabeth sollte ihn so nicht sehen. Er musste stark sein für seine kleine Tochter.

„Da bin ich wieder, Papa“, sagte Elisabeth, mit einer Selbstverständlichkeit wie sie nur Kinder kennen. Manchmal wünschte er sich die Leichtigkeit der Kindheit zurück. Das Unbeschwerte. Es bedeutete nicht, dass Kinder keine Sorgen hatten oder schwere Zeiten sie nicht belasteten, aber sie gewannen schneller ihren Lebensmut zurück, während Erwachsene oftmals lange in ihrer Schwermut gefangen waren.

„Hast du eine Geschichte ausgesucht?“

Lars wollte nicht zugeben, dass er mit den Gedanken woanders gewesen war. Er griff blind nach einem Buch und wendete sich seiner Tochter zu.

„Natürlich habe ich das.“

Elisabeth sah zufrieden aus und drückte ihre kleine weiße Katze Schneeflocke an sich, die dabei ganz bestimmt wieder entspannt schnurrte.

Schneeflocke war schon immer eine besondere Katze gewesen, anhänglich, verschmust, verspielt und liebevoll. Eigentlich ganz untypisch für eine Katze, die ja für ihre Eigenständigkeit und Sturheit bekannt sind. Von Elisabeth ließ sich Schneeflocke alles gefallen und sie war in den letzten Jahren unentbehrlich für sie geworden.

„Ab ins Bett, Prinzessin“, sagte Lars.

Elisabeth kam seiner Aufforderung nach, schlug die Bettdecke zurück und kuschelte sich mit Schneeflocke ins Bett. Das Kätzchen machte es sich schnurrend auf dem Kopfkissen bequem. Lars deckte Elisabeth liebevoll zu, setzte sich auf die Bettkante und schlug das dünne Büchlein auf.

 

„Es war einmal ein kleiner Drache…“, begann er zu lesen.

 

Elisabeth lauschte hingerissen der Geschichte, obwohl sie sie bereits kannte. Erst letzte Woche hatte Lars sie ihr vorgelesen. Von manchen Geschichten konnte man eben nie genug bekommen und es machte ihm nichts aus die Geschichte immer und immer wieder zu lesen, solange er Elisabeth damit glücklich machen konnte.

Auch an diesem Abend zeigte die Geschichte ihre beruhigende Wirkung. Elisabeths Augen wurden schwerer und schwerer und schließlich konnte sie sich nicht mehr länger gegen die Müdigkeit wehren. Den Rest der Geschichte hörte sie nicht mehr, weil sie tief und fest schlief.

Leise schloss er das Buch und betrachtete seine Tochter eine Weile. Dabei spürte er wie ein Gefühl tiefster Liebe in sein Herz strömte. Elisabeth war für ihn das Wichtigste auf der Welt. Er hatte immer geglaubt niemanden so sehr lieben zu können wie Freya, aber Elisabeth hatte ihn eines Besseren belehrt. Es war eine andere Liebe, die er für seine Tochter empfand, aber nicht weniger tief.

Als er sicher war, dass sie nicht wieder aufwachte, stand er vorsichtig auf. Er zog die Bettdecke noch ein Stückchen höher und küsste Elisabeth auf die Stirn.

„Schlaf gut, meine kleine Prinzessin“, flüsterte er innerlich für sich.

Schneeflocke hob kurz wachsam den Kopf, ließ ihn aber gleich wieder sinken, als sie feststellte, dass alles in Ordnung war. Das Kätzchen ließ einen tiefen Seufzer hören und schloss die Augen.

Lars stellte das Buch ins Regal zurück, löschte die Nachttischlampe und schlich aus dem Zimmer. Die Tür lehnte er nur an. Elisabeth mochte es nicht, wenn er die Tür ganz schloss, was ihm nur recht war, weil er nachts häufiger nach ihr sah, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Außerdem wollte Schneeflocke kommen und gehen wie sie wollte. Die Freiheit außerhalb des Hauses blieb ihr zwar verwehrt, aber im Haus hatte sie jederzeit freien Zugang zu allen Räumen.

2. Kapitel

Lars ging die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer. Er war erschöpft von seinem langen Tag, wusste aber genau, dass er nicht einschlafen konnte, wenn er sich jetzt ins Bett legte. Egal wie müde er war, sobald er im Bett lag, begannen seine Gedanken zu kreisen und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Viel zu lange ging das nun schon so, niemand konnte ihm helfen und Schlaftabletten waren auf Dauer keine Lösung.

Er trat ans Fenster und sah hinaus. Es war eine sternenklare Nacht und am Firmament funkelten die Sterne wie Diamanten. Freya hatte diesen Anblick geliebt, stundenlang hatte sie am Fenster gestanden, besonders in den Sommermonaten, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch gewesen war Sternschnuppen zu sehen. Sie hatte es spannender gefunden als jedes Fernsehprogramm, darauf zu warten, dass ein Stern vom Himmel fiel und mit einem letzten Aufleuchten verglühte. Unzählige Nächte hatten sie im Sommer draußen im Liegestuhl gelegen, eingekuschelt in eine Wolldecke. Lars hatte jede Sekunde mit Freya genossen, umso mehr schmerzte jetzt die Erinnerung.

Lars öffnete das Fenster und sog tief die kalte Dezemberluft ein. Für einen Moment glaubte er, Schnee in der Luft zu riechen, vielleicht täuschte er sich aber auch. Elisabeth würde es auf jeden Fall freuen. Sie liebte Schnee, genau wie ihre Mutter. Wenn es nach Elisabeth ging, konnte es nie kalt genug sein. Daran erkannte man die nordische Herkunft ihrer Mutter. Er selbst mochte es lieber warm.

Sein Blick schweifte über den Himmel, so als suchte er nach etwas und er wusste, er würde es nicht finden. Er hoffte auf ein Zeichen, irgendeins, dass Freya da draußen irgendwo war und von dem Ort, an dem sie sich nun befand, zu ihnen sah und jeden ihrer Schritte begleitete. Er wollte daran glauben, dass es möglich war.

Nach einer Weile schloss er das Fenster wieder, blieb aber noch etwas stehen und betrachtete den Sternenhimmel. Er sandte einen stummen Wunsch ans Universum ihm endlich die unendliche Trauer zu nehmen und das Glück in sein Leben zurückzubringen.

 

Nicht weit von Lars entfernt, in einem alten, frisch renovierten Stadthaus, lief eine weitere unruhige Seele durchs Haus. Oft wissen wir nicht, dass ganz viele Menschen gerade ähnlich fühlen wie wir selbst und sich ganz in unserer Nähe befinden. Manchmal kreuzen sich die Wege dieser Menschen auf magische Weise. Das Schicksal weiß immer, was zu tun ist und nicht selten schickt es uns zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Menschen in unser Leben, einen, den wir gerade brauchen und der vielleicht genauso sehr uns braucht. Von all dem konnten Lars und Vera, die gerade beide betrübt am Fenster standen und nach draußen sahen, nichts ahnen. Beide waren in ihrer Schwermut gefangen, von der Erwachsene häufig befallen wurden.

Vera hatte fast zwei Stunden vergeblich versucht einzuschlafen und sich im Bett ruhelos von einer Seite zur anderen gewälzt. Schließlich hatte sie aufgegeben. Sie war in die Küche gegangen, hatte sich einen Kakao zubereitet und stand nun am Fenster, in der Hand die Tasse heiße Schokolade, zu ihren Füßen ihre Labrador Hündin Arielle.

Sie öffnete das Fenster weit und atmete die frische Luft ein. Es roch nach Schnee. Die eisige Luft wehte um sie herum und Vera umklammerte die warme Tasse mit ihren Händen noch etwas fester. Ihr Blick ging hinauf zu den Sternen. Sie liebte diesen Anblick. Die Unendlichkeit des Universums faszinierte sie. Von hier unten sahen die Sterne so klein aus und es war schwer zu glauben, dass sie in Wahrheit riesengroß waren, während sie von der Erde aus wie winzige Kristalle den Himmel mit ihrem Leuchten verschönerten. In solchen Momenten wurde einem bewusst wie winzig man als Mensch war im Vergleich zum Universum.

Gedankenverloren trank Vera ihren Kakao in kleinen Schlucken, während ihr Blick über den Sternenhimmel schweifte. Schon als Kind hatte sie der Anblick fasziniert und bis heute hatte er seine Anziehungskraft nicht verloren. Im Stillen hoffte sie, eine Sternschnuppe am Himmelszelt zu entdecken. Im Dezember und Januar war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, weil sie vermehrt vom Himmel fielen. Bisher hatten sich ihre Wünsche, die sie an die Sternschnuppen gerichtet hatte, immer erfüllt, zwar nicht sofort und es konnte deshalb reiner Zufall sein, dass die Wunscherfüllung tatsächlich mit den Sternschnuppen in Verbindung stand, aber sie wollte weiter daran glauben. Vielleicht war es auch der Glaube selbst, der ihr am Ende ihre Wünsche erfüllt hatte, aber war es nicht viel magischer und romantischer an die Kraft der Sternschnuppen zu glauben?

Als hätte Arielle ihre Gedanken erfasst, stand sie auf und sprang mit den Vorderpfoten aufs Fensterbrett.

„Na, hast du auch einen Wunsch ans Universum?“, fragte sie ihre Hündin. Sie legte ihren Arm um Arielle und streichelte sie.

So standen sie einträchtig da und obwohl keine Sternschnuppe zu sehen war, sandte Vera einen stillen Wunsch nach oben zu den Sternen. Vielleicht fiel genau in diesem Moment irgendwo auf der Welt eine Sternschnuppe vom Himmel und sie konnte sie bloß nicht sehen. Alles was sie sich wünschte war ein bisschen Liebe. Während sie an ihren Wunsch dachte, stupste Arielle sie mit der Nase.

„Ich weiß, meine Süße, ich hab ja dich, aber ein lieber Mann an meiner Seite wäre auch nochmal schön. Endlich wieder die Verliebtheit spüren und das Glück einer tiefen Liebe.“

Nach einer Weile war die Tasse leer und Vera begann zu frieren am offenen Fenster. Die Sternschnuppen ließen immer noch auf sich warten.

„Wir sollten ins Bett gehen“, sprach sie zu Arielle.

Arielle hatte verstanden, nahm die Pfoten von der Fensterbank und trottete bereits zurück zum Bett, während Vera sorgfältig das Fenster schloss und sich vom Sternenhimmel abwendete.

 

Noch jemand wendete sich im selben Moment vom Fenster ab. Mit gesenkten Schultern und einem Herzen so schwer wie Blei, schlurfte Lars zu dem großen, gemütlichen Ohrensessel und ließ sich darin nieder. Freya hatte ihn im Internet entdeckt und sich gleich verliebt. Er passte nicht zur restlichen Einrichtung, aber das war ihr egal gewesen.

Er knipste die Stehlampe neben dem Sessel an und griff nach dem Foto auf dem kleinen Beistelltisch. Es zeigte Freya. Wie immer lächelte sie unbeschwert in die Kamera. Sie hatte eigentlich immer gelächelt und das Leben leicht genommen. Vielleicht hatte er deshalb die vielen Fotos von ihr im Haus aufgestellt, damit die Fröhlichkeit zurückkehrte. Sicher nicht nur, um sie nicht zu vergessen, denn eine Frau wie Freya konnte man nicht vergessen.

Zärtlich strich er mit dem Finger über das Foto, fuhr die Konturen ihres Gesichtes nach, strich über ihre Haare und stellte sich vor wie es sich angefühlt hatte Freya zu berühren. Er rief sich ihren Duft in Erinnerung und fast glaubte er, ihn wahrnehmen zu können. Er wusste, es war nicht gut die Vergangenheit festzuhalten. Wenn er wieder glücklich werden wollte, musste er das Vergangene respektieren, lernen damit zu leben und wieder nach vorne schauen, aber es fiel ihm so unglaublich schwer. Der Schmerz war nach all der vergangenen Zeit immer noch zu groß, als dass er ihn einfach ignorieren konnte.

 

In dem Moment fiel eine Sternschnuppe vom Himmel und erhellte für den Bruchteil einer Sekunde den nächtlichen Himmel. Weder Lars noch Vera sahen sie, aber ihre Wünsche waren klar und deutlich vernommen worden.

Manchmal sind sich zwei Seelen so nah und wissen nichts voneinander. Dann muss das Schicksal nachhelfen oder eine Sternschnuppe, damit sie einander finden. Eine einzige Sternschnuppe kann nicht nur einen Wunsch erfüllen, sondern sie erfüllt alle Wünsche, die zum Zeitpunkt ihres Verglühens an sie gerichtet werden.

Es war eine magische Nacht und wundersame Dinge sollten geschehen, doch davon ahnten Lars und Vera in diesem Augenblick nichts. Während Lars irgendwann gegen Morgen völlig erschöpft im Sessel einnickte, hatte Vera sich in ihrem Bett eng an Arielle gekuschelt und träumte von Dingen, an die sie sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnerte.

 

3. Kapitel

Schneeflocke erwachte mitten in der Nacht. Sie hob den Kopf und lauschte angestrengt, dabei zuckten ihre Ohren hin und wieder aufgeregt. Was war das für ein Geräusch gewesen, das sie geweckt hatte?

Ihr Blick fiel auf ihre Freundin Elisabeth. Sie schlief tief und fest und außer tiefen Atemzügen verursachte sie kein Geräusch.

Schneeflocke wollte der Sache auf den Grund gehen. Sie erhob sich von Elisabeths Kissen und vergewisserte sich, dass das Menschenkind nicht aufgewacht war. Dann sprang sie geschmeidig und fast lautlos vom Bett zu Boden. Sie landete auf dem flauschigen Teppich vor dem Bett, wo sie sich erstmal ausgiebig streckte. Danach konnte es losgehen. Schneeflocke startete ihren Erkundungsgang durchs Haus. Nachts, wenn alles schlief, war das besonders schön, weil ihr das Haus ganz allein gehörte.

Auf leisen Pfoten schlich sie die Treppe hinunter und ging auf direktem Wege ins Wohnzimmer. Sie sah sofort, dass jemand im Sessel kauerte und vor sich hin schnarchte. Das Schnarchen war nicht besonders laut, konnte also nicht dafür verantwortlich sein, dass sie mitten in der Nacht aufgewacht war. In all den Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, denn manchmal schlief sie auch bei Lars, wenn sie spürte, dass er sie dringender brauchte als Elisabeth.

Auf einmal hörte sie draußen ein Klappern. Schneeflocke spitzte die Ohren und sprang mit einem Satz auf die Fensterbank. Sie sah nach draußen, konnte aber nichts entdecken, was das Geräusch verursacht hatte. Doch ihr fiel etwas anderes auf. Das Fenster stand einen Spalt offen und ein kühler Luftstrom wehte ihr entgegen.

Ich könnte kurz draußen nachsehen, überlegte Schneeflocke. Sie versuchte, mit ihrer Pfote das Fenster noch ein Stück mehr zu öffnen, damit sie nach draußen schlüpfen konnte. Es funktionierte. Sie war bisher nie draußen gewesen und ihr war etwas mulmig zumute, aber draußen war etwas und sie musste der Sache nachgehen. Es handelte sich sozusagen um einen Notfall. Ein letzter Blick zu Lars bestätigte sie in ihrem Vorhaben. Er schlief tief und fest und bekam nicht das Geringste mit. Schneeflocke huschte nach draußen, verharrte kurz auf dem Fensterbrett, dann sprang sie. Sie landete im Blumenbeet und sank mit ihren Pfoten in die Erde ein. Erschrocken machte Schneeflocke einen Satz nach vorne. Das Gefühl an ihren Pfoten fand sie eklig. Sie war eben eine echte Hauskatze und kannte das Leben draußen nicht. Das feuchte Gras, in dem sie sich nun wiederfand, war allerdings auch nicht viel besser. Es reichte ihr fast bis zum Bauch und durchnässte ihr Fell.

Nichts wie zurück ins Haus, dachte Schneeflocke. Dort war es warm, gemütlich und sicher. Doch im selben Moment hörte sie wieder ein Geräusch. Sie zuckte erschrocken zusammen, denn hier draußen klang es viel lauter. Es musste von der anderen Seite des Hauses kommen.

Auf leisen Sohlen schlich Schneeflocke durchs Gras und lugte um die Hausecke. An den Mülltonnen machte sie eine dunkle Gestalt aus, die offensichtlich in den Tonnen herum wühlte.

Wie eklig. Schneeflocke schüttelte sich. Obwohl sie weit genug entfernt war, nahm sie den Geruch wahr, der von den Tonnen ausging. Undenkbar darin herum zu wühlen. Schneeflocke fühlte sich jetzt schon schmutzig, weil die Erde aus dem Blumenbeet an ihren Pfoten klebte. Das Leben draußen war nichts für sie. Sie war es nicht gewohnt.

Eine Weile beobachtete sie die Gestalt, folgte jeder ihrer Bewegungen. Eine ernste Gefahr schien nicht von ihr auszugehen, aber es schadete nicht, wachsam zu bleiben. Doch Schneeflockes Gefühl bestätigte sich nach einer Weile, als die Gestalt die Tonne zuklappte und sich daran machte das Grundstück zu verlassen. Schneeflocke sah ihr hinterher, um sicher zu gehen, dass die Person wirklich verschwand. Sobald die Anspannung von Schneeflocke abfiel, spürte sie wie kalt es draußen war. Ihr Winterfell war nicht so dick wie das einer Freigängerkatze und sie sehnte sich nach der Wärme des Hauses zurück. Gerade als sie sich auf den Weg machen wollte, spürte sie etwas Feuchtes auf ihrer Nase.

„Huch, was war das denn?“, fragte sich das Kätzchen.

Schneeflocke schleckte mit der Zunge über ihre Nase, kam dem Rätsel jedoch nicht auf die Spur. Sie sah nach oben zum Himmel und stellte fest, dass es anfing zu schneien. Staunend sah Schneeflocke den dicken weißen Flocken zu, wie sie durch die Luft tanzten und gen Erde schwebten. Es war nicht das erste Mal, dass sie Schnee sah, aber bisher hatte sie die weiße Pracht immer nur vom Fenster aus gesehen. Deshalb war es etwas ganz Besonderes für sie. Wenn sie vom Fenster aus den Flocken zugeschaut hatte, hatte sie oft ein Spiel daraus gemacht und versucht die einzelnen Flocken mit der Pfote zu fangen, die gegen die Fensterscheibe geweht wurden, bevor sie schmolzen. Es war ihre Art der Beschäftigung, um die Langeweile zu vertreiben, wenn Elisabeth in der Schule und Lars bei der Arbeit war. Die vielen einsamen Stunden in dem großen Haus kamen Schneeflocke an manchen Tagen sehr lang vor. Nun endlich konnte sie das Spiel mit den Schneeflocken richtig spielen.

Der Schnee fiel immer zahlreicher und blieb an einigen Stellen bereits liegen, ohne zu schmelzen. Sie duckte sich tief auf den Boden und fixierte die Flocken mit ihren Augen. Sie stellte sich vor es seien kleine Mäuse, die es zu fangen galt. In ihr baute sich die Anspannung immer mehr auf, dann setzte sie zum Sprung an und fing ihre erste Schneeflocke, indem sie darauf sprang und sie mit ihren Pfoten festhielt. Das Spiel gefiel ihr, immer wieder sprang sie in großen Sätzen von einer Flocke zur nächsten, jagte durch die Nacht und wurde immer ausgelassener. Das wilde Spiel vertrieb die Kälte und die nassen Schneeflocken auf ihrem Pelz machten ihr nichts mehr aus.

Sie merkte nicht, dass sie sich immer weiter vom Haus entfernte. Es fiel ihr erst auf, als sie nach dem wilden Spiel erschöpft inne hielt und sich umsah. Die Gegend kannte sie nicht oder sah alles einfach nur etwas anders aus, weil die Landschaft inzwischen unter einer dünnen Schneedecke begraben lag? Schneeflocke drehte sich ein paar Mal um sich selbst und sah sich aufmerksam um. Vielleicht kam ihr ja etwas bekannt vor. Doch sie musste verzweifelt feststellen, dass sie sich hoffnungslos verlaufen hatte.

Sie entdeckte ihre eigenen Pfotenabdrücke im Schnee und schöpfte wieder Hoffnung. Wenn sie der Spur folgte, musste sie früher oder später wieder nach Hause kommen. Sie machte sich auf den Weg, sie lief und lief, die Spur wurde immer schwächer und schwächer. Irgendwann waren die Abdrücke nur noch zu erahnen und verschwanden schließlich ganz, weil sie von neuen Schneeflocken bedeckt wurden. Erneut sah das Kätzchen sich um, verzweifelt auf der Suche nach etwas, das sie kannte. Leider hatte sie sich anscheinend weiter von zu Hause entfernt, als sie es beabsichtigt hatte, denn die Gegend war ihr völlig unbekannt. Verzweifelt lief Schneeflocke weiter, ohne zu wissen, ob sie auf dem richtigen Weg war.

 

Stunden später irrte Schneeflocke immer noch durch die verschneite Winternacht. Inzwischen fror sie entsetzlich und sie kämpfte sich müde durch den Schnee, der immer mehr wurde. Wollte es denn gar nicht mehr aufhören zu schneien?

Schneeflocke wusste, was sie jetzt brauchte, war ein trockener Unterschlupf, wo sie sich ausruhen konnte. Wie sehr sehnte sie sich nach Elisabeths warmem, weichen Bett oder dem Sofa und Herrchens Schoß oder dem gemütlichen Sessel… Jeder Ort wäre ihr jetzt lieber gewesen, als draußen in der Kälte herum zu irren. Sie war ja selbst schuld, weil sie weg gelaufen war. Von Abenteuern hatte sie endgültig genug, aber die Einstellung nützte ihr gerade herzlich wenig. Dafür wurde ihr etwas anderes klar. Sie musste näher an die Häuser heran. Vielleicht entdeckte sie irgendwo ein geöffnetes Fenster und konnte hinein schlüpfen. Sie streifte durch diverse Gärten und schlich dicht an den Häusern entlang, fand jedoch nicht das, was sie suchte. Alle Fenster waren geschlossen oder so weit oben, dass Schneeflocke sie unmöglich erreichen konnte.

Sie lief und lief und ihre Pfoten fühlten sich inzwischen an wie erfroren, ihr Fell war patschnass, weil es immer noch ununterbrochen schneite.

Als sie schon aufgeben und sich erschöpft im Schnee niederlassen wollte, um zu erfrieren, erreichte ein unwiderstehlicher Duft ihr feines Näschen. Es war eindeutig Katzenfutter. Spielten ihre Sinne ihr bloß einen Streich oder war sie dem Paradies ganz nah? Ihr Bauch knurrte laut. Sie fühlte sich, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Schneeflocke folgte dem Geruch und erreichte eine überdachte Terrasse. Sie sah sich um, ein Tisch, zwei Stühle und eine Bank aus Holz standen auf der Terrasse, unter dem Tisch stand eine Schüssel, die den köstlichen Duft verströmte und auf der Bank entdeckte sie einen großen Pappkarton. Ein Loch an der einen Seite des Kartons ermöglichte den Zugang. Er erinnerte Schneeflocke ein wenig an die Kuschelhöhle aus Stoff, in der sie zu Hause oft lag. Sie musste sich den Karton später unbedingt genauer ansehen. Doch erstmal gehörte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Futter. Sie war so hungrig wie noch nie in ihrem Leben. Vorsichtig schlich sie näher. Sie konnte ihr Glück nicht fassen und rechnete damit in eine Falle zu tappen. Vielleicht war das Futter auch vergiftet. Menschen konnten grausam sein. Sie hörte es immer, wenn sie mit Herrchen die Nachrichten im Fernsehen schaute.

Sie schnüffelte ausgiebig an der Futterschüssel und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Das Futter roch ganz normal, vielleicht nicht mehr ganz so frisch. Mindestens zwei Stunden musste es schon offen stehen. Zuhause hätte sie es vielleicht nicht mehr angerührt. Es gab nichts Ekligeres als abgestandenes Nassfutter, aber nun lief ihr das Wasser im Mund zusammen und sie probierte einen Happen. Es schmeckte nicht schlecht, die Sorte kannte sie nicht, aber es war eindeutig Huhn. Sie fraß, bis sie satt war und ließ sogar noch etwas übrig.

Nach dem Fressen putzte sie ihre Pfoten und leckte sich das Mäulchen, streckte sich ausgiebig und hüpfte auf die Bank, um den Karton näher in Augenschein zu nehmen. Ein wenig ängstlich steckte sie den Kopf durch die Öffnung. Im Inneren des Kartons lag eine Decke. Schneeflocke schnüffelte daran. Vor einiger Zeit musste ein Artgenosse darauf geschlafen haben. Das bedeutete, die Decke war nicht mehr ganz sauber, aber sie war warm und nur das zählte in dem Moment. Schneeflocke machte es sich im Karton auf der Decke gemütlich, rollte sich zusammen und bedeckte ihre kalte Nase mit dem Schwanz. Sie war so müde, dass sie nach kurzer Zeit einschlief.

 

4. Kapitel

Lars erwachte, weil er fror, seine Zähne klapperten aufeinander, so kalt war ihm. Im Zimmer herrschte Dunkelheit und er musste sich erstmal orientieren, weil er im ersten Moment nicht wusste wo er sich befand. Nur langsam wurde er richtig war und realisierte, warum die Kälte ungehindert ins Zimmer strömen konnte. Als sein Blick zum Fenster wanderte, setzte sein Herz einige Schläge aus. Es stand weit offen und offene Fenster durfte es nicht geben, wenn eine Katze im Haus lebte, die nicht nach draußen sollte und man sich vor dem Lüften nicht vergewissert hatte, dass die Katze sich weder im Raum befand noch sich in dieser Zeit irgendwie Zugang zu diesem Raum verschaffen konnte. All das war nicht der Fall. Sowohl das Fenster, als auch die Tür des Wohnzimmers standen offen.

Lars stürzte zum Fenster und sah nach draußen. Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, dass es geschneit hatte.

Vielleicht hat das Schneeflocke abgehalten, überlegte er. Sie kennt keinen Schnee. Er schöpfte Hoffnung und schloss das Fenster. Beruhigen konnte ihn der Gedanke allerdings nicht. Ruhelos begab er sich auf den Weg durchs Haus und sah überall dort nach, wo sich das Kätzchen bevorzugt aufhielt. Angefangen bei Elisabeths Zimmer, streifte er durchs ganze Haus, von Schneeflocke fehlte jede Spur.

„Das darf nicht wahr sein. Bitte nicht. Bitte, lass es nicht wahr sein“, murmelte er vor sich hin.

Er stürzte zur Haustür. Wenn er Glück hatte, war Schneeflocke irgendwo da draußen im Garten. Womöglich nicht weit weg. Sie war noch nie draußen gewesen, kannte die Freiheit nicht, geschweige denn Schnee. Bestimmt war sie noch in der Nähe und wartete nur darauf gerettet zu werden.

Kopflos stolperte Lars nach draußen und kehrte gleich darauf um. Er pflückte seine Jacke vom Kleiderhaken und schlüpfte hinein, während er schon wieder nach draußen eilte. Nun war die Kälte eindeutig besser zu ertragen. Er stapfte durch den hohen Schnee und sah sich in der Dunkelheit um, die ein wenig vom leuchtenden Schnee erhellt wurde. Leise rief er nach Schneeflocke, aber eine Katze war nun mal kein Hund und kam meist nicht auf Zuruf. Er lief durch den ganzen Garten, sah unter jedem Strauch nach, suchte nach Spuren im Schnee, lauschte, ob von irgendwo ein Mauzen an seine Ohren drang. Nichts. Schneeflocke blieb verschwunden. Als ihn die Erkenntnis mit voller Wucht traf, spürte er wie eine bleierne Müdigkeit seinen Körper erfasste. Am liebsten hätte er sich verzweifelt in den Schnee sinken lassen, um nie wieder aufzustehen.

Wie bringe ich das bloß Elisabeth bei? Warum habe ich das Fenster nicht nochmal kontrolliert, dass es auch wirklich zu ist? Er war sich sicher gewesen.

Wahrscheinlich bin ich inzwischen sogar zu blöd ein Fenster ordnungsgemäß zu schließen, warf er sich vor. So weit ist es mit mir gekommen. Wenn ich nicht mal auf eine Katze aufpassen kann, wie soll ich es dann bei Elisabeth schaffen? Er wusste selbst, dass es nichts nützte im Selbstmitleid zu versinken, aber in manchen Situationen war genau das tröstlich.

Irgendwann gab er auf. Er war völlig durchgefroren, seine Hose war bis zu den Knien nass und die Füße steckten ebenfalls in patschnassen Schuhen. Niemandem war geholfen, wenn er sich auch noch eine Erkältung einfing.

Niedergeschlagen kehrte er ins Haus zurück. Er zog die nassen Sachen aus, schlüpfte in trockene Kleidung und bereitete sich in der Küche einen heißen Tee zu. Er fühlte sich schlecht dabei, weil er die ganze Zeit an Schneeflocke denken musste. Wie sehr musste sie frieren? Sein Blick fiel auf die Wanduhr, die leise vor sich hin tickte. Sie zeigte 3 Uhr morgens an. Schneeflocke war seit Stunden weg und als reine Wohnungskatze hatte sie nicht so ein dickes Winterfell wie ihre streunenden Artgenossen, das sie ausreichend vor der Kälte schützen konnte.

Wahrscheinlich ist sie längst tot, dachte Lars. Überfahren oder erfroren. Er schüttelte den Kopf, um die schrecklichen Gedanken zu vertreiben.

Schneeflocke wird schon irgendwie durchkommen, sprach er sich selbst zuversichtlich zu. Und wenn nicht? , meldete sich sofort wieder der Zweifel in ihm. Elisabeth wird es mir nie verzeihen, wenn Schneeflocke etwas passiert.

Nachdem er seinen Tee in kleinen Schlucken getrunken hatte, war die Verzweiflung über das Verschwinden der Katze nicht weniger geworden. Kurz spielte er mit dem Gedanken einen kräftigen Schluck Alkohol zu trinken, um seine Nerven zu beruhigen, aber er musste einen klaren Kopf behalten. Er hatte eine Tochter, die ihn brauchte.

Es gibt genug andere Katzen auf der Welt, sagte er sich. Er liebte Schneeflocke genauso wie Elisabeth das Kätzchen liebte und es brach ihm das Herz, nicht zu wissen, was mit ihr passiert war und ob es ihr gut ging, aber wenn sie nicht mehr zurückkehrte, musste eine andere Katze den Platz einnehmen. Doch dann erwachte der Kampfgeist in ihm. Eine kleine Hoffnung bestand ja noch. Solange niemand eine tote weiße Katze gefunden hatte, musste er davon ausgehen, dass Schneeflocke lebte und er wollte alles daran setzen sie wiederzufinden. Es musste doch möglich sein, gerade in der heutigen Zeit, wo fast jeder mit jedem durch die sozialen Netzwerke verbunden war. Am besten fing er gleich damit an, die Nacht war für ihn sowieso vorbei, denn er konnte unmöglich schlafen. Also konnte er die Zeit auch sinnvoll nutzen.

Er griff zu seinem Handy und scrollte die Bilder durch, bis er ein besonders ausdrucksstarkes Foto von Schneeflocke fand, auf dem sie gut zu erkennen war. Danach öffnete er die Facebook App und verfasste einen Suchaufruf, den er öffentlich in verschiedenen Gruppen oder auf Seiten teilte. Möglich, dass er etwas voreilig war und Schneeflocke von ganz allein wieder nach Hause kam, aber er wollte nichts dem Zufall überlassen und er konnte den Beitrag jederzeit wieder löschen, wenn er nicht mehr benötigt wurde.

Als das erledigt war, überlegte er, ein weiteres Mal den Garten abzusuchen. Doch stattdessen holte er die Dose mit dem Trockenfutter aus der Küche und ging damit zur Haustür. Auf der Türschwelle stehend schüttelte er die Dose. Meistens ließ sich Schneeflocke durch dieses Geräusch anlocken, aber sie kam nicht. Enttäuscht ließ Lars die Dose sinken, denn es bedeutete, dass Schneeflocke nicht in der Nähe war.

Vielleicht hat sie sich verlaufen, irrt nun draußen herum und hat Angst.

Lars durfte nicht daran denken. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie sehr er an dem Kätzchen hing. Fieberhaft überlegte er, was er noch tun konnte, aber ihm fiel nichts ein. Es machte keinen Sinn die nächtlichen Straßen zu durchkämmen und Schneeflocke zu suchen, weil er nicht wusste in welche Richtung sie gelaufen war. Außerdem wollte er Elisabeth nicht allein lassen. Wenn sie aufwachte und feststellte, dass sie ganz allein war, bekam sie sicher furchtbare Angst.

Er kehrte resigniert ins Haus zurück und wusste nicht, was er nun tun sollte. Seine Gedanken kreisten einzig um Schneeflocke und Elisabeth, während er im Halbdunkel auf dem Sofa saß und die gegenüberliegende Wand anstarrte, als wollte er sie hypnotisieren. Irgendwann beschloss Lars sich doch nochmal hinzulegen. Er hatte zwar ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil er ins warme Bett kroch und Schneeflocke in der Kälte ausharren musste, aber der Tag würde wieder anstrengend werden und er konnte es sich nicht erlauben zu schwächeln. Er wurde in der Firma gebraucht, musste für Elisabeth da sein und irgendwie zusehen, dass er den Alltag meisterte.

 

Ihm kam es vor, als sei er gerade erst eingeschlafen, als der Wecker ihn aus dem Schlaf riss. Er war einen Augenblick verwirrt, doch dann fiel ihm alles wieder ein, die Katastrophe, die ihn heimgesucht hatte. Am liebsten hätte er einfach weiter geschlafen, um nicht darüber nachdenken zu müssen, aber es ging nicht. Es wurde Zeit Elisabeth zu wecken. Sie musste in die Schule und auf irgendeine Art und Weise musste er ihr beibringen, dass Schneeflocke verschwunden war. Er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte. Schon einmal hatte er ihr eine furchtbare Nachricht überbringen müssen. Er hatte bereits vieles in seinem Leben gemeistert, auch schwierige Dinge, aber seiner Tochter zu sagen, dass ihre Mama nie mehr zurückkehrte und fortan ein Engel war, war die schwierigste Herausforderung in seinem Leben gewesen. Ähnlich fühlte er sich jetzt. Wie sollte er ihr erklären, dass Schneeflocke weg war und vielleicht nicht zurückkehrte, so wie ihre Mama? Wie sollte er die richtigen Worte finden?

Ihm war übel, als er sich auf den Weg zu Elisabeths Kinderzimmer machte. Sie schlief noch tief und fest. Lars blieb unschlüssig im Türrahmen stehen. Schließlich gab er sich einen Ruck. Er musste das Unvermeidliche hinter sich bringen und je länger er wartete, umso schlimmer wurde es. Es gab kein Entrinnen vor der Wahrheit.

Er ging auf das Bett zu, knipste die kleine Lampe auf dem Nachttisch an, setzte sich auf die Bettkante und berührte seine Tochter an der Schulter.

„Elisabeth, du musst aufwachen.“

Elisabeth murmelte etwas vor sich hin, sie blinzelte und kniff sofort die Augen wieder zu, weil das helle Licht sie blendete.

„Guten Morgen, Prinzessin.“

„Morgen, Papa.“ Erneut öffnete Elisabeth die Augen.

„Zeit zum Aufstehen, die Schule wartet.“

„Ich bin aber noch müde“, murmelte Elisabeth.

„Was machen wir denn da?“, fragte Lars.

„Wir könnten noch ein bisschen weiter schlafen“, schlug Elisabeth vor.

„Du weißt, dass das nicht geht. Ich muss zur Arbeit und du musst zur Schule, damit du etwas lernst.“

Lars griff unter der Bettdecke nach Elisabeths nacktem Fuß und kitzelte sie an der Fußsohle. Elisabeth quietschte und versuchte ihren Fuß zu befreien, doch bevor sie Erfolg hatte, hielt Lars inne.

„Das war gemein, Papa“, maulte Elisabeth.

„Vielleicht, aber jetzt bist du wenigstens wach. Auf jetzt, raus aus dem Bett und ab ins Bad. Ich warte unten auf dich.“

Lars stand auf und ging durchs Zimmer Richtung Tür.

„Papa?“, vernahm er Elisabeths fragende Stimme.

„Ja, was ist?“ Wenn sie so anfing, wollte sie etwas, das wusste Lars inzwischen.

„Machst du mir Pfannkuchen zum Frühstück?“

Im ersten Moment wollte er ihr den Wunsch abschlagen, überlegte es sich dann aber anders. Er konnte Elisabeth helfen lassen, damit sie hoffentlich nicht an Schneeflocke dachte und wenn sie aus der Schule kam, war Schneeflocke vielleicht von ganz allein wieder zurückgekehrt und alles war gut. Dann musste er seine Unachtsamkeit nicht beichten und Elisabeth erfuhr nichts von Schneeflockes Abenteuer.

„Na gut, ich mache dir ausnahmsweise Pfannkuchen, aber nur, wenn du jetzt aufstehst und dich ein bisschen beeilst. Wir sind heute spät dran.“

Mit einem Satz sprang Elisabeth aus dem Bett. Während sie im Bad verschwand, ging Lars nach unten, um Pfannkuchen zuzubereiten.

 

Elisabeth brauchte keine zehn Minuten, da polterte sie schon die Treppe runter, die Schultasche landete im Flur und sie stürmte in die Küche.

Lars ließ gerade den Pfannkuchen aus der Pfanne auf einen Teller gleiten und servierte ihn seiner Tochter.

„Es hat geschneit, Papa!“, rief sie aufgeregt.

„Ich weiß, mein Schatz.“

Elisabeth wollte gerade nach dem Besteck greifen, da fiel ihr etwas ein.

„Ich muss zuerst Schneeflocke füttern“, verkündete sie.

Lars hatte gehofft, sie würde es an diesem Morgen vergessen, aber es war zu einem festen morgendlichen Ritual geworden und Elisabeth hatte Schneeflocke noch nie vergessen. Er hätte wissen müssen, dass das auch an diesem Morgen nicht der Fall war.

„Das kannst du später noch machen. Dein Pfannkuchen wird kalt.“

„Es dauert nicht lange, Papa.“

Typisch, sie hatte den Sturkopf ihrer Mutter und ließ sich so leicht nicht von ihren Vorhaben abbringen. Sie schnappte sich die Dose mit dem Trockenfutter, schüttelte sie kräftig und rief nach Schneeflocke. Lars kannte die Szene zur Genüge, weil Elisabeth Schneeflocke jeden Morgen auf diese Weise anlockte und ihr die Futterration in den Napf schüttete, sobald sie aus irgendeinem Winkel des Hauses angelaufen kam. Doch heute passierte nichts.

„Schneeflocke!“, erneut rief Elisabeth ihr Kätzchen und klapperte mit dem Futter.

„Warum kommt Schneeflocke nicht?“, fragte Elisabeth.

„Bestimmt ist sie auch noch müde, so wie du vorhin.“

„Aber sie kommt sonst auch immer, wenn ich sie rufe.“

„Stell ihr doch einfach das Futter hin, dann kann sie später essen und du solltest jetzt deinen Pfannkuchen essen, bevor er kalt wird.“

„Ich mag aber keinen Pfannkuchen.“

„Ich habe ihn extra für dich gemacht.“

„Ich muss Schneeflocke suchen.“

Elisabeth machte Anstalten die Küche zu verlassen. Sie gab so schnell nicht auf, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte und Lars wusste, sie würde nicht eher ruhen, bevor sie nicht das ganze Haus auf den Kopf gestellt hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Elisabeth die Wahrheit zu sagen.

„Ich muss dir was sagen“, begann Lars. Er schluckte schwer und hatte keine Ahnung wie er die Worte über die Lippen bringen sollte. „Setz dich mal her zu mir.“