Vanille, Zimt und Glückskeksküsse - Michelle Zerwas - E-Book

Vanille, Zimt und Glückskeksküsse E-Book

Michelle Zerwas

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Beschreibung

Nach einem schweren Schicksalsschlag zieht Tabitha mit ihrer Tochter Jade in eine andere Stadt, um neu anzufangen. Doch so leicht, wie sie es sich vorgestellt hat, wird es nicht. In der neuen Schule wird Jade von ihren Mitschülern gemobbt. Sie freundet sich mit Nelly, der Keksbäckerin aus der Nachbarschaft an, hilft ihr beim Backen und Dekorieren der Plätzchen. Dadurch kommen sich auch Tabitha und Nelly ein wenig näher und unternehmen viel gemeinsam. Als das Mobbing in der Schule schlimmer wird, schwänzt Jade den Unterricht und treibt sich stattdessen vormittags in der Stadt herum. Sie lernt den obdachlosen Willi kennen und schließt ihn gleich in ihr Herz. Eines Tages fliegt alles auf, Tabitha verbietet Jade den Kontakt mit Willi und nimmt sie erstmal aus der Schule, bis eine Lösung gefunden ist. Am Ende ist es ausgerechnet Willi, der zum Retter in der Not wird.

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Michelle Zerwas

Vanille, Zimt und Glückskeksküsse

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1

„Aus dem Weg!“, rief ein Mann des Umzugsunternehmens, der mit seinem Kollegen einen riesigen Schrank schleppte.

Jade sprang zur Seite. Dabei stieß sie gegen eine Kommode. Die Vase, die darauf stand, geriet ins Wanken. Jade versuchte noch sie aufzufangen, aber sie war zu langsam. Die Vase zerschellte auf dem Fußboden und die Scherben verteilten sich im gesamten Hausflur.

Im selben Moment kam ihre Mutter ins Haus zurück. Sie trug einen schweren Karton.

„Oh Jade. Was machst du denn?“, sagte sie verzweifelt. Sie stellte ächzend den Karton ab. „Haben wir nicht schon genug Arbeit?“

„Es tut mir leid. Ich wollte das nicht.“

Tabitha holte einmal tief Luft. Sie wollte nicht schimpfen. Sie wusste, wie schwer der Umzug für Jade war und eine zerbrochene Vase war kein Weltuntergang. Es war kein Grund Jade auszuschimpfen.

„Was hältst du davon, wenn du das Gehege für die Kaninchen aufbaust?“, schlug sie stattdessen ihrer Tochter vor. „Du stehst uns sonst hier nur im Weg.“

„Na gut“, erklärte Jade sich einverstanden und stieg die Treppe hoch ins Obergeschoss.

Tabitha wischte sich seufzend eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war fix und fertig, die letzten Tage waren anstrengend gewesen, ununterbrochen hatte sie Kisten gepackt und trotz aller Müdigkeit nachts kaum Ruhe gefunden. Jeder Neuanfang war mit so vielen Unsicherheiten verbunden und so erging es auch Tabitha. Auf der einen Seite brauchte sie den Neuanfang in einer anderen Stadt, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, aber zugleich machte ihr das Neue auch Angst. Sie hatte niemanden, mit dem sie darüber reden konnte, ihre Eltern lebten nicht mehr, Geschwister hatte sie keine und ihre sogenannten Freunde waren in Wahrheit nichts weiter als flüchtige Bekannte. Sie hatte nur Jade und mit ihr konnte sie nicht über ihre Sorgen sprechen. Sie war mit ihren sechs Jahren noch zu klein. Kinder sollten niemals die Last der Erwachsenen tragen müssen. Außerdem hatte es in Jades Leben bereits genug Tragödien gegeben.

Seufzend hob sie den Karton wieder an. Sie musste stark sein, nicht nur für sich, sondern vor allem für Jade. Die Umzugshelfer trugen eine Waschmaschine ins Haus.

„Wohin kommt die?“, fragte einer der Männer.

„Ins Bad.“ Die Männer machten sich auf den Weg. Müdigkeit schienen sie nicht zu kennen. Tabitha hingegen fühlte die Erschöpfung überall in ihrem Körper. Sie wusste nicht, wie sie den Tag überstehen sollte. Der Umzugswagen war erst zur Hälfte leer und sie konnte jetzt schon nicht mehr.

 

Jade sah sich in ihrem neuen Zimmer um. Es wirkte noch ziemlich kahl, an der einen Wand stand ihr Bett, das noch nicht bezogen war. Ihr Schreibtisch nahm die andere Wand ein und daneben stand ein Regal für ihre Spiele und Bücher, ein Teppich lag zusammengerollt mitten im Zimmer. In einer Ecke standen der zusammengeklappte Zaun des Kaninchengeheges, sowie alles, was die Kaninchen benötigten. In einer Transportbox warteten Hopp und Blume darauf in ihr neues Zuhause einzuziehen.

Jade machte sich an die Arbeit und baute als erstes die Umrandung des Geheges auf. Der robuste Zaun sorgte dafür, dass die Kaninchen in ihrem Gehege blieben und nicht in der ganzen Wohnung herum hoppelten.

Sie steckte gerade die Teile zusammen, als einer der Männer ins Zimmer polterte. Gleich drei Kartons hatte er sich aufgeladen und stapelte sie an der Wand.

„Brauchst du Hilfe?“, wandte er sich an Jade und deutete auf die Zaunelemente.

Jade schüttelte den Kopf. Die Männer waren ihr unheimlich, obwohl sie sich bemühten nett zu sein.

„Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, okay?“ Nach diesen Worten verließ der Mann das Zimmer.

„Ich brauche keine Hilfe“, murmelte Jade leise und wischte sich eine Träne von der Wange, die sich aus ihrem Auge gestohlen hatte. Sie fand das alles hier doof, ihr neues Zuhause, die neue Stadt und die neue Schule, die sie besuchen sollte. Sie wollte nicht hier sein und musste dennoch das Beste daraus machen, weil es kein Zurück gab.

Als der Zaun endlich aufgebaut war, verteilte sie eine Mischung aus Sägespänen und Stroh auf dem Boden, sie stellte die Schlafhäuschen auf, füllte die Heuraufe mit duftendem Heu, brachte die Trinkflasche außen am Zaun an und stellte die Kaninchentoilette auf. Aus einer Frischhaltedose nahm sie Möhren und Salat und verteilte das Futter im Gehege. Fachmännisch betrachtete sie ihr Werk und war sehr zufrieden mit sich. Die Langohren konnten ihr neues Heim beziehen. Sie öffnete die Transportbox. Hopp und Blume sahen ihr neugierig entgegen und wackelten aufgeregt mit ihren Näschen. Jade nahm zuerst das weißhaarige Kaninchen Blume aus der Box und setzte es ins Gehege. Danach kam Hopp an die Reihe. Das graue Kaninchen hielt sie ein wenig länger auf dem Arm. Hopp mochte es zu kuscheln, Blume war nicht sehr verschmust und zeigte ihre Abneigung, indem sie auf dem Arm wild herum zappelte. Einmal hatte sie Jade sogar in den Finger gezwickt, seitdem nahm sie Blume nur noch auf den Arm, wenn es unbedingt nötig war.

Nach einer Weile setzte sie Hopp zu Blume ins Gehege. Jade setzte sich auf den Boden und sah ihren Kaninchen zu. Sie jagten sich gegenseitig spielerisch durchs Gehege, sodass die Einstreu durch die Gegend flog. Das Spiel dauerte nur wenige Minuten, dann entdeckte Hopp eine Möhre und knabberte daran, während Blume das Heu für sich entdeckte. Kurz darauf kam schon wieder ein Möbelpacker ins Zimmer und brachte eine weitere Ladung Kartons.

„Na Kleine, deinen Kaninchen geht es richtig gut, was?“

Er trat näher ans Gehege, um sie sich anzusehen. Jade hätte ihn am liebsten weg gescheucht. Sie war böse auf ihn. Was fiel ihm ein sie Kleine zu nennen?

„Hübsche Kaninchen hast du“, sagte er, um sich einzuschmeicheln. Doch Jade verzieh ihm seine vorherige Äußerung nicht.

„Wie heißen die beiden?“, bohrte der Mann weiter.

Bevor Jade antworten musste, kam glücklicherweise ihre Mutter ins Zimmer und befreite sie aus der unangenehmen Situation. Sie brachte einen weiteren Karton mit und stellte ihn zu den anderen.

Der Möbelpacker verließ fluchtartig das Zimmer und Tabitha ging neben Jade in die Hocke. „Schön hast du das gemacht“, lobte sie ihre Tochter. „Hopp und Blume gefällt es in ihrem neuen Zuhause.“

Jade erwiderte nichts darauf.

„Magst du vielleicht schon mal anfangen deine Sachen auszupacken?“, schlug Tabitha vor.

Jade grummelte etwas Unverständliches, das weder als Zustimmung noch als Absage zu verstehen war.

„Ach Jade“, seufzte Tabitha. „Mach es mir doch nicht so schwer. Ich weiß, dass es schwierig ist hier neu anzufangen, aber wir schaffen das zusammen.“ Sie streichelte liebevoll über Jades Kopf und verließ das Zimmer.

Jade blieb noch eine Weile bei ihren Kaninchen sitzen, bevor sie sich lustlos daran machte ihre Sachen auszupacken.

 

Tabitha trat gedankenversunken wieder aus dem Haus und stieß dabei fast mit einer Frau zusammen.

„Hoppla!“, rief Tabitha und konnte im letzten Moment ausweichen.

„Huch“, kam von der anderen Frau.

Sie brachen beide in ein verlegenes Lachen aus.

Die Frau streckte Tabitha die Hand zur Begrüßung hin. „Hallo, ich bin die Emmy.“

„Freut mich. Ich bin Tabitha.“

Sie schüttelten sich die Hände.

Tabitha musterte die Frau unauffällig. Sie war etwas älter als sie, ihr Gesicht zierten bereits einige Falten. Sie trug eine Schürze über ihrer Kleidung und ihre Füße steckten in bequemen Schlappen, dazu trug sie dicke Wollsocken. Eine Jacke hatte sie nicht an, trotz der winterlichen Temperaturen. Ihre Wangen waren gerötet, doch Tabitha konnte nicht sagen, ob dies der Kälte geschuldet war oder Emmy zu den Menschen gehörte, die auch im Winter nicht froren.

„Sie sind wohl diejenige, die hier die Teddy Werkstatt eröffnet?“, sprach Emmy weiter.

„Ja, das hat sich wohl schon herum gesprochen.“

„Hier bleibt nichts lange verborgen“, sagte Emmy lachend. „Mir gehört die kleine Bäckerei am Marktplatz. Wir machen das beste Brot hier in der Gegend, alles frisch und nach altem Rezept.“

„Oh, gut zu wissen. Dann weiß ich, wo ich in Zukunft mein Brot kaufe“, sagte Tabitha lächelnd.

„Ziehen Sie alleine hierher?“ Emmy schien ziemlich neugierig zu sein.

„Nein, mit meiner Tochter.“

„Und der Vater?“

„Es gibt keinen Vater“, antwortete Tabitha.

„Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Es ist nicht einfach alleine. Mein Mann ist auch früh gestorben.“

„Das tut mir leid.“

„Muss es nicht. Tot gesoffen hat er sich. Na ja, Gott hab ihn selig.“

Eine Weile standen sie schweigend beieinander, dann sprach Emmy weiter. „Können Sie noch Hilfe brauchen?“ Sie zeigte auf den Umzugswagen, der einfach nicht leer werden wollte.

„Ich habe das Gefühl, wir werden nie mehr fertig“, seufzte Tabitha.

„Ich kann Ihnen meine Buben schicken“, bot Emmy an. „Die beiden können kräftig zupacken.“

„Das ist sehr freundlich, aber ich möchte wirklich keine Umstände bereiten.“

„Das macht keine Umstände. Ich schicke die beiden gleich rüber.“

Nach diesen Worten eilte Emmy davon.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die neuen Helfer eintrafen, zwei Jungs von 14 und 16 Jahren, die sich als Thomas und Julius vorstellten.

Mit den zusätzlichen Helfern leerte sich der Umzugswagen zusehends, dennoch wurde es Abend, bis auch das letzte Möbelstück und alle Kartons ins Haus geschafft worden waren. Es war dunkel geworden, die Straßenlaternen beleuchteten die Straße und es hatte leicht angefangen zu schneien.

Als die Mitarbeiter des Umzugsunternehmens gerade die Rampe des LKW nach oben klappten, tauchte Emmy auf.

Tabitha freute sich sehr sie zu sehen. „Deine Jungs waren eine sehr große Hilfe. Vielen Dank.“

„Nicht der Rede wert. Es schadet ihnen nicht, wenn sie mal nicht an der Spielekonsole hängen.“ Emmy verdrehte die Augen. Es war das ewige Übel, mit dem alle Teenagereltern kämpften und Tabitha war froh, dass es bei Jade noch nicht so war. Ein wenig hoffte sie, es bliebe für immer so, aber gleichzeitig wusste sie, dass ihr diese Zeit noch bevor stand. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken.

Emmy hob einen Korb. „Ich habe belegte Brote gemacht. Ich dachte, nach der Schufterei können Sie eine Stärkung gebrauchen.“

„Das ist lieb. Vielen Dank. Oh, mein Gott, ich stehe jetzt schon tief in Ihrer Schuld.“ Tabitha fühlte sich schlecht und war zugleich von Emmys Hilfsbereitschaft gerührt und überwältigt.

„Es ist schwer genug, neu anzufangen“, erklärte Emmy. „Da sollte man wenigstens nett willkommen geheißen werden.“

„Ich glaube, ich werde es nicht bereuen hierher gezogen zu sein.“

„Sicher nicht“, bestätigte Emmy. „Hier sind alle sehr nett.“

Die Möbelpacker kamen, um sich zu verabschieden. „Die Rechnung bekommen Sie mit der Post“, sagte der eine.

„Alles klar.“

„Essen Sie mit uns?“, mischte Emmy sich ins Gespräch ein und hob erneut den Korb mit den belegten Broten.

„Das ist sehr nett, aber wir müssen noch eine Waschmaschine ausliefern und sollten uns beeilen, bevor der Schnee zahlreicher wird. Also dann, Ladys. Schönen Abend noch.“ Sie gingen zu ihrem Auto.

„Sehr nette Kerle“, sagte Emmy. „Einen von denen würde ich schon nehmen.“

Tabitha musste sich das Lachen verkneifen.

„Ich bin mal so dreist und lade mich selbst ein“, sprach Emmy weiter und ging forsch auf den Eingang des Hauses zu.

„Nur zu!“, sagte Tabitha. „Wer das Essen mitbringt, darf sich auch selbst einladen, aber es ist alles noch sehr spartanisch.“

„Das macht gar nichts.“

Kurz darauf standen sie mitten im Laden, der im Gegensatz zum Obergeschoss schon fertig eingerichtet war und nur noch auf seine Eröffnung wartete.

„Schön ist der Laden geworden und eine echte Bereicherung für unsere kleine Stadt.“

„Dankeschön. Das hört man gerne.“

„Die Eröffnung ist kommenden Montag, oder?“, fragte Emmy.

„Ja. Ich möchte mir das Weihnachtsgeschäft nicht entgehen lassen.“

„Sie sind eine clevere Geschäftsfrau“, sagte Emmy anerkennend. „Das gefällt mir.“ Sie sah sich im Laden um, der in Dämmerlicht getaucht und nur von der Straßenlaterne vor dem Schaufenster spärlich beleuchtet wurde.

„Schön, jetzt wieder eine Schneiderin im Ort zu haben“, sagte Emmy. „Früher sind wir immer zur alten Susi gegangen. Es gab nichts, was sie nicht flicken konnte, aber der liebe Gott hat sie vor einigen Jahren zu sich gerufen.“

„Ich kann auch alles flicken“, sagte Tabitha, bereute ihre Worte aber zugleich, denn sie wollte nicht angeben.

„Gut zu wissen. Ich werde Ihre Dienste sicher häufiger in Anspruch nehmen. Beim Brot backen macht mir keiner was vor, aber Nadel und Faden sind mir ein Graus. Meine Handarbeitslehrerin damals in der Schule ist regelmäßig an mir verzweifelt“, fügte sie lachend hinzu.

„So hat eben jeder seine ganz eigenen Talente. Ich habe in meinem Leben noch kein einziges Brot gebacken.“

„Umso besser. Ich will ja schließlich meine Brote verkaufen“, sagte Emmy und lachte.

„Folgen Sie mir doch nach oben in die Küche“, forderte Tabitha Emmy auf. „Da können wir in Ruhe essen.“

„Das mache ich gerne.“

Sie stiegen gemeinsam die enge Treppe des kleinen Hauses nach oben und gingen geradewegs in die Küche.

„Wo sind denn meine Jungs abgeblieben?“, fragte Emmy.

„Sie sind bei Jade im Kinderzimmer und erfreuen sich an den Kaninchen.“

„Wie alt ist Ihre Tochter?“, fragte Emmy und begann den Korb auszupacken.

„Sie ist sechs.“

„Wie meine jüngste Nichte. Meine Schwester hat nochmal einen Nachzügler bekommen, dabei war die Kinderplanung eigentlich abgeschlossen. Meine Jungs sind ganz vernarrt in die Kleine, spielen stundenlang mit ihr und zeigen eine Geduld, die sie sonst sehr vermissen lassen.“

„Ungewöhnlich für die beiden in dem Alter“, wunderte sich Tabitha.

„Ja, das ist wahr, aber Thomas hat den Wunsch geäußert Erzieher werden zu wollen.“ Emmy zuckte mit den Schultern. „Für einen Jungen sehr ungewöhnlich, aber wenn er Spaß dran hat, warum nicht.“

„Heutzutage ist das doch alles kein Problem mehr“, entgegnete Tabitha. „Die typischen Männer- oder Frauenberufe gibt es nicht mehr.“

„Richtig. Heute kann jeder alles machen.“

Der Berg mit belegten Broten wuchs auf dem Tisch immer höher.

„Du lieber Himmel, wer soll das alles essen?“, fragte Tabitha erschrocken. „Damit können wir eine halbe Fußballmannschaft satt machen.“

„Täuschen Sie sich da mal nicht“, widersprach Emmy. „Meine beiden Jungs allein können sie schon als halbe Fußballmannschaft zählen.“

„Jetzt übertreiben Sie aber“, sagte Tabitha lachend.

„Keineswegs. Die beiden sind so gefräßig, das glauben Sie nicht.“

„Nein, das kann ich wirklich nicht glauben. Meine Jade isst oft wie ein Spatz.“

„Mädchen sind anders.“

„Ich würde Ihnen gerne einen Kaffee anbieten“, sagte Tabitha, „aber die Kaffeemaschine befindet sich irgendwo in diesem Chaos.“ Sie deutete auf die Kartons um sich herum.

„Ich bin vorbereitet“, sagte Emmy und zauberte noch eine Thermoskanne aus ihrem Korb. „Es ist allerdings kein Kaffee sondern Tee. So spät sollte man keinen Kaffee mehr trinken, sonst findet man in der Nacht keine Ruhe.“

„Sie haben wirklich an alles gedacht“, meinte Tabitha. Sie hatte Emmy jetzt schon in ihr Herz geschlossen. Es gab sie doch, rettende Engel auf Erden, die auf einmal auftauchten und einem halfen, wenn man in Not war oder das Leben gerade im Chaos versank.

„Ich habe auch Becher mitgebracht“, erklärte Emmy, „weil ich mir schon dachte, dass Sie noch nicht viel ausgepackt haben.“

„Wäre ich bloß halb so gut organisiert wie Sie“, sagte Tabitha.

„Das kommt alles mit dem Alter und der Erfahrung“, erwiderte Emmy. „Lassen wir doch dieses blöde Sie. Ich bin Emmy.“

„Sehr gerne“, sagte Tabitha.

„Gut, dann rufen wir jetzt die Rasselbande zusammen“, nahm Emmy das Zepter in die Hand.

Kurz darauf saßen alle um den Tisch herum und ließen sich Emmys Leckereien schmecken. Jade saß zwischen Julius und Thomas und sah immer wieder von einem zum anderen. Die beiden schienen ihr zu imponieren, wie zwei große Brüder, die sie beschützten.

Tabitha wurde einen Moment traurig, weil Jade keine Geschwister hatte. Sie hatte nach Jades Geburt zu lange gewartet und nun war es zu spät. An ein weiteres Kind war derzeit nicht zu denken.

Emmy hatte mit ihrer Schilderung nicht übertrieben. Thomas und Julius verdrückten ganze Berge an belegten Broten. Sie konnte nur darüber staunen.

Als nichts weiter als ein paar Krümel übrig geblieben waren, drängte Emmy zum Aufbruch.

„Vielen Dank, für eure Hilfe, Jungs.“

„Nicht der Rede wert. Wenn Sie mal wieder Hilfe brauchen, sagen Sie einfach Bescheid“, sagte Thomas.

„Das ist sehr nett. Ich komme bestimmt darauf zurück.“ Tabitha brachte ihre Helfer noch zur Tür.

„Also dann, man sieht sich“, sagte Emmy. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht und nochmal vielen Dank.“

Tabitha sah den Dreien nach, wie sie in der Dunkelheit verschwanden. Es hatte inzwischen aufgehört zu schneien, aber der Boden war von der weißen Pracht bedeckt.

Als Tabitha in die Küche zurückkehrte, saß Jade noch immer am Tisch und trank ihren Tee.

„Emmy und die Jungs sind nett“, sagte Tabitha.

„Ja, sehr nett“, antwortete Jade und unterdrückte ein Gähnen.

„Es wird Zeit, dass wir in die Federn kommen“, erklärte Tabitha. „Gehst du schon mal ins Bad und putzt deine Zähne? Ich beziehe in der Zwischenzeit dein Bett.“

Jade schien an diesem Abend sehr müde zu sein, denn sie protestierte nicht und machte sich ohne zu murren auf den Weg ins Bad.

Tabitha ging in Jades Zimmer. Die Kaninchen kuschelten zusammen in einer Ecke des Geheges und schienen sich schon wie zu Hause zu fühlen.

Tabitha suchte nach der Tasche mit der Bettwäsche, die sie extra für den ersten Abend gepackt hatte und fand sie schließlich zwischen einem Stapel Kartons. Sie machte sich daran das Bett zu beziehen und wurde gerade fertig, als Jade ins Zimmer kam.

„Sind die Zähnchen sauber?“, fragte Tabitha.

„Ja, Mama“, sagte Jade nun doch ein wenig genervt.

„Gut, dann schnell ins Bett. Ich lese dir noch etwas vor.“

Eigentlich war Tabitha zu müde zum Vorlesen, aber sie liebte das abendliche Ritual mit ihrer Tochter und ihr war schmerzlich bewusst, dass es nicht mehr lange so sein würde. Jade wurde immer älter und konnte selbst schon ein wenig lesen. Schon bald war es vorbei mit den gemütlichen Vorleseabenden.

Jade schlüpfte unter die Bettdecke, nahm ihren Teddybär in den Arm, den sie heiß und innig liebte und kuschelte sich in die Kissen. Tabitha setzte sich auf die Bettkante und schlug das Buch auf, aus dem sie schon mehrere Abende vorlas. An diesem Abend schlief Jade bereits nach wenigen Sätzen ein.

Trotz ihrer Müdigkeit blieb Tabitha noch eine Weile sitzen und betrachtete ihre schlafende Tochter. Die Liebe zu ihr ließ ihr Herz schneller schlagen. Jade war das größte Geschenk, das ihr das Leben bisher gemacht hatte.

Nach einer Weile stand sie auf. Sie löschte das Licht und ging aus dem Zimmer, schleppte sich ins Bad, putzte mit letzter Kraft ihre Zähne und sprang kurz unter die Dusche, um den Schweiß des Tages abzuspülen. Als sie ihr Schlafzimmer betrat, fehlte ihr die Kraft dazu ihr Bett auch noch zu beziehen. Sie legte sich einfach ins Bett und schlief auf der Stelle ein.

2

Tabitha erwachte früh am nächsten Morgen und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. An ihr neues Zuhause musste sie sich erst gewöhnen. Sie sah sich in dem kahlen Schlafzimmer um. Noch war es kein Ort zum Wohlfühlen, die gestapelten Umzugskartons um sie herum schienen sie zu erdrücken. Deshalb stand sie schnell auf, durchwühlte einige Kartons, bis sie passende Klamotten für den Tag gefunden hatte. Ihr graute davor alles auszupacken. Es würde sicher Wochen dauern die Wohnung in einen Wohlfühlort zu verwandeln. Seufzend machte sie sich auf den Weg in die Küche, wo es nicht viel besser aussah. Überall standen Kartons herum und es herrschte Chaos wohin sie blickte. Sie durchwühlte einige Kartons, bis sie ein Glas fand, füllte es mit Leitungswasser und trank etwas davon. Mit dem Glas in der Hand wanderte sie zu Jades Zimmer. Sie blieb im Türrahmen stehen und betrachtete lange ihre schlafende Tochter. Sie brachte es nicht übers Herz sie zu wecken, schließlich war Wochenende.

Ihr Blick wanderte kurz zu den Kaninchen. Sie fühlten sich wie zu Hause. Blume mümmelte Heu und Hopp nagte am kläglichen Rest einer Möhre. Sie sah wieder zum Bett. Ihr Herz wurde schwer, während sie da stand. Sie hoffte, dass Jade die kommenden Herausforderungen meistern würde, sich in einer neuen Schule einzugewöhnen und neue Freunde zu finden. Sie hätte ihr das gerne alles erspart, wäre am liebsten in der vertrauten Umgebung ihrer Heimat geblieben. Doch manchmal musste man gehen, um ein Kapitel abzuschließen, damit die Seele wieder atmen konnte. Tränen stiegen in ihre Augen und ihr wurde in dem Moment klar, dass man die Vergangenheit nicht hinter sich lassen konnte. Egal, wohin man ging, die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle reisten immer mit. Es war nicht möglich zu vergessen, man konnte nur lernen mit gewissen Dingen zu leben und hoffen, dass sie irgendwann leichter wurden und der Schmerz nicht mehr so sehr an einem nagte.

Jade bewegte sich, zuerst nur ganz wenig, dann immer mehr, so als wachte sie gerade auf. Tabitha wischte sich rasch die Tränen weg, denn Jade sollte ihre Traurigkeit nicht sehen. Sie musste stark sein für ihre kleine Tochter.

Sie trat auf das Bett zu und setzte sich auf den Bettrand.

„Guten Morgen, mein Schatz.“

Jade blinzelte verschlafen.

„Guten Morgen“, murmelte sie und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Hast du gut geschlafen?“

Jade nickte.

Tabitha entdeckte den Teddy, der in der Nacht auf den Boden gefallen war. Sie hob ihn auf und setzte ihn neben das Kopfkissen zurück ins Bett.

„Was hältst du davon, wenn wir frühstücken gehen?“, schlug Tabitha vor, denn außer einer trockenen Laugenstange hatte sie nichts Nahrhaftes im Haus.

„Darf ich ein Schoko Croissant essen?“, fragte Jade und Hoffnung blitzte in ihren Augen auf.

„Du darfst alles essen, was du magst.“ Die Worte zauberten ein Lächeln in Jades Gesicht. Manchmal benötigte es nur eine Kleinigkeit, um einen Menschen glücklich zu machen.

„Ziehst du dich an?“, fragte Tabitha.

Jade kletterte aus dem Bett, tapste barfuß zu den gestapelten Kartons hinüber und kramte darin herum.

Tabitha stand auf. „Wir müssen die Kaninchen noch füttern“, erinnerte sie Jade. Sie angelte die Tüte mit den Möhren vom Boden und stellte fest, dass sie über Nacht einen großen Teil ihrer Frische eingebüßt hatten und ein wenig schrumpelig waren.

Mit schlechtem Gewissen legte sie sie ins Gehege. Hopp und Blume kamen sofort auf sie zu gehoppelt und machten sich über ihr Frühstück her. Die Möhren schienen ihnen trotzdem zu schmecken, obwohl sie nicht mehr ganz frisch waren.

Jade hatte sich inzwischen umgezogen. Mit ihren sechs Jahren hatte sie ihren ganz eigenen Geschmack und ließ sich nur sehr ungern rein reden. Meistens war Tabitha zufrieden mit der Kleiderwahl ihrer Tochter, aber hin und wieder diskutierten sie ausgiebig darüber.

Jade warf den Schlafanzug auf ihr Bett und füllte danach die Heuraufe der Kaninchen. Tabitha war stolz auf sie, weil sie trotz ihrer jungen Jahre bereitwillig die Verantwortung für ihre Kaninchen übernahm. Vielleicht machte sie als Mutter nicht alles richtig in der Erziehung, aber das Thema Verantwortungsbewusstsein hatte sie erstaunlich gut im Griff.

„Sollen wir uns auf den Weg machen?“

„Ja.“ Jade strahlte sie an und Tabithas Herz hüpfte vor Freude. In den letzten Wochen war Jade oft traurig gewesen, seit sie von dem Umzug erfahren hatte und Tabitha hatte sich bittere Vorwürfe gemacht. Nun gab es die ersten kleinen Anzeichen, dass Jade sich mit der Situation arrangierte.

Dick eingemummelt mit Wintermantel, Schal, Mütze, Handschuhen und Stiefeln verließen sie das Haus. Die Straßen waren schneefrei, einzig am Rand und auf den Wiesen lag noch ein wenig von der weißen Pracht und übte eine magische Anziehungskraft auf Jade aus. Sie formte einen Schneeball und spielte damit, warf ihn in die Luft, um ihn danach wieder aufzufangen.

Auf dem Weg zu Emmys Bäckerei kamen sie an Jades neuer Schule vorbei. Tabitha hielt einen Moment inne.

„Hier wirst du ab Montag zur Schule gehen“, sagte sie.

„Ich will nicht zur Schule“, erwiderte Jade. Sie warf den Schneeball über das niedrige Eingangstor und der Schnee stob in alle Richtungen, als der Ball auf den Boden traf.

„Warum denn nicht?“, fragte Tabitha. „Du lernst viele neue Freunde kennen.“

„Sofie und Max sind meine Freunde.“ Jade verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Tabitha ging vor ihr in die Hocke. „Sofie und Max bleiben immer deine Freunde, mein Schatz, aber man kann ganz viele Freunde haben.“

„Ich will trotzdem nicht zur Schule.“

Jade blieb stur und Tabitha fühlte sich verzweifelt. Sie ärgerte sich, das Thema angesprochen zu haben. Nun war der ganze Tag verdorben, aber es führte nun mal kein Weg an der Schule vorbei.

„Kann ich Ihnen helfen?“, hörte Tabitha eine Stimme hinter sich.

Sie sah auf und blickte in grüne Augen, die einem jungen Mann gehörten.

„Ähm… nein, vielen Dank“, lehnte Tabitha ab.

„Ich dachte, Ihnen ist was passiert oder Ihrer Tochter.“

„Nein, nein, es ist alles gut. Wir sind gerade auf dem Weg zur Bäckerei“, erklärte Tabitha und richtete sich wieder zu ihrer vollen Größe auf.

Der Mann raschelte mit einer braunen Papiertüte. „Da komme ich gerade her“, sagte er lächelnd.

„Ja, wir müssen jetzt auch weiter“, meinte Tabitha. „Wir haben ziemlich großen Hunger.“ Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln und entfernte sich einige Schritte von dem Mann.

„Entschuldigen Sie“, sprach er sie erneut an und erlangte dadurch Tabithas Aufmerksamkeit. „Sind Sie neu in der Stadt. Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“

„Ja, wir sind gerade erst hierher gezogen“, antwortete Tabitha ein wenig verwirrt. Sie fragte sich, was der Fremde von ihr wollte.

„Ich bin Jonathan Siebenmorgen“, stellte er sich vor und reichte Tabitha die Hand.

„Tabitha Pichler“, nannte sie ihm ihren Namen und schüttelte kurz seine Hand. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was er von ihr wollte.

„Ich unterrichte an der Schule“, erklärte er und deutete auf das Schulgebäude hinter dem Zaun.

„Ach wirklich? Na, so ein Zufall. Jade wird ab Montag dort zur Schule gehen.“

„Das dachte ich mir schon“, sagte Jonathan lächelnd. „Fast alle Kinder aus dem Ort gehen hier zur Schule. Nun will ich Sie aber nicht länger aufhalten. Wir sehen uns bestimmt noch öfter. Auf Wiedersehen.“ Er lächelte Tabitha zu und setzte danach seinen Weg fort.

Tabitha und Jade gingen in die andere Richtung.

„Dein neuer Lehrer macht einen netten Eindruck“, eröffnete Tabitha ein Gespräch. „Was meinst du?“

„Kann sein. Ich will aber trotzdem nicht zur Schule.“ Jade blieb stur.

Tabitha seufzte. Das konnte ja was werden. Bisher war Jade gerne zur Schule gegangen und Tabitha hoffte, dass sie genauso freudig ihre neue Schule besuchte, wenn sie sich erst eingelebt hatte. Sie schob ihre Sorgen beiseite. Ihnen blieben noch fast zwei Tage, ehe sie sich diesem Problem stellen mussten. Erstmal genossen sie das Wochenende.

Kurz darauf standen sie vor Emmys Bäckerei. Bereits auf der Straße vor dem Laden nahmen sie den Duft nach frischen Brötchen und Kuchen wahr. Es war himmlisch und sobald sie den Laden betraten, lief ihnen das Wasser im Mund zusammen.

„Guten Morgen, ihr zwei“, begrüßte Emmy sie überschwänglich und strahlte die beiden an. „Womit kann ich euch was Gutes tun?“

„Guten Morgen, Emmy. Für Jade einen Kakao und ein Schoko Croissant und für mich einen Cappuccino und ein belegtes Brötchen mit Käse, bitte.“

„Sehr gerne. Setzt euch schon mal.“ Emmy deutete auf eine kleine Sitzecke neben der Theke. Sie bot nicht viel Platz, aber da sie die einzigen Gäste waren, hatten sie alles für sich allein.

„Wie war eure erste Nacht im neuen Zuhause?“, wollte Emmy wissen.

„Ich war gestern Abend so platt, dass ich nicht mehr viel mitbekommen habe, aber heute Morgen zwischen all den Kartons, inmitten des Chaos aufzuwachen, war ein komisches Gefühl.“

„Das kann ich mir vorstellen. Nur ein aufgeräumtes Zuhause lädt zum Entspannen ein.“ Emmy wuselte flink hinter der Theke herum, bediente den Kaffeeautomaten und richtete das Essen liebevoll auf den Tellern an.

„Ich hoffe, dass ich schnell Ordnung schaffen kann.“

„Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid.“

„Danke, das ist sehr lieb von dir.“

„Übrigens habe ich schon den ersten Auftrag für dich“, sprach Emmy weiter.

„Wirklich? Das freut mich sehr.“

„Mir gehen an meinen Handtaschen immer die Reißverschlüsse kaputt. Ich habe bestimmt schon fünf Taschen rum liegen, die ich nur noch eingeschränkt nutzen kann. Du kommst mit deiner Schneiderei wie gerufen.“

„Bring sie mir einfach vorbei, wenn du Zeit hast, dann schaue ich sie mir an.“

„Ich werde gleich am Montag in deinem Laden stehen.“

Tabitha lachte in sich hinein. Sie freute sich darüber, dass ihr Start in der neuen Stadt offenbar unter einem guten Stern stand.

Emmy brachte zuerst die beiden Teller zum Tisch und anschließend Kakao und Cappuccino.

„Guten Appetit, meine Lieben. Lasst es euch schmecken.“

„Danke, Emmy. Das sieht toll aus.“ Sowohl der Cappuccino als auch der Kakao waren mit einem grinsenden Smiley aus Kakaopulver verziert. Das Kunstwerk versetzte besonders Jade in Erstaunen. Während sie an ihrem Croissant knabberte, betrachtete sie unentwegt ihren Kakao.

Emmy versorgte weitere Kundschaft mit ihren Leckerbissen und hielt dabei das eine oder andere Schwätzchen. Sie schien im Ort sehr beliebt zu sein.

Tabitha biss genüsslich in ihr Käsebrötchen. Genauso mochte sie es. Vielleicht schmeckte es ihr aber auch nur so gut, weil sie normalerweise nicht auswärts frühstückte und es etwas Besonderes für sie war verwöhnt zu werden. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr jemand das letzte Mal Frühstück gemacht hatte.

Nach einer Weile kehrte wieder ein wenig Ruhe ein im Laden und Emmy konnte sich ihren beiden Gästen widmen.

„Schmeckt es euch beiden?“

„Sehr gut“, lobte Tabitha.

„Möchtet ihr noch etwas?“

„Für mich nicht, danke.“ Tabitha richtete das Wort an Jade. „Magst du noch was essen, mein Schatz.“

„Nein.“ Sie hatte ihr Croissant inzwischen aufgegessen und nahm sich nun den Keks auf dem Unterteller vor. Tabitha tat es ihr gleich und gönnte sich zum Nachtisch ebenfalls einen Keks. Das Gebäck zerging auf der Zunge und schmeckte ganz leicht nach Zimt.

„Hast du die Kekse auch selbst gebacken?“, wollte Tabitha von Emmy wissen.

„Nein, ich bekomme sie von Nelly, aus der Keksbäckerei hier im Ort. Warst du schon mal dort?“

„Nein, ich bin zwar schon mal daran vorbei gelaufen, aber da war der Laden geschlossen.“

„Du musst unbedingt mal hin gehen. Nellys Kekse sind meisterhaft. Sie stecken voller Liebe und sind wahrscheinlich deshalb so gut.“

„Ich werde deine Empfehlung beherzigen. Ich bin sowieso noch auf der Suche nach kleinen Geschenken für meine ersten Kunden. Kekse sind da doch eine gute Idee.“

„Ja, keine schlechte Idee“, pflichtete Emmy ihr bei. „Nelly kann dir bestimmt weiter helfen.“ Emmy griff in eine Holzkiste auf der Theke und reichte Tabitha eine kleine Tüte mit Keksen. „Die sind auch von Nelly. In der Vorweihnachtszeit verkaufe ich immer einige ihrer Kekse in meiner Bäckerei. Im Gegenzug macht Nelly ein wenig Werbung für mich in ihrem Laden. Wir helfen uns hier gegenseitig.“

„Wie schön. Zusammenhalt ist echt wichtig. Gerade heutzutage, wo man durch den Onlinehandel immer mehr zu kämpfen hat.“

„Wem sagst du das?“, seufzte Emmy. „Ich warte nur noch auf den Tag, an dem Amazon und Co auch noch warme, frisch gebackene Brötchen verkaufen.“

„Selbst wenn, würde ich das Angebot nicht nutzen“, sagte Tabitha. „Hier bei dir fühle ich mich wohl. Das persönliche Gespräch wird ein Onlinehändler niemals ersetzen können.“

„Leider denken nicht alle so wie du“, sagte Emmy bedauernd, „aber wir wollen uns davon nicht unterkriegen lassen.“

„Stimmt. Wir sind stark.“

Ein neuer Schwung Kunden unterbrach das Gespräch der beiden.

„Magst du noch einen Kakao?“, wandte sich Tabitha an Jade.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, mein Bauch ist schon ganz voll.“

Tabitha schmunzelte. „Dann müssen wir gleich ein wenig spazieren gehen, damit du später die Kekse aus der Keksbäckerei probieren kannst.“

Beim Wort Kekse leuchteten Jades Augen auf. Wie alle Kinder konnte sie dem süßen Gebäck nicht widerstehen.

Als die anderen Kunden den Laden wieder verlassen hatten, brachen sie auf.

„Wir machen uns mal auf den Weg“, sagte Tabitha. „Was bin ich dir schuldig?“

Emmy tippte einige Zahlen in die Kasse und nannte Tabitha den Preis.

„Grüßt Nelly von mir“, sagte Emmy, während sie das Wechselgeld zusammen suchte.

„Das machen wir. Ich werde ihr sagen, dass ich auf deine Empfehlung gekommen bin.“

Emmy lächelte. „ Da wird sie sich freuen.“

Sie verabschiedeten sich liebevoll voneinander, bevor Tabitha und Jade die Bäckerei verließen. Draußen auf der Straße empfing sie ein kalter Wind. Schnee lag in der Luft, aber er konnte sich anscheinend nicht dazu entschließen auf die Erde herab zu rieseln.

3

Sie mussten nicht weit laufen, bis sie ihr Ziel erreichten. Das Schaufenster der Keksbäckerei wirkte bereits sehr einladend. Auf Tabletts liebevoll angerichtet, reihten sich unterschiedliche Kekssorten aneinander und ließen einem das Wasser im Mund zusammen laufen. Jade konnte sich kaum vom Schaufenster los reißen. Staunend betrachtete sie die riesige Auswahl an Leckereien. Es war das reinste Schlaraffenland, nicht nur für Kinder.

„Sollen wir mal rein gehen?“, fragte Tabitha.

„Jaaa“, sagte Jade und strahlte sie an.

Als sie den Laden betraten, wurden sie von köstlichen Düften empfangen. Emmys Bäckerei war beinahe nichts dagegen. Der zuckersüße Duft war überwältigend. Tabitha schloss für einige Sekunden genüsslich die Augen und sog die Aromen tief ein. Erinnerungen an ihre Kindheit wurden in ihr geweckt, an gemütliche Nachmittage mit ihrer Mutter, wenn sie blechweise Plätzchen gebacken hatten. Für sie war diese Zeit immer besonders gewesen und sie hatte die Leidenschaft fürs Backen an Jade weiter gegeben. Obwohl sie nicht so viel Zeit hatte wie einst ihre Mutter, waren in der Vorweihnachtszeit mehrere Tage für Jade reserviert, an denen sie süße Leckereien zauberten, Plätzchen, Christstollen und Lebkuchen. Meistens so viel, dass sie es allein nicht essen konnten und sie die Nachbarschaft damit beschenkten. In diesem Jahr war jedoch alles anders. Ihre heile Welt hatte sich in ein einziges Chaos verwandelt und zwischen Umzugskartons und viel Improvisation würde sich die heimelige Atmosphäre, die sonst beim Backen herrschte, womöglich nicht einstellen. Es waren nur noch wenige Wochen bis Weihnachten, sie musste ihren Laden eröffnen und das Chaos in der Wohnung beseitigen. Wie sollte sie da noch Zeit zum Backen finden?

Eine Stimme holte sie aus ihren Gedanken.

„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“

Eine Frau, die ungefähr in ihrem Alter war, lächelte ihr freundlich zu, ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem Zopf geflochten und an ihren Ohren baumelten sternförmige Ohrringe, die zu den Zimtsternen im Schaufenster passten.

„Bestimmt können Sie mir weiter helfen“, entgegnete Tabitha.

„Wenn es um Plätzchen geht, dann bestimmt“, sagte Nelly und schenkte Tabitha ein Lächeln.

„Ich eröffne am Montag die Teddy Werkstatt, eine Schneiderei hier um die Ecke und ich habe mir überlegt meinen ersten Kunden eine kleine Freude zu machen, vielleicht in Form einer kleinen Leckerei. Da kommen Ihre Plätzchen ins Spiel.“

„Ich verstehe. An was dachten Sie da denn genau?“

„An kleine Tütchen, entweder mit einem großen Keks gefüllt oder mit mehreren kleinen, so ähnlich wie die Tüten bei Emmy. Emmy hat mir übrigens empfohlen mal bei Ihnen vorbei zu schauen.“

„Das freut mich sehr und was Ihren Wunsch betrifft, ich denke, das bekommen wir hin. Wie viele Tüten sollen es denn werden?“

„Vielleicht fangen wir erstmal mit 25 an. Ich weiß nicht, wie viele Kunden kommen, notfalls kann ich sicher nochmal nachbestellen.“

„Klar, das ist gar kein Thema. Ich nehme jederzeit Bestellungen entgegen.“ Nach einer kurzen Pause fuhr Nelly fort. „Möchten Sie vielleicht einige Plätzchen probieren oder haben Sie sich schon für eine Sorte entschieden?“

„Was würden Sie mir denn empfehlen?“

„Alle Sorten natürlich“, erwiderte Nelly und zwinkerte Tabitha zu.

„Ich hätte es mir denken können“, sagte Tabitha lachend.

„Wenn Sie wollen, können Sie gerne Kekse probieren. Warten Sie einen Moment, ich stelle Ihnen eine kleine Auswahl zusammen.“ Nelly griff nach einem kleinen Silbertablett auf der Theke und bestückte es mit allerlei Keksen, die sie mit kleinen Zangen aus den Ausstellungsboxen nahm. Als sie mit ihrer Auswahl zufrieden war, reichte sie Tabitha das Tablett.

„Darf Ihre Tochter auch probieren?“, wollte Nelly wissen.

„Natürlich. Es wäre echt unfair, wenn nur ich Kekse esse.“

„Stimmt, aber manche Eltern möchten nicht, dass ihre Kinder so viel Zucker essen.“

„Zu denen gehöre ich nicht. Ich kann meiner Tochter nicht verbieten etwas zu essen, was ich selber auch esse.“

„Eine sehr gute Einstellung“, meinte Nelly.

Tabitha nahm sich einen Zimtstern vom Tablett. Jade entschied sich für einen Cookie.

„Die sind wirklich köstlich“, sagte Tabitha, nachdem sie den ersten Bissen genossen hatte.

Nelly strahlte. „Das freut mich sehr. Somit hätten wir die erste Sorte für Ihre Geschenktütchen gefunden.“

„Unbedingt. Zimtsterne passen auch perfekt zur Vorweihnachtszeit und Cookies sind super für Kinder. Alle Kinder lieben sie.“

„Sie sind also die Frau mit der Teddy Werkstatt“, griff Nelly das Thema nochmal auf. „Wir haben hier im Ort schon alle gerätselt, was es damit auf sich hat.“ Nelly wirkte neugierig und Tabitha war nur zu gerne bereit ihr mehr darüber zu erzählen.

„Ich repariere kaputte Teddybären“, erklärte Tabitha. „Natürlich auch alle anderen Stofftiere, aber mit Teddys hat alles angefangen. Ich bekomme sie teilweise von weit her zugeschickt. Außerdem mache ich natürlich auch alles andere, was man als Schneiderin so macht.“

„Sehr interessant. Ich habe auch noch einen uralten Teddybär zu Hause. Er gehörte meiner Mutter. Kaputt ist er nicht, aber die vielen Jahre in Kinderhänden haben ihn gekennzeichnet.“

„Ich liebe Teddybären“, sagte Tabitha. „Jeder einzelne erzählt eine individuelle Geschichte.“

Nelly lächelte. „Ich verstehe, was Sie meinen. Mir geht es ganz ähnlich mit meinen Keksen. Ich liebe das Backen, probiere gerne neues aus, aber am liebsten sind mir die traditionellen Rezepte, Kekse, die jeder kennt und liebt.“

„Ich backe auch immer Plätzchen in der Vorweihnachtszeit, Jade hilft mir sehr gerne dabei. In diesem Jahr weiß ich jedoch nicht, ob ich dazu komme. So ein Umzug ist ganz schön stressig und dann noch die Ladeneröffnung.“

„Dafür bin ich ja da“, sagte Nelly. „Sie können sich bei mir mit Keksen eindecken.“

„Ich fürchte, darauf werde ich nur zu gerne zurückkommen. Ich höre meine Waage schon voller Entsetzen laut rufen.“

Nelly lachte. „Das kommt mir bekannt vor. Deshalb steht meine Waage die meiste Zeit verwaist in der Ecke, weil ich mich nicht rauf traue.“

Tabitha betrachtete Nelly. Sie war zwar nicht gertenschlank, aber auch nicht mollig. Ihr gefiel, was sie sah. Sie mochte es nicht, wenn Frauen so knochig waren, dass man Angst haben musste sie zu berühren.

Tabitha probierte noch weitere Plätzchensorten und war von allen begeistert. Am Ende entschied sie sich für vier Sorten, die sie an ihre zukünftigen Kunden verschenken wollte.

„Ich mache Ihnen die Bestellung bis Montag fertig“, sagte Nelly. „Möchten Sie sie abholen oder soll ich sie vorbei bringen?“

„Ich muss Jade am Montag zur Schule bringen. Auf dem Rückweg komme ich bei Ihnen vorbei.“

„Sehr schön.“ Nelly schenkte ihr erneut ein Lächeln.

„Ich nehme aber noch Kekse fürs Wochenende mit. Sie sind so köstlich, dass ich nicht anders kann.“

„Das freut mich sehr. Schauen Sie sich in Ruhe um.“ Nelly deutete einladend auf die Schaukästen voller Kekse ringsherum und die Regale an der Wand, die gefüllt waren mit Tüten voller Plätzchen. Sie wandte sich danach an Jade. „Haben dir die Kekse auch geschmeckt?“

„Ja, sehr gut.“

„Möchtest du noch einen?“

Jade nickte schüchtern.

„Dann komm mal mit. Ich habe da hinten noch andere Kekse.“

Jade folgte Nelly bereitwillig, während Tabitha sich im Laden umsah und mehrere Tüten aus den Regalen nahm. Sie wusste, dass sie mal wieder zu viel kaufte, aber sie konnte nicht widerstehen. Außerdem wartete zu Hause jede Menge Arbeit auf sie und Jade. Da war die eine oder andere Belohnung zwischendurch genau das Richtige.

Als sie mit ihrer Auswahl zur Theke ging, entdeckte sie dort eine uralte Kasse, wie es sie früher in den Läden gegeben hatte. Nelly liebte offenbar das altmodische, traditionelle, was sie in ihren Augen gleich noch sympathischer machte.

Jade stand bei Nelly an der Theke und war immer noch mit der Verkostung der Kekse beschäftigt.

„Jetzt ist es aber genug“, sagte Tabitha, klang dabei jedoch kein bisschen streng. „Sonst bekommst du später Bauchschmerzen.“

„Von meinen Keksen bekommt man keine Bauchschmerzen. Es sind Zauberkekse.“ Sie zwinkerte Jade verschwörerisch zu und tippte danach Tabithas Einkauf in die Kasse ein.

„Die Kasse ist toll“, sagte Tabitha. „So ein Altertümchen sieht man heute nur noch selten.“

„Das stimmt. Sie ist noch von meiner Oma. Sie hatte einen kleinen Lebensmittelladen. Als sie den Laden aufgegeben hat, durfte ich die Kasse zum Spielen haben. Irgendwann ist sie auf den Speicher gewandert und dort habe ich sie durch Zufall wieder gefunden, kurz bevor ich meinen Keksladen eröffnet habe.“

„Eine schöne Geschichte“, sagte Tabitha.

„Ja, das Leben schreibt die schönsten Geschichten. Das macht dann 21,60 Euro“, sagte Nelly.

Tabitha nahm den passenden Betrag aus ihrem Portemonnaie und reichte ihn Nelly.

„Vielen Dank.“

„Jetzt kann das Wochenende kommen“, meinte Tabitha. „Jade und ich werden uns ausschließlich von Keksen ernähren“, scherzte sie.

„Guter Plan. Wenn ihr Nachschub braucht, wisst ihr ja wo ihr ihn bekommt.“

„Ich fürchte, ich werde hier Stammgast“, sagte Tabitha seufzend.

„Das hört man gerne.“

„So, dann wollen wir mal. Wir haben zu Hause noch unheimlich viel zu tun.“

Tabitha und Jade verließen den Laden. Nelly sah ihnen hinterher. Besonders Tabitha fesselte ihren Blick. Sie hatte das gewisse Etwas, sah gut aus und hatte noch dazu Humor.

„Die gefällt dir, was?“, hörte Nelly auf einmal eine Stimme neben sich.

Marlene, ihre Mitarbeiterin, grinste sie frech an.

„Sie sieht schon gut aus, aber sie ist totes Kapital. Sie hat ein Kind und zu einem Kind gehört immer ein Vater dazu.“

„Nicht zwangsläufig.“

„Aber meistens schon.“

„Sie ist allein hierher gezogen“, erzählte Marlene. „Das hat man im Dorf erzählt.“

„Kann sein. Trotzdem muss es einen Vater zum Kind geben, auch wenn sie getrennt sind, heißt das, dass sie auf Männer steht.“

„Das muss nicht so sein“, widersprach Marlene. „Heutzutage ist das doch ganz einfach. Kinder gibt es quasi auf Bestellung, sogar ganz ohne Mann.“

„Ja, aber du kennst mich. Ich bin ein realistischer Mensch und kein Träumer. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Frauen steht, ist verschwindend gering.“

„Vielleicht ist sie dein persönliches Weihnachtswunder und wurde extra für dich hierher geschickt.“

„Ich glaube, du schaust dir zu viele Liebesschnulzen im Fernsehen an“, sagte Nelly.

„Das echte Leben schreibt die schönsten Geschichten“, erwiderte Marlene.

„Ja, ja… Ich muss jetzt weiter machen. Die Plätzchen backen sich nicht von alleine.“ Nelly verschwand im hinteren Teil des Ladens in der Backstube, während Marlene weiter den Verkauf übernahm. Sie lächelte wissend. Nelly konnte ihr nichts vormachen. Die hübsche Kundin hatte ihr gefallen. Marlene kannte Nelly lange genug, um das beurteilen zu können.

 

Während das Geschäft in der Keksbäckerei weiter lief, kamen Tabitha und Jade zu Hause an. Sie betraten das kleine Haus, das nun ihr Zuhause war, sich aber noch nicht nach Zuhause anfühlte.

„Darf ich noch einen Keks essen?“, fragte Jade, als sie ihre Wintermäntel ausgezogen und die Stiefel neben der Tür ihren Platz gefunden hatten.

„Du kannst wohl gar nicht mehr genug kriegen von den Plätzchen.“

„Die Frau ist nett“, entgegnete Jade.

„Welche Frau?“

Jade rollte mit den Augen, weil ihre Mutter so begriffsstutzig war. „Die Frau mit den Plätzchen.“

„Ja, ich finde sie auch sehr nett“, pflichtete Tabitha ihr bei und reichte Jade eine Tüte mit Plätzchen. „Aber nicht alle auf einmal essen“, ermahnte sie sie.

Sie wusste, dass sie im Umgang mit Jade oft zu nachlässig war, aber sie wollte daran nichts ändern. Jade hatte nur eine einzige Kindheit und die sollte sie mit glücklichen Momenten in Verbindung bringen. In einer schönen Kindheit lag die Glückseligkeit der Zukunft

„Können wir was spielen?“, fragte Jade und sah Tabitha mit großen, bettelnden Augen an. Wer konnte da schon widerstehen?

„Was hältst du davon, wenn wir zuerst noch ein paar Kisten auspacken? Später müssen wir noch etwas einkaufen, damit wir morgen etwas zum Frühstücken haben und dann können wir ein Spiel spielen.“

„Na gut“, willigte Jade ein. Begeistert hörte sie sich nicht an, aber sie widersprach auch nicht.

 

Am späten Nachmittag hatten Tabitha und Jade eine Menge geschafft. Sie hatten die Küche so weit eingeräumt, dass ein gemütliches Essen wieder möglich war. Eingekauft hatten sie auch und der Kühlschrank war gut gefüllt. Jade packte gerade ein Brettspiel aus, verteilte Karten und Figuren. Sie wirkte voller Vorfreude, denn Spiele spielte sie für ihr Leben gern.

Tabitha hatte die Plätzchen in eine Schüssel gefüllt und Kakao und Kaffee zubereitet. Für noch mehr Gemütlichkeit sorgte eine flackernde Kerze auf dem Tisch.

„Ich fange an“, verkündete Jade. Sie würfelte und rückte mit ihrer Figur auf dem Spielbrett vor.

Dann war Tabitha dran. Sie landete auf einem Feld mit der Aufschrift 1x aussetzen. Jade kicherte, würfelte zweimal hintereinander und erlangte einen riesigen Vorsprung.

Tabitha lächelte und dachte darüber nach, wie schnell sich Dinge ändern konnten. Früher war sie beim Spielen ehrgeizig gewesen und hatte sich sehr geärgert, wenn sie verlor. Seit Jade in ihrem Leben war, machte es ihr nichts mehr aus zu verlieren. Vermutlich änderte sich alles, wenn man bedingungslos liebte.

Die erste Spielrunde verging rasend schnell und Jade gewann haushoch. Sie jubelte und feierte ihren Sieg mit Plätzchen und Kakao. Eine zweite Runde lehnte sie ab und packte stattdessen eines ihrer zahlreichen Memory Spiele aus. Tabitha war sofort klar, dass ihre Niederlage vorprogrammiert war, denn beim Memory war Jade unschlagbar. Tabitha sollte Recht behalten. Ein Bildpärchen nach dem anderen wanderte auf Jades Stapel.

„Ich hab gewonnen. Ich hab gewonnen“, sang sie, sobald das letzte Pärchen in ihren Besitz gewandert war.

Danach spielten sie Mensch-ärgere-dich-nicht und Tabitha bewies Glück beim Würfeln. Jade ärgerte sich jedes Mal, wenn Tabitha eine ihrer Figuren aus dem Spiel kegelte und sie die Runde von vorne beginnen musste. Am Ende gelang es Tabitha als erste alle ihre Figuren ins Ziel zu bringen.

„Nochmal“, forderte Jade und stellte die Figuren zurück an die Startposition.

„Na gut, aber das ist die letzte Runde“, sagte Tabitha.

In der zweiten Runde lag das Glück wieder bei Jade. Sie schickte ihre Figuren über das Spielfeld und rannte alles über den Haufen, was sich ihr in den Weg stellte. Am Ende hatte Tabitha keine einzige Figur ins Ziel gebracht, während Jade über ihren Sieg jubelte.

„So, mein Schatz. Du bringst jetzt die Spiele zurück in dein Zimmer und ich mache das Abendessen.“ Ihr Blick fiel auf die Schüssel mit Plätzchen. Sie hatten sie an diesem Nachmittag ordentlich geleert, viel Hunger konnte Jade nicht mehr haben. Doch für Tabitha gehörte ein gemeinsames Abendessen zum Tagesritual. Es war ihr wichtig den Ablauf beizubehalten.

Während Jade die Spiele weg brachte, deckte Tabitha liebevoll den Tisch. Es gab nur ein belegtes Brot, denn nach der Keksschlemmerei lohnte es sich nicht aufwendig zu kochen. Sie machte für Jade einen weiteren Kakao und für sich selbst Tee. Wenn sie so spät noch Kaffee trank, lag sie die halbe Nacht wach.

Als Jade zurückkam, war alles fertig. Sie setzten sich an den Tisch und nahmen sich beide eine Scheibe Brot.

„Heute haben wir ganz schön viel geschafft“, meinte Tabitha. „Danke, für deine Hilfe.“ Sie warf Jade einen liebevollen Blick zu.

„Hopp und Blume schlafen schon“, erzählte Jade.

„Hast du sie gefüttert?“

Jade nickte. „Sie haben Möhren bekommen und Salat und das Wasser habe ich auch neu gemacht.“

„Sehr gut.“ Tabitha war es wichtig, dass Jade die Kaninchen allein versorgte. Sie hatte sie sich gewünscht und sollte nun auch die Verantwortung übernehmen. Ein wachsames Auge hielt sie jedoch stets darauf. Bis jetzt machte Jade ihre Sache aber sehr gut.

Jade aß an diesem Abend nur ein einziges Brot und das auch nur mit Mühe und Not. Die Plätzchen in ihrem Bauch entfalteten ihre sättigende Wirkung.

Als Tabithas Blick auf die Uhr fiel, erschrak sie ein wenig. Es war bereits nach 21 Uhr. Sie hatten beim Spielen völlig die Zeit vergessen.

„Es wird Zeit fürs Bett“, verkündete sie. „Putzt du dir schon mal die Zähne?“

Jade nickte. „Liest du mir noch etwas vor?“, fragte sie.

„Ja. Ich komme gleich, okay?“

Jade verließ mit einem Lächeln auf den Lippen die Küche. Tabitha atmete erleichtert auf. Das Thema Zähneputzen sorgte gerne mal für Diskussionen, weil Jade es nicht gerne machte. Sie räumte das Essen in den Kühlschrank und das benutzte Geschirr in die Spüle, bevor sie hinüber zu Jade ging. Sie lag bereits im Bett, hielt ihren Teddybär im Arm und hatte ein Buch ausgesucht, das auf der Bettdecke lag.

Tabitha setzte sich auf die Bettkante und schlug das Buch auf. Gemeinsam tauchten sie ein in die wundersame Welt von Einhörnern und Prinzessinnen. Nach wenigen Seiten schlief Jade tief und fest. Tabitha betrachtete sie noch eine Weile und ging danach zurück in die Küche, um den Rest aufzuräumen.

 

4

Am späten Sonntagnachmittag hatte es angefangen zu schneien und seitdem nicht mehr aufgehört, sodass Tabitha und Jade am Montagmorgen durch den hohen Schnee zur Schule stapften.

Jade hatte miese Laune, sie wollte nicht zur Schule. Besonders heute nicht. Der hohe Schnee lud zum Toben, Rodeln und Schneemann bauen ein und sie hatte keine Lust stundenlang in der Schule zu sitzen, neue Lehrer und Mitschüler kennenzulernen. Tabitha hätte es ihr gerne erspart, aber an der Schule führte kein Weg vorbei.

Auf dem Schulhof der Grundschule war bereits einiges los. Kinder tobten im Schnee, bewarfen sich mit Schneebällen oder rieben sich gegenseitig Schnee ins Gesicht. Tabitha fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Am liebsten hätte sie sich unter die Kinder gemischt und mitgemacht. Tief im Herzen blieb man wohl sein ganzes Leben lang ein Kind.

Im Schulgebäude war hingegen fast nichts los. Die Gänge empfingen sie leer und ausgestorben. Tabitha schlug den Weg zum Sekretariat ein. Sie kannte den Weg, denn sie hatte Jade vor einigen Wochen an der Schule angemeldet. Jade trottete missmutig hinter ihr her.

Tabitha klopfte an die Tür.

„Ja, bitte!“, erklang eine Stimme aus dem Inneren.

„Guten Morgen“, grüßte Tabitha freundlich, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.

„Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Sekretärin.

„Meine Tochter Jade hat heute ihren ersten Schultag und ich wollte fragen, wohin wir müssen.“

„Einen Moment, ich schaue nach. Jade sagten Sie?“

„Genau. Jade Pichler.“

„Ah ja, hier haben wir sie auch schon. Sie kommt in die Klasse von Frau Freudberg, in die 1b. Ich begleite Sie zum Lehrerzimmer und mache Sie miteinander bekannt.“

„Das ist sehr nett. Vielen Dank.“

Die Sekretärin ging um den Schreibtisch herum und reichte Tabitha die Hand. „Mein Name ist übrigens Bauer, Sonja Bauer.“

„Tabitha Pichler.“

„Und du bist Jade“, wandte sie sich an Jade.

Jade nickte.

„Herzlich Willkommen an unserer Schule.“

Jade sagte nichts, was ihr einen strengen Blick ihrer Mutter einbrachte.

„Jade, was sagt man?“, erinnerte sie ihre Tochter.

„Danke“, sagte Jade leise.

„Ich bringe Sie dann jetzt zum Lehrerzimmer. Die erste Stunde beginnt gleich. Folgen Sie mir bitte.“

„Sehr gerne.“

Die Sekretärin führte sie die Gänge entlang, hielt schließlich vor einer dunkelbraunen, geschlossenen Tür und klopfte energisch an. Fast in derselben Sekunde öffnete sich die Tür und ein älterer Mann streckte seinen Kopf heraus.

„Was gibt’s?“, fragte er.

„Jürgen, kannst du mir bitte Isabell raus schicken?“

„Mach ich.“ Er verschwand in den Untiefen des Lehrerzimmers und ein paar Minuten später erschien eine junge Lehrerin an der Tür.

Frau Bauer übernahm die Vorstellung. „Isabell, das ist Jade. Sie geht ab heute in deine Klasse und das ist Jades Mutter Frau Pichler.“

„Angenehm, mein Name ist Freudberg“, stellte sich die Lehrerin vor und reichte Tabitha die Hand. Danach begrüßte sie Jade. „Hallo Jade. Schön, dass du hier bist. Magst du mit mir zusammen zu deiner Klasse gehen?“

„Ja“, antwortete Jade knapp.

„Sehr gut. Ich hole schnell meine Sachen.“ Sie verschwand wieder im Lehrerzimmer und kehrte ein paar Minuten später zurück.

„So, Jade. Kommst du mit mir?“, fragte Frau Freudberg erneut.

Jade nickte.

„Ich gehe dann“, wandte sich Tabitha an Jade. „Ich hole dich heute Mittag ab.“

„Ich bin kein Baby mehr“, erwiderte Jade.

„Na gut, wenn du lieber allein gehen willst…“, ruderte Tabitha zurück.

„Sie werden so schnell groß“, kommentierte Frau Freudberg das Gespräch.

„Das stimmt.“

Tabitha verabschiedete sich und fühlte ein wenig Wehmut im Herzen. Bisher hatte sie Jade immer morgens zur Schule gebracht und mittags wieder abgeholt, aber vielleicht wurde es Zeit für den nächsten Schritt. Sie musste Jade immer ein Stückchen mehr los lassen, auch wenn sie sich heimlich wünschte, dass sie nicht so schnell groß wurde.

 

Jade folgte ihrer Lehrerin und besah sich währenddessen ihre neue Schule. Sie wollte nicht hier sein. In dem Moment, als sie den Klassenraum erreichten, schrillte die Schulglocke und die leeren Gänge füllten sich mit Leben. Es begann ein Gedrängel und Geschubse und es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Jade war beinahe froh, schon im Klassenzimmer zu sein und nicht über den Haufen gerannt zu werden. Mit viel Getöse stürmte eine Horde Schüler in den Raum. Jade stand vorne an der Tafel neben ihrer Lehrerin, die schnellstmöglich versuchte für Ruhe zu sorgen.

„Guten Morgen“, begrüßte sie die Kinder, als endlich Ruhe eingekehrt war.

Die Kinder antworteten im Chor.

„Ich möchte euch Jade vorstellen. Sie geht ab heute in unsere Klasse“, sagte Frau Freudberg.