Krimi-Klassiker - Band 17: Strandgrab - Irene Rodrian - E-Book
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Krimi-Klassiker - Band 17: Strandgrab E-Book

Irene Rodrian

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Beschreibung

Keiner widersteht der Schlange im Paradies – entdecken Sie Irene Rodrians Krimi-Klassiker „Strandgrab“ jetzt als eBook bei dotbooks. Wohnsiedlung im heißen Spanien statt Altersheim im grauen Deutschland – diese Vorstellung ist für Nora und Georg nur allzu verlockend. Ein zweites Leben anfangen, direkt im Paradies! Als die beiden in die zukünftige Heimat reisen, wirkt alles sogar noch viel besser als erwartet: Eine Party folgt auf die andere, das Leben hier ist nicht zu vergleichen mit dem Rentnertanzkaffee in Deutschland. Doch schon bald erleben Nora und Georg ein schlimmes Erwachen: der schöne Traum wird zum schrecklichen Albtraum … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Strandgrab“ von Irene Rodrian. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag

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Über dieses Buch:

Wohnsiedlung im heißen Spanien statt Altersheim im grauen Deutschland – diese Vorstellung ist für Nora und Georg nur allzu verlockend. Ein zweites Leben anfangen, direkt im Paradies! Als die beiden in die zukünftige Heimat reisen, wirkt alles sogar noch viel besser als erwartet: Eine Party folgt auf die andere, das Leben hier ist nicht zu vergleichen mit dem Rentnertanzkaffee in Deutschland. Doch schon bald erleben Nora und Georg ein schlimmes Erwachen: der schöne Traum wird zum schrecklichen Albtraum …

Über die Autorin:

Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, erhielt für ihren Roman Tod in St. Pauli 1967 den begehrten Edgar-Wallace-Preis. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von mehreren Millionen und als Drehbuchautorin (Tatort, Ein Fall für Zwei) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München.

 

Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 (Meines Bruders Mörderin, Im Bann des Tigers, Eisiges Schweigen, Ein letztes Lächeln) sowie die Reihe Krimi-Klassiker, die folgende Bände umfasst:

 

Tod in St. Pauli

Bis morgen, Mörder

Wer barfuß über Scherben geht

Finderlohn

Küsschen für den Totengräber

Die netten Mörder von Schwabing

Ein bisschen Föhn und du bist tot

Du lebst auf Zeit am Zuckerhut

Der Tod hat hitzefrei

… trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet

Das Mädchen mit dem Engelsgesicht

Vielliebchen

Handgreiflich

Schlagschatten

Über die Klippen

Bei geschlossenen Vorhängen

Die Autorin im Internet: www.irenerodrian.de, www.facebook.com/irene.rodrian und www.llimona5.com

***

Neuausgabe Oktober 2014

Copyright © der Originalausgabe 1992 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

Titelbildabbildung: © Pavel Shevchenko - Fotolia.com

ISBN 978-3-95520-794-6

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Strandgrab an: [email protected]

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Irene Rodrian

Strandgrab

Kriminalroman

dotbooks.

A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins

William Shakespeare

Die Hauptpersonen

Rosa & Pato: machen ihre letzte Reise

Anja & Fred: wollen das große Geld machen

Nora & Georg: machen sich nichts aus einem ruhigen Ruhestand

Ulla, Martin, Trudi, Susa, Haki, Monster & Co: machen sich einen schönen Lenz

Hanne & Gerd Katja & Paul Gisela & Lutz Gundula & andere: machen sich einen schönen Herbst

Ingeburg: macht sich unbeliebt

Iris & Bartolo: machen die Arbeit

Pedro: hat von Thüringen rübergemacht

Mario: hat angeblich alle Macht der Welt

José Maria Bach: macht sich so seine Gedanken

Dieses Buch ist ein Roman.

Phantasie, Erfindung, Märchen. Keine der Personen lebt oder stirbt wirklich, auch wenn Sie einige deutlich zu erkennen glauben. München leuchtet, keine Frage; diese Insel aber gibt es nicht. Nicht einmal dann, wenn Sie bereit sind, zu schwören, daß Sie höchstpersönlich schon einmal auf einem der Stühle in diesem Café am Hafen gesessen haben. Es wäre ein Meineid.

Diese Insel ist Fiktion.

Es könnte irgendein Platz irgendwo im oder am Mittelmeer sein. Italien, Griechenland, Portugal, Türkei, wo auch immer. Zugegeben, in dieser Geschichte erfreuen sich die Darsteller an allerlei spanischen Weinen, Tapas, Meeresfrüchten und sonstigen Anspielungen. Das hat nichts zu sagen. Die Autorin wußte es nicht besser. Das versichert sie glaubhaft.

1

Sie haßte Segeln.

Sie hatte es immer gehaßt. All die vielen Jahre. Jahrzehnte. Jahrhunderte. Er mußte ihr kein Zeichen mehr geben. Sie hörte das leise Knattern der Leinwand im auffrischenden Wind und duckte sich, bevor der Großbaum über ihren Kopf hinwegkrachte. Jetzt stemmte er sich gegen das Ruder. Sagte etwas, das sie nicht verstand. Sie zog den Reißverschluß ihrer grellpinken Wetterjacke hoch und legte sich weiter zurück. Das verdammte Boot müßte sich längst aufrichten. Wieso halste er nicht endlich! In weniger als einer Stunde würde es dunkel sein.

Die malerisch schroffe Felsenküste wich noch weiter zurück. Silbern schattierte Blautöne über einem fast türkishellen Meer. Der Horizont ein zitronengelber Faden und darüber die Farbglut der untergehenden Sonne. Wäßriges Orange über beißendes Zinnober direkt hinein in ein erst fahles, dann giftrotes Violett. Wie schon oft wünschte sie, besser malen zu können. Das hier bewahren. Eingefrorene Erinnerungen. Er schien Probleme mit dem Klüver zu haben. Dem Ruder, dem Schwert, irgend etwas stimmte nicht. Gleich würde er sie anschnauzen, und sie würde wie der Pawlowsche Segelhund losspringen. Sie sah an ihm vorbei. Konzentrierte sich auf das unvergeßliche Naturschauspiel. Das tägliche. Verrichtete aber zuverlässig alle die ihr andressierten Handgriffe und versuchte automatisch, die arthritischen Gelenke zu entlasten. Er bewegte sich auch etwas steifer als früher, aber das unterstrich eher noch seine Eleganz. Grotesk genug, er war 76, aber die Teenager im Yachthafen himmelten ihn an. Sein lockig-weißer Haarschopf schien ein unermeßliches Potential an Vatikomplexen zu aktivieren. Ja, sicher auch sein Charme, seine Großzügigkeit. Sein Humor, nicht zu vergessen ...

Im Moment sah es so aus, als hätte er ihn verloren. Hilflos hampelte er mit dem Ruder und den ganzen Tauen herum. Die Segel flatterten unkontrolliert, das dämliche Boot schlingerte vor sich hin. Die See kabbelte gegen die Holzplanken, der Wind knatterte in den Segeln, aber sie hätte es gehört, wenn er gerufen hätte. Er bellte seine Befehle immer wie Hornsignale. Sie würden es nie im Leben rechtzeitig zurück in den Hafen schaffen. Das so lang geplante Hummer-Dinner mit den Horns konnte sie vergessen. Oder dachte er, sie würde gleich so in salzverkrusteten Bermudas in ein Drei-Sterne-Restaurant gehen? Sie machte ihm Zeichen, aber er reagierte nicht.

Da erst merkte sie, daß er wirklich Probleme hatte. Sie bewegte sich nicht. Starrte ihn an. Wie er sich abmühte, das Segel zu reffen, daran riß und zerrte. Lautlos in den Wind brüllte.

Sie hatte Angst. Echte, wirkliche Angst. Das war etwas, was er nicht mehr im Alleingang regeln konnte. Und wie immer bezog er sie nicht mit ein. Er verhedderte sich in seinen Leinen. Das Boot krängte hilflos in den immer höher bockenden Wellen. Das Wasser. Sie sah das Wasser über ihre Segelschuhe schwappen. Von innen, es kam nicht von außen, es kam von innen. In kleinen dynamischen Kringeln. Höher. Sie schrie. Ihre Stimme war nicht mehr sehr laut, den Rest verschluckte das Brettern der Wellen und das Klacken der Segel. »Hilfe! Hilfe! Sieht uns denn niemand! Hilfe!!!«

Das Meer war jetzt ziemlich rauh, die blinkenden Lichtreflexe verschwanden in der Sonne. Plötzlich und ohne Übergang. Orange und Lila wurden von Mausgrau geschluckt. Bleigrau, Stahlgrau, Eisengrau. Die obersten Felsspitzen der Steilküste hatten noch Farbe. Rosa. Graurosa. Felsen, Bäume und Häuser waren eins.

2

Selbst mit dem starken Fernrohr war das Segelboot kaum noch auszumachen. Ein kleiner weißer Winkel im silbriggrauen Nichts. Letzte Sonnenreflexe. Fred griff nach seinem Drink, ohne das Zeiss abzusetzen. Das Boot hatte ernsthafte Probleme. Es lag viel zu schief. Der Whisky war durch das lange Rumstehen verwässert. Die beiden Jacken waren gut zu erkennen. Postgelb und Grellpink zu schlohweißem Haar. Sie hatten keine Leuchtraketen gesetzt, keine Signale. Er atmete tief durch. Die gelbe Jacke schien über Bord gespült zu werden, die rosa hielt sich noch oben. Immer noch. Immer noch. Wenn er mit dem Auto runter ins Dorf zum nächsten Telefon fuhr ... Anja riß ihm das Fernglas aus der Hand. Er maulte, drehte sich dann aber zum Tisch und schenkte sich neuen Scotch nach.

Anja stand wie ein Denkmal. Schmal und schön und blond. Fred lutschte einen der Eiswürfel.

Anja spürte seine Blicke im Rücken und fand sie nicht unangenehm. Von dem Segelboot war nur noch das Heck zu sehen. Der eine Graukopf war verschwunden, der andere pulste noch herum, von einer pinkrosa Jackenblase hochgehalten. Es war zu dunkel, um noch etwas zu sehen. Oder zu unternehmen. Zu spät. Das Heck stieg noch einmal senkrecht hoch, zögerte einen Moment und tauchte dann mit einem aufblitzenden Strudel endgültig weg.

Anja hielt die Luft an, um den kaum noch erkennbaren Kreis auf den Wellen nicht aus dem Fernglas zu verlieren. Nichts. Doch. Da war sie wieder. Noch immer! Die pinkrosa Luftblase. Unsinkbar wie ein Boje.

»Anja.«

»Nein.«

»Könnten wir nicht doch noch ...«

»Nein!«

Pause, das Klicken der Eiswürfel, Schluck. »Ist noch was zu sehen?«

»Nein.«

Es schien Stunden zu dauern, bevor sich der kleine runde neonpinke Fleck langsam abflachte und von den grabgrauen Wellen aufnehmen ließ. Fini. Anja stieß mit einem Seufzer die Luft aus und legte das Zeiss weg. Schluchzer. Das eben hatte geklungen wie ein Schluchzer. Fred drückte ihr einen eisklingenden Wodka Tonic in die Hand, umarmte sie kurz und fiel in den Liegestuhl. Er hatte keine Kraft für mehr Trost. Anja hielt sich das kalte Glas an die Schläfe. Die Eiswürfel klimperten und verrieten ihr Zittern. »Eigentlich seltsam, daß es sinkt. Ich meine, ein Boot aus Holz!«

»Es wird wieder hochkommen«, sagte er düster. »Nicht so ganz mehr in einem Stück, aber es wird hochkommen.«

»Und?«

»Kommt drauf an«, er machte neue Drinks, hielt sich an der Action fest. »Einerseits gibt’s hier eine ablandige Strömung. Das würde uns helfen. Aber heute steht der Wind saublöd, direkt auf die Küste.«

»Könnte sich aber noch drehen. Macht er ja dauernd.«

»Könnte, ja. Sie könnten aber auch einen von den beiden finden. Dann suchen sie. Und dann finden sie das Boot, bevor es irgendwo gegen die Felsen geschrammt ist.«

»Und?«

»Nichts weiter, hoffe ich«, er hob die Schultern, ohne sie anzusehen. Nichts, schwöre ich dir, hatte er vorher gesagt. Sie fragte nicht, wie er es gemacht hatte. Sie wollte es nicht wissen, und Sie wußte, daß er nicht darüber reden wollte. Sie stellte ihr Glas auf die weiße Mauer und ging zu ihm hinüber. Er lachte sein Kleine-Jungen-Lachen. Sie zog ihn hoch, und er verschüttete seinen Whisky, als er sie küßte.

Es war eine Szene wie im Kino. Auf der einen Seite das Meer, so blau und weit und unergründlich, der samtene Himmel, an dem schon der Abendstern funkelte, und auf der anderen Seite das schneeweiße Haus mit den maurischen Bogengängen. Und dazwischen auf der breiten Terrasse stand das Liebespaar und küßte sich. Ein schönes Paar vor einer schönen Kulisse. Fred schnaufte, bebte und zuckte auf. Heulte in ihre Halskuhle, klammerte sich an ihr fest. Sie küßte ihn weiter, strich durch sein Haar, über seinen Rücken, sprach zärtlich auf ihn ein, brachte ihn so ins Haus, weg vom Meer, weg von der Unendlichkeit.

Durch das lange Wohnzimmer mit Bastteppichen und Rattanmöbeln die weißen Stufen hinauf auf die Galerie, ins Schlafzimmer. Fred ließ sich von ihr ausziehen, ins Bad bringen, unter die Dusche bugsieren und waschen. Sie kam dazu und allmählich begann er, ihre Zärtlichkeiten zu erwidern.

Ganz eindeutig hatte er in seiner Kindheit zu viele amerikanische Filme gesehen. Sie haßte es, wenn er so hilflos auf dem Charme des kleinen Straßenjungen rumjonglierte, aber natürlich war das auch ein Teil der Anziehung. Morgen würde er wieder den Macho spielen. O verdammt, was wäre es schön, manchmal einen Bärenmann zu haben, einen, an den man sich anlehnen konnte, der einen tröstete, festhielt und einen nicht mit einem »Nichts weiter, hoffe ich« abspeiste.

Ihr Bett war ein Zwei-mal-zwei-Meter-Klotz aus weißem Stein, bedeckt mit weichen Matratzen, Laken, Kissen und Decken. Seide und Cashmere. Türkis und Violett, die Farben des Meeres. Und Pink. Anja stieß die Decke mit den Füßen weg. Fred saugte schon an ihren Brüsten. Gott, ja. Es war keine sehr erotische Angelegenheit, wirklich nicht, aber sie erkannten sich und waren zusammen. Eindeutig, klar und ehrlich. Im Schlaf schoben sie sich wie Löffelchen ineinander und wurden uneinnehmbar.

Als die Sonne aufging, war sie taktvoll genug, das auf der anderen Seite des Hauses zu tun. Fred und Anja schliefen. Der Hitze wegen auseinandergerollt, aber doch in ihrer ganzen Körperhaltung einander zugewandt. Anja wurde als erste wach, öffnete die Augen und sah Fred an. Die eine Backe zerknautscht auf dem Arm, den Mund vorgeschoben, die runde Schulter glatt, seidig und sonnengebräunt. Und mit einem kleinen goldenen Haarbuschen obendrauf. Ameisenklein. Auch die andere Schulter hatte so einen Buschen, als wäre er ein Zierpferd. Dazu noch ein kleines Vlies auf der Brust. Im Winter dunkel, jetzt pures Gold. Sie begann leicht an den Härchen zu zupfen. Über die Schultern zu streichen, die schweißfeuchte Haut zu kraulen, sehr vorsichtig an die bekannten Zonen ranzustreicheln. Darüber hatten sie schon oft Witze gemacht. Ihre Haare wurden silbern. Gold und Silber. Er machte die Augen auf. Olivgrün. »Ich liebe dich.«

Der Wind hatte gedreht. Weit weg, am anderen Ende der Bucht bewegten sich die Pinien im Wind, man konnte es sehen, auch weiter draußen kräuselte sich die See noch, aber hier oben war es ruhig. Anja deckte den Frühstückstisch auf der Terrasse, und unter ihnen weitete sich das Meer bis zum Horizont wie ein matter Spiegel. Undurchsichtig. Sie hatten einen guten Appetit. Orangensaft. Im Rohr aufgebackene Croissants, Eier, die ganze Palette. Fred hätte gern Spiegeleier mit Speck auf Toast gehabt, aber Anja hatte das abgelehnt. Der Geruch am frühen Morgen hätte sie umgebracht. Allein das. Heute tranken sie Champagner. Sie hatten es geschafft, es war getan, der neue Tag war jung, naiv und unbescholten. Das Leben begann erst jetzt. Nagelneu. Anja sah Fred an, sie saßen beide mit dem Rücken zum Meer. Er hatte nur weiße Shorts an. Straff gebräunter Körper und etwas zu lange Haare. Sonnengebleicht, nach hinten gekämmt. Anja trug etwas, das aussah wie ein Unterrock aus den zwanziger Jahren, war aber ein stinkteures Designerkleid. Weiße Seide. Anja träumte manchmal davon, Schriftstellerin zu werden. Schöne Geschichten zu schreiben. Wenn sie Zeit hatte. Wenn das alles vorüber war.

Fred tunkte sein Croissant in den Kaffee, saugte an dem braunen Schlabber und spuckte aus. »Schmeckt ja widerlich!« Er knallte die Tasse so heftig auf den Tisch, daß sie überschwappte. »Soll das etwa Kaffee sein?!«

»Vielleicht hab ich zuviel erwischt«, sie putzte den Fleck mit ihrer Serviette auf.

»Ja. Mal zuviel, mal zuwenig! Kannst du dich nicht einmal an die Mengenangaben halten, verdammt!?«

»Fred, bitte!«

»Scheiße!«

»Fred. Bitte, ich hab auch nur Nerven! Und an wem immer du es auslassen willst, bitte nicht an mir!«

»Bitte, bitte!«

»Du kannst ja gleich unten im Hafen einen cortado bestellen oder einen café solo oder auch sieben!«

Schweigen.

»Wir müssen sowieso runter.«

»Aber nicht sofort! Ich meine, es hat doch keine Eile.«

»Doch. Maria kommt gleich.«

»Scheiße!«

»Du kannst ja selber putzen, verdammt noch mal!« Sie hörte selbst, daß ihre Stimme begann, schrill zu klingen. Sah ihm zu, wie er sich eine Zigarette ansteckte. Die vorletzte in einer Packung, die er erst gestern früh gekauft hatte. Nach drei nikotinfreien Monaten. Sie mußte mit Gewalt eine Bemerkung unterdrücken. Aber sie konnte sich noch zu genau an den Horror der ersten Monate erinnern, als sie selber aufgehört hatte. Jetzt war das immerhin vier Jahre her. Sie hatte es geschafft, sozusagen. Doch immer wieder packte sie unerwartet und kaum kontrollierbar die gierige Faust der Anfechtung. Ganz besonders natürlich in Streßsituationen. Und das war ja wohl gestern eine gewesen. Mord, oder?

Sie stand auf, strich ihm im Vorbeigehen über die Haare und holte das neue Hemd aus dem Schrank, das sie ihm eigentlich zum Geburtstag hatte schenken wollen. Schwarze Seide mit einem schmalen Ethnomuster auf der Knopfleiste. Sie legte es ihm von hinten um die Schultern. Er reagierte wie erwartet. Drückte die Zigarette aus und sprang auf. Er konnte sich freuen wie ein Kind. Er zog es sofort an. »Ich kann die Shorts doch anlassen, oder?«

»Klar. Sieht super aus.«

»Und den silbernen Mexikogürtel?«

»Too much. Ist doch ein ganz normaler Vormittag.«

»Ja, genau. Danke!« Er umarmte und küßte sie und steckte voller Unternehmungslust Geld und Autoschlüssel ein.

Im Auto dann war er wieder schweigsam, fuhr viel zu schnell. Der hartgefederte Rover vibrierte unter ihnen, und Anja mußte beide Arme um ihre Brüste klammern, um sich festzuhalten. Keine Frau würde freiwillig so ein Trampolin kaufen. Aber Fred liebte dieses Auto heiß und innig. Er hatte es second hand von einem Ami gekauft, dem der ganze Transport mit der Fähre von der Insel zu umständlich und zu teuer gewesen war. Relativ preiswert. Sehr relativ. Sie hatte den Verdacht, daß er sich vor allem wegen der ausgefallenen Speziallackierung in die Karre verliebt hatte. Metallic-Burgunderrot und goldene Flammen, die wie Tigerstreifen darüber züngelten. Weiße Ledersitze. Fast weiß. Sah alles in allem sehr schnell aus. Er nahm eine Kurve zu knapp und kam ins Schleudern. Schrie auf. Fuhr den Rest der Strecke so langsam, daß sie ein paarmal von Landmaschinen angehupt wurden.

In den Hafencafés war um die Zeit noch nicht viel los. Ein paar Frühaufsteher, ein paar Touristen. Sie setzen sich in eins, in das sie sonst nie gingen. Fischer und Arbeiter, keine Gefahr, über Bekannte zu stolpern. Alte Bistrotische mit Schmiedeeisenfuß und Marmorplatte, Alustühle dazu. Sie nahmen einen gleich neben der Tür. Auf den ersten Blick konnte man sie von der Promenade aus nicht sehen. Fred ging Kaffee holen, brachte statt dessen zwei Weißwein. »Die Kaffeemaschine ist kaputt.«

Sie saßen an ihrem Tisch und tranken Wein. Zum dritten nahmen sie eine Tüte mit Chips. Sie warteten. In den Zeitungen würde heute noch nichts stehen. Morgen vielleicht, eher übermorgen. Und sicher nur eine kleine, nichtssagende Meldung. Die Arbeiter dort vorn an der Theke wußten vielleicht schon etwas, aber sie sprachen viel zu schnell und außerdem auch noch Dialekt.

»Bringt hier nichts«, meinte Fred und schnappte sich den letzten Kartoffelchip.

»Kommt vermutlich erst am Nachmittag rum oder abends.« Sie wäre gern hiergeblieben, in der Anonymität. Fred stand schon auf und zahlte an der Theke. Quatschte irgend etwas in seinem Pidgin-Spanisch mit dem Barmann und den zwei Fischern neben ihm. Sie ging schon mal raus.

Einen Moment lang war sie von der Sonne geblendet. Vermutlich war es der Wein. Ihr war übel. Sie hielt sich an einer Platane fest. Atmete tief durch. Es stank nach Diesel. Die Straße, der Hafen. Eins der Touristenboote legte ab und hinterließ eine grauschwarze Rußwolke, die sich über das Denkmal und die Bänke für Rentner legte. Der Gestank war farblos und drang tiefer. Die Masten der Yachten stachen wie Zahnstocher auf einer Häppchenplatte in den Himmel. Von hier aus sah es aus, als wären es Hunderte. Kein Mensch würde merken, wenn eins fehlte.

Die schlichte Wahrheit war, daß diese beknackten Segler sich fast alle kannten, ihre blöden Schiffe unentwegt im Auge behielten, einander halfen, wenn’s nötig war, eine Art verschworene Gemeinschaft bildeten. Anja verstand nicht viel davon. Wenn sie einen von ihnen kennen würde, dann wüßte sie sofort, was man sich im Hafen für Gerüchte erzählte. Sie bezweifelte, daß Fred wirklich so schlau vorgegangen war, wie er behauptet hatte. Er war leicht zu begeistern und glaubte dann auch an das Unmögliche. Ich schwör’s dir!

Zwei Jungen schlappten an ihr vorbei. Müde und übernächtigt in runtergetretenen Espadrilles und blau-weißen Ringelhemden. Engländer. Sie verstand etwas wie »two old people«, »missed« und noch ein Schwall von Worten, die in einem hohen Gelächter mündeten. Wieso kam Fred nicht endlich. Was machte er da stundenlang in der Bar! Die beiden Engländerjungen waren stehengeblieben.

Anja ertappte sich dabei, schamlos zu den beiden hinzuglotzen und zuzuhören. Die hochschwappende Panik ließ sie alles vergessen. Nein. Nein. Anja machte ihre Atemübungen. Schloß die Augen. Versuchte, sich zu beruhigen. Kreischte auf, als sie die Hand auf ihrer Schulter fühlte.

»Anja.« Fred. Sie klammerte sich an ihm fest.

»Ich hab Angst«, flüsterte sie, »ich hab Angst, verdammt noch mal! Ganz beschissene Angst.«

Er schwieg.

3

Toscanabrötchen, Elsässer, Dänische, es gab einen Haufen leckerer Neuheiten beim Bäcker. Richtig international. Nora nahm zwei Toscaner und zwei Elsässer, zwei Brezen und einen Speckring. Georg hätte Dänische Mohn und Kissinger genommen. Aber Georg war erst morgen wieder dran. Sie wechselten sich ab. Jeder eine Woche. Frühstück zum Verwöhnen. Parmaschinken und den Käse hatte sie schon. Georg liebte es süß, sie eher deftig, für Diät hatten sie beide nicht viel übrig. Sie sah auf die Uhr. Noch reichlich Zeit. Sie ging einen Block weiter zum Franzosen und kaufte frische Riesenshrimps, Terrine vom Kaninchen und ein paar Croissants, die waren eben einfach besser. Natürlich würde dann keiner die Kissinger mehr essen. Sie kicherte vor sich hin, als sie noch einen Méthode Champenoise aus dem Kühlfach fischte. Die Namen konnte sie sich nicht merken. Aber dieses Prizzelwasser schmeckte wie echter Champagner. Georg würde sicher wieder eine Bemerkung über Alkohol machen. Vor allem Alkohol am frühen Morgen. Nora fand, daß a) Champagner kein Alkohol war und b) elf Uhr kein Morgen, sondern eher fast Mittag.

Nora stapfte sehr zufrieden zu ihrem Haus zurück. Nicht, daß ihnen das Haus gehört hätte. Sie lebten dort nur seit über dreißig Jahren. Gott soll schützen! Eher fast vierzig Jahre! Georg machte damals gerade seine Referendarzeit und schrieb auch schon mal Beiträge für Fachzeitschriften. Und sie verdiente regelmäßig. Fremdsprachensekretärin. Heute verdienen die ein Vermögen. Damals gab’s kaum Auslandskontakte. Die Eltern hatten zugeschossen. Seine nur murrend, ihre hatten das Häuschen beliehen. Das war so lange her. Alle tot.

Nora ließ den Lift stehen und lief die Treppen zu Fuß hoch. Pfiff dabei. Irgend jemand hatte hier reichlich Aftershave verbreitet. Nahm einem ja den Atem. Sie verschloß die Brötchentüten, um sie nicht zu vergiften, klemmte sie zwischen die Knie, um die Tür aufzuschließen. Das Schloß hatte seine Macken, man brauchte zwei Hände dazu. Hinter den Jugendstilornamenten leuchtete die goldgelbe Flurlampe. Die Treppe stank nach Bohnerwachs. Und Katzenpisse. Emil von oben. Emil war ein alter Siamkater und hatte sich gegen einen Dackel, zwei Pudel und eine fette Perserkatze durchzusetzen. Alle im Haus waren für Emil. Außer den Besitzern der letztgenannten. Die forderten, daß Emil kastriert würde. Als ob er ihre Hunde schwängern könnte. Oder womöglich die längst operierte Perserdame ihres Shadors berauben.

Georg spielte ausgerechnet Wes Montgomery, California Dreaming, allein dafür liebte sie ihn. War sie entschlossen, ihn zu lieben. Was denn auch sonst. Ja, genau.

Georg kam in die Küche und packte die Tüten aus. »Hmmm«, er hatte schon gedeckt, Orangensaft ausgepreßt und die Kaffeemaschine angeworfen. Gute Laune also, sie atmete auf. Er war sogar rasiert und hatte den unsäglichen Bademantel gegen Cordhosen und Flanellhemd getauscht. Das war ein harter Kampf gewesen. Ihn dazu zu bringen, sich schon morgens früh zu rasieren und anzuziehen. Nur für sie. Jetzt, wo er doch endlich FREI war.

»Du siehst aus wie ein berühmter Schriftsteller«, sie schenkte Kaffee ein, er hielt ihr den Brotkorb hin, grinste schief.

»Ja? Wie welcher? Norman Mailer? Aber der war nie Holzfäller oder Farmer. Und sah auch nie so aus. Also eher schon Thomas McGuane. Aber der ist viel jünger. Bleibt also nur noch der Holzfäller. Oder Rentnerfarmer.« Er ließ es wie einen Witz klingen, aber sein Rentnerstatus wurmte ihn immer noch gewaltig. Zu Anfang hatte er nicht mal die verbilligten Tarife bei Bus und Bahn in Anspruch nehmen wollen.

Nora biß genußvoll in ein Lachsbrot. Sie dachte nicht gern an die erste Zeit zurück. Sie hatten sich beide wie Kinder auf die Zeit ohne morgendlichen Wecker gefreut und nie damit gerechnet, so tief ins Loch zu fallen. Grotesk, lächerlich, so was mochte anderen passieren, nicht ihnen. Sie hatten auch vorher schon eine Menge Zeit miteinander verbracht, die ganzen Nachmittage, seit sie nur noch halbtags arbeitete, hatten viele Interessen, gemeinsame und andere, Freunde, Spaß am Leben. Und sie waren gesund. Leicht übergewichtig, nur mäßig sportlich, aber gesund. Und nun wirklich keine Workaholics, im Gegenteil. Sie hatte ihren Job bei dieser Versicherung am Schluß nur noch zähneknirschend gemacht. Wobei sie 75% ihrer Energie darauf verschwendete, sich aus Bürointrigen rauszuhalten. Und Georg hatte unter den immer mehr übergreifenden Reglementierungen des Kultusministeriums und der gleichzeitigen Verrohung der Schüler regelrecht gelitten. Hatte kaum noch schlafen können und den Nachmittag statt mit Korrekturen eher mit Rotwein verbracht.

Er packte sich Butter und Kirschmarmelade auf ein Croissant und stand auf, um die Platte umzudrehen. »Ich hab Helmut angerufen. Er kommt heute abend vorbei.«

»Klingt geheimnisvoll.«

»Rat mal!«

»Er braucht Geld.«

»Möglich. Aber das ist nicht der Grund.«

»Er hat eine neue Liebe und will sie uns vorstellen, und ich soll Bœuf Bourgignon machen.«

»Ah ja, das wär mal wieder was. Ist es aber auch nicht. Er bringt etwas.«

»Nicht freiwillig. Du hast etwas bestellt. Die Frage ist nur, was? Einen neuen Toaster?«

»Lauwarm, hört aber auch auf r auf.«

»Sag bloß, du hast einen CD-Player gekauft!«

»Es mußte sein. Ich hab’s neulich wieder bei Uli gehört. Es klingt einfach vollkommen anders.«

»Und unsere ganzen Platten?« Sie hatten zusammen in all den Jahren sicher an die tausend Platten gesammelt, einige davon wirkliche Rosinen. Nora hatte ein fast sinnliches Verhältnis zu diesen quadratischen Glanzlackhüllen, die die Schellacks ihrer Jugend abgelöst hatten.

»Die behalten wir natürlich. Norchen! Wir bekommen einen ganzen Turm. Da ist alles drin, Kassettendeck, Radio, alles. Helmut kennt sich aus. Ist auch nicht so furchtbar teuer ...«

»Aber, wir müssen uns doch jetzt neue Platten kaufen, CDs.«

»Sag ich doch«, er sprang auf und holte den Champagner aus dem Kühlschrank, brachte Rotweingläser dazu, aber sie sagte nichts. Freute sich, daß er so begeistert war, voller Pläne und Energie. Er legte ihr einen Katalog von 2001 hin, mit einer ganzen Menge leuchtendgelber Markierungen. »Gleich nachher gehen wir hin und kaufen ein. Und heute abend gibt’s ein Fest. Music’s in the air!«

»Sollen wir noch jemand einladen? Peter und Susanne?«

»Kaisers. Und Ulla natürlich, Ulla liebt Jazz.«

»Dann auch Charly. Monster, wenn er Zeit hat. Und Trudi, das arme Huhn. Wenn wir schon Bœuf machen, dann gleich richtig.«

»Cheers!«

»Santé«

Das Zeug war wirklich lecker. Prickelte kühl runter und paßte zu Lachs, Pâté und dicken Shrimps. Nora war glücklich. Georg sprang auf, brachte das Geschirr in die Küche, spülte ab, legte eine neue Platte auf, pfiff dazu, knuddelte sie im Vorbeitanzen. Das Leben war doch verdammt schön.

Wie aufs Stichwort schob sich draußen die Sonne zwischen zwei dieser matratzengrauen Wolken, die in diesem Jahr ein Dauerabonnement auf Münchens Himmel zu haben schienen. Die Sonne spiegelte sich in einem der gegenüberliegenden Fenster und warf einen kühnen Funken auf die Champagnerflasche und nun auch auf Georgs Holzfällerhemd. Rot, Grün und ein wenig Weiß und Gelb. Jetzt hatte er Artie Shaw aufgelegt, Born To Swing, und swingte und tanzte dazu. Sah richtig süß aus. Knuddeltanzbär. Sie sprang auf und hopste mit ihm mit durch die Staubfunken, die im reflektierten Sonnenstrahl flirrten.

Georg hatte es am Anfang total umgehauen. Er hatte sich nach ein paar Ferienwochen fallen- und gehenlassen. War passiv und mißmutig geworden, und das um so mehr, als sie Rentnerhektik entwickelt hatte und von einem zum anderen Kulturereignis gehetzt war. Nein, sie hatten es beide nicht wahrhaben wollen. Sie waren raus aus dem Laden, aus dem Leben, out of order. Der Schrank war voll von dem ganzen Teenagerkram, den sie in den ersten Wochen gekauft hatten. Bunte Sweatshirts, enge Jeans, Seidenhemden und Reebok-Schuhe.

Inzwischen hatten sie ihren eigenen Stil gefunden oder wiedergefunden. Georg mußte keine Anzüge und keine Krawatten mehr anziehen und sie keine Röcke oder Kostüme. Bequeme Slacks, Hemden, Pullis. Die Reeboks kamen aus dem Schrank und auch ein paar der Sweatshirts. Nora hätte gern mit Tennis weitergemacht, wo sie vor fast vier Jahrzehnten aufgehört hatte, aber sie traute sich nicht. Georg war früher ein guter Segler gewesen, hatte Regatten gewonnen, sah im Fernsehen immer die Kieler Woche voller Wehmut an. Nora war der Meinung, daß man das alles immer noch machen konnte. Noch lange. Noch ewig lange.

Aber solange sie in München wohnten, waren sie sowohl von der Lage als auch vom Klima her benachteiligt. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, daß sie jetzt einerseits über sehr viel Zeit verfügten, andererseits nur noch wenig übrig hatten.

»He, sag mal, was würdest du davon halten, irgendwo anders hinzugehen?«

Er reagierte nicht. Hatte seinen CD-Katalog in der Hand und zog sich die Lederjacke über. Ein angefleddertes Ding aus ihren frühen Jahren, das für damalige Verhältnisse sündhaft teuer gewesen war und von dem er sich auch nicht unter Drohungen trennen wollte. Sie hatte ihre Bundfaltenjeans und den pinkrosa Parka an. Sie liebte Pink. Vergaß nie die Sprüche aus ihrer Kindheit. Rot und Blau, Kasperl sei Frau. Und Rosa, das waren Bauernmädchen und Friseusen. Ohrringe waren das ALLERschlimmste. Ihre Mutter drehte durch, als sie sich ein Loch ins Ohr machen lassen wollte. Niemals. Und Gerda hatte ihr bis heute nicht verziehen, daß sie ihr Löcher in die Ohren hatte machen lassen. Sie fand das ordinär!

»Georg. Sag doch mal was!«

»Schau dir das bloß mal an, was die an Sonderangeboten haben! Herbie Hancock! Nur 18,90!«

»ELVIS gibt’s schon für 6,80.«

«Nehmen wir auch. Love me tender ...« Er war nicht ansprechbar. Nicht jetzt. Aber sie hatte es schon ein paarmal versucht. Südfrankreich, Provence, Italien, Toscana, irgendwo im Süden. Nicht zu weit weg, in Europa, in Reich- und Riechweite. Aber doch im Süden.

Gerda. Ihrer beider Tochter. Oder auch Benjamin. Ihrer beider Enkelsohn. Wohnhaft in Mannheim. Sie hatten sie besucht im letzten Jahr. Zwangsweise sozusagen. Ihr seid doch jetzt Pensionisten. Gerda sagte nicht so was Billiges wie »auf Rente«, ein Ausdruck, den Nora und Georg liebten. »Wir jehn jezz uff Rente.« Nun ja, Gerda sah das anders. Sie wollte sie zu sich nach Mannheim holen. Sah sie vermutlich schon als senile Oberstubenbewohner ihres kleinen Stadtrandhäuschens. Pflegefälle. Und doch auch wieder nett für Benjamin. Oder was immer die womöglich noch nachzusetzen planten. Nein, haaalt, Nora war ungerecht, und sie wußte das auch.

Gerda war eine ganz reizende Tochter. Keine Frage. Ein wenig farblos und ziemlich angepaßt, aber das hatten vermutlich ihre Eltern zu verantworten. Nie Zeit und keine Wärme. – So was mußte das gewesen sein. Und dann Robert. NEIN! Nichts gegen Robert. Ein wirklich netter und liebenswerter Schwiegersohn. Kein Macho, keiner, der Frauen schlug oder mißhandelte. Eher einer, der sie gar nicht wahrnahm. Nein. Nein. Nein. Robert war sehr großzügig. Er hatte ihnen sofort nach dem Renten-Date seinen Dachboden angeboten. Sein Haus, sozusagen. O Gott! Und NATÜRLICH liebte sie Benni-Benjamin. Diesen süßen Knubbel von Enkel. Und es machte auch nichts, daß er aussah wie sein Vater. Sah ja nicht übel aus. Der Vater: Groß, schlank, Augen, Nase, alles da. Haare weniger. Humor, wie spricht man das aus? Und so war auch der Kleine. Brav und lieb und jeder Oma Liebling. Nur nicht seiner. Ein Baby, das stundenlang einfach nur rumlag oder rumsaß oder was auch immer passiv und lieb tat. War. Nein, sorry, sie konnte keine Beziehung zu diesem Kind herstellen. Das war ihre Schuld. Claro, wie bei Gerda. Alles verpatzt. Alles. Oder vielleicht waren es doch alles nur die Gene. Nora schenkte sich nach und tunkte den letzten Shrimp in die Mayonnaise.

»Los, los, Norchen, komm, altes Haus!« Georg nahm ihr das Glas weg und trank es selber aus. »Es gibt viel zu tun. Gucken wir’s an.« Er lachte über sein Witzchen und drängte sie zur Tür. Sie steckte das Scheckheft in die Tasche. War reichlich teuer das Leben, wenn man den ganzen Tag Zeit zum Einkaufen hatte.

Die Platten waren zuerst dran, es war fast Mittag, und der Laden war schon jetzt brechend voll. Georg suchte die markierten CDs zusammen und entdeckte noch eine ganze Reihe andere, geriet in den reinsten Kaufrausch. Nora blätterte in dem irren Fotoband Der Heimatplanet