Kuscheln im Erbe inbegriffen - Jae - E-Book + Hörbuch

Kuscheln im Erbe inbegriffen E-Book und Hörbuch

Jae

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Beschreibung

Ein lesbischer Liebesroman über eine kühle Einzelgängerin, deren frostige Fassade durch die Macht sanfter Berührungen langsam auftaut. Hannah Martin hat einen ungewöhnlichen Beruf: Sie ist professionelle Kuschlerin. Während sie gern die Bedürfnisse ihrer Kunden nach platonischem Körperkontakt erfüllt, hat sie im Privatleben noch niemanden zum Ankuscheln gefunden. Winter Sullivan sucht nicht nach der großen Liebe. Sie ist ein unnahbarer Workaholic und daran gewöhnt, alle mit ihrer eisigen Fassade auf Abstand zu halten. Lieber würde sie sich Zahnstocher unter die Fingernägel rammen, als zu kuscheln, und schon gar nicht plant sie, je mit jemandem zusammenzuleben. Als Winters Vater stirbt, hinterlässt er ihr eine letzte Überraschung: Sie soll gemeinsam mit Hannah, einer wildfremden Frau, ein Haus erben. Doch die Sache hat einen Haken: Um ihr Erbe anzutreten, müssen sie zuerst zweiundneunzig Tage lang zusammenleben. Winter ist entschlossen, ihre Rivalin nicht zu mögen, merkt aber rasch, dass Hannah anders ist als erwartet. Dank eines witzigen Fußmattenkriegs, einer Kuschelherausforderung von Winters Halbschwester und eines Kusses an einem ungewöhnlichen Ort beginnt Winters schützende Eisschicht langsam zu schmelzen. Kann womöglich nicht nur Kuscheln, sondern sogar Liebe im Erbe inbegriffen sein?

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Seitenzahl: 606

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Zeit:13 Std. 14 min

Veröffentlichungsjahr: 2022

Sprecher:Anne Becker

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Inhaltsverzeichnis

Von Jae außerdem lieferbar

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Nachwort der Autorin

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Jae

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Alles eine Frage der Chemie

Falsche Nummer,richtige Frau

Eine Mitbewohnerin zum Verlieben

Tintenträume

Ein Happy End kommt selten allein

Alles nur gespielt

Aus demGleichgewicht

Hängematte für zwei

Herzklopfen und Granatäpfel

Vorsicht, Sternschnuppe

Cabernet und Liebe

Die Gestaltwandler-Serie:

Vollmond über Manhattan

Die Hollywood-Serie:

Liebe à la Hollywood

Im Scheinwerferlicht

Affäre bis Drehschluss

Die Portland-Serie:

Auf schmalem Grat

Rosen für die Staatsanwältin

Die Serie mit Biss:

Zum Anbeißen

Fair-Oaks-Serie:

Perfect Rhythm – Herzen im Einklang

Beziehung ausgeschlossen

Oregon-Serie:

Westwärts ins Glück (Bd. 1 & 2)

Angekommen im Glück

Verborgene Wahrheiten (Bd. 1 & 2)

Kapitel 1

»Und das ist der Ort, an dem Kuschelträume wahr werden.« Hannah schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf und ließ Dawn den Vortritt.

»Dein Nachbar starrt uns an«, flüsterte Dawn, als sie sich an ihr vorbeischob.

Hannah seufzte, blickte aber nicht zurück. Man sollte meinen, ihre Nachbarn hätten sich inzwischen an ihre ständigen Besucher gewöhnt. »Vermutlich, weil meine Kunden meistens Männer sind, während du eine Frau bist.«

Dawn nickte. »Aber deine Nachbarn wissen schon, was du beruflich machst, oder?«

»Ja, natürlich. Ich musste allen Bescheid sagen, um die Genehmigung dafür zu bekommen, meinen Kuschelservice von zu Hause aus zu betreiben.« Nur mit Mühe widerstand Hannah dem Drang, ihrem neugierigen Nachbarn aufreizend zuzuzwinkern. Benimm dich. Die Gerüchteküche war ohnehin schon am Brodeln. Fest schloss sie die Tür hinter ihnen.

Dawn ging an der Küchenzeile vorbei und sah sich um.

Hannah blieb hinter ihr stehen und fragte sich, was ihre Einzimmerwohnung jemandem mit Dawns Hintergrund über sie verriet. Wahrscheinlich, dass sie ein bescheidenes Bankkonto und kein Talent für Innenausstattung hatte.

Schließlich deutete Dawn von der hintersten Ecke des Zimmers, wo Hannahs Bett hinter einem Vorhang hervorschaute, zur großen, schokoladenfarbenen Couch. Diese stand schräg in den Raum, weil Hannah im Möbelhaus ihre Größe falsch eingeschätzt hatte. Erst als sie das Möbelstück an seinen vorgesehenen Platz geschleppt hatte, war ihr aufgefallen, dass es nicht ganz an die Wand passte. »Bett oder Couch?«

Hannah legte sich eine Hand vor die Brust. »Eine solche Dienstleistung ist das hier nicht, Dr. Kinsley.«

»Wie bitte? Nein, ich …« Dawn brach in Gelächter aus. Ihre graugrünen Augen funkelten vergnügt. »Meine Frau wird sich freuen, das zu hören. Aber was ich eigentlich fragen wollte, ist: Wo kuschelst du mit deinen Kunden? Auf der Couch? Im Bett? Oder überlässt du die Wahl deinen Kunden?«

»Nein«, sagte Hannah. »Das Bett ist keine Option. Die meisten Menschen assoziieren es mit Sex, und ich versuche, ihnen beizubringen, dass Berührungen völlig platonisch sein können. Manchmal mache ich eine Ausnahme und kuschle im Bett, wenn der Kunde von außerhalb kommt und für unsere Sitzung ein Hotelzimmer gebucht hat. Bei Neukunden aber nicht.«

Ein sichtbarer Schauder lief durch Dawn. »Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Mit fremden Leuten kuscheln.«

Hannah konnte sich auch nicht vorstellen, Dawns Beruf auszuüben und als Therapeutin mit Überlebenden von sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigung zu arbeiten.

Bevor sie das sagen konnte, fügte Dawn hinzu: »Aber ich bin froh, dass du diesen Service anbietest. Ich habe mehrere Patientinnen, die von ein paar Sitzungen mit dir sehr profitieren würden. Sie brauchen einen sicheren Raum, in dem sie Körperkontakt wieder als etwas Positives erleben können.«

»Oder auch nicht«, sagte Hannah. »Wenn sie merken, dass sie noch nicht so weit sind, ist das auch völlig in Ordnung. Wir können die Sitzung damit verbringen, nebeneinanderzusitzen und uns zu unterhalten. Ich versuche, meinen Klienten beizubringen, dass sie Nein sagen können, wenn ihnen etwas unangenehm ist.«

»Und genau aus diesem Grund denke ich, dass eine Kuschelstunde für meine Patientinnen hilfreich wäre. Als ich an deinem Workshop teilgenommen habe, hat mich sehr beeindruckt, wie sehr sich deine Arbeit auf ausdrückliche Zustimmung und Kommunikation gründet. Es geht um viel mehr, als nur eine Stunde lang in Löffelchenstellung dazuliegen.«

Hannah strahlte sie an. Endlich jemand, der zu verstehen schien, worum es beim professionellen Kuscheln wirklich ging.

Dawn lächelte zurück. »Also, wärst du bereit, dich meiner Patientinnen anzunehmen, wenn sie Interesse haben? Du kuschelst doch auch mit Frauen, oder?«

»Ja, natürlich. Ich kuschle mit jedem, unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung. Jeder braucht körperliche Nähe.« Mit einer Frau zu kuscheln, wäre eine schöne Abwechslung. Hannah setzte sich auf die Couch, stützte ihren Ellbogen auf den pelzigen Oberschenkel von Eddy, ihrem Teddybären, und bedeutete Dawn, es sich ebenfalls bequem zu machen. »Sag deinen Patientinnen einfach, sie sollen sich mein Profil auf der Schmuseeinheit-Webseite ansehen und –«

Es klingelte an der Tür.

Hannah schaute auf ihre Uhr. Sie erwartete den ersten Klienten des Tages in einer halben Stunde, aber er war Stammkunde und wusste, dass er nicht vor der verabredeten Zeit kommen sollte. »Tut mir leid. Bin gleich wieder da.« Sie sprang auf, um den unliebsamen Besucher abzuwimmeln.

Als sie die Tür öffnete, stand ein Postbote vor ihr und hielt ihr einen dicken Umschlag hin. »Ich habe ein Einschreiben für Hannah Martin.«

Ein Einschreiben? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Hoffentlich war es nicht von ihrem Vermieter. Zwar hatte er widerwillig zugestimmt, dass Hannah ihren Kuschelservice von ihrer Wohnung aus betreiben durfte, aber ein großer Fan ihres Berufs war er nicht. Entweder nahm er an, dass sich dahinter Sexarbeit verbarg, oder er befürchtete, dass eine professionelle Kuschlerin nicht genug Geld verdienen würde, um die Miete zu bezahlen. Leider war an der zweiten Vermutung manchmal mehr dran, als ihr lieb war.

»Das bin ich.« Sie streckte die Hand aus, um den Brief entgegenzunehmen, aber der Postbote hielt ihn fest.

»Sie müssen erst unterschreiben.« Er trennte eine grüne Karte von der Rückseite des Umschlags ab und reichte sie Hannah zusammen mit einem Kugelschreiber.

Hannah kritzelte ihre Unterschrift auf die dafür vorgesehene Linie, nahm den Umschlag dankend entgegen und schloss die Tür. Während sie zurück zur Couch ging, warf sie einen Blick auf den Absender.

Puh. Der Brief war nicht von ihrem Vermieter. Auf dem Stempel in der Ecke des Umschlags stand Woodruff & Beck, Anwaltskanzlei.

Moment mal! Anwälte? Das war auch nicht besser. Sie hatte noch nie mit einer Kanzlei zu tun gehabt. Bisher hatte sie noch nicht einmal einen Strafzettel bekommen. Hatte jemand sie verklagt? Ihre Finger umklammerten den Umschlag fester.

Sie ließ sich auf die Couch fallen und rang sich ein Lächeln ab, als sie sich wieder Dawn zuwandte. Der Brief würde warten müssen. Im Moment war es wichtiger, Kontakte zu einer etablierten Psychotherapeutin zu knüpfen. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, worüber sie geredet hatten, aber in ihrem Kopf herrschte Leere.

»Ist alles in Ordnung?« Dawn musterte sie mit einem besorgten Blick. »Wenn etwas passiert ist, kann ich auch ein anderes Mal wiederkommen.«

»Nein. Mir geht’s gut.« Hannah schob den Brief unter eines der mangofarbenen Kissen. Aus den Augen, aus dem Sinn. So war das normalerweise bei ihr. Aber dieses Mal nicht. Ihr Blick glitt immer wieder zu dem Kissen zurück.

»Bist du sicher?«

»Ja. Es kommt nur nicht jeden Tag vor, dass ich ein Einschreiben von einem Anwalt bekomme.« Hannah lachte. Es klang so überzeugend, wie es sich anfühlte. »Aber wahrscheinlich ist es völlig harmlos.«

»Mach den Brief auf und sieh nach«, sagte Dawn. »Das stört mich nicht.«

Hannah zögerte. Auch wenn sie sich auf Anhieb gut verstanden hatten, war Dawn trotzdem eine potenzielle Kooperationspartnerin, keine enge Freundin. Aber in ihrem Job als professionelle Kuschlerin hatte sie gelernt, auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen, und jetzt sagte es ihr, dass es Dawn wirklich nichts ausmachte … und dass der Inhalt wichtig war.

»Oder wir können unser Treffen abkürzen, wenn du lieber allein sein willst, um den Brief zu öffnen«, fügte Dawn hinzu.

»Nein, nicht nötig. Wie ich schon sagte. Es ist wahrscheinlich harmlos.« Doch als Hannah nach dem Umschlag griff und ihn aufriss, zitterten ihre Hände. Sie zog mehrere Blatt Papier heraus und entfaltete sie. Ganz oben lag ein Anschreiben, das auf teures Briefpapier gedruckt war.

Hannah überflog das Schreiben und las es dann noch einmal langsamer, um die juristischen Fachbegriffe zu verstehen.

Sehr geehrte Ms Martin,

im Namen der Kanzlei Woodruff & Beck möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid zum Tod von Julian P. Lambert aussprechen. Ich wende mich an Sie, um Ihnen mitzuteilen, dass er zu Lebzeiten einen Trust eingerichtet hat, der mit seinem Tod unwiderruflich wurde. In der Trusturkunde werden Sie als eine der Begünstigten genannt. Als Trustverwalter habe ich die Aufgabe, das gesamte Trustvermögen zu verwalten und es an die Begünstigten zu übertragen, was ich so bald wie möglich tun werde.

Anbei finden Sie eine Kopie der Trusturkunde, damit Sie sich mit den Einzelheiten vertraut machen können.

Wenn Sie Fragen haben, zögern Sie bitte nicht, mich unter 503-595-7025 zu kontaktieren.

Mit freundlichen Grüßen

Craig Woodruff

Hannah starrte auf die Worte, bis diese vor ihren Augen verschwammen. Julian P. Lambert? Sie kannte niemanden mit diesem Namen, oder?

»Schlechte Nachrichten?«, fragte Dawn.

»Nein.« Nun ja, für Julian P. Lambert, wer immer er auch war, waren es sicherlich schlechte Nachrichten. »Zumindest glaube ich das nicht.« Hannah blätterte durch den Rest der Papiere. Es handelte sich um etwa zehn Seiten juristischen Kauderwelschs. Sie überflog sie, bis ihr eigener Name ihr ins Auge sprang, und las dann ab dem Anfang des Abschnitts.

Nach dem Tod des Erblassers wird, sofern nichts anderes bestimmt ist, das gesamte in Anhang A aufgeführte Trustvermögen zu gleichen Teilen zwischen den Töchtern des Erblassers, Brooke Geraldine Lambert und Winter Louise Sullivan, aufgeteilt.

Recht, Titel und Interesse an der Immobilie in der 19460 SW East Side Road in Lake Oswego, Oregon, gehen auf Brooke Geraldine Lambert über.

Recht, Titel und Interesse an der Immobilie in der 1405 SW Park Avenue in Portland, Oregon, gehen zu gleichen Teilen auf Hannah Elizabeth Martin und Winter Louise Sullivan über, jedoch nur unter der Bedingung, dass beide dort gemeinsam mietfrei für einen Zeitraum von zweiundneunzig aufeinanderfolgenden Tagen wohnen.

Hannah sackte gegen die Rückenlehne der Couch und rieb sich die Augen. Eine Immobilie. Träumte sie etwa? Als sie schließlich von dem Brief aufsah, begegnete sie Dawns fragendem Blick. »Ich glaube, jemand, den ich nicht einmal kenne, hat mir ein Haus hinterlassen. Na ja, die Hälfte eines Hauses.« Sie betrachtete das Dokument. »Es sei denn, es handelt sich um eine ausgeklügelte Version der Betrugsmasche mit dem nigerianischen Prinzen.«

Dawn neigte den Kopf zur Seite. »Welche Betrugsmasche?«

»Ach, du weißt schon. Eine dieser E-Mails, in denen steht, dass man der nächste Angehörige eines nigerianischen Prinzen sei und dreißig Millionen Dollar erben werde, sobald man eine geringfügige Überweisungsgebühr bezahlt habe.«

Dawn kicherte. »Vielleicht solltest du den Anwalt googeln.«

Warum war sie darauf nicht selbst gekommen? Hannah konnte noch immer nicht klar denken. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und tippte den Namen der Anwaltskanzlei in den Browser ein. Eine professionell aussehende Webseite erschien und unter Fachgebiete stand zu lesen, dass sich die Kanzlei auf Nachlassplanung und Erbrecht spezialisiert hatte. »Sieht seriös aus.«

So kam sie nicht weiter. Aber vielleicht … Sie tippte Julian P. Lambert ein und scrollte dann an Links zu LinkedIn und dem Portland Business Journal vorbei, bis sie zu einem Nachruf kam.

Julian P. Lambert, der Gründer von ZLT AgriMarketing, verstarb im Alter von sechsundsiebzig Jahren am …

Das Foto auf der linken Seite wurde endlich langsam geladen und Hannah hörte abrupt auf zu lesen.

O mein Gott! Das ist Jules! Trotz ihres schlechten Gedächtnisses für Gesichter erkannte sie ihn sofort. Sein dichtes, silbergraues Haar war unverkennbar. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie es für eine Perücke gehalten. Erst als sie ihm eine Kopfmassage gegeben hatte, war ihr klar geworden, dass sein Haar echt war. Erschrocken hatte sie innegehalten und das war das erste Mal gewesen, dass sein ernster Gesichtsausdruck einem Grinsen gewichen war.

Und jetzt war er tot. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. Sie ließ das Handy auf die Couch fallen und blinzelte gegen das Brennen in ihren Augen an.

Dawn rutschte näher an sie heran und legte kurz ihre Hand auf Hannahs. »Es tut mir leid. Du kanntest ihn also doch?«

»Ja, ähm …« Hannah biss sich auf die Unterlippe. Als professionelle Kuschlerin war sie an die Schweigepflicht gebunden und durfte Dawn nicht verraten, woher sie Jules kannte.

»Ach so. Er war ein Kunde. Du musst nichts sagen.« Dawn drückte sanft Hannahs Finger, ließ dann los und stand auf. »Ich werde jetzt gehen, damit du das alles verarbeiten kannst.« Sie nickte auf das Schreiben hinab, das zu Boden gefallen war.

Hannah hob es auf und umklammerte die Seiten so fest, als würde dadurch alles greifbarer werden. »Danke. Ich gebe zu, das hat mich jetzt etwas aus der Bahn geworfen.«

Sie hatte natürlich gewusst, dass Jules krank gewesen war, denn sie hatten seine Kuschelsitzungen immer um seine Dialysetermine herum legen müssen. Oft hatte er müde gewirkt und hin und wieder war er sogar während einer Kuschelstunde eingeschlafen. Aber er hatte es immer abgetan. Das entschlossene Funkeln in seinen Augen hatte sie vergessen lassen, dass er nicht bei bester Gesundheit war, und sie wusste, dass er es so gewollt hatte. Obwohl er seit Monaten keinen Termin vereinbart hatte, war ihr nicht der Gedanke gekommen, ihm könnte etwas passiert sein. Sie hatte angenommen, eines seiner unzähligen Projekte hielte ihn beschäftigt, denn trotz seines Ruhestands schien er immer an irgendetwas zu arbeiten.

»Ich hatte keine Ahnung, dass er …« Sie unterbrach sich. »Oder dass er vorhatte, mir etwas zu hinterlassen. Von jetzt auf gleich gehört mir ein halbes Haus. Funktioniert das wirklich so? Müsste es nicht eine Testamentseröffnung oder so etwas geben?«

Dawn schüttelte den Kopf. »Wir hatten auch keine, als mein Vater und mein Bruder gestorben sind. So etwas gibt es im wirklichen Leben nicht, nur in Filmen. Diese dramatischen Enthüllungen und überraschtes Nach-Luft-Schnappen in mahagoniverkleideten Anwaltskanzleien sorgen wohl für gute Unterhaltung.«

»Ja, vermutlich.« Wie auf Autopilot begleitete sie Dawn zur Tür und gab ihr einen Stapel Visitenkarten zum Verteilen an ihre Patientinnen mit. »Vielen Dank, dass du gekommen bist. Ruf mich an, wenn du Gelegenheit hattest, mit deinen Patientinnen zu sprechen, oder wenn du irgendwelche Fragen hast.«

Sobald sich die Tür hinter Dawn geschlossen hatte, lehnte sich Hannah dagegen und starrte auf die Dokumente, die sie noch immer in der Hand hielt.

Würden Jules’ Töchter ähnliche Briefe bekommen? Hatte er ihnen gesagt, dass er vorhatte, seiner professionellen Kuschlerin die Hälfte des Hauses zu vererben?

Falls nicht, wäre überraschtes Nach-Luft-Schnappen vielleicht doch nicht bloß auf Filme beschränkt.

Kapitel 2

Winter stürmte am Empfangstresen und zwei Angestellten ihrer Halbschwester vorbei und riss Brookes Bürotür auf, ohne anzuklopfen. »Hast du davon gewusst?«

Brooke sah auf. Gelassen nahm sie ihre manikürten Finger von der Tastatur und winkte ab. »Schließ die Tür.«

Winter knallte die Tür dermaßen zu, dass die überteuerten Kunstwerke an den Wänden wackelten.

Ihre Schwester hingegen schien völlig gefasst zu sein. Ihr Make-up war wie immer makellos und in ihrem strengen Dutt saß jedes Haar, wie es sollte. Brookes kastanienbraunes Haar ärgerte Winter jedes Mal aufs Neue, weil es im Gegensatz zu ihrem eigenen silberfarbenen Schopf nicht eine einzige graue Strähne aufwies, obwohl Brooke genau wie sie selbst einundvierzig und sogar fünf Monate älter war.

Brooke warf ihr einen kühlen Blick zu. »Habe ich wovon gewusst?«

»Spiel nicht die Ahnungslose. Natürlich hast du es gewusst.« Mit langen Schritten durchquerte Winter das geräumige Eckbüro und drückte Brooke das Dokument in die Hand. »Der alte Fuchs hat sein gesamtes Vermögen in einen Trust überführt.«

Brooke gab es zurück, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben. »Na und? Damit wird das ganze Prozedere für uns beschleunigt, weil wir ein langes gerichtliches Nachlassverfahren vermeiden können.«

»Ja, für dich wird alles beschleunigt! Du bekommst das Haus in Lake Oswego und die Hälfte von allem anderen in jedem Fall, während mein Erbe an Bedingungen geknüpft ist.« Natürlich hatte die Sache einen Haken. Sie hätte es wissen müssen. Nichts war bei ihrem Vater jemals bedingungslos. Alles hatte seinen Preis, zumindest für sie. Brooke, sein ehelich geborenes Goldkind, hatte immer alles bekommen, was sie wollte, ohne lange bitten zu müssen.

Winters Finger verkrampften sich, als sie gegen den Drang ankämpfte, dieses verdammte Schriftstück in kleine Fetzen zu reißen. Als sie den Brief geöffnet hatte, war sie drauf und dran gewesen, ihn einfach wegzuwerfen, so wie Julian ihre Mutter weggeworfen hatte. Winter hatte jahrelang hart gearbeitet, um ihre eigene Firma erfolgreich zu machen. Sie brauchte nichts von alldem, was in der Trusturkunde aufgeführt war, weder sein Geld oder seine Aktien noch seine Lebensversicherungspolicen. Sie scherte sich nicht darum.

Das Gebäude in der SW Park Avenue hatte sie jedoch haben wollen, schon seitdem sie letztes Jahr erfahren hatte, dass es zum Verkauf stand. Durch seine Lage in der Innenstadt von Portland war es für viele ihrer Marketingkunden leicht zu erreichen und die großen Erkerfenster hatten es ihr angetan. Sie hatte vorgehabt, zwei der Einzimmerwohnungen für sich zu behalten, eine als Wohnbereich, die andere als Büro für Kundentermine. Die anderen Wohnungen hätte sie vermietet, was ihr beim Tilgen der Hypothek geholfen hätte.

Aber dank ihrer Schwester, dieser falschen Schlange, hatte Julian von ihren Plänen erfahren und ihr das Gebäude vor der Nase weggeschnappt. »Ich habe dir lediglich eine wertvolle Lektion erteilt«, hatte er in sachlichem Ton gesagt. »Das Immobiliengeschäft ist genauso schnelllebig wie die Marketingbranche. Wenn du als Marketingberaterin auf Dauer Erfolg haben willst, kannst du es dir nicht leisten, beim Abwickeln von Geschäften zu schlafen. Besser, du lernst das von mir als von jemand anderem.«

Jetzt hielt er Winter das Gebäude wie eine Karotte vor die Nase, in einem letzten Versuch, ihr Verhalten selbst aus dem Grab heraus zu steuern.

Brooke zuckte mit den Schultern. »Unser Vater hat es so gewollt und von allem anderen bekommst du die Hälfte, ohne auch nur einen Finger krumm gemacht zu haben. Du hast nichts getan, um auch nur einen Cent seines Geldes zu verdienen, warum beschwerst du dich also?«

»Verdienen?« Winter zog das Wort in die Länge. »Ach, und du glaubst, du hast es verdient, nur weil deine Mutter bei deiner Geburt einen Ehering am Finger hatte und meine nicht? Ich bin genauso seine Tochter wie du und habe das gleiche Anrecht auf Julians Geld!« Das war der einzige Grund, warum sie ihr Erbe nicht ausschlug: um allen zu beweisen, dass sie es ebenso sehr verdiente wie seine eheliche Tochter. Vermutlich würde sie das meiste davon ihrer Mutter geben oder für wohltätige Zwecke spenden, aber Brooke überlassen würde sie es nicht.

»Ach, plötzlich fällt dir wieder ein, dass du seine Tochter bist? Hat man aber nicht gemerkt, als er krank wurde. Du warst nicht da, als sein Herz versagt hat und –« Brooke winkte ab, presste dann ihre Handflächen auf den teuren Schreibtisch und saß kerzengerade da. »Entschuldige also, wenn ich nicht in der Stimmung bin, mir deinen kleinen Tobsuchtsanfall anzuhören. Ich habe zu tun.« Sie zog die Tastatur näher an sich heran und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. Offenbar war das Gespräch für sie beendet.

O nein! Wenn ihre Halbschwester glaubte, der stolzen Lambert-Tradition folgen zu können, indem sie ihre Existenz ignorierte, hatte sie die Rechnung ohne Winter gemacht! Winter ließ sich in den Besucherstuhl vor Brookes riesigem Schreibtisch sinken und streckte ihre langen Beine aus, als wollte sie es sich bequem machen. Sie würde dieses Büro erst verlassen, wenn sie fertig war. Ein Lambert, der sie zwang, nach seiner Pfeife zu tanzen, war mehr als genug. Sie kniff die Augen zusammen und musterte Brookes unbewegte Gesichtszüge. »Wenn du glaubst, du hättest es verdient, alles allein zu erben, weil du für Julian die Krankenschwester gespielt hast, wieso lässt du dich dann auf diese Farce ein? Sag nicht, du bist damit einverstanden, dass die Hälfte des Anwesens in der Park Avenue an eine Wildfremde geht!«

»Eine Wildfremde?«, wiederholte Brooke. »Du weißt also auch nicht, wer sie ist?«

Winter lachte ohne jegliche Belustigung. »Ich? Ich dachte, du wüsstest es!«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Brooke lehnte sich in ihrem Designerledersessel zurück und wirkte souverän und überlegen. »Ich weiß nur, dass sie die Immobilie nicht bekommen wird.«

»Natürlich wird sie das.«

»Wer sagt das?«

»Du hast zwei Abschlüsse von renommierten Universitäten und kannst trotzdem nicht lesen?« Winter hielt die Trusturkunde in die Höhe und grinste Brooke über den Seitenrand hinweg an, bevor sie laut vorlas: »Recht, Titel und Interesse an der Immobilie in der 1405 SW Park Avenue in Portland, Oregon, gehen zu gleichen Teilen auf Hannah Elizabeth Martin und Winter Louise Sullivan über.«

»Dein Abschluss von einer billigen staatlichen Uni, von der noch nie jemand etwas gehört hat, war beim Lesenlernen offenbar auch nicht hilfreich.« Brooke schob einen Stapel Papierkram beiseite, öffnete eine Ledermappe und zog ihre eigene Kopie des Dokuments heraus. »Jedoch nur unter der Bedingung, dass beide dort gemeinsam mietfrei für einen Zeitraum von zweiundneunzig aufeinanderfolgenden Tagen wohnen. Während dieses Zeitraums müssen beide unter demselben Dach übernachten. Für den Fall, dass eine der beiden Begünstigten dieser Bedingung nicht zustimmt oder gegen sie verstößt, erhält sie keine Ausschüttung und ihr Anteil am Trustvermögen geht an die älteste Tochter des Erblassers, Brooke Geraldine Lambert.« Sie ließ die Papiere sinken und warf Winter einen süffisanten Blick zu.

Winter starrte kühl zurück. »Deshalb reagierst du so gelassen. Du denkst, ich werde mich weigern, bei Julians Erpressung mitzuspielen, sodass du meinen Anteil bekommst, dieser Hannah ihre Hälfte abkaufst und schon gehört dir das ganze Gebäude.«

Brooke rollte träge einen silbernen Kugelschreiber zwischen ihren Fingern. »Klingt für mich nach einem wasserdichten Plan.«

Falls Winter je mit dem Gedanken gespielt hatte, die Trusturkunde zu einer Papierkugel zusammenzuknüllen, sie Brooke ins Gesicht zu schleudern und ihr zu sagen, sie solle das verdammte Erbe behalten, so war dieser Gedanke genauso schnell verschwunden wie Julian aus dem Leben ihrer Mutter. Die Leder-Stahl-Konstruktion unter Winter knarrte, als sie sich abrupt nach vorn beugte. »Nicht so wasserdicht, wie du denkst, Schwesterherz.« Sie zog das Wort spöttisch in die Länge. »Ich beabsichtige, die Bedingung des Trustvertrags in vollstem Umfang zu erfüllen.«

Mist. Sie hatte nicht vorgehabt, das zu sagen und auf Julians Erpressung einzugehen. Aber sie würde es nicht zurücknehmen.

Falls ihre Erklärung Brooke überrascht hatte, so ließ sie sich das nicht anmerken. Ihr Pokerface war so makellos wie ihr Make-up. »Es spielt keine Rolle, was du beabsichtigst, Schwesterherz.« Sie verlieh dem Wort den gleichen spöttischen Klang. »Wie lange hast du mit deiner letzten Freundin zusammengelebt? Ach, stimmt! Du gehst keine Beziehungen ein, weil du Menschen nicht magst – und sie dich auch nicht.«

Winter schnaubte. »Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Du bist eine Headhunterin und kannst nicht mal eine Assistentin finden, mit der du gern zusammenarbeitest.«

»Es heißt Personalberaterin«, murmelte Brooke. »Und ich könnte schon jemanden finden, ich will es nur nicht. Eine Assistentin wäre mir nur ein Klotz am Bein. Die meisten Leute sind Idioten.«

Einen Moment lang herrschte einvernehmliches Schweigen. Nach einundvierzig Jahren, in denen sie immer wieder aneinandergeraten waren, hatten sie endlich etwas gefunden, bei dem sie gleicher Meinung waren.

»Die geheimnisvolle Fremde«, Brooke tippte auf den Abschnitt des Trustdokuments, in dem die Begünstigten aufgeführt waren, »wird vermutlich keine Ausnahme sein.«

»Na und?«, sagte Winter. »Nur weil wir gezwungen sind, drei Monate lang unter einem Dach zu leben, heißt das nicht, dass wir beste Freundinnen werden müssen. Es ist schließlich ein großes Gebäude. Wir werden uns höflich zunicken, wenn wir uns zufällig im Aufzug begegnen, aber das war’s auch schon.«

Brookes Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Ja, es ist ein großes Haus, aber alle Einheiten sind vermietet. Und da die Miete für Portländer Verhältnisse ziemlich günstig ist, wird keiner auf absehbare Zeit ausziehen wollen. Du wirst dir Papas Wohnung im obersten Stockwerk mit der geheimnisvollen Fremden teilen müssen.«

Ein Kloß setzte sich in Winters Hals fest, aber sie weigerte sich, ihn hinunterzuschlucken, um Brooke nicht auf ihr Unbehagen aufmerksam zu machen. Sie hatte mit niemandem mehr zusammengelebt, seit sie mit achtzehn aus dem Haus ihrer Mutter ausgezogen war. Schon bei dem bloßen Gedanken daran, sich mit jemandem eine Wohnung zu teilen, spürte sie die Verspannung in ihrem Rücken zunehmen.

Hatte Julian sich absichtlich eine Bedingung ausgedacht, die sie ins Schwitzen bringen würde? Sie hielt es für wahrscheinlich. Er hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, die Schwachstellen der Konkurrenz ausfindig zu machen, und in seinem Privatleben war es genauso gewesen.

Brookes Grinsen wurde breiter. »Jetzt bist du nicht mehr so selbstsicher, was? Wie ich dich kenne, hältst du es keine zweiundneunzig Stunden, geschweige denn zweiundneunzig Tage mit jemandem aus. Ich kann mich zurücklehnen und abwarten, bis eine von euch den Schauplatz eures Elends verlässt. Vielleicht habe ich sogar Glück und ihr geht beide.«

Winter knirschte mit den Zähnen. Das war also der Grund, warum Brooke so ruhig wie ein tibetischer Mönch geblieben war. Sie ging davon aus, dass sie am Ende zumindest die Hälfte des Gebäudes bekommen würde! Aber diese Genugtuung würde sie ihr nicht gönnen. »Träum weiter. Wir sprechen uns dann in neunzig Tagen, wenn ich mein Erbe bekomme.« Sie erhob sich und schlenderte zur Tür.

»Es sind zweiundneunzig Tage«, rief Brooke ihr nach. »Aber ich tippe eher auf sieben.«

»Genieß deine Wahnvorstellungen.« Winter marschierte mit hoch erhobenem Kopf hinaus. Sie würde das schon schaffen. Drei Monate waren keine Ewigkeit. Nur weil sie die Wohnung mit einer Fremden teilen musste, hieß das nicht, dass sie dazu verpflichtet war, Zeit mit ihr zu verbringen. Sie konnten einen Plan aufstellen, der bestimmte, wer wann die Küche benutzen durfte. Dann brauchten sie einander kaum zu begegnen. Sie würde ohnehin die ganze Zeit arbeiten, und wenn sie Glück hatte, war diese Anna oder Hannah oder wie auch immer sie hieß, ebenfalls eine arbeitssüchtige Einzelgängerin, die andere am liebsten auf Abstand hielt.

* * *

Direkt nach dem Studium hatte Winter in einer Marketingagentur gearbeitet, die sich auf Anwaltskanzleien spezialisiert hatte. In den zwei Jahren hatte sie drei Dinge gelernt: Die meisten Anwaltsbiografien auf Webseiten lasen sich ungefähr so interessant wie ein Gesetzbuch, sie war nicht dafür geschaffen, Angestellte zu sein, und es war eine gute Idee, für jede Gelegenheit die Telefonnummer eines Anwalts auf Kurzwahl gelegt zu haben.

Wahrscheinlich hatte Brooke sofort ihren Anwalt angerufen, nachdem sie den Brief erhalten hatte, und das war einer der Gründe, warum sie so ruhig geblieben war.

Auf dem Weg durch die moderne Lobby von Brookes Bürogebäude zog Winter ihr Handy aus der Tasche und scrollte durch ihre Kontakte. Mit dem läutenden Handy am Ohr trat sie auf die Market Street hinaus.

»Anwaltskanzlei Gardner & Jablonski, Sie sprechen mit Patrick Murphy«, sagte der Empfangsmitarbeiter der Kanzlei. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Winter Sullivan. Ist Ms Gardner im Haus?«

»Ja, ist sie. Einen Moment. Ich stelle Sie durch.«

Lebhafte Klaviermusik schallte durch das Handy. Winter hob die Augenbrauen. Das Stück war zu beschwingt für eine Kanzlei, die sich mit Erbrecht und Testamenten beschäftigte. Das passte nicht zur Marke. Gut, dass sie angerufen hatte. Sie musste Abby unbedingt ein paar kostenlose Marketingtipps geben, im Austausch gegen eine kostenlose Rechtsberatung. Schließlich war das seit Jahren die Grundlage ihrer Freundschaft, wenn man ihre Bekanntschaft überhaupt so nennen konnte.

»Hallo, Winter«, meldete sich Abby. »Wie geht’s dir? Es ist eine Weile her, dass ich von dir gehört habe.«

Winter war nicht gut darin, Kontakt zu halten. »Mir geht’s gut. Und dir? Und wie geht es … ähm …« Sie blieb an einer Straßenecke stehen, als bekäme ihr Gehirn dadurch die Chance, sich an den Namen zu erinnern. Verdammt. Brooke hätte den Namen von Abbys Verlobter sicher parat gehabt. Vermutlich war sie inzwischen sogar Abbys Ehefrau. Man munkelte, dass Brooke die Namen der Angehörigen von Geschäftspartnern in ihren Akten aufbewahrte.

Tja, sie war eben nicht Brooke. Sie beeindruckte ihre Kunden lieber mit einer verbesserten Konversionsrate als mit zwischenmenschlichen Nettigkeiten. Außerdem waren Abby und sie nicht eng befreundet. Sie waren in Kontakt geblieben, weil sie beide Workaholics waren und sich gut verstanden, aber meistens riefen sie einander nur dann an, wenn sie einen beruflichen Rat brauchten.

»Claire«, sagte Abby schließlich. »Soviel ich weiß, geht es ihr gut. Wir haben uns getrennt.«

»Oh. Tut mir leid, das zu hören.« Es musste wirklich eine Weile her sein, seit sie zuletzt miteinander gesprochen hatten.

»Ist schon in Ordnung«, sagte Abby. »Was kann ich für dich tun?«

»Julian … mein Vater ist gestorben und –«

»Das tut mir leid.«

Jetzt war es an Winter zu sagen: »Ist schon in Ordnung.« Das war vielleicht nicht die gesellschaftlich übliche Antwort, aber ihr Vater war für sie schon vor langer Zeit gestorben. »Jedenfalls hat er sein Vermögen in einen Trust eingebracht und einen Teil des Erbes an eine lächerliche Bedingung geknüpft. Wenn ich mich weigere, drei Monate lang mit einer Fremden zusammenzuleben, geht das Gebäude, das ich unbedingt haben will, an meine Halbschwester. Gibt es eine Möglichkeit, dagegen vorzugehen?«

»Hm«, sagte Abby. »Ich kann dir einen Anwalt für Trustrecht empfehlen, der in Oregon zugelassen ist, aber ich würde mir an deiner Stelle nicht allzu viel davon versprechen. Ein Trustvertrag ist vor Gericht viel schwerer anzufechten als ein Testament. Die Bedingung deines Vaters mag ungewöhnlich sein, aber es klingt nicht so, als würde sie gegen ein bestehendes gesetzliches Verbot verstoßen. Ich bezweifle, dass ein Gericht sie als unwirksam erklären würde – es sei denn, du könntest nachweisen, dass er geistig nicht in der Lage war, die Tragweite seines Handelns zu erkennen.«

Winter seufzte. Es war unmöglich, das zu beweisen. Selbst mit Mitte siebzig war Julians Verstand so scharf wie ein Skalpell gewesen. Insgeheim hatte sie bereits befürchtet, dass sie nicht so einfach aus der Sache herauskommen würde. Julian hatte bestimmt den besten Anwalt für Nachlassplanung an der Westküste engagiert, um sicherzustellen, dass das Dokument hieb- und stichfest war.

Na toll. Sie würde also die nächsten drei Monate mit dieser Hannah verbringen müssen, die womöglich eine Serienmörderin war.

Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Du bist ja vielleicht dramatisch!

Okay, vermutlich war sie keine Serienmörderin, aber sie könnte sehr wohl eine Erbschleicherin sein, die Julian dazu gebracht hatte, sie zu einer Begünstigten zu machen.

»Na schön. Sieht wohl so aus, als müsste ich in den sauren Apfel beißen. Danke, Abby. Sag mir Bescheid, wenn du eine Marketingfrage hast und ich mich revanchieren kann. Apropos, du solltest wirklich deine Warteschleifenmusik auf etwas weniger Fröhliches umstellen.«

Sie verabschiedeten sich und beendeten das Gespräch.

Winter überquerte die Straße, um zu ihrem Auto zu gelangen. Dort angekommen setzte sie sich hinter das Lenkrad, startete aber noch nicht den Motor.

Lass uns mal herausfinden, wer diese Hannah Martin ist.

Winter war sich ziemlich sicher, dass sie diesen Namen noch nie in ihrem Leben gehört hatte. Sie tippte mit den Daumen Hannah Martin Portland in den Browser ihres Handys ein.

Die Suche ergab so viele Treffer, dass die zweiundneunzig Tage vorbei sein würden, bis sie jeden Link überprüft hätte. Auf der ersten Seite der Suchergebnisse waren eine Veranstaltungsplanerin, eine Massagetherapeutin und eine Pilates-Trainerin aufgeführt, und Winter hatte keine Ahnung, welche davon die richtige Hannah Martin war.

Vielleicht die Veranstaltungsplanerin? Julian schien nicht der Typ zu sein, der sich massieren ließ oder einen Pilates-Kurs besuchte.

Aber genau konnte sie es nicht sagen. Sein Putzpersonal hatte ihn vermutlich besser gekannt als sie.

Grummelnd ließ sie ihr Handy auf den Beifahrersitz fallen. Gleich morgen früh würde sie den Trustverwalter anrufen und ein Treffen mit ihm und Ms Martin vereinbaren. Je eher sie ihre zweiundneunzig Tage Haft antraten, desto früher würde diese ganze Farce ein Ende haben.

Kapitel 3

Am Samstagmorgen lief Hannah durch den Cultural District so schnell sie konnte, ohne ins Joggen zu verfallen. Sie wollte nicht völlig verschwitzt zu ihrem Treffen mit dem Anwalt und ihrer Mitbegünstigten kommen.

Es konnte auch wirklich nur ihr passieren, fünfzehn Minuten zu früh aus dem Haus zu gehen und trotzdem zu spät zu kommen. Sie war an der falschen Haltestelle aus dem Bus gestiegen und hatte an jeder Kreuzung wertvolle Zeit verloren, weil sie sich die Straßenschilder ansehen musste, um zu überprüfen, ob sie in die richtige Richtung ging.

Die ganze Zeit über ihre beste Freundin am Handy zu haben, hatte auch nicht unbedingt geholfen. Normalerweise lauschte Hannah gern dem melodischen Klang von Valentinas Stimme. Ab und zu kam deren fast unmerklicher brasilianischer Akzent durch und brachte Hannah zum Lächeln. Aber im Moment war es eher eine Ablenkung.

»Was ist mit dem Farn neben der Couch?«, fragte Valentina. »Soll ich den auch einmal in der Woche gießen oder öfter vorbeikommen?«

»Ähm, ich gebe dir später eine Liste mit Anweisungen. Die erwarten sicherlich nicht, dass ich sofort einziehe. Ich muss jetzt aufhören. Ich brauche mein Handy, damit ich nicht in Goose Hollow lande.«

Valentinas herzliches Lachen schallte durch das Handy. »Sag nicht, du hast dich schon wieder verlaufen!«

»Nein, natürlich nicht.«

Valentina kicherte. »Ach, wie damals, als du in der Küche des vietnamesischen Restaurants gelandet bist, weil du links statt rechts abgebogen bist, nachdem du auf der Toilette warst?«

»Ich habe mich nicht verlaufen. Ich wollte nur nachsehen, ob die Hygienevorschriften eingehalten werden«, antwortete Hannah, wusste aber, dass die Belustigung in ihrer Stimme sie verriet. Längst hatte sie gelernt, die Nachteile ihres ungewöhnlich funktionierenden Gehirns mit Humor zu nehmen – und die Vorteile zu genießen. »Aber ganz ehrlich, diesmal habe ich mich nicht verlaufen. Ich glaube, ich war hier schon mal. Ich gehe nur auf Nummer sicher.«

Zuerst hatte Hannah angenommen, Jules hätte ihr ein Einfamilienhaus vererbt. Aber als sie sich das Trustdokument noch einmal durchgelesen hatte, war ihr die Adresse bekannt vorgekommen, deshalb hatte sie diese gegoogelt – und wäre fast vom Sofa gefallen.

Jules hatte ihr die Hälfte des vierstöckigen Mietshauses hinterlassen, in dem sich die Wohnung befand, die er scherzhaft seine »Kuschelhöhle« genannt hatte!

Anfangs hatte er es vorgezogen, sich in Hannahs Wohnung mit ihr zu treffen, so als wollte er die Kuschelsitzungen vom Rest seines Lebens getrennt halten. Aber die letzten Male hatte er sie gebeten, zu ihm zu kommen. Er hatte keinen Grund genannt, aber jetzt vermutete sie, dass sich sein ohnehin prekärer Gesundheitszustand verschlechtert hatte und er nicht mehr die Kraft besaß, quer durch die Stadt zu fahren. Warum hatte er es ihr nicht gesagt?

Fast zwei Jahre lang hatten sie einmal pro Woche miteinander gekuschelt und trotzdem hatte er ihr nicht genug vertraut, um zuzugeben, wie krank er wirklich war. Er hatte nicht einmal erwähnt, dass er die Wohnung im obersten Stockwerk nicht nur gemietet hatte, sondern dass das ganze Gebäude ihm gehörte!

Der Gedanke schmerzte, doch sie schüttelte ihn ab. Als professionelle Kuschlerin nahm sie eine ungewöhnliche Stellung im Leben ihrer Kunden ein. Sie war weder Therapeutin noch enge Freundin, gleichzeitig aber ein bisschen von beidem. Während sie für viele ihrer Kunden eine Vertrauensperson war, zogen es andere, wie Jules, vor, überwiegend schweigend zu kuscheln und nur hin und wieder etwas über ihr Leben zu erzählen. Das bedeutete nicht, dass Jules ihre Sitzungen nicht zu schätzen gewusst hatte, ansonsten hätte er ihr wohl kaum eine Hälfte des Gebäudes hinterlassen.

»Du glaubst, du warst schoneinmal dort?«, wiederholte Valentina und brachte Hannah damit ins Hier und Jetzt zurück. »Hannah, du warst schon hundertmal in dieser Gegend!«

»Ehrlich?« Hannah blickte sich um. Sie konnte sich nur an zwei oder drei Besuche in Jules’ Kuschelhöhle erinnern. Keiner der unscheinbaren Flachbauten zu ihrer Linken und Rechten kam ihr bekannt vor.

»Na ja, vielleicht nicht hundertmal, aber du warst schon öfter da«, sagte Valentina. »Wenn du die Clay Street entlanggehst, musst du an der Zahnarztpraxis vorbeigekommen sein, in der Luna arbeitet, und der Donutladen, wo wir diese leckeren Apfelwein-Donuts gekauft haben, ist auch in der Gegend. Hey, und hat nicht auch einer deiner Kunden in dieser Straße gewohnt?«

Valentina kannte die Adresse, denn sie war wie Hannah Profi-Kuschlerin und ihre Sicherheitspartnerin – die Person, der sie Bescheid sagte, wenn sie Hausbesuche bei Kunden machte.

»Ja, aber damals bin ich an der richtigen Haltestelle ausgestiegen und habe deshalb einen anderen Weg genommen.«

»Geh einfach weiter geradeaus bis zu den South Park Blocks, dann biegst du nach Norden ab und schon bist du da.«

Hannah beschattete ihre Augen mit der freien Hand. Vor ihr ragten die majestätischen Eichen des Parks in den Himmel. »Nach Norden? Das heißt, ich muss rechts abbiegen, oder?«

Valentina lachte erneut. »Ja! Ich habe noch nie jemanden getroffen, der einen so schlechten Orientierungssinn hat wie du! Sind alle Leute mit Afantasie so?«

»Keine Ahnung. Vielleicht hat bei einigen das Gehirn einen Weg gefunden, das Fehlen einer mentalen Landkarte zu kompensieren. Meines jedenfalls nicht.« Hannah sah sich das Schild an der nächsten Straßenecke an. »Puh! Ich habe es gefunden. Danke! Ich werde auf dem Rückweg beim Donutladen vorbeigehen und dir ein paar Apfelwein-Donuts mitbringen, als Dankeschön dafür, dass du auf meine Wohnung aufpasst und meine Blumen gießt.«

»Falls du den Laden findest«, sagte Valentina mit einem schelmischen Grinsen in der Stimme.

»Haha. Dann bis später.«

»Tschau«, antwortete Valentina.

Sie beendeten das Gespräch und Hannah bog rechts in die SW Park Street ein. Sie schaute sich um und versuchte, sich das Café zu ihrer Linken als Orientierungspunkt einzuprägen, damit sie später wieder zur Bushaltestelle zurückfinden würde.

Im Park zu ihrer Rechten saßen mehrere Leute auf Decken und strickten. Es schien sie nicht zu stören, dass der Sonnenschein, den der Wetterbericht vorhergesagt hatte, wie so oft im Mai einem wolkenverhangenen Himmel gewichen war.

Ach, wie schön! Vielleicht könnte sie, sobald das Wetter wärmer wurde, eine Decke mit in den Park nehmen und sich hin und wieder dort mit einem Kunden treffen.

Als sie die von Bäumen gesäumte Einbahnstraße entlangging, kamen ihr die Gebäude um sie herum zunehmend bekannter vor, obwohl sie keine Bilder im Kopf hatte, mit denen sie die Häuser hätte vergleichen können.

Das charmante rote Backsteingebäude zu ihrer Linken war unverwechselbar. In den oberen Stockwerken ragten jeweils zwei Erkerfenster aus der Fassade und flankierten eine schmiedeeiserne Feuerleiter.

Dekorative Stilelemente zierten den Bogen über der hölzernen Doppeltür, und eine Messingplakette verkündete, dass das Gebäude im nationalen Verzeichnis historischer Stätten eingetragen war.

Hannah blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen, legte den Kopf in den Nacken und ließ ihren Blick über die vier Stockwerke schweifen. Sie konnte noch immer kaum fassen, dass ihr die Hälfte hiervon gehörte – und dass Jules nicht da sein würde, um sie mit einer fast schüchternen Umarmung zu begrüßen, wenn sie die Wohnung betrat.

»Ms Martin?«

Eine tiefe Stimme ließ Hannah aus ihren Gedanken aufschrecken. Als sie den Blick zurück zur Straße senkte, kamen zwei Fremde – ein Mann und eine Frau – auf sie zu.

»Ja, das bin ich. Mr Woodruff?« Es war nicht schwer zu erraten, dass er der Anwalt war, den Jules mit der Verwaltung des Trusts beauftragt hatte. In einem dunklen Anzug, einer Seidenkrawatte und einem schwarzen Mantel sah er wie ein Anwalt aus.

Er nickte, wechselte seine Aktenmappe in die linke Hand und reichte ihr die rechte. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Haben Sie gut hergefunden?«

»Ähm, ja, danke.« Hannah schüttelte ihm die Hand und wandte dann ihre Aufmerksamkeit der Frau neben ihm zu.

Das knappe Nicken der Fremden war genauso förmlich wie ihr Outfit. Einen Moment lang hielt Hannah sie für eine Kollegin von Mr Woodruff, denn sie war in einem ähnlichen Stil und in denselben kühlen Farben gekleidet. Eine dunkelgraue Anzughose brachte ihre langen Beine zur Geltung und ein weißer Rollkragenpullover aus Kaschmirwolle umschmeichelte ihren schlanken Körper. Nur die schwarze, hüftlange Lederjacke passte nicht zur Garderobe einer Anwältin, ebenso wenig wie die Sonnenbrille, die trotz des wolkenverhangenen Himmels ihre Augen bedeckte. Selbst durch die dunklen Gläser hindurch spürte Hannah, wie der Blick der Frau sie förmlich durchbohrte.

Nach einigen Sekunden schob sie die Sonnenbrille hinauf in ihr kurzes, stilvoll zerzaustes Haar, das ihre hohen Wangenknochen betonte. Durchdringende eisblaue Augen betrachteten sie, ohne zu blinzeln.

Hannah erstarrte mit halb ausgestreckter Hand. Diese Augen ließen keinen Zweifel daran, wer die Frau war. Sie hatte Jules’ Augen und auch sein Haar. Es war dicht und silbergrau, was es schwer machte, ihr Alter zu schätzen. Abgesehen von einer diagonalen Falte über der Nasenwurzel war ihr Gesicht glatt. Nicht einmal Lachfältchen umgaben ihren Mund oder ihre Augenwinkel. Hätte Hannah raten müssen, hätte sie Jules’ Tochter auf um die vierzig geschätzt, also zehn Jahre älter als sie selbst.

»Winter Sullivan«, sagte die Frau mit dunkler, leicht rauer Stimme.

Das war nicht Jules’ Nachname. Na ja, vielleicht war Winter verheiratet.

Hannah gab sich einen Ruck und hob ihre Hand Winter entgegen. »Hallo. Ich bin Hannah Martin.«

»Ms Martin.« Wieder ein knappes Nicken. Nach kurzem Zögern legte Winter ihre langen Finger um Hannahs und schüttelte ihre Hand mit festem Druck. Dann ließ sie los und schob ihre Hand in die Jackentasche, so als wollte sie verhindern, dass Hannah sie auch nur eine Sekunde länger als unbedingt nötig berühren konnte.

»Ach, lass uns doch du sagen. Schließlich werden wir in den nächsten Monaten Nachbarinnen sein.« Hannah unterdrückte ein nervöses Kichern. Himmel, diese Frau war einschüchternd. Sie wurde wieder ernst. »Das mit deinem Vater tut mir sehr leid.«

Winters Miene veränderte sich nicht. Kein Anzeichen von Trauer war in ihrem markanten Gesicht zu sehen, als sie wieder nur kurz nickte.

Seltsam. Wäre Jules Hannahs Vater gewesen, würde sie vermutlich immer noch zu Hause sitzen und weinen. Aber natürlich trauerte jeder auf seine Weise, deshalb sollte sie wirklich nicht über Winter urteilen.

Mr Woodruff räusperte sich, als wollte er die unangenehme Stille unterbrechen. »Genau genommen werden Sie sogar mehr als nur Nachbarinnen sein.«

Hannah hatte fast vergessen, dass er noch da war. Jetzt drehte sie sich zu ihm um und warf ihm einen fragenden Blick zu.

Er hob die Mappe, die er in der Hand hielt. »Mr Lambert hat mir einen Brief mit seinen Wünschen hinterlassen. Er wollte, dass Sie beide sich seine Wohnung im obersten Stockwerk teilen. Sie verfügt über ein Büro und ein kleines, zusätzliches Zimmer, das leicht in einen Arbeitsbereich für Sie, Ms Martin, umgewandelt werden könnte.«

Hatte Jules ihm erzählt, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente? Wusste Winter davon?

»Moment mal«, sagte Winter. »Wir sollen hier arbeiten? Ich dachte, ich könnte bei mir zu Hause arbeiten und dann abends zum Schlafen herkommen.«

»Ähm, sollen wir nicht nach oben gehen und dort reden?«, fragte Mr Woodruff.

Winter rührte sich nicht vom Fleck. »Das können wir auch hier unten.« Sie fixierte ihn mit einem ungeduldigen Blick.

»Ihr Vater hat in seinem Brief deutlich gemacht, dass dies Ihr Hauptwohnsitz sein soll und nicht nur ein Ort, an dem Sie ein paar Stunden schlafen.« Er sah zwischen den beiden hin und her. »Stellt das ein Problem dar?«

»Nein«, sagte Hannah sofort. »Kein Problem, vorausgesetzt, Winter hat nichts dagegen, dass ich Kunden zu Besuch habe, und meinen Kunden macht es nichts aus, in eine Wohnung zu kommen, die ich mir mit jemandem teile.« Sie glaubte nicht, dass einer ihrer Kunden etwas dagegen haben würde, und für sie wäre es der reinste Luxus, ein eigenes Kuschelstudio zu haben, nicht nur eine durch einen Vorhang abgetrennte Ecke ihres Schlafzimmers.

Der Anwalt sah Winter an.

»Alles bestens«, sagte Winter mit zusammengekniffenen Lippen. »Sollen wir?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie so selbstbewusst und zielstrebig auf die Doppeltür zu, als gehörte ihr das Gebäude.

Nun ja, bald würde es ihr gehören, zumindest zur Hälfte. Hannah hatte sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnt, dass ihr die andere Hälfte gehören würde.

War das der Grund, warum Winter sich so kühl verhielt? Hatte sie erwartet, das ganze Haus allein zu erben?

Doch dagegen konnte Hannah nichts unternehmen, außer vielleicht auf ihr Erbe zu verzichten, und das würde sie definitiv nicht tun. Eine eigene Wohnung war ein Traum, den sie sich ohne Jules nie hätte erfüllen können, und die Mieteinnahmen würden es ihr ermöglichen, sich ganz auf ihren Kuschelservice zu konzentrieren, anstatt ihr Einkommen durch die Arbeit als Massagetherapeutin aufbessern zu müssen.

Sie und Winter würden einen Weg finden müssen, das Beste daraus zu machen.

Oft entpuppten sich Kunden, die anfangs eher kühl wirkten, später als richtige Kuschelmonster. Vielleicht war Winter genauso.

Vor ihr stieß Winter die Doppeltür auf wie ein Chirurg, der in den Operationssaal marschierte, um eine Amputation vorzunehmen.

Nun ja, vielleicht aber auch nicht.

* * *

Kein Problem,äffte Winter in Gedanken Hannahs unbeschwerten Tonfall nach, als sie die breiten Marmorstufen hinaufstapfte, die zu einer zweiten Doppeltür im Inneren des Gebäudes führten. Hannah Martin war genauso nervtötend heiter wie Abbys Warteschleifenmusik. Zweifellos würde sie morgens übers Wetter, die Portland Trail Blazers oder anderen Unsinn plaudern wollen, noch bevor Winter ihre erste Tasse Kaffee ausgetrunken hatte.

Nein danke.

Winter durchquerte die kleine, holzvertäfelte Lobby jenseits der Doppeltüren, ohne sich zu vergewissern, ob Hannah und der Anwalt Schritt hielten.

Der Aufzug war kleiner, als Winter es in Erinnerung hatte – so klein, dass sie einen Moment lang überlegte, die Treppe zu nehmen.

Aber Hannah war ihr schon gefolgt, ohne sich von der Enge stören zu lassen. Die meisten Leute machten instinktiv einen großen Bogen um Winter, doch als Mr Woodruff sich zu ihnen gesellte, rückte Hannah ihr derart auf die Pelle, dass ihre Arme einander streiften. Sie schien es nicht einmal zu bemerken, während sie mit Mr Woodruff über den Park auf der anderen Straßenseite plauderte.

Winter hörte nicht zu. Sie zog ihren Arm weg, indem sie den Knopf für das oberste Stockwerk drückte. Erst als die Tür sich öffnete und sie aus dem Aufzug traten, konnte sie wieder richtig durchatmen.

Letztes Jahr, als sie das Gebäude hatte kaufen wollen, hatte sie sich den Grundriss und eine der kleineren Wohneinheiten angesehen, doch ins oberste Stockwerk oder Julians Wohnung hatte sie nie einen Fuß gesetzt.

Mr Woodruff übernahm die Führung und schloss eine Tür auf.

Winter trat als Letzte ein und sah sich in aller Ruhe um.

Während alle übrigen Wohnungen im Haus klein waren, nahm Julians fast die gesamte rechte Seite des obersten Stockwerks ein.

Der T-förmige Flur ging in eine offene Küche mit kleinem Essbereich über. Die Edelstahlarmaturen glänzten, als wären sie nagelneu und nie benutzt worden. Gegenüber der Küche führten zwei Türen zu einem Büro und einem der Schlafzimmer. Letzteres beachtete Winter kaum, denn hier würde sie sich nur aufhalten, wenn sie schlief, deshalb war es ihr egal, wie es aussah. Das Büro jedoch nahm sie genauer unter die Lupe. Es war genauso gepflegt und makellos wie die Küche und enthielt bereits alles, was Winter brauchen würde: einen Holzschreibtisch, einen Bürostuhl, einen Besucherstuhl und eine Stehlampe. Nur das Notwendigste. Keinerlei Persönliches.

Das traf auch auf den Rest der Wohnung zu. Sie wirkte wie ein Musterhaus, nicht wie ein richtiges Zuhause. Hatte Julian jemals hier gewohnt oder hatte er das Gebäude nur gekauft, um sie zu ärgern, und es dann nie benutzt?

Hannah blieb neben ihr stehen. Anstatt sich im Raum umzusehen, musterte sie Winter mit einem aufmerksamen Blick, der diese erschaudern ließ. Was Hannah wohl an ihrem Gesicht ablesen konnte?

»Was ist?« Winter versuchte, nicht allzu unwirsch zu klingen, aber sie wusste, dass es ihr nicht gelungen war.

Hannah deutete auf das Fenster, das Aussicht auf eine Kirche bot. »Wenn du lieber den kleinen Raum neben dem Wohnzimmer als Büro nutzen möchtest, weil er eine schönere Aussicht hat, kann ich gern von hier aus arbeiten. Du müsstest mir nur helfen, die Couch rüberzubringen, denn die brauche ich für meine Arbeit.«

Was zum Teufel machte sie beruflich? Winter konnte sich keinen Beruf vorstellen, für den man eine Couch bräuchte, es sei denn, Hannah war Psychotherapeutin. »Das ist mir egal«, sagte Winter und meinte damit sowohl die Aussicht als auch Hannahs Job. »Ich sehe die meiste Zeit des Tages auf meinen Computerbildschirm, nicht aus dem Fenster.«

Mr Woodruff trat zwischen sie wie ein Lehrer, der zwei sich zankende Schülerinnen trennen wollte. Er setzte die Führung fort, indem er ihnen das größere Schlafzimmer am einen Ende des Flurs zeigte, gefolgt vom Wohnzimmer am anderen Ende.

Zwei Erkerfenster und die hohe Decke ließen das Wohnzimmer noch geräumiger erscheinen. Eine weiße Schiebetür mit Milchglasscheiben führte zu einem kleinen, zusätzlichen Zimmer, das von einer großen Couch dominiert wurde. Wie das Wohnzimmer bot es einen Blick auf den Park.

Es war auf jeden Fall schöner, als eine Kirche anzustarren. Einen Moment lang überlegte Winter, ob sie Hannahs Angebot, das Büro zu wechseln, noch einmal überdenken sollte. Sie streckte eine Hand aus, um das Fenster zu öffnen, und erstarrte dann. Woher zum Teufel hatte Hannah gewusst, welche Aussicht sich hier bieten und dass es ein Sofa geben würde, noch ehe sie den Raum überhaupt betreten hatte?

Sie wirbelte herum und fixierte Hannah mit einem prüfenden Blick. »Woher wusstest du von der Aussicht und der Couch?«

Hannah starrte sie mit großen Augen an. »Wie bitte?«

»Du warst schon mal hier, oder?«, stieß Winter anklagend hervor. »Mit Julian.«

Hannah betrachtete den Parkettboden. »Ähm, darüber kann ich nicht sprechen.«

Es war ja nicht so, als ob Winter irgendwelche Details hören wollte. Auch ohne ein Geständnis von Hannah wusste sie jetzt genau, warum die Wohnung wie ein Vorzeigeobjekt aussah. Julian hatte nicht hier gewohnt, sondern sie lediglich für gelegentliche Schäferstündchen mit seiner Geliebten genutzt!

Was soll der Scheiß? Sie hatte noch nie eine hohe Meinung von Julian gehabt, aber das schlug dem Fass den Boden aus! Warum zwang Julian sie, in seinem schnuckeligen Liebesnest mit seiner letzten Geliebten zusammenzuleben? Hatte er sie ein letztes Mal demütigen wollen? Oder war es seine kranke Vorstellung von einem Scherz?

Winter fand es nicht lustig. Ihr wurde übel. Verdammt, Julian! Das war ekelhaft! Hätte er sich nicht wenigstens eine Geliebte in seinem Alter nehmen können? Hannah hätte seine Tochter, vielleicht sogar seine Enkelin sein können!

Winter stürmte an Hannah vorbei. Als sie im Türrahmen stand, kam ihr ein anderer Gedanke und sie wirbelte herum. Verflixt! Vielleicht warsie Julians Tochter! Aus irgendeinem Grund beunruhigte sie dieser Gedanke noch mehr als die Annahme, dass Hannah seine Geliebte gewesen war. Aber vielleicht war das ja Julians kranke Logik gewesen: Seine beiden unehelichen Töchter sollten das Haus gemeinsam erben.

Das würde Sinn ergeben. Schließlich hatte er keiner seiner Geliebten und Exfreundinnen auch nur einen Cent hinterlassen. Winters Mutter hatte ihr ganzes Leben auf Julian gewartet und dennoch war sie in seinem Testament noch nicht einmal erwähnt worden. Offenbar glaubte er, ihr außer dem Unterhalt, den er für Winter bezahlt hatte, nichts schuldig zu sein, während er sich für Winter immer verantwortlich gefühlt hatte, egal wie oft sie ihm sagte, dass sie mit ihm und seinem Geld nichts zu tun haben wollte.

Eine Berührung am Arm ließ Winter zusammenzucken.

Hannah stand vor ihr und musterte sie mit besorgter Miene. »Winter? Geht es dir gut?«

Falls sie tatsächlich die Tochter des alten Fuchses war, hatte sie nicht seine kalte, selbstsüchtige Art geerbt. Ihre honigbraunen Augen strahlten nichts als Wärme aus und ihr breiter Mund deutete meistens ein Lächeln an. Im Gegensatz zu Winter war sie auch nicht so groß wie Julian und hatte nicht sein vorzeitig ergrautes Haar. Mit ihren etwa eins dreiundsechzig war sie nicht gerade klein, aber trotzdem noch gute zwölf Zentimeter kleiner als Winter. Dunkelbraunes Haar umrahmte ihr rundes Gesicht und fiel ihr in lockeren Wellen bis auf die Schultern.

Offensichtlich war sie nicht mit Julians strikten Erwartungen aufgewachsen. Seine Töchter mussten immer in allem die Besten sein und durften sich stets nur von ihrer besten Seite zeigen. Hannah hingegen hatte ihre Kleidung offensichtlich gewählt, weil sie bequem war, nicht, um jemanden zu beeindrucken. Ihre blaue Jeans, der lavendelfarbene Pullover und die offen stehende Regenjacke hatten sicherlich weniger gekostet als eine von Julians Krawatten. Eine abgenutzte Umhängetasche aus Segeltuch lag auf ihrer breiten Hüfte. Der leicht ausgefranste Riemen verlief quer über ihre üppigen Brüste. Selbst jetzt, wo Hannah so unangenehm dicht bei ihr stand, konnte Winter weder den Duft von Parfüm oder teuren Cremes wahrnehmen noch Make-up auf ihrem Gesicht entdecken.

So sehr Winter sich auch bemühte, sie konnte keinerlei Familienähnlichkeit erkennen. Aber schließlich sahen Brooke und sie sich auch nicht sonderlich ähnlich.

»Winter?«, fragte Hannah erneut. Sie berührte Winter noch immer am Handgelenk.

Winter schob die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke, um den Kontakt zu unterbrechen. »Nimm ruhig dieses Zimmer.«

»Danke. Du kannst dafür das größere Schlafzimmer haben.«

»Ist mir egal.« Winter ging davon und tat, als würde sie sich das Badezimmer ansehen. Sie wollte die Besichtigung schnell hinter sich bringen und sich dann zurückziehen. Sie musste erst einmal die Offenbarung verdauen, dass sie sich die Wohnung mit einer Frau teilen musste, die entweder ihre Halbschwester oder die Geliebte ihres Vaters war.

Hannah folgte ihr. »Wow! Sieh dir das an!« Sie schob sich an Winter vorbei, wobei sie ihr für Winters Geschmack wieder viel zu nahe kam, und kniete sich auf den Fliesenboden, um die freistehende Badewanne zu bewundern.

Vielleicht war sie ja doch nicht Julians Sprössling. Er hätte der Wanne keinerlei Beachtung geschenkt, noch nicht einmal, wenn sie aus Gold gewesen wäre und drei nackte Schönheiten darin in Eselsmilch gebadet hätten.

»Leider ist es das einzige Badezimmer, was ziemlich ungewöhnlich für eine so große Wohnung ist «, sagte Mr Woodruff. »Ich fürchte, Sie werden sich das Bad teilen müssen.«

Na prima. Winter wandte sich an den Anwalt. »Wann beginnt denn diese«, sie hielt gerade noch das Wort Farce zurück, »Vereinbarung offiziell?«

»An dem Tag, an dem Sie beide einziehen«, sagte Mr Woodruff.

»Wie wäre es mit morgen?«

Hannah begann zu husten, als hätte sie sich vor Schreck verschluckt. »Morgen?«, stieß sie keuchend hervor.

Winter zuckte mit den Schultern. »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Wenn wir morgen anfangen, sind die zweiundneunzig Tage am 14. August um.«

»Hast du das gerade im Kopf ausgerechnet?«

»Das könnte ich problemlos, aber ich habe heute Morgen in meinem Terminplaner nachgesehen. Der Vierzehnte ist mein Geburtstag. Es wäre großartig, wenn wir die Sache bis dahin hinter uns bringen könnten.« Als sie festgestellt hatte, dass es genau zweiundneunzig Tage bis zu ihrem Geburtstag waren, hatte sie sich kurz gefragt, ob Julian deshalb eine so merkwürdige Anzahl gewählt hatte. Aber er hatte den Trust einige Monate vor seinem Tod eingerichtet und unmöglich wissen können, wann sie einziehen würden.

Ein wissendes Lächeln glitt über Hannahs rosige Wangen. »Aha.«

»Was soll das heißen?«

»Du bist Sternzeichen Löwe«, sagte Hannah, als würde das alles erklären.

»Himmel«, murmelte Winter. »Bitte sag mir, dass du nicht zu den Leuten gehörst, die an dieses abergläubische Zeug glauben.« Wenn Hannah versuchen würde, ihr jeden Morgen ihr Horoskop vorzulesen, würde sie die Flucht antreten.

»Nein, aber meine beste Freundin glaubt an Astrologie. Das hat wohl auf mich abgefärbt.«

Winter unterdrückte ein Seufzen. »Also, was ist jetzt mit morgen?«

Schließlich nickte Hannah. »In Ordnung. Ich schätze, wir sehen uns dann.« Mit einem Grinsen fügte sie hinzu: »Liebe Mitbewohnerin.«

Winter atmete tief durch. Zweiundneunzig Tage. Das würden die längsten zweitausendzweihundertacht Stunden ihres Lebens werden.

Kapitel 4

Am darauffolgenden Morgen hallte ein begeistertes »Wow« durch die Wohnung im vierten Stock, als Hannah mit dem Schlüssel, den Mr Woodruff ihr gegeben hatte, die Tür aufschloss und ihre Freunde eintreten ließ.

»Heiliger Strohsack!« Tammy umklammerte einen Umzugskarton, während sie sich umsah.

Max stieß einen lauten Pfiff aus. »Warum habe ich nie Kunden, die mir ein Haus vererben?«

»Vermutlich, weil reiche Typen nicht mit Männern kuscheln wollen«, scherzte Valentina.

Max warf seinen drahtigen Körper in Modelpose. »Nicht mal mit Männern, die so gut aussehen wie ich?«

»Pst!« Hannah spähte an dem riesigen Sitzsack in ihren Armen vorbei, um nachzusehen, ob Winter schon hier war. Zwar schämte sie sich nicht für ihren Job, aber sie wollte auch nicht, dass Winter aus den Scherzen ihrer Freunde schloss, dass Jules ihr Kuschelkunde gewesen war. Es war auch so schon schwer genug, seine Privatsphäre zu schützen, ohne lügen zu müssen.

Glücklicherweise war von Winter noch nichts zu sehen.

Hannah führte ihre Freunde in ihr zukünftiges Kuschelstudio, wo die meisten der mitgebrachten Sachen hingehörten.

Tammy stellte ihren Umzugskarton neben der Couch ab und sah sich um. »Schön! Jetzt hast du einen eigenen Kuschelpalast. Ich freue mich so für dich!« Sie legte einen Arm um Hannah.

»Es ist wohl kaum ein Palast.« Hannah erwiderte die Umarmung und vergrub den Kopf an Tammys Schulter, auch um ihre Verlegenheit zu verbergen.

All ihre Freunde lebten in bescheidenen Wohnungen und hatten noch einen Nebenjob, weil keiner vom Profi-Kuscheln allein leben konnte, vor allem nicht Max als einer der wenigen Männer in ihrer Branche. Einen Moment lang hatte Hannah ein schlechtes Gewissen, weil sie die Hälfte eines Mehrfamilienhauses geerbt hatte. Aber zumindest würde sie dank der Mieteinnahmen in Zukunft ihren Freunden ab und zu ein paar Drinks oder eine Pizza ausgeben können.

Valentina setzte den Umzugskarton mit den Bettlaken ab. »Bist du sicher, dass du dieses Zimmer zum Kuscheln benutzen möchtest? Und diese Couch?« Sie nickte in Richtung des grauen Sofas.

»Ähm, ja, natürlich. Warum denn auch nicht?« Ihr neues Arbeitszimmer war ein Traum, und obwohl ihr die Farbe ihrer schokoladenbraunen Kuschelcouch zu Hause lieber war, war sie doch an einigen Stellen etwas durchgesessen. Die graue Couch hingegen schien nagelneu zu sein, als hätte niemand sie je benutzt, abgesehen von ihren zwei oder drei Kuschelstunden mit Jules.

Valentina zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass du selten im Bett kuschelst, also nehme ich an, du hast mit dem Kunden, der dir die Hälfte des Gebäudes vererbt hat, vermutlich hier gekuschelt. Ich dachte, das wäre dir vielleicht unangenehm.«

Der Gedanke war Hannah gar nicht gekommen. Womöglich würde es ihr einen Moment lang seltsam vorkommen, wenn sie zum ersten Mal mit einem Kunden das neue Kuschelstudio betrat, aber sie wusste, sie würde sich problemlos auf das Hier und Jetzt konzentrieren können. Das war der einzige Vorteil ihrer Afantasie: Sie wusste zwar, dass sie hier mit Jules gekuschelt hatte, aber es war eine Tatsache, die nicht von Bildern oder Gefühlen begleitet wurde. Sie würde keinerlei Flashbacks haben oder noch einmal nacherleben, wie Jules ausgesehen oder gerochen hatte oder worüber sie gesprochen hatten.

Das Klappern eines Schlüssels im Schloss riss sie aus ihren Gedanken. Zielstrebige Schritte erklangen.

Hannah ging zum Wohnzimmer hinüber und warf einen Blick in den Eingangsbereich.

Winter betrat mit einer Laptoptasche über der Schulter die Wohnung. Sie schob einen Rollwagen, auf dem sich genügend technische Geräte stapelten, um eine Raumstation damit auszustatten. Ein hochwertiger Computer, zwei Bildschirme, die fast so groß wie Hannahs Fernseher waren, eine Tastatur und eine professionell aussehende Kamera steckten noch in den Originalverpackungen. Entweder war alles neu oder Winter gehörte zu den Menschen, die Verpackungen aufbewahrten. Ganz oben auf dem Stapel thronte ebenfalls noch in der Verpackung eine silberne Espressomaschine, so als wäre sie das wichtigste Gerät in Winters Ausstattung.

Winter sah auf und ihre Blicke trafen sich.

»Ah, gut, dass du da bist«, sagte Winter statt einer Begrüßung. »Dann können wir ja offiziell mit Julians kleinem Arrangement beginnen.« Sie ließ den Griff des Rollwagens los, schob den Ärmel ihrer Lederjacke zurück und tippte auf das winzige Display ihrer Apple Watch.

Hannah starrte sie an. Hatte Winter gerade einen Timer gestellt, der ihr sagen würde, wann die zweiundneunzig Tage um waren? Sie war noch nicht einmal eingezogen, und schon konnte sie es kaum erwarten, von hier wegzukommen!

Hinter Hannah glitt die Schiebetür vollständig auf und Schritte hallten über den Parkettboden.

Hannah drehte sich um und flüsterte ihren Freunden zu: »Benehmt euch«, aber da war es natürlich schon zu spät.

* * *

Eine üppige Brünette mit großen, türkisfarbenen Ohrringen tauchte hinter Hannah auf und kam schnurstracks auf Winter zu. »Hallo, du musst die neue Mitbewohnerin sein!« Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte sie sich vor, als wollte sie Winter mit einer Umarmung oder einem Kuss auf die Wange begrüßen.

Was sollte das denn? Winter machte keine Anstalten, ihr entgegenzukommen. Stattdessen blieb sie hinter dem Rollwagen stehen, sodass dieser die Frau auf Abstand hielt.

»Tolle Frisur!« Die Fremde strahlte Winters silbergraues Haar an, als wäre es ein modisches Accessoire. »Welche Produkte benutzt du, um es so hinzubekommen?«

»Shampoo«, antwortete Winter.

Als die Frau die Hand ausstreckte, um eine Haarsträhne zu berühren, eilte Hannah zu ihrer Freundin, legte einen Arm um sie und zog sie etwas zurück. »Du musst meine Freundin entschuldigen.« Sie schubste die Fremde spielerisch mit der Hüfte. »Valentina ist Friseurin.«