Lass los! - Sigrid Engelbrecht - E-Book

Lass los! E-Book

Sigrid Engelbrecht

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  • Herausgeber: Ecowin
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Genug ist genug! Beschämt, bloßgestellt, erniedrigt, ignoriert, hintergangen oder abgehängt zu werden, ist niemandem angenehm. Ob man aufgrund solcher Ereignisse den Weg zur Verbitterung einschlägt, hängt von der inneren Haltung ab. Aber hat man sich erst einmal in dieses Gefängnis der Verbitterung begeben, befindet man sich in einem Gefühlszustand, der schlimmer sein kann als Angst und Depression. Experten erkennen Verbitterung als »heiße« Emotion, als eine, die in der Folge weitere negative Ereignisse und Gefühle auslöst. Mit diesem Buch legen Michael Linden, Professor für Psychosomatische Medizin an der Charité in Berlin, und Mentalcoach Sigrid Engelbrecht diese Mechanismen bloß, helfen das negative Gefühlschaos zu sortieren und zeigen, wie man sich daraus befreien kann.

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Seitenzahl: 204

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SIGRID ENGELBRECHTMICHAEL LINDEN

LASS LOS!

ES REICHT –

WEGE AUS DER VERBITTERUNG

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2018 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing,

eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Adobe Garamond, New Johnston Book

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Martina Paischer

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries

ISBN 978-3-7110-0138-2

eISBN 978-3-7110-5210-0

Leserhinweis

Wenn in diesem Buch mehrheitlich die maskuline Form verwendet wird, so nur um der besseren Lesbarkeit willen. Ist von Patienten, Lehrern oder Politikern die Rede, sind damit – im Sinne eines mühelosen Textflusses – selbstverständlich immer auch Patientinnen, Lehrerinnen und Politikerinnen gemeint, wenn nichts anderes aus dem Kontext hervorgeht.

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden alle Namen, Orte und Handlungen in den Fallbeispielen anonymisiert.

INHALT

VORWORT

I. VON DER ENTTÄUSCHUNG ZUR VERBITTERUNG

Enttäuschungen sind alltäglich

Die Gesichter der Verbitterung

Das explosive Gemisch

Griesgrämigkeit, Narzissmus, Paranoia, Depression oder Verbitterung?

Verbitterung gärt im Verborgenen

II. WENN DAS WELTBILD RISSE BEKOMMT

Ist alles eine Frage der Bewertung?

Der Sinn für Gerechtigkeit: Angeboren? Anerzogen? Antrainiert?

Unsere Grundannahmen: Leitlinien des Denkens, Fühlens und Handelns

Je wichtiger eine Grundannahme, desto schmerzlicher die Enttäuschung

Im Würgegriff der Erinnerungen

In der Sackgasse

Wenn Rache blind macht

Sind Sie – oder jemand, den Sie kennen – von Verbitterung betroffen?

III. ENTBITTERUNG – DIE LEBENSFREUDE WIEDERGEWINNEN

Der Weg aus der Verbitterung kommt von innen

Expressives Schreiben, narratives Schreiben

Akzeptanz und Achtsamkeit

Vergeben

Weisheit

Wie können wir uns vor Verbitterung schützen?

IV. WENN VERBITTERUNG KRANK MACHT

Bitterkeit, die nicht weichen will

V. VERBITTERUNG ALS GESELLSCHAFTLICHES PHÄNOMEN

Der Ansteckungsfaktor

Kultur, Weltanschauung und Glaubensüberzeugungen

Gesellschaftlicher Verbitterungsfaktor Ungerechtigkeit

Gesellschaftliche Verbitterungsfaktoren Kränkung und Herabwürdigung

VI. GLÜCKLICH IST, WER VERGISST

Der Missbrauch von Erinnerung

Das Missverständnis von Erinnerung

Das Glück des Loslassens und Vergessens

Literatur- und Quellenverzeichnis

VORWORT

Verbitterung ist ein Gefühl, das wohl jeder kennt und keiner Erläuterung bedarf. Es entsteht als Reaktion auf Ungerechtigkeit, Herabwürdigung oder Vertrauensbruch und ist eine heftige, intensive, eine »heiße«, »brennende« Emotion, die den ganzen Menschen erfassen kann, mit schlimmeren Folgen als Angst oder Depression. Von der Bibel angefangen bis hinein in die heutige Literatur finden sich vielfältige Beispiele, in denen verbitterte Menschen beschrieben werden. Dennoch hat dieser Gemütszustand erst in den letzten Jahren wissenschaftliche Beachtung gefunden. Es gibt inzwischen eine Reihe internationaler Publikationen zu diesem Thema, die zeigen, welche Bedeutung Verbitterung im Leben einzelner Menschen wie auch ganzer Bevölkerungsgruppen haben kann. Viele in Verbitterung gefangene Menschen können nun etwas besser verstehen, was mit ihnen los ist, und für uns lag daher nahe, ein gut verständliches Sachbuch für eine breite Leserschaft zu verfassen, um darzustellen, was Verbitterung ist, wie sie entsteht und – vor allen Dingen – was man dagegen tun kann.

Wir sind zwei Autoren, die jeweils unterschiedliche Perspektiven einbringen: eine individuell-psychologische und eine gesellschaftliche.

Das Buch gibt Menschen, die schlimme Lebenserfahrungen machen mussten und in Verbitterung gefangen sind, ein Verständnis für ihre Situation und Anregungen, wie sie sich aus diesem schlimmen Zustand wieder befreien können.

Das Buch kann auch Angehörigen und Freunden der Betroffenen helfen, die unter der Verbitterung ihrer Lieben oft genauso leiden wie die Betroffenen.

Das Buch gibt Wegweisungen, wann jemand professionelle Hilfe braucht und was dann zu tun ist.

Das Buch zeigt, was man tun kann, um sich vor Verbitterung zu schützen.

Das Buch gibt Hinweise darauf, wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen Verbitterung zur Folge haben können.

Das Buch legt dar, dass Verbitterung auch eine gesellschaftlich relevante Emotion ist, die ganze Völker erfassen kann.

Das Buch zeigt, wie politisches Handeln zur Entstehung und Chronifizierung gesellschaftlicher Verbitterung beitragen kann.

Wir wünschen uns, dass unsere Leser dieses Buch als nützlich und anregend erleben.

Sigrid Engelbrecht

Michael Linden

I.

VON DER ENTTÄUSCHUNG ZUR VERBITTERUNG

»Verbittert ist der schwer zu Versöhnende, der lange den Zorn festhält; er verschließt die Erregung in seinem Innern und hört damit erst auf, wenn er Vergeltung geübt hat. Denn geübte Vergeltung beschwichtigt die Erregung, indem sie das Gefühl des Schmerzes durch ein Gefühl der Befriedigung ersetzt. Geschieht das nicht, so wirkt der Druck weiter. Denn da die Erregung nicht offen heraustritt, so kann einem solchen auch keiner gut zureden; innerlich aber die Erregung zu verarbeiten, dazu braucht es der Zeit. Diese Art von Menschen ist sich selbst und den vertrautesten Freunden die schwerste Last.«

Aristoteles (384–322 v. Chr.), Nikomachische Ethik1

ENTTÄUSCHUNGEN SIND ALLTÄGLICH

Niemand bleibt von Kränkung, Zurückweisung und Ungerechtigkeit verschont. Vielmehr sind wir fast jeden Tag damit konfrontiert. Daher ist auch das Gefühl der Verbitterung etwas ganz Alltägliches. Auslöser können beispielsweise Konflikte am Arbeitsplatz sein, Mobbing, die Ablehnung einer Gehaltserhöhung, Nachbarschaftsstreitigkeiten, unfaires Verhalten eines Angehörigen, eine Ehescheidung oder ein durch einen Raser verursachter Unfall.

Das Leben hält viele Misshelligkeiten bereit. Große und kleine schmerzliche Lebensereignisse ziehen zwangsläufig unangenehme Gefühle nach sich, wie Verunsicherung, Angst, Desorientierung, Ärger, Niedergeschlagenheit oder andere Stimmungsbeeinträchtigungen. Vieles von dem, was einem widerfährt, »steckt man weg«, und es ist nach kurzer Zeit vergessen. Anderes beschäftigt einen wochen-, monate- oder sogar jahrelang. Dabei ist es unmöglich, zuverlässig zu prognostizieren, was genau wozu führt, denn allein anhand eines bestimmten Ereignisses lässt sich nicht vorhersagen, wie die individuelle Reaktion darauf beschaffen sein wird. Die meisten Menschen finden nach einiger Zeit wieder aus der Krise heraus, in die sie geraten sind, andere brauchen länger dazu, manche aber können sich innerlich nicht von dem lösen, was ihnen widerfahren ist. Sie verschließen Zorn, Erregung und Schmerz in ihrem Innern, sodass der Druck immer weiter wächst, bis sie »sich selbst und vertrauten Freunden die schwerste Last« werden, wie schon Aristoteles wusste.

In den folgenden Kapiteln legen wir dar, was den Weg aus einer Krise herauslenkt und was dazu beiträgt, den Konflikt noch weiter zu verschärfen. Verbitterung entsteht, wenn ein Geschehnis den Betroffenen nicht nur enttäuscht, sondern darüber hinaus auch tief gekränkt hat. Er sieht zentrale Werte in seinem Leben missachtet, Erwartungen enttäuscht, Dinge, die ihm wichtig sind, angegriffen und sich als Person herabgewürdigt. Werte, die sein Leben, das heißt sein Denken und Verhalten, leiten, werden ausgehebelt und erscheinen dem Betroffenen nun nicht mehr tragfähig.

Die nachfolgenden drei Fallbeispiele zeigen, wie der Weg von Enttäuschung und Kränkung hin zur Verbitterung verlaufen kann.

Ungerechtigkeit: »Wieso muss ich für einen anderen büßen?«

Doro M. war zu dem Zeitpunkt, als ihr Leben eine radikale Wendung nahm, selbstständige Grafikdesignerin und Texterin. Dass ihr Eine-Frau-Betrieb sich schon zehn Jahre am Markt behaupten konnte, stimmte sie stolz und glücklich. Als ihr Robert L., der Marketingleiter eines großen Unternehmens, die Zusammenarbeit anbot, ahnte sie, dass es nun steil aufwärtsgehen würde. Sie sagte zu und tatsächlich nahm die Auftragslage schwunghaft Fahrt auf. Doro M. entwarf, gestaltete und setzte um, was erwartet und gewünscht wurde: Folder, Broschüren, Plakate, Schautafeln, Spezialaufträge für Messeauftritte ihres Kunden. Bald nahm der neue Auftraggeber über drei Viertel ihrer Arbeitszeit in Anspruch, weshalb Aufträge anderer Kunden zurückgestellt werden mussten. Doro M. erwies sich für den neuen Auftraggeber als eine Geschäftspartnerin, auf die man sich verlassen konnte. Weil sie ihrem Großkunden jederzeit zur Verfügung stand, hatte sie natürlich keine Zeit und keine Kapazitäten, neue Kontakte zu akquirieren. Wozu auch? Robert L., der ihr Ansprechpartner für alle Aufträge geblieben war, und auch die Firmenleitung zeigten sich hochzufrieden mit ihren Ideen und Entwürfen. Doro M. investierte in leistungsfähigere Computer sowie entsprechende Software, und es blieb auch noch Geld für einen neuen Wagen. Doro M. war sich sicher, es nun tatsächlich »geschafft« zu haben. Einsatz und Verlässlichkeit zahlen sich eben aus, eine Annahme, in der sie sich damit bestätigt fühlte.

Da geschah etwas völlig Unerwartetes. Marketingleiter Robert L. wurde von der Firmenleitung beschuldigt, Geld veruntreut zu haben. Doro M. war schockiert. Robert L. hatte auf sie stets einen offenen und vertrauenswürdigen Eindruck gemacht. Die Anschuldigungen konnten jedoch bewiesen werden. Robert L. wurde fristlos entlassen und zudem wegen Betrugs angeklagt. Zwar hatte Doro M. mit alledem nichts zu tun, doch Thomas Z., der Nachfolger von Robert L., strebte einen umfassenden Neuanfang an. Tabula rasa. Alle Geschäftsverbindungen seines Vorgängers sollten gekappt werden, um einen sauberen Neustart zu ermöglichen.

Doro M. war vor den Kopf gestoßen. Sie suchte das Gespräch mit der Firmenleitung, bekam jedoch keinen Termin und fühlte sich abgefertigt. Schließlich erklärte der neue Marketingleiter sich bereit, mit ihr zu reden. Doro M. legte dar, dass sie nichts, aber auch gar nichts mit der Veruntreuung zu tun gehabt und die Firmenleitung in der Vergangenheit mehrfach bestätigt hatte, welch hervorragende Arbeit sie leiste. Sie verwies darauf, wie sehr sie sich für das Unternehmen eingesetzt und dafür sogar andere Aufträge abgewiesen hatte. Nun erwarte sie Fairness und eine gerechte Behandlung.

Thomas Z. zeigte sich wenig beeindruckt. Er könne nicht beurteilen, ob Doro M. nicht doch verstrickt gewesen sei, schließlich sei ihre Beziehung zu Robert L. doch sehr eng gewesen. Doro M. brach in Tränen aus und sagte immer wieder: »Aber das ist doch nicht fair. Das stimmt doch nicht. Das können Sie mir doch nicht einfach so unterstellen.« Ihr Gegenüber entgegnete steif, das Unternehmen habe ihr gegenüber keinerlei Verpflichtung. Als Thomas Z. auch noch die ironische Bemerkung von sich gab: »Tja, sorry, mitgefangen, mitgehangen, so ist das eben«, fühlte sie sich behandelt wie eine Verbrecherin. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, im Vertrauen auf die Integrität ihrer Partner großen Einsatz und hohe Verlässlichkeit gezeigt, und nun galt das alles nichts mehr. Im Gegenteil: Sie wurde sogar noch herabgewürdigt.

»Wieso muss ich büßen für etwas, das ich nicht verschuldet habe, und das, obwohl ich immer verlässlich war und vollen Einsatz für die Firma gezeigt habe?« Diese Frage stellte sie sich wieder und wieder. Sie war gefangen in diesem Gedankenkarussell, und ständig kam die Erinnerung an die Erniedrigung wieder in ihr hoch. Doro M. bekam nun häufig Kopfschmerzen, sie konnte nur noch schlecht schlafen, wurde von Angstträumen geplagt. Oft lag sie stundenlang wach, und ihre Gedanken kreisten abwechselnd um das Geschehene und um die ungewisse Zukunft. Sie zog sich von ihren Freunden zurück, da ihr das, was sie erlebt hatte, peinlich war. Sie grübelte, was sie gegen das erlittene Unrecht tun könne, und dabei kamen ihr auch Gedanken in den Sinn, sich in irgendeiner Weise an Thomas Z. oder der Firma zu rächen.

In diesem Zustand war sie auch kein guter Verhandlungspartner. Es gelang ihr nicht, auch nur einen einzigen Neukunden zu akquirieren. Noch etwas kam hinzu: Sobald der jeweilige Ansprechpartner bzw. potenzielle Auftraggeber erfuhr, für wen sie gearbeitet hatte, war das Gespräch auch schon wieder zu Ende, da die Medien groß über den Prozess und die Verurteilung von Robert L. berichtet hatten. Die »ungerechte Bestrafung« von Doro M. ging also weiter.

Da die erforderlichen Einnahmen fehlten, sah sie sich gezwungen, ihr schönes neues Auto zu verkaufen, und war bald auch nicht mehr in der Lage, ihre Büroräume in der Innenstadt zu finanzieren. Schließlich musste sie Insolvenz anmelden.

Das alles liegt nun acht Jahre zurück. Heute lebt Doro M. von Gelegenheitsjobs und bearbeitet zu Hause ab und zu kleinere Aufträge. Sie ist dabei, langsam wieder Fuß zu fassen, doch die Erinnerung an das, was geschehen ist, schmerzt noch immer.

»Das ist so verdammt ungerecht«, sagt sie, »mein Büro, meine Träume, meine Zukunft, alles kaputt, und das, weil ein anderer mit gezinkten Karten gespielt hat und bei der Firma meine Verlässlichkeit und Treue nichts gegolten haben. Ich könnte immer noch heulen, wenn ich daran denke.«

Ihr bitterer Zorn richtet sich dabei weniger gegen Robert L., den eigentlichen Auslöser für all das Erlittene, als vielmehr gegen Thomas Z. und die Firmenleitung. »Erst heben die mich in den Himmel, und dann zerstören sie grundlos meine Existenz. Dass die pleitegehen und allesamt auf der Straße sitzen, das würde ich denen gönnen.«

Ihr Glaube an Gerechtigkeit ist unwiederbringlich gebrochen.

Vertrauensbruch: »Wie konnte er mir das antun?«

Karolin J. war 55 Jahre alt, als ihre Zukunftsträume zerplatzten. Sie sagt über sich: »Ich bin durch und durch ein Familienmensch«.

In der Rolle als Ehefrau und Mutter ging sie lange Jahre völlig auf, hatte ihren Beruf als Fachverkäuferin aufgegeben, als sie mit ihrem ersten Kind, dem Sohn Gerd, schwanger war. Zwei Jahre später folgten die Zwillingstöchter Anne und Tinka. Theo, ihr Ehemann, arbeitete hart, denn »der Familie soll es an nichts fehlen«, wie er oft sagte. Er war Inhaber einer kleinen Elektroinstallationsfirma mit zwei Beschäftigten. An vielen Tagen war er, wenn der Geselle und der Auszubildende schon den Feierabend genossen, bis in die Nacht hinein in seiner Werkstatt zugange, sodass Karolin J. und die Kinder wenig von ihm sahen. Theo war ganz allgemein ein eher in sich gekehrter, schweigsamer Mann. Die Beziehung zwischen den Eheleuten war aber gut. Sie wussten beide, dass sie einander vertrauen und sich aufeinander verlassen konnten.

Karolin J. war der Mittelpunkt der Familie. Während ihr Mann sich auf die Firma konzentrierte, war sie für Alltagsprobleme da. Sie kümmerte sich um das Wohl der Kinder wie auch um das ihres Ehemannes. Mit ihrer Tatkraft und Fürsorge, ihrem handwerklichen und hauswirtschaftlichen Geschick schuf sie ein gemütliches Zuhause, in dem sich alle wohlfühlen konnten. »Hauptsache, Theo ist zufrieden, und die Kinder haben es schön« und »Wenn es meinen Lieben gut geht, geht es mir auch gut« waren typische Sätze für die Werte und Prioritäten in ihrem Leben.

Eines Morgens geschah das Unfassbare. Karolin J. fand ihren Mann tot in seiner Werkstatt auf. Er hatte sich das Leben genommen. Da ihr Mann seit jeher ein schweigsamer Mensch war, der sich gern in seine Arbeit in der Werkstatt zurückzog, hatte Karolin J. nicht bemerkt, dass er schon seit einiger Zeit immer häufiger niedergeschlagen und trüber Stimmung gewesen war. Sie konnte es nicht fassen und brach zusammen, weinte, wimmerte, schrie. Der Verlust ihres Mannes war schrecklich, und es war schmerzhaft, dass ihre Familie damit auseinanderbrach. Noch schlimmer aber waren die Vorwürfe, die sie sich machte: Es war doch ihr Job gewesen, sich um das Wohlergehen ihrer Familie zu kümmern, und sie hatte versagt. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass Theo am Ende seiner Kräfte gewesen war.

Aber neben den Selbstvorwürfen war da auch eine gehörige Portion Wut gegen ihren Mann: Er hatte sich ihr gegenüber nicht offen gezeigt. Eine von Vertrauen getragene Partnerschaft beinhaltet auch, ehrlich und offen zueinander zu sein, und dies gerade, wenn Probleme entstehen. Es wäre seine Pflicht gewesen, ihr zu sagen, wie es um ihn stand. Mit seinem Suizid hatte er sie hintergangen. Jahrelang hatten sie im gegenseitigen Vertrauen zusammengelebt, und als es ihm schlecht ging, sagte er kein Wort und stellte sie vor vollendete Tatsachen?!

Obgleich ihre Kinder sich in den folgenden Monaten, so viel sie konnten, um Karolin J. kümmerten, sah es lange so aus, als würde die Mutter nicht über den Suizid des Vaters hinwegkommen. Karolins Stimmungen waren unberechenbar. Manchmal schrie und weinte sie und warf Erinnerungsstücke an das gemeinsame Leben zornentbrannt an die Wand. Ständig kamen selbstquälerische Gedanken hoch: »Wieso habe ich das nicht kommen sehen?«, »Was habe ich falsch gemacht?« Dann richtete sich ihr Zorn wieder auf Theo: »Warum hat er mir nicht gesagt, wie es ihm geht? Er hätte mir doch sagen müssen, wenn ihn etwas bedrückt, ich bin doch seine Frau!« Sie empfand seinen einsamen Entschluss auch als Verrat an der gemeinsamen Lebensplanung. »Für uns war doch immer klar, dass wir es uns einmal gemütlich machen, wenn die ganze Plackerei mit den Kindern und mit der Firma vorbei ist. Aber jetzt hat er mich einfach hier allein sitzen lassen. Ich habe ihm wohl nicht wirklich etwas bedeutet.«

Karolin J. meinte, es sei doch jetzt ohnehin alles sinnlos, sodass die Kinder Angst bekamen, die Mutter könne dem Vater in den Freitod folgen. Bei jedem Besuch mussten Gerd, Anne und Tinka sich anhören, wie die Mutter mit dem haderte, was der Vater ihr mit seinem Suizid an Leid zugefügt hatte. Meist erging sie sich in bitteren Vorwürfen. Das war besonders für Tinka eine harte Belastung: »Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Diese ständigen Vorwürfe an meinen toten Vater waren fürchterlich. Andererseits wollte ich Mutter ja beistehen. Aber es kam mir nicht fair vor, dass sie nur an sich dachte.«

Ihren Geschwistern ging es ähnlich. Die Besuche bei der Mutter deprimierten alle gleichermaßen. Für Karolin J. war jegliches Vertrauen in andere Menschen zerbrochen, und das ließ sie auch die Kinder spüren. Sie wollte mit niemandem mehr näheren Kontakt und zog sich auch aus allen Freundschaften zurück.

Nur langsam erholte sich Karolin J., und die Kinder konnten aufatmen. Wenn sie heute an ihren Mann denkt, kann sie immer noch nicht verstehen, was ihn zu diesem Schritt bewogen hat, und es kommt auch jetzt noch Bitterkeit hoch, obwohl sie sich vom Verstand her sagt: »Er hat immer alles allein mit sich ausgemacht, vielleicht konnte er nicht anders. Vielleicht ist irgendwann zu viel zusammengekommen. Vielleicht haben wir einander auch nicht gutgetan, weil wir doch so verschieden waren. Wir werden nie wissen, was in ihm vorgegangen ist. Ruhe er in Frieden.«

Herabwürdigung: »Mit der Wende war man nichts mehr wert.«

Musik war ihr Leben: Frank S., seine Frau Inka und seine Freunde Mark, Tina und Juri konnten in der ehemaligen DDR als Folkloregruppe viele Erfolge feiern. Folkmusic war in der DDR sehr populär. Sie spielten vor allem in Jugendklubs, traten auch bei Musikfestivals auf und konnten dank der staatlichen Förderung von den Früchten ihrer Arbeit gut leben. Um als Musiker in den Genuss dieser Förderung zu kommen, bedurfte es einer Auftrittsgenehmigung. Dazu musste man vor einer Kommission vorspielen und wurde begutachtet. Wer diese Auftrittsgenehmigung erhielt, konnte sich auf ein staatlich garantiertes Einkommen verlassen.

»Die DDR hat sehr viel für Kultur ausgegeben«, sagt Frank S. »Mit unserem Programm hatten wir viele Auftritte, spielten sogar einmal im Palast der Republik. Als Musiker, die traditionelles Liedgut neu interpretierten, waren wir anerkannt und geschätzt.«

Dann kam die Wende und alles war anders.

»Wir konnten sehen, wo wir bleiben«, so Frank S.

Der Versuch, nun unter geänderten Rahmenbedingungen von der Musik zu leben, scheiterte. Nach 1990 schlossen viele der Jugendklubs, die für die Band die wichtigsten Auftrittsorte dargestellt hatten. Die Klubs waren aus einem Kulturfonds finanziert worden, der den Kommunen unterstand. Nach 1990 gab es keinen Fonds mehr. »Na klar«, sagt Frank S. und klingt dabei zynisch, »Geld für Kultur, überflüssig, weg damit. Das zeigt ja wohl deutlich, welchen Stellenwert unsere Arbeit hat. Nämlich keinen.«

Das verletzte Frank S. zutiefst.

»Wir wurden als lästige Bittsteller hingestellt oder schlimmer noch – als Schmarotzer. Als Ostdeutscher biste ja heute nur noch zweite Wahl in diesem schicken neuen Staat. Entwürdigend ist das: diese Arroganz, und dass Geld der oberste Gott ist.«

Was ihn in der Rückschau auch heute noch besonders wütend macht, ist »dieses pathetische Getue von den ›Brüdern und Schwestern im Osten‹ vor der Wende und hinterher die kaltschnäuzige Verachtung für alles, was ostdeutsch war, das war so unglaublich demütigend«.

Richtig verletzend für Frank S. war, dass ihm ein Veranstalter einen Auftritt verweigerte mit der flapsigen Bemerkung: »FDJ-Musik ist vorbei, guter Mann!« Dabei hatte der sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich anzuhören, was Frank S. im Repertoire hat. Beim Gedanken an diese Begegnung kocht Frank S. noch immer »die Galle über«. Wenn er heute erfolgreiche West-Bands hört, dann sieht er vor allem deren »musikalische Unfähigkeit und niedriges Niveau«, was ihm beim Zuhören geradezu körperliche Schmerzen verursacht und beißende Verbitterung hervorruft.

Inka zeigte sich da wesentlich pragmatischer. Sie machte eine Umschulung zur Krankenschwester und sorgt seitdem für ein zwar bescheidenes, aber stabiles Familieneinkommen. Frank S. hingegen hält unbeirrt an seiner Vorstellung fest, als Musiker seinen Weg zu machen, und tritt hier und da als Allroundmusiker bei Feiern oder Betriebsfesten auf. Inka weiß, dass es sinnlos ist, Frank S. irgendetwas raten zu wollen: »Das geht bei ihm zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.« Für sie selbst sind nostalgische Rückblicke kein Thema, und sie findet es sehr anstrengend, Frank S. zuzuhören, wenn er wieder und wieder beklagt, wie arrogant »die Westler« ihm gegenüber aufgetreten seien und wie viele das auch heute noch täten.

Er fühlt sich im Innersten herabgewürdigt und beleidigt.

In allen drei Fallbeispielen waren die Betroffenen vor dem einschneidenden Ereignis mit ihrem Leben zufrieden, fühlten sich wohl und hatten Pläne für die Zukunft. Doro M. und Frank S. hatten ihr Leben nach ihren Vorstellungen eingerichtet und waren glücklich damit, Karolin J. fühlte sich zufrieden mit ihrer Lebensbilanz und war voller Vorfreude auf den gemeinsamen Lebensabend mit ihrem Mann.

Dann passierte etwas, das die wohlgeordnete Welt auseinanderbrechen ließ, und damit geriet auch das innere Gleichgewicht aus den Fugen.

Doro M. wurde mit einer massiven Ungerechtigkeit konfrontiert, die ihre wirtschaftliche Existenz vorerst zerstörte. Frank S., der als Musiker Anerkennung und Wertschätzung genossen hatte, erlebte nun eine Herabwürdigung, die ihn hilflos und zornig machte. Karolin J., die sich sicher und geborgen in ihrer Ehe fühlte, wurde jäh aus ihrer Welt herausgerissen, indem ihr Mann das, was ihn beschäftigte und düster stimmte, vor ihr verbarg und ihr kein Vertrauen entgegenbrachte, genau in dem Moment, in dem es ihrer Meinung nach doch ihre Aufgabe hätte sein sollen, ihm zu helfen.

Ereignisse wie diese gibt es in jedem Leben – manche Menschen haben da ein größeres Päckchen zu tragen, andere ein kleineres, doch es gibt kaum jemanden, der nicht irgendwann Enttäuschung, Kränkung, Verlust und Zurückweisung zu bewältigen hat. Fast jeder kennt dann als Reaktion das Gefühl der Verbitterung.2 Und wenn die Verletzung zu schwer und zu tief greifend ist, kann Verbitterung das ganze Leben erfassen und im Extremfall zu einer Krankheit werden.

Die drei Hauptauslöser von Verbitterung:

•Ungerechtigkeit

•Herabwürdigung

•Vertrauensbruch

An den Fallbeispielen von Doro M., Karolin J. und Frank S. lassen sich die charakteristischen Auslöser für Verbitterung gut ablesen. Was zwischen Doro M. und ihrem Auftraggeber und zwischen Karolin J. und ihrem Mann geschah, sind typische Kränkungssituationen, wie sie auch im Buch Die Macht der Kränkung von Reinhard Haller3 beschrieben werden. Auch die Erfahrung von Frank S. mit den Folgen des politischen Systemwechsels, veränderten Wertigkeiten und den daraus folgenden politischen Entscheidungen spiegeln eine massive Kränkung wider. Doro M., Frank S. und Karolin J. haben etwas erlebt, das sie als gravierende Missachtung und Zurückweisung werteten und ihr Selbst- und Weltverständnis schlagartig infrage stellte.

Das Gewicht einer Kränkung lastet umso schwerer,

•je wichtiger der Kränkende für den Betroffenen ist,

•je näher der Kränkende dem Betroffenen steht,

•je stärker zentrale Werte in Mitleidenschaft gezogen werden, auf die jemand sein Selbst- und Weltverständnis gründet.

Daher hat das Geschehen in allen drei Beispielen ein großes Gewicht. Das subjektive Empfinden, um etwas betrogen worden zu sein, von dem man überzeugt ist, dass es einem zusteht, und gleichzeitig nichts dagegen unternehmen zu können, ist einer der hauptsächlichen Auslöser für Verbitterung.

Doros Karriere, die infolge einer strategischen Unternehmensentscheidung zerstört wurde, Franks Band, die durch den Wechsel des politischen Systems plötzlich vor dem Nichts stand, oder Karolins Traum eines gemeinsamen, von Vertrauen getragenen Lebens, der infolge des Suizids ihres Ehemannes ein Ende fand – solche Geschehnisse empören die Betroffenen, verunsichern, kränken und rufen schließlich die für Verbitterung typische ohnmächtige Wut hervor.

Als Kain den Abel erschlug, begann die Geschichte der Menschheit

Ein bekanntes weiteres Beispiel für Verbitterung findet sich im Alten Testament. Dort beginnt bereits die Menschheitsgeschichte mit Verbitterung. Die Erzählung von Kain und Abel ist ein Paradebeispiel dafür. Es wird beschrieben, dass Gott das Opfer Abels mit Wohlgefallen annimmt, während er das von Kain verschmäht, obwohl beide sich angestrengt haben, die Früchte ihrer Arbeit Gott zu weihen. Kain erträgt diese ungleiche Behandlung nicht, er empfindet sie als herabwürdigend und ungerecht.

Man stelle sich vor, zwei Kinder haben als Weihnachtsgeschenk etwas für die Eltern gemalt, und diese nehmen nur von einem die Zeichnung mit Freude entgegen und lassen das andere einfach mit seinem Geschenk stehen.

In der biblischen Geschichte schlägt die aus Kränkung gespeiste Verbitterung in Verzweiflung und schließlich in Gewalt um. Kain erschlägt seinen Bruder.4

Das Beispiel zeigt mehreres: Verbitterung ist eine allgemeinmenschliche Emotion. Sie wird hervorgerufen durch das Verhalten Dritter und hier insbesondere durch empfundene Ungerechtigkeit. Sie kann einen Menschen in seinem Innersten erschüttern und ihm jeglichen Halt entziehen. Dies kann so weit gehen, dass die Betroffenen sich selbst und andere zerstören. Verbitterung ist also eine ernst zu nehmende Emotion, die in größerer Ausprägung auch therapeutischer Hilfe bedarf.

DIE GESICHTER DER VERBITTERUNG