Lillis Tochter - Martin Doerry - E-Book

Lillis Tochter E-Book

Martin Doerry

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Beschreibung

Martin Doerry über das Leben seiner Mutter zwischen Ausgrenzung und Anpassung

Ilse ist erst 14 Jahre alt, als ihre Mutter, die jüdische Ärztin Lilli Jahn, im Sommer 1943 in ein Lager verschleppt und später in Auschwitz ermordet wird. Von heute auf morgen muss Lillis Tochter die Verantwortung für ihre drei jüngeren Schwestern übernehmen. Als "Halbjüdinnen" sind die Mädchen selbst bedroht. Nach den traumatischen Erfahrungen in der NS-Zeit erlebt Ilse auch im Nachkriegsdeutschland, dass sie nicht wirklich dazugehört. Das Schicksal Lillis verschweigt sie, auf eigene berufliche Pläne verzichtet sie zugunsten der Karriere ihres Mannes. Einfühlsam erzählt Martin Doerry die Geschichte seiner Mutter Ilse als Geschichte einer Überlebenden und einer in den Konventionen und Zwängen ihrer Zeit gefangenen Frau.

Seiner Großmutter Lilli, Ilses Mutter, setzte Martin Doerry zuvor schon mit der Biografie »›Mein verwundetes Herz‹. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944« ein hoch gelobtes literarisches Denkmal.

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Martin Doerry über das Leben seiner Mutter zwischen Ausgrenzung und Anpassung

Einfühlsam schildert der Journalist und Historiker Martin Doerry das Schicksal seiner Mutter Ilse, der ältesten Tochter der in Auschwitz ermordeten jüdischen Ärztin Lilli Jahn. Als junges Mädchen war sie Zeugin der Entrechtung und Verfolgung ihrer Mutter geworden und musste am Ende selbst um ihr Leben bangen. Auch nach dem Krieg wurde Ilse zum Opfer immer wiederkehrender Diskriminierung und Ausgrenzung. Das Schicksal Lillis verschwieg sie, auf eigene berufliche Pläne verzichtete sie zugunsten der Karriere ihres Mannes. Erst mit der Veröffentlichung der Briefe, die sie und ihre Geschwister an die im Lager inhaftierte Lilli geschrieben hatten und die wie durch ein Wunder erhalten geblieben waren, begann die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Martin Doerry erzählt die berührende Geschichte seiner Mutter als Geschichte einer Überlebenden und einer in den Konventionen und Zwängen der Nachkriegszeit gefangenen Frau.

Seiner Großmutter Lilli, Ilses Mutter, setzte Martin Doerry zuvor schon mit der Biografie »›Mein verwundetes Herz‹. Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944« ein hoch gelobtes literarisches Denkmal.

Martin Doerry, geboren 1955, ist promovierter Historiker und arbeitete von 1987 bis 2021 als Redakteur für den SPIEGEL. 16 Jahre lang war er stellvertretender Chefredakteur des Nachrichtenmagazins. Bei der DVA erschienen von ihm der in 19 Sprachen übersetzte Bestseller »›Mein verwundetes Herz‹. Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944« (2002) und »Nirgendwo und überall zu Haus – Gespräche mit Überlebenden des Holocaust« (2006, in Zusammenarbeit mit der Fotografin Monika Zucht). Gemeinsam mit Susanne Beyer hat er den Band »Mich hat Auschwitz nie verlassen. Überlebende des Konzentrationslagers berichten« herausgegeben (2015).

Besuchen Sie uns auf www.dva.de.

MARTIN DOERRY

Lillis Tochter

Das Leben meiner Mutter im Schatten der Vergangenheit – eine deutsch-jüdische Familiengeschichte

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Abbildungen im Bildteil stammen aus Privatbesitz mit Ausnahme der gekennzeichneten Fotos

Copyright © 2023 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Bildbearbeitung: Helio Repro GmbH, München

Covergestaltung: Favoritbuero, München

Coverabbildung: © privat

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28655-2V001

www.dva.de

»Der Mensch ist so viel mehr, als irgendwer je erzählen könnte.«

Richard Ford

Für meine Töchter Katja, Susanne und Charlotte

Inhalt

Einleitung

Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus

»Herrlich, dass es ein Mädchen geworden ist« Ilse kommt zur Welt

»Stolz mit zwei straffen Zöpfchen« Die Ausgrenzung beginnt in der Schule

»Bis zu seinem letzten Atemzug« Josefs Geschichte

»Das so unfassbare Geschehen« Die Eltern lassen sich scheiden

»Oh Mutti, es ist so schwer ohne Dich!« Lilli im Arbeitserziehungslager

»Immer diese grausame Angst« Die Kinder im Krieg

»Ein Meer von Tragik« Die Mutter stirbt in Auschwitz

Von Immenhausen nach Birmingham

»Ein maßloser Hass« Der Kampf um Lillis Kinder

»Das dritte Reich ist mir halt schlecht bekommen« Lottes Geschichte

»Nimm die Nase!« Die Rückkehr ins Gymnasium

»Meine Einsamkeit ist mir ein stiller Zufluchtsort« Die Emigration nach Birmingham

»Entweder jetzt oder gar nicht« Ilse heiratet und verlässt England

Die Rückkehr nach Deutschland

»Du bist ja nicht wie die Juden« Ilses Schwiegervater, ein Nationalsozialist

»Ein ganz herziges Bübchen« Ilse wird Mutter

»Ilse war vollkommen durcheinander« Ein Leben im Land der Täter

»Ich bin doch nur deine Orchidee« Jahre in Jürgens Schatten

»Er ist unheilbar verletzt worden« Gerhards Geschichte

»Eine starke Erschöpfung« Der Umzug in die Provinz

Späte Jahre in Spielberg

»Mir fehlt ein bisschen Wärme« Eine Depression überschattet alles

»Die entsetzliche Bilderflut« Alte Wunden brechen auf

»Hier hilft nur Barmherzigkeit« Ilse blickt zurück auf ihre Kindheit

»Eine tapfere, tüchtige Frau« Die letzten Lebensjahre

Epilog

Danksagung

Editorische Notiz

Ilses Familie, eine Übersicht

Quellen- und Literaturverzeichnis

Briefe, Notizen, Tagebücher

Sonstige Quellen

Literatur

TV-Dokumentationen

Bildteil

Einleitung

Bilder meiner Mutter beherrschen meine frühen Erinnerungen. Bilder von ihren eleganten Kleidern, ihren dunklen, fast schwarzen Haaren, ihrem Gesicht, das mich liebevoll anschaut. Sie und ich lebten in einer Symbiose, nicht ohne Spannungen, aber doch innig miteinander verbunden, wochenlang ganz auf uns allein gestellt, damals in meinen ersten Jahren, als mein Vater nur selten zu Hause war – sie, diese für mich einzigartige, alles bestimmende Person, und ich, ihr kleiner Sohn, ihr erstes Kind.

Aber sind diese Bilder wirklich reale Erinnerungen? Oder sind es die alten Fotografien, die sich in meinem Gedächtnis festgesetzt haben? Ich weiß es nicht. Womöglich mischen sich beide Quellen vor meinem inneren Auge.

Ein besonders schönes Foto meiner Mutter Ilse wurde am ersten Weihnachtstag des Jahres 1961 in der Wohnung ihrer Schwiegereltern in Uelzen gemacht. Ein Familienfoto, aufgenommen wahrscheinlich von meinem Vater. Meine Mutter ist damals 32 Jahre alt, sie sitzt am rechten Bildrand und schaut lächelnd auf ihre Tochter, meine Schwester Beate. Hinter ihr meine Großmutter Wilma, links mein Großvater Albrecht, und in der Mitte sitze ich, sechs Jahre alt, ernst und stolz zu meiner Mutter aufblickend.

Das Bild evoziert weitere Erinnerungen. Den Klang der Stimme meiner Mutter habe ich sofort im Ohr. Auch ihre Bewegungen sind mir noch vertraut. Dann tauchen all die Geräusche und Szenen wieder auf, die mich bei diesen Familienfesten in dem kleinen Wohnzimmer umgaben: das Durcheinander der Stimmen meiner Großeltern, meiner Tanten, meiner Cousins und Cousinen, die aufsteigende Wärme des schweren Kohleofens, der immer dichter werdende Zigarettenqualm, der Geruch von Schweinebraten und Kaffee, die Klänge der preußischen Märsche, die mein Großvater auf dem Klavier spielte.

Dann höre ich auch das Weinen meiner Großmutter, nach einer der üblichen Boshaftigkeiten ihres Mannes. Ihr Lachen kurze Zeit später, nachdem sie von meinen Tanten getröstet wurde. Und in all dem Trubel mittendrin meine Mutter, still und beobachtend: Sie zählte damals, 1961, schon seit acht Jahren zur Familie, doch im Grunde gehörte sie nicht dazu, war eher ein Trabant, eine Randfigur.

Warum das so war, verstand ich noch nicht. Ich wusste nichts von dem Schweigepakt zwischen ihr, der »Halbjüdin«, und meinem Großvater, dem Antisemiten und überzeugten Nationalsozialisten. Ich spürte nur, dass sie das alles mit stoischem Gleichmut ertrug. Nie machte sie einen Hehl daraus, dass sie diese Besuche bei den Eltern meines Vaters als familiäre Pflicht begriff.

Das Foto entstand zu einer Zeit, als sich die Symbiose zwischen meiner Mutter und mir schon aufzulösen begann. Meine Schwester war etwas mehr als ein Jahr zuvor geboren worden und forderte ihre ganze Aufmerksamkeit, mein Vater hatte eine feste Anstellung als Richter in Lüneburg und kam jetzt täglich abends nach Hause. Sie empfand diese neue Familienkonstellation als ebenso beglückend wie anstrengend. Wann immer es ging, zog sie sich aus der Enge der kleinen Familie zurück. Wenn sie sich an ihren Schreibtisch setzte und las oder schrieb, durfte niemand sie stören. Später verließ sie immer wieder das Haus, ging auf Reisen, allein oder mit Freundinnen.

Erst als wir erwachsen waren, konnte sie mit dem Bedürfnis ihrer Kinder nach Nähe besser umgehen. Mir schrieb sie nun viele Briefe und Karten, wir sprachen und telefonierten regelmäßig miteinander, vor allem, nachdem ich 2002 das Buch »Mein verwundetes Herz«. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944 veröffentlicht hatte. Sie betrachtete die Biografie meiner jüdischen Großmutter, ihrer Mutter, die 1944 in Auschwitz umgebracht worden war, als Auftrag, als Anfang einer ganz eigenen Mission, die uns beide verband. Lillis Geschichte war nun endlich erzählt und sollte weitererzählt werden. Meine Mutter und ich reisten zu Lesungen durch die ganze Republik, wir fuhren zu den Buchmessen in Frankfurt, London und Jerusalem, wir gaben Interviews im Radio und im Fernsehen.

Für meine Mutter war dieser Schritt in die Öffentlichkeit eine Zäsur. Bis dahin hatte sie das Schicksal von Lilli und damit auch ihre eigene Geschichte beschwiegen, nicht einmal ihren Kindern hatte sie anvertraut, was genau damals im Krieg mit ihrer Familie geschehen war. Ihre Mutter sei in Auschwitz getötet worden, weil sich ihr Vater von seiner Frau getrennt habe – so viel immerhin sagte sie, wenn sie nach dem Schicksal ihrer Mutter gefragt wurde. Aber kein Wort mehr. Über Jahrzehnte fügte sie sich dem, was der Historiker Fritz Stern als das »feine Schweigen« bezeichnete, ein Schweigen, das die deutsche Nachkriegsgesellschaft zur Norm gemacht hatte, um die Täter in ihren Reihen zu schützen. Ein Schweigen, das auch vielen Opfern und ihren Nachfahren zunächst gelegen kam, die von ihren Erinnerungen verfolgt wurden.

Meine Mutter sah in der Biografie »Mein verwundetes Herz« ein Denkmal für ihre Mutter, viele Menschen lasen darin auch eine Würdigung der jungen Ilse, der ältesten Tochter Lillis, die in den letzten Kriegsjahren zur Ersatzmutter für ihre drei Schwestern geworden war und diese Rolle mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit ausgefüllt hatte. Nicht wenige Leserinnen und Leser schrieben mir nach der Lektüre des Buches: Was ist denn nach Lillis Tod aus Ille geworden, was aus ihren Schwestern Hannele, Evchen und der kleinen Dorle? Und je häufiger mir diese Frage gestellt wurde, desto mehr beschäftigte sie mich selbst.

Dieses Buch ist der Versuch einer Antwort. Ein »Versuch« schon deswegen, weil es für jeden Autor schwierig sein dürfte, die eigene Mutter zu beschreiben. Es fehlt die Distanz, die ein ausgewogenes Urteil erst möglich macht. Man habe zur eigenen Mutter nicht das, was man sonst als »Beziehung« bezeichne, schrieb der amerikanische Schriftsteller Richard Ford in einem Porträt seiner Eltern. »Die Liebe beschirmt alles« – die Verbindung von Mutter und Kind sei für beide Seiten etwas absolut Selbstverständliches, nicht Definierbares.

Diese Distanzlosigkeit ist kaum aufzuheben, man kann ihr nur mit bewusster Subjektivität begegnen. Manche Erinnerung schmerzt dabei, manches ist beglückend und schön. Ich schreibe hier über das, was ich in meiner Mutter sehe, gesehen habe. Ich schreibe über meine Mutter als Tochter ihrer Mutter – und ein wenig auch über sie als Frau ihres Mannes, meines Vaters. Vieles andere, was sie außerdem war, was sie darüber hinaus ausmachte und auszeichnete, bleibt im Hintergrund.

Die Geschichte meiner Mutter steht für das Schicksal Tausender Menschen, die ihre Mutter oder ihren Vater im Holocaust verloren haben, die die Jahre der Verfolgung überstanden und danach mit diesen Verletzungen weiterleben mussten.

Von sich aus sprach meine Mutter nicht darüber. Wenn sie danach gefragt worden wäre, so sagte sie mir später, hätte sie auch geantwortet. Das aber war nicht der Fall.

Nun hat die Zeit des »feinen Schweigens« ein Ende.

Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus

»Herrlich, dass es ein Mädchen geworden ist« Ilse kommt zur Welt

In den ersten Wochen des Jahres 1929 gelangte klirrend kalte Festlandsluft am Südrand einer skandinavischen Hochdruckzone nach Mitteleuropa. Eine dichte Schneedecke bedeckte bald weite Teile Deutschlands. Der Winter 1928/29 zählte zu den kältesten des 20. Jahrhunderts.

Besonders hart war die Lage für die Menschen in »Hessisch-Sibirien«, wie man die Region um Immenhausen nördlich von Kassel nannte. Bis in den März hinein herrschten immer wieder Temperaturen von bis zu minus 30 Grad. Die Wände des neuen Hauses in der Immenhäuser Gartenstraße, das das Arztehepaar Ernst und Lilli Jahn kurz vor Weihnachten 1928 bezogen hatte, waren noch feucht, die Kohleöfen brannten rund um die Uhr, aber die meisten Zimmer blieben kalt.

In dieser unwirtlichen Umgebung wurde am 15. Januar 1929 Lillis zweites Kind geboren, mehrere Tage nach dem erwarteten Termin. Ernst und eine Hebamme halfen bei der Geburt des Mädchens. Man hüllte das Baby sofort in mehrere Decken, die nächsten Tage verbrachte es entweder bei Lilli oder in einem Korb neben dem Ofen in der Küche.

Das Mädchen bekam den damals verbreiteten Vornamen Ilse. Seine Eltern verbanden mit dieser Wahl eine Reverenz an Lillis Großmutter Elise Schloß aus Halle. Ein paar Wochen später, als der Winter endlich vorbei war, wurde Ilse evangelisch getauft; Elises Sohn Josef Schloß, Kinderarzt in Halle, übernahm die Rolle des Patenonkels.

Lilli und Ernst hatten sich zwar 1926 von einem Rabbiner in Köln trauen lassen, aber dass ihre Kinder getauft werden sollten, stand von Anfang an fest. Ernsts christlicher Glaube war stärker als die Bindung Lillis an die jüdische Religion. Außerdem wollten die beiden ihre Kinder vor antisemitischen Vorurteilen schützen, die schon damals, in den späten zwanziger Jahren, immer deutlicher spürbar waren.

Seit drei Jahren wohnte das junge Paar nun in Immenhausen. Lange hatte sich Lilli gegen einen Umzug in das gerade einmal 2300 Einwohner zählende Städtchen gesträubt, zu sehr liebte sie das Großstadtleben im heimischen Köln. Doch Ernst hatte in Immenhausen nach langer Suche endlich eine frei werdende Arztpraxis gefunden und Lilli überredet, mit ihm in die hessische Provinz zu ziehen.

Lilli bestand im Gegenzug darauf, dass auch sie ihren Beruf als Ärztin ausüben dürfe, trotz erheblicher Vorbehalte Ernsts. Eine erfolgreiche berufstätige Partnerin widersprach eigentlich seinem religiös geprägten Idealbild der Frau und Mutter, verkörpert in den mittelalterlichen Madonnendarstellungen, die er schon bald im ganzen Haus aufhängte.

Wenige Wochen nach Ilses Geburt nahm Lilli ihre Arbeit wieder auf. Eine Kinderfrau versorgte das Baby sowie Lillis erstes Kind, den 1927 geborenen Gerhard. Die Praxisräume von Lilli und Ernst lagen im Erdgeschoss des neuen Hauses, gleich daneben Ernsts Arbeitszimmer mit einer umfangreichen Bibliothek. Im ersten Stock folgten die Wohn- und Schlafräume der Familie; die Dienstmädchen wohnten in einer Mansarde unter dem Dach.

Die besten Freunde lebten weit entfernt, in Mannheim vor allem Hanne und ihr Mann, der Journalist Leo Barth, Weggefährten von Ernst und Lilli seit Studienzeiten. Die beiden Paare pflegten einen intensiven Briefwechsel, in dem Ernst das von Lilli gewählte Pseudonym »Amadé« und Leo den Namen »Posa« führte – eine Spielerei, die noch aus den Anfängen ihrer Freundschaft stammte. Im Mittelpunkt der Briefe stand in diesen Jahren die heranwachsende Kinderschar in Mannheim und Immenhausen. Am 20. Februar 1929 schrieb Lilli an Posa und Hanne, die damals hochschwanger war:

Ihr Lieben,

meine Gedanken sind in diesen Tagen so oft bei Euch mit so unendlich vielen guten herzlichen Wünschen für Hannele, dass ich mir ganz flink die Zeit stehlen muss, während ich einen Patienten unter der Höhensonne habe, um Euch recht liebe Grüße zu senden.

Nun muss ich Euch erst noch herzlich danken für Weihnachtsgrüße und für die guten und lieben Wünsche zur Geburt unserer kleinen Ilse. Gell, es ist doch herrlich, dass es ein Mädchen geworden ist, und ich bin so glücklich und dankbar dafür. Sie hat sich in diesen fünf Wochen nun schon zu einem ganz ansehnlichen Menschlein entwickelt und verspricht ein ebenso ruhiges Kindchen zu werden, wie es der Junge in den ersten sechs Monaten war. Sonst aber hat sie keine Ähnlichkeit mit Gerhard, nur die gleichen großen blauen Augen, aber im Übrigen viel hellere Haut und Haare und ein ganz anderes Gesichtchen. Ich bin neugierig, wem sie einmal ähnlich sein wird.

Mir selbst geht es wieder ganz gut, allerdings erst seit kurzer Zeit, denn ich bekam 14 Tage nach der Geburt eine böse Brust, mit Fieber und Schmerzen, und Amadé hat’s dann aufschneiden müssen. Das hatte mich ein bisschen arg mitgenommen, aber nun ist’s vorbei, und ich schaffe wieder tüchtig und fühle mich sehr wohl. Heute verlässt mich auch meine Pflegerin, und am 15. Februar hatte ich sogar Mädchenwechsel, hoffe hier einen guten Tausch gemacht zu haben. Das sind nun alles so große und kleine Hausfrauensorgen!

Unser Bübchen macht uns sehr viel Freude, er ist solch ein temperamentvoller, lebhafter kleiner Kerl, versucht alles nachzumachen, ist oft sehr komisch, aber immer recht lieb. Von seinem Schwesterchen nimmt er nur insofern Notiz, dass er es nachmacht, wenn es weint, dass er es noch etwas derb und unbeholfen streichelt, wenn ich es auf dem Arm halte, dass er ihm Tiere und Bauklötze liebevoll in den Wagen legt und dass er diesen Wagen mit Begeisterung durch die Zimmer schiebt. Man muss schon recht auf ihn aufpassen.

Amadé hat ungeheuer viel Arbeit, es ist in den letzten 14 Tagen ganz toll, dass er es kaum schaffen kann und oft nicht die notwendige Ruhe und Zeit zu den Mahlzeiten hat. Und dazu immer die anstrengende Autofahrerei über verschneite und vereiste Landstraßen, es ist schon eine mächtige Anstrengung für ihn, und er tut mir oft furchtbar leid, wenn er so gar nicht zur Ruhe kommt und seine Kinderchen kaum zu sehen bekommt. Hoffentlich wird es bald besser.

Wie bekommt Euch denn dieser endlose und kalte Winter? Ich kann es kaum erwarten, dass die Welt mal wieder ein anderes Gesicht zeigt.

Meine innigsten Wünsche und Euren Kindern viel Liebes!

Eure Li

Die letzten Wochen vor der Niederkunft hatte Lillis Freundin Hanne in einem Krankenhaus verbringen müssen. Als Hannes Tochter Ursula dann endlich zur Welt gekommen war, gratulierte Lilli am 14. März 1929:

Wie freuen wir uns mit Euch, Ihr Lieben! Nun wünsche ich Dir, liebe Hanne, recht schnelle Genesung! Und das kleine Urselchen soll tüchtig trinken und zunehmen und viel schlafen und wenig schreien und sich so gut entwickeln wie unser Ilselein.

Meine beiden Kleinen machen uns viel Freude; heute haben wir Ilschen zum ersten Mal in die Sonne gefahren, und der Junge ist nebenher getippelt, stumm vor lauter Staunen über die Dinge um ihn her.

Schon wenige Monate nach Ilses Geburt nannte Lilli ihre Tochter nur noch mit wechselnden Kosenamen. Aus Ilse wurde Ilslein, Ilschen oder Ilsemaus, Ille oder Illekind, so auch in einem Brief, den Lilli am 14. Mai 1929 an Ernst schickte, der gerade ein paar Tage bei den Schwiegereltern Josef und Paula Schlüchterer in Köln verbrachte:

Hier geht alles seinen gewohnten Gang. Ilslein wiegt 13 Pfund, 100 Gramm, trinkt mit Appetit und ohne Störung nun seit 2 Tagen ihre 2/3 Milch, trägt Strampelhöschen und lacht und kräht vor Wonne.

Lillis Briefe aus diesen Jahren dokumentieren die Entwicklung ihrer Kinder bis ins Detail. Bei aller Liebe neigte sie jedoch nicht zur Überbehütung. Sie hatte ein anderes, moderneres Verständnis der Mutterrolle, die vielen Aufgaben in der Praxis und daneben im Haushalt verlangten ihr eine Menge ab. Neben ihrer Arbeit als Hausärztin musste sie ihren labilen, zu Grübeleien neigenden Mann unterstützen, sie organisierte den Einsatz der Hausmädchen, kümmerte sich um die Einkäufe, kochte. Und bald war sie auch wieder schwanger: 18 Monate nach Ilse, am 26. Juli 1930, kam Johanna zur Welt.

Einige Wochen zuvor hatte Ilse ihre ersten eigenen Schritte gemacht. »Ilschen läuft schon ganz ordentlich«, schrieb Lilli am 9. Juni 1930 an Ernst, der damals Verwandte in Süddeutschland besuchte. Lilli genoss währenddessen den Frühsommer im eigenen Garten, zusammen mit der Kinderfrau Anna und ihren Kindern, sie verbrachte Stunden im Liegestuhl, und von Zeit zu Zeit spielte sie auch wieder Klavier. Ihr Onkel Josef Schloß hatte ihr zur Hochzeit einen Blüthner-Flügel geschenkt, der mit großer Mühe in das kleine Wohnzimmer hinaufgeschleppt worden war.

In ihren ersten Lebensjahren wuchs Ilse mit einer glücklichen Mutter auf. Lilli war der Ruhepol der Familie, sie gab allen Kraft und Selbstvertrauen, auch wenn sich um sie herum das Bild verfinsterte. Die Weltwirtschaftskrise, durch den Börsenkrach des Jahres 1929 ausgelöst, ließ die politischen Konflikte eskalieren. Selbst im kleinen Immenhausen kam es zu heftigen Schlägereien zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten. Ernst musste anschließend die Beteiligten medizinisch versorgen.

Dass all das nichts Gutes für die junge Familie bedeutete, ahnte Lilli bereits. Ihre Sorgen offenbarte sie jedoch nur im engsten Freundeskreis. Bei Hanne und Leo etwa wusste sie genau, dass sie verstanden wurde. Leo hatte nicht umsonst den Beinamen »Posa« erhalten, nach Schillers Marquis de Posa. Schon als junger Student trat er als leidenschaftlicher Verteidiger der Weimarer Demokratie auf. Später, als Journalist, geriet er mehrmals ins Visier der Nationalsozialisten, wurde auch kurz inhaftiert.

Lilli hingegen war schon damals vor allem darum bemüht, nicht aufzufallen. In Immenhausen erzählte sie niemandem von ihrer jüdischen Herkunft. Und zumindest äußerlich fügte sie sich auch ganz in die christliche Tradition ihrer Umgebung ein. »Bei uns ist alles in Weihnachtsfreude durch die Kinderchen«, schrieb sie am 23. Dezember 1931 an die Barths, kurz vor Ilses drittem Geburtstag. »Sie können es kaum erwarten, bis morgen Abend das Christkindchen seinen Lichterbaum bringt.«

Gerhard, Ilse und Johanna bekamen von den Mannheimer Freunden Bilderbücher zu Weihnachten geschenkt. Lilli bedankte sich am 9. Februar 1932:

Mit den Bilderbüchern habt Ihr unseren Kindern eine große Freude gemacht, sie sind aber auch ganz besonders nett, und die Kinder konnten sie schon sehr bald auswendig.

Es geht uns gut, wir haben keinen Grund und keine Berechtigung zu klagen, wenn es natürlich auch Stunden gibt, in denen man die Not und den Druck der Zeit besonders intensiv empfindet und man sich Sorgen macht betreffs des allgemeinen und des persönlichen Schicksals, so glaube ich doch fest daran, dass die natürliche Entwicklung allen Geschehens uns auch aus dieser schweren Zeit wieder herausführen wird. Und das kleine Kindervolk sorgt für genügende Ablenkung und bringt allen notwendigen Sonnenschein.

Seit Samstag ist unsere Mutter hier und lebt förmlich auf durch die Kinder. Sie sieht ja auch zum ersten Mal unser Haus.

Ilse hatte keine besonders intensive Beziehung zu ihrer Kölner Großmutter Paula, die ältere Dame war eher unnahbar. Aber da deren Mann, der Fabrikant Josef Schlüchterer, bereits 1932 gestorben war und die Großeltern väterlicherseits schon lange nicht mehr lebten, waren Paula und Lillis ein Jahr jüngere Schwester Elsa in diesen Jahren doch die wichtigsten Verwandten im Leben des kleinen Mädchens.

Ilse und ihre Geschwister fanden Spielkameraden in der Nachbarschaft. Die Kinder- und Hausmädchen nahmen Gerhard, Ilse und bald auch Johanna mit zu Besuch in ihre eigenen Familien, und stets brachten die Kinder von diesen Ausflügen zu den Bauernhöfen der Umgebung frische Milch, Äpfel, Kartoffeln und Wurstwaren mit nach Hause. Lilli, die immer noch die Großstadt vermisste, wusste, dass es ihren Kindern hier gut ging. Dass sie selbst ein anderes Leben führte als die übrigen Immenhäuser Mütter, konnten Lillis Kinder noch nicht erkennen. Als berufstätige Akademikerin wurde Lilli erst später für ihre Töchter zum Rollenvorbild.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 musste Lilli ihre Praxis aufgeben. Lilli und Ernst war sofort klar, dass die Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler dramatische Folgen für die junge Familie haben würde. Die beiden hatten die liberale Kölnische Zeitung abonniert und waren politisch stets auf dem Laufenden. Zunächst bemühten sie sich, ihre Bestürzung vor den kleinen Kindern zu verbergen. Doch der sogenannte Judenboykott vom 1. April 1933 ließ sich nicht verheimlichen. Die Immenhäuser Nationalsozialisten boykottierten auch Ernst und seine Praxis, große Unruhe entstand an diesem Tag in der Familie. Warum kamen plötzlich keine Patienten mehr?

Die vierjährige Ilse erlebte nun eine stark veränderte, deprimierte Mutter, auch wenn sie die Ursache dieser Erschütterung noch nicht verstand. In wenigen Tagen sollte Lillis viertes Kind zur Welt kommen, alle Vorfreude wurde nun überschattet von Zukunftssorgen und Ängsten. Ernst war weniger verzweifelt als empört. »Und doch Christus vincet«, Christus wird siegen, schrieb er am 2. April 1933 an Hanne und Leo Barth.

Am 10. April kam Lillis Tochter Eva zur Welt. Ilse durfte das Baby im Arm halten und im Kinderwagen durch den Garten schieben. Und nach einigen Wochen schien der Alltag auch wieder zurückzukehren. Selbst die SA-Kolonnen, die durch Immenhausen zogen und das »Horst-Wessel-Lied« sangen, hatten für die Kinder nichts Bedrohliches. Im Gegenteil: Gerhard, Ilse und Johanna paradierten ebenfalls mit einer kleinen Reichsfahne vor dem Haus und trällerten einträchtig: »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen …«

Lilli beschränkte sich jetzt ganz auf den inneren Kreis der Familie. Ihre Schwester Elsa sah für sich keine Zukunft mehr in Deutschland und wanderte nach England aus; an eine akademische Karriere als Chemikerin war unter den Nationalsozialisten nicht mehr zu denken.

Den Kindern wurden die Gründe für Elsas Emigration nicht erklärt, aber dass sich etwas verändert hatte, war nicht zu übersehen. Die Immenhäuser Honoratioren kamen plötzlich nicht mehr zu Besuch, der Pfarrer, der Gutsherr, ein ärztlicher Kollege – sie alle nannten jetzt irgendwelche Vorwände, um den Kontakt abzubrechen. Nur die Freunde in der Ferne blieben der Familie treu. Die Barths in Mannheim vor allem, aber auch der Rechtsanwalt Leo Diekamp und seine Frau Lise in Bochum. Ernst kannte Leo aus seiner Studienzeit. Leos Rat war in den kommenden Jahren immer wieder gefragt, gerade wenn es darum ging, mit den Sanktionen der Nationalsozialisten gegen jüdisch-christliche Familien umzugehen.

Lillis Leben wurde nun zu einem Wechselbad aus Ängsten um die Zukunft ihrer Kinder und manchen glücklichen Momenten. Am 8. Juli 1934 berichtete sie den Barths vom aktuellen Krankenstand in Immenhausen:

Bei uns ist zur Zeit der Keuchhusten, das heißt, der Junge ist ganz verschont, Ilse hat ihn nur in Andeutungen, aber Hannele und Evchen sind schwer geplagt. Unsere Stimmung ist nicht immer zum Besten, und wir mühen uns jeden Tag von Neuem, mit dieser Zeit und ihren Problemen fertigzuwerden.

Drei Monate später, am 25. Oktober, hatte sich die Lage etwas aufgehellt: »Ich habe jetzt einmal all meine Sorge und meine Bangnis über die Zukunft der Kinder von mir fortgeschoben und genieße die vier und mein Glück mit ihnen.« Schon im folgenden Frühjahr dann der nächste Rückschlag: »Ilse hatte eine doppelseitige Mittelohrentzündung und Lungenentzündung, aber am schwersten krank war unser kleines Hannele«, schrieb Lilli am 22. März 1935. Johanna hatte Asthma. Ihre Eltern bemühten sich immer wieder um einen Platz in einem Erholungsheim für ihre Tochter, doch zunächst bekamen sie nur Absagen, weil es sich ja um ein »nichtarisches Kind« handle. Nach mehreren vergeblichen Versuchen wurde Johanna schließlich in einem Kindersanatorium aufgenommen. Aber das ganze Hin und Her ließ Ilse und ihre Geschwister schon ahnen, dass sie anders als andere Kinder waren, dass irgendein Makel an ihnen haftete.

Diese Erfahrung beherrschte den Alltag der Kinder noch nicht durchgehend, nur in Einzelfällen erlebten sie Momente der Diskriminierung. Noch hatte der Schutzraum Bestand, den Lilli und Ernst für ihre Kinder errichtet hatten.

»Stolz mit zwei straffen Zöpfchen« Die Ausgrenzung beginnt in der Schule

Ilses großes Vorbild war ihr Bruder Gerhard, er ging seit 1934 zur Schule, konnte schon bald lesen und schreiben. Nach den Osterferien des Jahres 1935 sollte es auch für sie endlich so weit sein: »Ilse wartet nun gespannt auf den 1. Schultag, stolz mit zwei kleinen straffen Zöpfchen, mit denen sie zwar verändert, aber doch sehr niedlich aussieht«, schrieb Lilli ihren Mannheimer Freunden in einem Brief am 22. März. Der Schulstart glückte problemlos. »Ilse ist ein eifriges, selbstbewusstes kleines Schulmädel«, berichtete Lilli am 13. Juli.

Dass sich die Welt um sie herum in diesen Jahren stark veränderte, konnte Ilse zwar schon erkennen, aber dass dieser Wandel sie auch persönlich treffen würde, ahnte sie noch nicht. Unbeschwert ging sie jeden Tag in die Immenhäuser Volksschule. Nachmittags traf sie sich weiterhin mit ihren Freundinnen aus der Nachbarschaft. Auch die ein halbes Jahr nach ihrer Einschulung erlassenen Nürnberger Rassengesetze spielten in ihrem Leben noch keine Rolle.

Schockiert waren dagegen Lilli und Ernst. Die Einstufung ihrer Kinder als »Mischlinge I. Grades« wurde nun immer dann zum Thema, wenn die Eltern abends beisammensaßen und über die Zukunft der Familie sprachen. Mit welchen Einschränkungen mussten die Kinder rechnen? Was sollte, oder besser: Was konnte aus ihnen werden? Würden Ilse und ihre Geschwister als sogenannte Halbjuden überhaupt studieren dürfen?

Die Immenhäuser Volksschule wurde vor allem von Kindern aus Bauern- und Arbeiterfamilien besucht. Als Tochter eines Akademikerhauses war Ilse hier privilegiert und auch unterfordert. Ihre Eltern zogen daraus den Schluss, dass das Kind schon nach drei Jahren auf ein Gymnasium in Kassel wechseln sollte. Lilli erklärte ihrer Freundin Hanne diese Entscheidung am 16. April 1938:

Ilschen hat ihre Aufnahme-Prüfung an der Deutschen Oberschule glatt bestanden. Sie wird es bestimmt genauso schaffen wie Gerhard. Ihr Klassenlehrer riet uns sehr zu dieser verfrühten Umschulung, sie sei der Klasse hier so weit voraus, dass er sie immer zurückhalten müsse, weil die anderen nicht mitkämen. Und wir sind froh über jedes Jahr, das wir für unsere Kinder hier gewinnen. Die Zukunft ist ohnehin schwer und undurchsichtig für sie.

Der frühe Wechsel auf die Jacob-Grimm-Schule, eine Oberschule für Mädchen in Kassel, erwies sich allerdings schnell als Fehler. Anders als in Immenhausen sei sie dort wegen ihrer jüdischen Mutter sofort verspottet worden, erinnerte sich Ilse später. Da sie als »Halbjüdin« nicht in die Jungmädel-Gruppe der Hitlerjugend aufgenommen worden sei und ihr die entsprechende Uniform fehlte, habe sie beim täglichen Appell auf dem Schulhof immer abseitsstehen müssen.

Ilse war zudem ein Jahr jünger als die meisten Mitschülerinnen und hatte deswegen auch Probleme mit dem Unterrichtsstoff. Das Lernen fiel ihr plötzlich schwer. Jeden Morgen stieg die eben noch so selbstbewusste Schülerin verängstigt in den Zug nach Kassel, weil sie sich den neuen Herausforderungen nicht gewachsen sah.

Vor allem aber wurde sie nun auch von den Lehrern schikaniert. »Bei Ilschen«, schrieb Lilli am 23. August 1938 an die Mannheimer Freunde, »tauchen in der Schule jetzt doch die von mir befürchteten Kränkungen und Zurücksetzungen auf, wir hoffen jedoch sehr, durch energischen Einspruch bei dem Direktor, diesen Dingen Einhalt zu gebieten.«

Doch eine solche Intervention war von vornherein zum Scheitern verurteilt, Ilses Ängste interessierten die Schulleitung nicht. Lilli und Ernst mussten ihrer Tochter also erklären, warum sie in der Schule so schlecht behandelt wurde. Eines Tages riefen die Eltern Gerhard, Ilse und Johanna zu einem langen Gespräch in Ernsts Arbeitszimmer. Sie hätten den Kindern »jetzt reinen Wein eingeschenkt über ihre Abstammung und die besondere Situation innerhalb der ›Volksgemeinschaft‹«, berichtete Lilli danach an Hanne Barth. Sie sei froh, dass sie diesen Schritt nun endlich getan und die Kinder das Gesagte auch »ohne große Erschütterungen« aufgenommen hätten.

Ilse begriff jetzt, was um sie herum vorging. Die beiden jüdischen Familien aus Immenhausen, die Friedemanns und Goldins, wanderten nach Palästina aus, Lilli blieb als einzige Jüdin in der kleinen Stadt. Einige Verwandte kamen auf der Durchreise zu den Seehäfen in Hamburg oder Bremen ein letztes Mal in Immenhausen vorbei, bevor auch sie Deutschland verließen.

Lilli und Ernst diskutierten nun sogar in Gegenwart der Kinder die Frage, ob sie ebenfalls einen Neuanfang in der Fremde wagen sollten. Elsa hatte für die Familie ihrer Schwester alle nötigen Papiere in England besorgt. Eine Auswanderung war also möglich, aber Ernst wollte seine gut laufende Praxis nicht aufgeben und lieber in Immenhausen bleiben, obwohl er immer häufiger zu spüren bekam, dass man seine Ehe mit einer Jüdin missbilligte und ihn deshalb ausgrenzte.

Lillis Freundin Lotte Paepcke, die Tochter ihrer Cousine Olga, hatte ebenfalls einen Protestanten geheiratet, kannte also die Probleme einer sogenannten Mischehe. Lotte beschrieb kurz nach dem Krieg in ihrem Erinnerungsbuch Unter einem fremden Stern, was die Diskriminierung der jüdischen Frauen damals für ihre nichtjüdischen Männer bedeutete:

Der Mann einer jüdischen Mischehe musste in zwei Welten wohnen: in der Gesellschaft der Menschen und bei seiner Frau. Draußen, bei jenen, hatte der Beruf seinen Platz, dort waren die Theater, die Konzerte, dort die Bilder. Aber der Mann einer ausgestoßenen Ehe durfte nicht einen Augenblick vergessen, dass er in Wahrheit keiner der Ihren war. Sie hatten ihm die bergende Sicherheit entzogen und verweigerten ihm die Anerkennung seines Daseins. Und trotzdem musste er bleiben: denn auf dem Fußbreit Boden, den er hielt, stand sein und seiner Familie Leben.

Ein Mann einer jüdischen Frau war mit ihr verfemt. Die Zeitungen waren erfüllt von Worten: gegen sie. Das Radio brachte Aufrufe: gegen sie. Er aber musste jeden Tag an einem Dennoch bauen, mit dem er ihr und sein Leben schützte. Ein eigenes Recht musste er erschaffen, stark genug, das Sagen und Schreiben der anderen zu Unrecht zu machen. Sie war das Schöne, war das Gute, und er holte es täglich mit den bloßen Händen aus dem Schmutz, den sie darüber gossen.

Ernst zeigte sich mit dieser Aufgabe überfordert. Zwar schweißte der äußere Druck ihn und Lilli erst einmal enger zusammen, er machte auch keinen Hehl daraus, dass er die allgegenwärtige Propaganda der Nationalsozialisten verachtete. So beschwerte er sich lautstark über die SA-Männer, die das Ärztehaus immer wieder mit ihren Spendenbüchsen heimsuchten. Andererseits verlor er nun auch im Kreis der Familie häufig die Fassung, schimpfte aus nichtigen Anlässen mit Lilli und den Kindern. Entnervt zog er sich danach in sein Arbeitszimmer zurück, zu seinen kunst- und religionsgeschichtlichen Studien.

Von seiner tief empfundenen Religiosität zeugten nicht nur die Madonnenbildnisse überall im Haus. Ernst ging mit seinen Kindern regelmäßig zur Kirche, und vor allen Mahlzeiten wurden Tischgebete gesprochen. Lilli nahm das widerspruchslos hin, sie wusste, unter welchem Druck ihr Mann stand, und wollte ihn besänftigen. Ihre Kinder gaben den Madonnenbildern eine ganz andere Bedeutung. Für sie war Ernsts Marienverehrung immer auch ein Zeichen der besonderen Verehrung für ihre eigene Mutter.

Ernst löste sich damals immer stärker aus der protestantischen Welt, schon seine Mutter hatte einst mit ihm katholische Gottesdienste besucht. Lilli hingegen zog sich in diesen Jahren auf ihre jüdische Herkunft zurück. Von Zeit zu Zeit besuchte sie eine Synagoge in Kassel, in ihrem Nachttisch lag ein jüdisches Gebetbuch. Ilse beobachtete ihre Mutter dabei, wie sie abends hebräische Gebete sprach. An jedem Todestag ihres Vaters entzündete Lilli nach jüdischer Tradition für 24 Stunden ein »Jahrzeitlicht«.

Die Kinder empfanden es als ganz normal, dass die Mutter ihre eigene Religion hatte und sie auch nur in Ausnahmefällen in die Kirche begleitete, bei Taufen oder Gerhards Konfirmation zum Beispiel. Sie gingen ja auch nie mit ihrer Mutter in eine Synagoge.

Überfordert waren Ilse und ihre Geschwister jedoch davon, dass ihre Mutter in der Schule als Angehörige einer feindlichen Rasse verfemt und verachtet wurde. Nicht jeder Lehrer erwies sich als treuer Parteigänger der Nationalsozialisten, aber jedes Schulbuch verbreitete inzwischen die Botschaft, Juden seien »Schädlinge im deutschen Volkskörper«. Was hatte ihre Mutter also falsch gemacht? Eine Frau, die Rilkes Gedichte und klassische Musik liebte, die so schön auf ihrem Flügel spielte. Was war an ihr verkehrt? Niemand konnte ihnen das erklären.

An der Hauptstraße in Immenhausen wurde in einem Schaukasten regelmäßig die neueste Ausgabe des Hetzblatts Der Stürmer ausgehängt. Auf dem hölzernen Rahmen befand sich die geschnitzte Karikatur eines alten Juden, darunter standen die Zeilen:

Sei vor dem Juden auf der Hut,

er stiehlt die Seele, saugt das Blut.

Täglich liefen Ilse und ihre Geschwister daran vorbei, und fast immer warfen sie einen kurzen Blick auf die dort ausgestellten antisemitischen Bilder. Anfangs verstanden sie gar nicht, dass auch ihre Mutter damit gemeint war, bald aber wurde es von Mal zu Mal schmerzhafter. Der Jude, ein hässliches, niederträchtiges Wesen – so war ihre Mutter doch nicht!

Im Gegenteil, Lilli verhielt sich jetzt noch freundlicher, ja devot, wollte zu allen gut sein. In ihrem Buch Unter einem fremden Stern schilderte Lillis Freundin Lotte diese Verhaltensänderung:

Die Waffe des ausgestoßenen Menschen war, sympathisch zu sein um jeden Preis, – auch um den Preis der Achtung vor sich selbst. Denn wie musste man sich hassen lernen, jeden Tag mehr! Wie musste man sie verachten lernen, diese Zucht geheuchelter Gefühle, diese Pflanzung verlogenen Einvernehmens mit der Umwelt! Zum Gespött seiner selbst musste man werden, wenn man mit beflissenen Worten die Post entgegennahm, die Briefträgerin bedauerte wegen des Regenwetters, – in Wirklichkeit angstvoll prüfend, ob sie entdeckt hatte, dass der Brief von der Gestapo kam.

Doch nicht nur Lilli war in ihrem Selbstwertgefühl verletzt, auch ihre Kinder wurden mehr und mehr verunsichert. Weil sie »Halbjuden« waren, so hatten es ihnen die Eltern erklärt, betrachtete man sie ebenfalls als minderwertig. In dramatischer Form erlebten sie diese Zurücksetzung zu Beginn der Sommerferien 1938. Wie in den beiden Jahren zuvor hatten ihre Eltern ein Hotel im Schwarzwald gebucht, unweit von Freiburg, wo Lillis Cousine Olga und deren Mann Max lebten. Man reiste gemeinsam mit der Bahn in den Süden, schon das war immer ein kleines Abenteuer für die Familie. Dann ging alles gründlich schief: Das Hotel weigerte sich, eine Jüdin und ihre Kinder aufzunehmen. Lilli und Ernst, Ilse und ihren Geschwistern wurde die Tür gewiesen. Ein Schock für die Kinder. Nach einigen hektischen Telefonaten fand man schließlich mit Olgas Hilfe ein Hotel in der Nähe, das Lillis jüdische Herkunft gnädig übersah. Wenn sie sich später daran erinnerten, wie sie als Heranwachsende stigmatisiert und ausgegrenzt wurden, war das Chaos am Anfang dieses Sommerurlaubs ein Schlüsselerlebnis.

Das nächste folgte nur wenige Monate später. Am 9. November 1938, dem Tag der sogenannten Kristallnacht, die Familie saß gerade beim Abendbrot, zog ein Trupp Immenhäuser SA-Leute zum Ärztehaus in der Gartenstraße. Die Männer kletterten auf die Garage und warfen im Haus eine Scheibe ein. Die Kinder hörten ihre Stimmen noch ein paar Minuten im Garten, dann war der Spuk vorbei.

Lilli und Ernst erklärten ihren verängstigten Kindern, die Männer seien wohl betrunken gewesen. In Wahrheit handelte es sich um einen Anschlag, der der Familie zeigte, dass sie von hier verschwinden sollte. Am nächsten Morgen rief Ilses Großmutter Paula aus Köln in Immenhausen an: SA-Männer waren in ihre Wohnung in der Kitschburger Straße gestürmt und hatten dort gewütet. Paula und ihr Hausmädchen mussten mitansehen, wie die Männer alle Betten aufschlitzten und die Federn in der ganzen Wohnung verstreuten. Mit Messern zerstachen sie die niederländischen Ölgemälde. Schränke wurden umgerissen, die Kristallgläser und das Porzellan zerschlagen. Lilli fuhr noch am selben Tag nach Köln, um ihrer Mutter beizustehen.

Ilse, so hatten die Eltern entschieden, solle an diesem Morgen der Schule fernbleiben. Gerhard wollte unbedingt fahren, wurde jedoch von einem Lehrer seines Gymnasiums gleich wieder zurückgeschickt.

Fünf Jahre lang hatten sich Lilli und Ernst darum bemüht, ihre Kinder möglichst unbeschwert heranwachsen zu lassen, trotz aller Repressalien des NS-Regimes. Das Jahr 1938 aber markierte einen Einschnitt. Gerhard, Ilse und Johanna waren nun alt genug, um die politischen Veränderungen um sich herum wahrzunehmen, die Eltern konnten sie nicht mehr von den Schreckensnachrichten aus der Außenwelt abschirmen.

Die Pogromnacht vom 9. November war ein Warnzeichen für Lilli und Paula. Max Mayer, der Mann von Lillis Cousine Olga, wurde am 9. November verhaftet und einen Monat lang im Konzentrationslager Dachau eingesperrt. Völlig entkräftet und desillusioniert kehrte er zurück. Viele jüdische Familien, die bis jetzt noch auf eine Besserung der Lage gehofft hatten, verließen in den kommenden Monaten Deutschland.

Ernst glaubte indessen, dass Lilli durch die Ehe mit ihm, dem Nichtjuden, und durch ihre Kinder vor weiteren Sanktionen geschützt sei. Die Nationalsozialisten schienen diese Einschätzung zu bestätigen: Im Dezember 1938 sortierten sie die christlich-jüdischen Familien nach neuen Kriterien. Die Verbindung von Lilli und Ernst galt demnach als die sicherste aller möglichen Varianten. Die beiden führten eine »privilegierte Mischehe«, weil nicht der Vater jüdischer Herkunft war, sondern die Mutter, und weil die Kinder christlich erzogen wurden.

Ilses Großmutter Paula dagegen hatte keinen Anspruch auf dieses vermeintliche Privileg. Es war nicht einfach, den Kindern zu erklären, warum die Oma zu Tante Elsa nach Birmingham ziehen sollte, die Mutter aber in Deutschland bleiben konnte. Paula musste fast ihr gesamtes Barvermögen an staatliche Stellen zahlen, damit sie im Mai 1939 nach England ausreisen durfte.

Lilli hatte weitere Einschränkungen hinzunehmen. Seit dem 1. Januar 1939 musste sie in allen offiziellen Dokumenten den Namen Lilli Sara Jahn führen. Sie durfte nicht mehr ins Theater oder Konzert gehen. Und mit dem Kriegsbeginn am 1. September kamen neue Sanktionen hinzu. Für alle Juden galt ab sofort ein abendliches Ausgehverbot. Besuche bei Nachbarn oder Verwandten waren damit für Lilli unmöglich geworden. Am 8. Oktober 1939 schrieb sie an ihre Mannheimer Freundin:

Meine liebste Hanne,

seit Kriegsbeginn sind meine Gedanken schon unzählige Male zu Dir geeilt, und allen Hemmungen zum Trotz greife ich nun doch heute zur Feder, um Dir und Euch allen zu sagen, wie von ganzem Herzen wir in diesen unheilvollen, schweren Wochen Euch Gutes wünschen.

Ach, wenn doch dieses Fünkchen Hoffnung, an das wir uns klammern, sich erfüllen wollte und der Krieg im Westen verhindert werden kann! Es ist ja gar nicht auszudenken, welches Leid und welches Unheil allen beteiligten Völkern daraus entstehen würde!

Wir hier sind alle gesund, Ernst ist hier, aber ob das so bleiben wird, wenn der Krieg weitergeht, ist noch fraglich. Bisher hat er sehr viel Arbeit mehr durch die bereits eingezogenen Nachbarkollegen. Aber jeder Tag bringt neue Verordnungen und Änderungen, und man lebt, wie wohl jeder heute, von einem Tag zum anderen in ununterbrochener Spannung. Und noch viel schmerzlicher als sonst empfinden wir unsere vollkommene Abgeschlossenheit, es täte doch gut, in ruhigem und vernünftigem Gespräch alle die Fragen, Hoffnungen und Befürchtungen, die uns bewegen, durchsprechen zu können.

Den Kindern geht es gut, Gerhard und Ilse haben durch den zeitweise sehr eingeschränkten Zugverkehr mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden und konnten zeitweise überhaupt erst abends wieder zurückkommen. Momentan geht es etwas besser. Die beiden Kleinen leben gottlob noch genauso kindlich froh und unbeschwert wie die Euren wohl auch.

Von meiner guten Mutter und meiner Schwester höre ich nichts, gar nichts, trotz eines Versuchs, über die Schweiz Nachricht zu erhalten. Wenn es Dir recht ist, liebste Hanne, schicke diese Zeilen weiter nach Birmingham, man soll auch dort wissen, dass wir täglich unserer alten liebsten Freunde innigst gedenken mit tausend guten Wünschen. Für eine noch so kurze Nachricht wären wir sehr dankbar.

Gottbefohlen all Ihr Lieben, unverändert eure Li

Unterdessen häuften sich Ilses Schwierigkeiten mit der Schule. Anders als Gerhard besaß sie nicht genug Widerstandskraft, um sich gegen die Bösartigkeiten von Lehrern und Mitschülern zu behaupten. Diese spürten, wie empfindlich sie war, und versuchten, sie zu entmutigen. Eines Tages erklärte ihr eine parteitreue Lehrerin: »Du kannst zu Hause bleiben« – einfach so, ohne jede Begründung. Am 17. November 1939 berichtete Lilli ihrer Mannheimer Freundin von den Problemen ihrer ältesten Tochter:

Wir sind sehr glücklich, dass Gerhard es in der Schule gut getroffen hat, und empfinden das umso dankbarer, als Ilschen sich in der Schule kaum durchsetzen kann und mancherlei Zurücksetzungen erfahren muss. Das beeinträchtigt natürlich sehr die Lust und die Liebe zum Lernen bei ihr, und ihre Leistungen lassen manchmal etwas zu wünschen übrig.

Lilli registrierte, dass Ilse sich besonders schwertat, während Gerhard, Johanna und Eva bis dahin noch alle Hindernisse überwanden. Stets war es Ilse, die bedrückt und unglücklich aus der Schule kam. Sie litt mehr als ihre Geschwister unter der Ausnahmesituation, in die die Familie geraten war.

Zudem wurde Lilli gewahr, dass ihre älteste Tochter auch als Klavierschülerin nur langsame Fortschritte machte und den Unterricht manchmal schwänzte. Dieses Desinteresse ärgerte Lilli, die selbst doch so gern Klavier spielte. Anerkennung erfuhr Ilse von ihr nur als »Hausmütterchen«, das ihr fleißig zur Hand gehe. Den Begriff benutzte sie mehrmals in ihren Briefen – ein Kompliment mit spöttischem Unterton.

Umso entschiedener suchte Ilse die Nähe zu ihrer Mutter, nicht nur bei der Hausarbeit und in der Küche. Auf den Familienfotos aus den späten dreißiger Jahren schmiegt sie sich immer eng an Lilli, zusammen mit ihrer Schwester Eva. Gerhard und Johanna umringen stets Ernst.

Auch im Kreis ihrer Geschwister hatte es Ilse nicht leicht. Sie stand eher am Rande, eine stille Beobachterin, zurückhaltender als die anderen. Während Johanna und Eva die Natur eroberten, auf Bäume kletterten, blieb sie lieber daheim, las Bücher und machte Handarbeiten. Johanna besaß zudem ein überschäumendes Temperament, das sie schnell zum Liebling ihres Vaters werden ließ. Wegen ihrer Asthma-Erkrankung zog sie ohnehin mehr Aufmerksamkeit auf sich als ihre Schwestern. Und Gerhard verfügte schon früh über das notwendige Selbstbewusstsein, um äußere Anfeindungen weitgehend abzuwehren.

Das erste Kriegsweihnachten stand vor der Tür. »Die Kinder sind natürlich voll froher Erwartung, es wird heimlich gehandarbeitet und Klavier geübt«, schrieb Lilli am 11. Dezember 1939 an Hanne. Die militärischen Erfolge der Wehrmacht ließen den Krieg vorübergehend etwas weniger bedrohlich erscheinen. Lilli konnte die Festtage mit ihren Kindern sogar genießen. Auch der Start ins neue Jahr verlief ruhiger als gewohnt. Am 8. Februar 1940 berichtete Lilli:

Gerhard und Ilse bekommen tüchtig Hausaufgaben, aber das ist gut so, sonst wüssten sie gar nicht, was sie mit all ihrer Freiheit anfangen sollten, und würden nur noch mehr lesen, als sie ohnehin schon tun. Vor allem Gerhard ist ein ganz großer Bücherwurm. Übrigens, Hannele tut’s ihm bald gleich, momentan verschlingt sie sämtliche Karl-May-Bände ihres Bruders. Nun, Rita wird Dir mehr und lebendiger von den Kindern berichten, als ich es vermag, besonders wohl von ihren Lieblingen Ilse und Eva.

Die hier beiläufig erwähnte Rita war eine junge Ärztin aus Göttingen, die seit wenigen Monaten Ernst in der Praxis entlastete und die von Lilli zunächst mit Freuden begrüßt worden war. »Für uns Einsiedler ist es eine schöne und anregende Bereicherung«, schrieb Lilli an Hanne. Endlich bekam sie etwas Gesellschaft in ihrer erzwungenen Einsamkeit. Auch die Kinder mochten die junge Frau, die ihnen so freundlich begegnete und immer wieder wertvolle Geschenke mitbrachte. Rita wohnte und arbeitete jeweils für mehrere Monate im Immenhäuser Ärztehaus, besuchte von Zeit zu Zeit aber auch Freunde in Süddeutschland. Bei einer dieser Reisen lernte sie die Mannheimer Barths kennen. Auch von dort kamen zunächst nur positive Urteile über »die junge Doktorin«.

Zu Lillis großem Glück wurde schließlich die Geburt ihrer vierten Tochter, Dorothea, am 25. September 1940. »So viel Glanz und Licht strahlt sie aus, und ein kleines Stückchen Himmel ist in den großen blauen Augen gefangen«, schrieb sie ihren Mannheimer Freunden. »Es sind Amadés Augen! Das alles hilft über anderes Schwere hinweg.«

Auf einem kurz nach der Geburt aufgenommenen Foto hält Ilse ihre jüngste Schwester auf dem Arm, ihr Bruder Gerhard beugt sich über das Baby und berührt das winzige Händchen. Er ist dreizehn Jahre alt, Ilse bald zwölf. Fast hat es den Anschein, dass die beiden schon jetzt verantwortlich für das Leben des kleinen Mädchens waren.

»Bis zu seinem letzten Atemzug« Josefs Geschichte