Mein verwundetes Herz - Martin Doerry - E-Book

Mein verwundetes Herz E-Book

Martin Doerry

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Beschreibung

In einzigartiger Vollständigkeit sind über 500 Briefe erhalten, die das dramatische Schicksal einer deutsch-jüdischen Familie erzählen. Als die Jüdin Lilli Jahn verhaftet wird, halten allein die Kinder fest zu ihrer Mutter und schicken fast täglich Briefe ins Lager, die Lilli auf herausgeschmuggelten Papieren erwidert. Im März 1944 wird Lilli Jahn nach Auschwitz deportiert und stirbt dort.

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MARTIN DOERRY

»Mein verwundetes Herz«

Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944

Pantheon

Lilli Jahn, 1918

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur gsk GmbH Umschlagmotiv: © Martin Doerry Privatarchiv
Satz und Layout: DTP im VerlagDie Karte von Nordhessen fertigte Peter Palm, Berlin.Die Abbildung der Klosteranlage Breitenau wurde uns freundlicherweise von der Gedenkstätte Breitenau in Guxhagen zur Verfügung gestellt.ISBN 978-3-641-09070-8V005
www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Eine jüdische Familie in Köln

»Ein Zeichen unseres Übermuts«

Lillis Elternhaus, Kindheit und Jugend

»Was soll aus uns werden, Amadé?«

Liebesglück und Liebeskummer

»Versteh’ doch, wer ich bin!«

Ärztin, Ehefrau und Mutter zugleich?

»Und sind die Wasser auch noch so tief!«

Die Eltern wollen Lillis Ehe mit Ernst verhindern

»Eine geradezu fieberhafte Ungeduld«

Hochzeit mit dem Segen des Rabbiners

Jahre der Verfolgung in Immenhausen

»Deine rührende Sorge um mich«

Die junge Familie

»Wir haben Erschütterndes erlebt«

Die Nationalsozialisten übernehmen die Macht

»Das uns auferlegte Schicksal«

Lilli und ihre Familie werden isoliert

»Die jüdische Großmutter«

Eine Hommage an Lillis Cousine Olga

»Die Liebe höret nimmer auf«

Die Ehe von Lilli und Ernst zerbricht

»Grenzenlos einsam und verlassen«

Unter einem Dach und doch getrennt

Die Verbannung nach Kassel

»Der Abschied ist doch bitter schwer«

Lilli wird mit ihren Kindern aus Immenhausen vertrieben

»In einem neuen Hexenkessel«

Die Verhaftung durch die Gestapo

Im Arbeitserziehungslager Breitenau

»Etwas Brot, ein bißchen Salz«

Hunger und Kälte in der »Anstalt«

»Um so stärker wird die Sehnsucht«

Lillis heimliche Briefe an die Kinder

»Hänschen hat Angst«

Der Luftkrieg rückt näher

»Ein Lauf fürs Leben«

Der Bombenangriff vom 22. Oktober 1943

»Muttilein, oft ist es schwer«

Die Kinder-Familie gründet einen eigenen Haushalt

»Ihr müßt sehr vorsichtig sein!«

Lilli will ein geheimes Treffen arrangieren

»Ein Sackkleid aus grobem Stoff und Holzpantinen«

Der Besuch bei der Mutter im Arbeitserziehungslager

»Daß Du nicht so arg viel weinst«

Die Jahreswende 1943/44

»Wärest Du erst wieder bei uns«

Die Kinder warten auf Nachricht von Lilli

»Helft, daß ich bald erlöst werde!«

Hat Ernst das Gesuch an die Gestapo geschrieben?

Der Tod in Auschwitz

»Ich werde weiter tapfer sein«

Die Deportation in den Osten

»Meine Gedanken sind bei Euch«

Die letzten Monate im Konzentrationslager

Epilog

Anhang

Zeittafel Lilli Jahn

Danksagung

Editorische Notiz

Literaturverzeichnis

Karte der Region Kassel

Namenverzeichnis

Bildteil

Vorwort

Am Morgen des 1. Juni 2018 fuhren drei junge Männer mit dem Auto von Jerusalem zum Flughafen Lod bei Tel Aviv. Die Brüder Moshe, Efraim und Jona Globus stiegen dort in ein Flugzeug nach Deutschland, sie wollten ihren 93-jährigen Großvater Jürgen noch einmal besuchen.

Im Vorfeld der Reise hatte man in der Familie die Risiken eines solchen Unterfangens diskutiert. Waren nicht erst kürzlich in Berlin junge Männer, die eine Kippa trugen, überfallen worden? Welche Vorsichtsmaßnahmen sollte man ergreifen? Am besten, so hieß es, würden die Brüder eine Basecap über der Kippa tragen, um unangenehme Zwischenfälle zu vermeiden.

Moshe, Efraim und Jona haben den zweitägigen Besuch in der Heimat ihrer Mutter ohne Probleme überstanden. Ihre deutsche Cousine Charlotte nahm sie auf dem Frankfurter Flughafen in ihre Obhut und begleitete sie zum Großvater. Aber die Tatsache, dass überhaupt über die Gefahr antisemitischer Attacken nachgedacht werden musste, zeigte allen Beteiligten, dass dieses Deutschland auch mehr als siebzig Jahre nach dem Holocaust noch immer von dem, was man Normalität nennen könnte, weit entfernt ist. Der mörderische Antisemitismus der Nazis mag vergangen sein, der meist subtile, manchmal gewalttätige Judenhass ist es nicht, weder in Deutschland noch in vielen anderen Ländern dieser Welt. Moshe, Efraim und Jona sind die Urenkel Lilli Jahns, einer deutschen Jüdin, die 1944 in Auschwitz-Birkenau umgebracht worden war. Ihr Schicksal wurde erst im Jahre 2002 einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als das vorliegende Buch erstmals in Deutschland erschien. Die Briefbiographie „Mein verwundetes Herz“ Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944 wurde seither in 19 Sprachen übertragen und auf allen Kontinenten verbreitet.

Geschildert wird das Schicksal der jüdischen Ärztin Lilli Schlüchterer, die 1926 den nichtjüdischen Arzt Ernst Jahn heiratete und fünf Kinder mit ihm bekam, einen Sohn und vier Töchter. 1942 ließ sich Ernst Jahn von Lilli scheiden und heiratete eine nichtjüdische Frau. Lilli wurde 1943 im Arbeitserziehungslager Breitenau bei Kassel inhaftiert und 1944 nach Auschwitz deportiert.

Diese Geschichte hat auch deswegen so viele Menschen erreicht, weil sie auf privaten Quellen beruht, die eine ungewöhnlich starke Emotionalität aufweisen: auf etwa 560 Briefen, die von Lilli und an Lilli geschrieben wurden. Die meisten Briefe wechselte Lilli mit ihren Kindern. Diese Dokumente bezeugen nicht nur die tiefe Liebe zwischen der Mutter und den Kindern, sie haben auch eine besondere literarische Qualität: Sie sind Ausdruck einer bürgerlichen Schreibkultur, die heute Seltenheitswert besitzt.

Über Jahrzehnte war die Geschichte Lillis in der Familie weitgehend verdrängt worden. Ihr Schicksal wurde zwar nicht verschwiegen, aber man beschränkte sich immer nur auf zwei, drei schlichte Sätze. Lilli, so hieß es, ist in Auschwitz umgebracht worden. Und: Ihr Mann Ernst hatte sich von ihr scheiden lassen, so war sie, die Jüdin, den Nazis schutzlos ausgeliefert.

Lillis Kinder wurden durch die Ausgrenzung und Ermordung ihrer Mutter traumatisiert. Als „Halbjuden“, wie man damals sagte, überlebten sie den Krieg. Aber um wirklich weiterleben zu können, verdrängten sie die Erinnerung an das, was geschehen war. Ein Frageverbot, ein Tabu verhinderte jedes längere Gespräch, jede Auseinandersetzung mit dem Schicksal ihrer Mutter.

Dieses Tabu beherrschte viele Familien von Opfern wie Tätern über Jahrzehnte und verlor erst im Laufe der neunziger Jahre an Kraft und Bedeutung. Eine neue Generation fragte nun gründlicher nach den Ursachen des Nationalsozialismus. Und diese Auseinandersetzung war es, die plötzlich jene Blockade löste, mit der sich viele Überlebende des Holocaust und deren Angehörige vor den eigenen Emotionen zu schützen suchten. Das, was für sie ein halbes Jahrhundert lang nicht viel mehr als eine lähmende, alles überschattende Vergangenheit war, wurde jetzt zum Gegenstand konkreter, schmerzlicher Erinnerung.

Als Lillis Sohn Gerhard im Oktober 1998 starb, setzte dieser Prozess auch bei seinen vier Schwestern ein. Gerhard Jahn, der sozialdemokratische Politiker und Bundesjustizminister im Kabinett Willy Brandts, hatte ein überraschendes Erbe hinterlassen, das seine Schwestern schockierte: In mehreren Kartons und Umschlägen fanden sich etwa 250 Briefe, die Lillis Kinder 1943 und 1944 an ihre damals bereits in Breitenau inhaftierte Mutter geschrieben hatten.

Die Schwestern erinnerten sich natürlich an die Briefe. Nur wussten sie nicht, dass der eigene Bruder diese Dokumente aufbewahrt hatte. Nie war von ihnen die Rede gewesen. Eines Tages, zu Beginn des Jahres 1999, setzten sich Lillis Töchter zusammen und nahmen den Nachlass in Augenschein. Sie lasen sich ihre Briefe abwechselnd vor, sie weinten, zuweilen lachten sie über ihre kindliche Naivität. Dann legten sie alles zurück in die Schachteln und Umschläge und versuchten, erneut zu vergessen.

Doch die Erinnerung ließ sich nicht mehr aufhalten. Ilse, 1929 geboren und damit Lillis älteste Tochter, berichtete nach und nach ihren drei Kindern, also dem Autor dieses Buches und seinen beiden Schwestern, von dem Fund; auch Johanna, die zweitälteste, rief eines Tages ihre vier Kinder zusammen, um ihnen Lillis Geschichte zu erzählen. Nur Eva, die dritte, sah sich einer Auseinandersetzung mit ihren Briefen zunächst nicht gewachsen und machte sich erst mit Verzögerung an eine gründliche Lektüre. Dorothea schließlich war 1943 gerade drei Jahre alt gewesen, konnte damals also noch nicht schreiben.

Dass die Kinderbriefe überhaupt noch existierten, kam einem kleinen Wunder gleich. Lilli war es im März 1944, vor ihrer Deportation nach Auschwitz, gelungen, diese Dokumente aus dem Arbeitserziehungslager hinauszuschmuggeln. Wahrscheinlich hatte ihr eine Aufseherin diesen letzten Gefallen getan. Und da Lilli selbst eine Reihe von Briefen an ihre Kinder geschrieben hatte, die sich im Besitz Ilses befanden, ergab sich jetzt erstmals ein geschlossenes Bild der dramatischen Vorgänge in Herbst und Winter 1943/44.

Gerhard Jahn hatte bis zu seinem Tod jede öffentliche Darstellung des Schicksals seiner Mutter unterbunden. Die Gründe sind unklar. In den sechziger Jahren waren Wahlplakate von ihm in Hessen mit der Aufschrift „Jude“ beschmiert worden. Das einzige sichtbare Zeichen seiner Verbundenheit mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte war seine Funktion als erster Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.

Über seine private Geschichte sprach er nie öffentlich. Als die Biographie der Mutter wenige Jahre nach seinem Tod erschien, zeigten sich seine politischen Weggefährten überrascht. Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel erklärte, dass er erst durch dieses Buch „von den schlimmen Kindheitserlebnissen eines Freundes erfahren habe, der zu seinen Lebzeiten darüber nie gesprochen hat“. „Über seine Mutter oder gar seinen Vater sprach er nie“, bestätigte die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. Sie könne das allerdings auch verstehen, das Buch zeige „wie schwer die Last war, die Gerhard Jahn sein ganzes Leben hindurch tragen musste“.

1948 waren Gerhards Schwestern nach England ausgewandert, um bei ihrer kurz vor dem Krieg nach Birmingham emigrierten jüdischen Großmutter zu leben. Da sie als Deutsche nicht studieren durften, machten Ilse und Johanna eine Ausbildung zur Krankenschwester. Eva wurde Physiotherapeutin und blieb auch als einzige bis heute in England. Die jüngste, die damals achtjährige Dorothea, wurde nach wenigen Wochen von ihrem Vater zurück in die Heimat geholt. Ilse und Johanna lernten deutsche Männer kennen und kehrten im Laufe der fünfziger Jahre ebenfalls zurück nach Deutschland.

In dieser Zeit wurde noch viel über Lilli gesprochen, vor allem natürlich mit dem Vater, mit Ernst Jahn, von dem die Töchter immer wieder wissen wollten, warum er sich von der Mutter hatte scheiden lassen, er habe doch wissen müssen, dass damit das Todesurteil für seine Frau besiegelt worden sei. Ernst Jahn gab darauf keine befriedigende Auskunft. Und wenn sie ihn fragten, was er zur Rettung seiner Frau unternommen habe, sagte er nur: „Es ist alles geschehen, was getan werden konnte.“ 1960 starb Ernst Jahn. Von nun an wurde über das Schicksal Lillis kaum noch geredet.

Verantwortlich für dieses Schweigen war sicherlich auch der Umstand, dass Lillis Töchter nichtjüdische Männer geheiratet hatten. Ilses Schwiegervater, zum Beispiel, hatte seinen Sohn Jürgen ausdrücklich vor der Heirat mit der „Halbjüdin“ gewarnt: Er werde lauter „schwarzhaarige Judenkinder“ bekommen.

Verständlicherweise sprach Lillis älteste Tochter unter diesen Umständen nur ungern über ihre Mutter. In den ersten Jahrzehnten nach ihrer Rückkehr aus England kostete es sie viel Überwindung, wenn sie zum Beispiel bei einer Abendgesellschaft auf Männer traf, die schon in der NS-Zeit erwachsen gewesen waren. Immer beschäftigte sie die Frage: „Waren das die Männer, die deine Mutter umgebracht haben?“ Und ganz schlimm war es für sie, wenn sie nach dem Essen erfahren musste, dass ihr Tischnachbar einst bei der SS gewesen war. Nicht immer waren die Gastgeber aufmerksam genug, um ihr diesen Schock zu ersparen.

Erst mit der Entdeckung der Kinderbriefe im Nachlass Gerhard Jahns begann also die innerfamiliäre Aufarbeitung. Ilse, Johanna und Eva begannen auf Bitten des Autors mit der Abschrift ihrer Briefe an Lilli. Gedacht war zunächst nur an eine fotokopierte Ausgabe aller Texte für die Familie, mit erklärenden Passagen. Archivrecherchen wurden notwendig, viele Gespräche, viele Fragen. Warum etwa ließ sich Ernst von Lilli scheiden, obwohl Freunde ihn vor diesem Schritt gewarnt hatten? Und wie genau starb Lilli schließlich in Auschwitz?

Diese Frage allerdings musste unbeantwortet bleiben: Lillis Töchter wollten keineswegs erfahren, ob ihre Mutter womöglich in der Gaskammer gestorben war. Immer hatten sie sich mit der Vorstellung getröstet, dass ihre Mutter an einer Krankheit in Auschwitz zugrunde gegangen sei. Die Nazis hatten zwar eine Sterbeurkunde für sie ausgestellt, wahrscheinlich, weil man wusste, dass sie im Deutschen Reich lebende „halbjüdische“ Kinder hatte. Eine Todesursache wurde jedoch in diesem Dokument nicht genannt.

Um das Verhältnis Lillis zu ihrem Mann Ernst zu erforschen, bot sich eine andere Quelle an: Ilse besaß noch etwa 200 Briefe, die Lilli an ihren zukünftigen Mann in den zwanziger Jahren geschrieben hatte, Briefe, die Lillis Kinder nie wirklich gelesen hatten und die nur als mehr oder weniger sentimentale, wenig interessante Liebesbriefe galten. Eine gründlichere Lektüre machte deutlich, dass diese Briefe keineswegs langweilig waren, sondern sehr ergiebig im Hinblick auf die komplizierte Beziehung und die intellektuelle Lebenswelt des jungen Paares.

Auch Dorothea, die jüngste Tochter, besaß weitere Dokumente. Sie hatte von Freunden ihrer Eltern, dem Ehepaar Hanne und Leo Barth aus Mannheim, etwa fünfzig Briefe übernommen, die Lilli an das Ehepaar Barth in den dreißiger und frühen vierziger Jahren geschrieben hatte, also in den Jahren der Verfolgung. Lilli schilderte darin an vielen Beispielen den Prozess der Ausgrenzung und Stigmatisierung, dem sie und ihre Kinder ausgesetzt waren.

Zudem tauchten nun bislang unbekannte alte Familienfotos auf, vor allem bei Johanna und Eva. Es stellte sich heraus: Nicht nur der inzwischen verstorbene Bruder hatte die ihm anvertrauten Dokumente nie seinen Geschwistern gegenüber erwähnt. Auch die vier Schwestern selbst hatten sich sechs Jahrzehnte lang nie darüber ausgetauscht, was noch an Erinnerungsstücken existierte.

Aus der geplanten Familiendokumentation wurde nun langsam ein Buchprojekt. Zu diesem Zeitpunkt, etwa zwei Jahre vor Erscheinen von „Mein verwundetes Herz“, schien eine Veröffentlichung jedoch ungewiss. Insbesondere Johanna, die zweitälteste, sträubte sich anfangs gegen die Idee. Auch Eva war skeptisch. Lillis Töchter konnten sich nicht vorstellen, dass die Leidensgeschichte ihrer Mutter fremden Menschen preisgegeben werden würde; sie fürchteten eine Plünderung ihrer persönlichen Gefühle und Erinnerungen.

Dieser berechtigten Angst vor einer Indiskretion konnte am Ende nur mit politischen Argumenten begegnet werden. Zwei Gedanken vor allem spielten dabei eine Rolle. Der Erste: Jede neue Biographie, jede authentische Quelle aus der NS-Zeit erreicht auch neue Leser und ist schon deswegen ein Gewinn für die politische Kultur der Gegenwart und das historische Bewusstsein kommender Generationen.

Und der Zweite: Fast alle autobiographischen Zeugnisse erzählen die Geschichte von Überlebenden. Sei es Primo Levi, sei es Victor Klemperer oder Ruth Klüger – immer berichten diese Autoren über ihren Leidensweg aus der Perspektive der Davongekommenen. Es fehlt also die Erfahrung jener Opfer, die den Holocaust nicht überlebt haben. Selbstverständlich finden sich Ausnahmen, allen voran das Tagebuch Anne Franks. Aber das Typische ist eben doch die abenteuerliche Rettung aus höchster Not.

Im Laufe des Jahres 2001 zogen Lillis Töchter ihr Veto gegen eine Veröffentlichung zurück. Die Entstehung des Buches belastete sie jedoch weiterhin. Lillis Töchter waren über Monate hinweg gezwungen, das Kapitel ihres Lebens, das sie fast sechzig Jahre lang verdrängt hatten, wieder in ihr Bewusstsein zurückzuholen. Momente der Trauer nahmen überhand, Depressionen stellten sich ein.

Auch die positiven Reaktionen nach Erscheinen des Buches im August des Jahres 2002 beendeten die innerfamiliäre Debatte nicht. Gerhard Jahns Witwe Ursula etwa kritisierte jene Passagen, in denen deutlich wurde, wie zerrissen der junge Gerhard gewesen war – zwischen der Identifikation mit dem eigenen Vater und der Loyalität zur Mutter. Die These, er habe den Wunsch gehabt, vom NS-Regime anerkannt zu werden, also wegen seiner halbjüdischen Herkunft nicht mehr ausgegrenzt zu werden, hielt Ursula Jahn für nicht ausreichend belegt.

Nach knapp zwei Jahren erschienen die ersten Übersetzungen des Buches. Die englische Ausgabe wurde in einem Vorabdruck auf zwei Seiten der Daily Mail vorgestellt, illustriert mit zwei großen Fotos, das eine zeigte Lilli, das andere Adolf Hitler. Lillis in England lebende Tochter Eva war aufgebracht und verlangte, unverzüglich jede weitere Vermarktung einzustellen – was unmöglich war, denn solche Vorabdrucke stehen jedem Lizenzverlag zu.

Probleme gab es auch in Israel, wo Ilses Tochter Beate seit nun schon vierzig Jahren lebt. Beate war unter Berufung auf ihre jüdische Großmutter zum orthodoxen Judentum konvertiert und trägt heute den Namen Simcha. Sie hatte wenig Interesse an der Verbreitung der zum Teil nichtjüdischen Geschichte ihrer Familie. Zudem wurde die hebräische Ausgabe auf einer Veranstaltung in Jerusalem von einem Freund der Familie, dem früheren israelischen Justizminister Tommy Lapid, vorgestellt. Lapid war Holocaust-Überlebender, aber auch Gegner der Orthodoxie. Dass ausgerechnet er das Buch vorstellte, empfand Beate als unpassend. Doch auch sie kam schließlich zu dieser Buchpräsentation – was wohl nicht zuletzt an der Neugier ihrer Kinder lag, die ebenfalls erschienen, darunter auch Moshe, Efraim und Jona.

Für Lillis Töchter wurde die öffentliche Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Geschichte zu einer neuen Aufgabe. Ilse und – in zeitlich geringerem Umfang – auch Johanna stellten das Buch im Fernsehen, bei vielen Lesungen und auf Podiumsdiskussionen vor. Johanna besuchte über Jahre regelmäßig die Lilli-Jahn-Schule in Immenhausen, um den Kindern vom Schicksal der Mutter zu berichten.

Nach dem Tod von Johanna (2013) und Ilse (2015) gaben Eva und Dorothea erstmals Fernsehinterviews. Eva hatte sich bis dahin geweigert, öffentlich über ihre Familie zu berichten. Erst das Argument, sie sei nun die letzte Zeugin, die sich noch bewusst an Lilli erinnern könne, überzeugte sie. Am Ende erkannte auch sie, wie wichtig es ist, an die Geschichte ihrer Mutter öffentlich zu erinnern, in einer Welt voll von Antisemitismus und Fremdenhass.

Dass sich die Menschheit eines Tages ganz vom Übel des Rassismus befreien kann, dürfte ein utopischer Gedanke sein. Die Erinnerung an die Opfer des Rassismus verfolgt im Grunde nur den Zweck, jene zu ermutigen, die sich einer weiteren Ausbreitung dieser Epidemie in den Weg stellen. Wenn das vorliegende Buch dazu etwas beiträgt, dann ist sein Ziel schon erreicht.

Martin Doerry

Hamburg, im Sommer 2018

Eine jüdische Familie in Köln

»Ein Zeichen unseres Übermuts«

Lillis Elternhaus, Kindheit und Jugend

Am 2. März des Jahres 1897 machte der Kölner Fabrikant Josef Schlüchterer das, was man damals eine »gute Partie« nannte: Josef heiratete seine Braut Paula, eine junge Frau aus bester Familie.

Paulas Vater, der Viehhändler Moritz Schloß, führte in Halle an der Saale ein erfolgreiches Unternehmen, er importierte und exportierte quer durch Europa – Moritz Schloß galt als wohlhabender, ja reicher Mann.

Josef hingegen stammte aus eher bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater Anselm war Herrenschneider im fränkischen Zeitlofs gewesen; schon sein Urgroßvater, ein Rabbiner, hatte in dem kleinen Ort gelebt.

Josef war aus dieser Enge geflohen. Er absolvierte in Stuttgart eine kaufmännische Lehre, arbeitete bei namhaften Handelshäusern wie Krailsheimer in London oder Bernard David in Paris und brachte eine Menge guter Zeugnisse mit nach Hause. »He is an honest and industrious young man«, bescheinigte ihm Mister Krailsheimer am 18. August 1882 – er sei ein ehrlicher und fleißiger junger Mann.

Und ein ehrgeiziger dazu. Josef machte sich selbständig. Das notwendige Kapital stiftete der Vater, freilich zur Hälfte auf Pump. Drei Tage nach seinem 30. Geburtstag, am 8. Juli 1893, quittierte der junge Mann die finanzielle Starthilfe:

Ich bestätige hiermit, von meinem Vater zur Gründung meines Geschäftes 21 000 Mark erhalten zu haben, von welcher Summe ich nach meiner dereinstigen Verheiratung 10 000 Mark zurückzuzahlen verspreche. Falls solche nicht innerhalb drei Jahren erfolgt, verspreche ich die Verzinsung dieser zehntausend Mark mit fünf Prozent vom 1. August 1896 an.

Josef Schlüchterer.

Doch Zins und Tilgung dieses damals hohen Betrages blieben Josef wohl erspart. Zwei Monate vor Ablauf der Frist, am 29. Mai 1896, starb Vater Anselm. Der Jungunternehmer investierte das Geld in eine Fabrik für Haushaltsbürsten und Rasenmäher, die er zusammen mit zwei weiteren Geschäftsleuten im bergischen Solingen aufbaute. Schon 1897, zum Zeitpunkt der Heirat mit Paula, lebte er in Köln.

Seine junge Frau war 1875 im unterfränkischen Oberlauringen zur Welt gekommen, ihre Eltern hatten ihr den etwas altmodisch klingenden Namen Balwine gegeben, doch schon bald wurde sie nur noch Paula gerufen. Paula war das sechste von acht überlebenden Kindern des Ehepaars Schloß; insgesamt hatte Paulas Mutter Ellen Elise nicht weniger als 13 Kinder geboren. Ellen Elise dirigierte den aufwendigen Haushalt des Viehhändlers; sie unterhielt zwei Küchen, eine koschere für die Familie und eine nicht-koschere für die zahlreichen Geschäftsfreunde.

1887 zog man nach Halle und dort in eine Gründerzeitvilla mit vielen Stallungen und Nebengebäuden. Paula besuchte zunächst die Waisenschule der Franckeschen Stiftungen und dann, standesgemäß, die höhere Töchterschule bis zum 16. Lebensjahr. Danach gab es für sie allerdings nur noch privaten Sprach-, Klavier- und Gesangsunterricht – kurzum, Paula Schloß wuchs in soliden, bürgerlichen Verhältnissen auf, freilich mit einer starken Bindung an die jüdische Tradition und Religion.

Davon konnte bei Josef kaum die Rede sein. Er nahm am Leben der liberalen jüdischen Gemeinde in Köln teil, tolerierte auch die religiösen Empfindungen seiner Frau, doch selbst gab er sich eher vernunftbetont.

Mit dieser Einstellung prägte er das Leben der jungen Fa-milie und vor allem natürlich seine beiden Kinder. Lilli kam am 5. März des Jahres 1900 zur Welt, ihre Schwester Elsa am 2. Juni 1901.

Die beiden Mädchen wurden in ein neues Jahrhundert geboren, von dem sich viele Zeitgenossen gewaltige Fortschritte versprachen, bahnbrechende wissenschaftliche Er-kenntnisse etwa und einen wirtschaftlichen Aufschwung; von einem »Jahrhundert des Kindes« war die Rede, von einer nun anbrechenden großartigen Ära des Friedens. Lilli und Elsa gehörten damit einer neuen Generation an, die mit den besten Chancen für eine erfolgreiche Zukunft ausgestattet zu sein schien. Anders als ihre Eltern wuchsen die beiden schon in einer modernen Kleinfamilie auf, befreit von vielen familiären und religiösen Zwängen; anders als ihre Mutter durften die Mädchen sogar studieren.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten die Kölner Schlüchterers in gutbürgerlichen Verhältnissen. Man hatte eine großzügige Wohnung in der Bismarckstraße gemietet, ließ die Kinder in regelmäßigen Abständen vom »Hofphotographen« ablichten, besuchte die großen Musikabende im Konzerthaus Gürzenich und nahm hin und wieder am gesellschaftlichen Leben der Großstadt teil. Ein Zeichen der sozialen Integration der jüdischen Familie war die Verleihung der preußischen Staatsbürgerschaft durch den »Königlich-preußischen Regierungspräsidenten zu Cöln« am 22. März des Jahres 1907.

Ein Jahr zuvor war Lilli eingeschult worden. Bis 1913 ging sie in ein »Privat-Lyceum für höhere Töchter« unter der Ägide eines gewissen Fräulein Merlo, danach wechselte sie auf das Real-Gymnasium der Kaiserin-Augusta-Schule in Köln – ein Privileg: Im späten wilhelminischen Kaiserreich besuchten gerade einmal zwei Prozent der Mädchen ein Gymnasium.

Spätestens im August 1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, waren die schönen Hoffnungen und Utopien für das neue Jahrhundert dahin. Paulas jüngerer Bruder Julius, ein Gutsbesitzer, dessen Hochzeit 1911 im Berliner Hotel Adlon noch glanzvoll gefeiert worden war, zog an die Front und starb 1918, wahrscheinlich an den Folgen einer Syphilis.

Paula selbst engagierte sich bei der Betreuung verwundeter Soldaten. Zusammen mit weiteren Damen der Kölner Gesellschaft, darunter die Gattin des Regierungspräsidenten und die des Polizeipräsidenten, arbeitete sie in einem Kölner Lazarett. Solche Aktionen hatten nicht zuletzt symbolischen Charakter: Mit der Erfüllung vaterländischer Pflichten löste sich Lillis Mutter ein wenig aus dem jüdischen Milieu und paßte sich dem Idealbild einer alle sozialen Grenzen überschreitenden Gemeinschaft an, das Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des Krieges beschworen hatte. Für ihre Verdienste wurde Paula mit einer Medaille ausgezeichnet.

Lilli und Elsa wuchsen währenddessen zu jungen Damen heran. Im August 1918 – noch tobte der Krieg in Frankreich – besuchten beide eine befreundete Familie in Schierke im Harz.

Aus diesem Urlaub stammt ein merkwürdiges Dokument, eine am 29. August abgestempelte Postkarte mit einem Foto der Schwestern und ihrer Gastgeber sowie dem ältesten überlieferten Text von Lilli. Das Herstellen und Verschicken solcher Karten war damals große Mode, gerade in Touristenorten wie Schierke machten die Fotografen damit ein gutes Geschäft.

Lilli hatte sich zum Fototermin in einen Herrenanzug gezwängt, der junge Mann dagegen trug Frauenkleider, Elsa und ihre Freundin hatten sich mit Armee-Uniformen kostümiert. Der seltsame Aufzug zeigt, wie alltäglich der Krieg nun, nach vier Jahren, schon geworden war. Möglicherweise nahmen die jungen Leute ihn nicht so recht ernst. Jedenfalls grüßte das komische Quartett die Lieben daheim in Köln, Lilli machte den Anfang:

Herzliebste Eltern!

Hier ist ein Zeichen unseres Übermuts. Was sagt ihr nun? Für Eure Karte vielen Dank. Innigst Euer Lillimauserle

Es folgten Grüße von Elsa und den beiden Begleitern, auf die Vorderseite der Karte notierte Lilli noch kurz einige Nachrichten aus der Verwandtschaft.

Während sich im Winter 1918 die politischen Ereignisse überstürzten – der Kaiser floh nach Holland, die Republik wurde ausgerufen, vielerorts herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände –, bereitete sich Lilli in Köln auf das Abitur vor. Bis Ostern 1919 absolvierte sie alle Klausuren mit Erfolg.

Nun sollte studiert werden, Lilli wollte Ärztin werden – die Medizin war eines der ersten akademischen Fächer, in dem Frauen überhaupt zum Studium zugelassen wurden, und das auch erst seit knapp zwei Jahrzehnten. Außerdem trug sie sich mit dem Gedanken, eines Tages in die Praxis ihres Lieblingsonkels einzusteigen: Josef Schloß hatte sich in Halle als Kinderarzt niedergelassen.

Eine höhere Tochter indessen konnte nicht so einfach in eine fremde Stadt zum Studium gehen, ein bißchen Aufsicht schien den Eltern unbedingt notwendig. Also machte Lilli ihre akademische Runde unter den kritischen Augen der weitverzweigten Familie: zuerst zwei Semester in Würzburg – im Fränkischen lebte die väterliche Verwandtschaft –, dann drei Semester in Halle, wo sie im Hause der Großmutter untergebracht und so streng kontrolliert wurde, daß sie auch schon mal spätabends über den Balkon Reißaus nahm. Nach dem Physikum in Halle im November 1921 ging Lilli für ein Semester nach Freiburg, dort lebte ihre schon etwas ältere Cousine Olga Mayer. Und schließlich kehrte sie zurück ins Elternhaus nach Köln, nach weiteren vier Semestern stand dort im Frühjahr 1924 das medizinische Staatsexamen an.

In der Zwischenzeit allerdings hatte die heile Welt ihrer Heimatstadt, aus der Lilli zum Studium fortgezogen war, düstere Züge angenommen. Das Unternehmen des Vaters war durch die fortschreitende Inflation in Schwierigkeiten geraten. Auf langen Reisen durch das ganze Land versuchte Josef neue Kunden für seine Fabrik zu gewinnen – nicht immer erfolgreich.

Außerdem hatte sich das Klima in der Synagogengemeinde verändert. Schon vor dem Krieg lebten in Köln mehr Juden als in jeder anderen Stadt des Rheinlands, nun wurde ihre Zahl immer größer, 1925 wohnten in Köln bereits mehr als 16000 Juden.

Seit den letzten Kriegsjahren und dann vor allem in den frühen zwanziger Jahren waren etwa 100000 Juden aus Osteuropa ins Deutsche Reich gekommen. Die etablierten Kölner Juden, zumeist assimiliert und bürgerlich-deutscher Lebensart zugetan, sahen ihre gesellschaftliche Anerkennung und Integration durch die häufig ungebildeten und äußerlich auffallenden Fremden aus dem Schtetl gefährdet. Und das alles in einer Zeit, in der der Antisemitismus ohnehin ganz neue, massive Formen angenommen hatte: Die Juden waren an allem schuld, an der Niederlage im Krieg, am sogenannten Schandfrieden von Versailles, an der Inflation und an vielem mehr.

Der wachsende Zustrom von Glaubensgenossen aus dem Osten, so glaubten Lillis Vater und viele alteingesessene Juden der Stadt, würde dem Antisemitismus neue Nahrung geben. Josef Schlüchterer zählte damals als Mitglied des Repräsentantenkollegiums zu den führenden Köpfen der Synagogengemeinde. Und in dieser Funktion versuchte er den Einfluß der Zuwanderer einzudämmen. Geradezu erbost war Lillis Vater über den in der jüdischen Gemeinde entstandenen Plan für ein neues Gemeindewahlrecht, der, wie er meinte, nur dem »Drängen ausländischer und zionistischer Kreise« zu verdanken sei – womit er zu verstehen gab, daß er von der damals viel diskutierten und auch immer häufiger praktizierten Auswanderung der Juden nach Palästina nichts hielt.

Vor allem aber konnte und wollte er sich nicht damit abfinden, daß die Synagogengemeinde eine Art Auffangbecken für durchreisende osteuropäische Juden bilden und ihnen dann auch noch demokratische Rechte zugestehen sollte. Josef Schlüchterer schrieb am 28. April 1921 in dieser Angelegenheit sogar an das preußische Ministerium des Innern in Berlin. Unter Berufung auf zahlreiche Paragraphen und Argumente legte er seinen entschiedenen Widerspruch gegen den Entwurf eines Wahlrechts ein,

der jedem in Köln wohnenden Juden, gleichviel wo er bisher wohnte, das aktive und passive Wahlrecht ohne weiteres bewilligt, so daß jeder hier zugewanderte Jude das Recht hat, über die Geschicke, die Verwaltung und die Zukunft der Kölner Synagogengemeinde mitzubestimmen, obgleich er zufolge seiner Herkunft und Tradition für deren Lebensbedingungen und Bedürfnisse weder Sinn noch Verständnis hat. Mit dem weitaus größten Teil der Kölner Gemeindemitglieder erblicke ich hierin eine große Gefahr für den Bestand, die Zukunft, das Blühen und Gedeihen der Kölner Synagogengemeinde.

Josef Schlüchterers Eingabe blieb erfolglos. Der liberale Innenminister Alexander Domenicus mischte sich in den innerjüdischen Streit nicht ein, die Kölner Gemeinde beschloß das neue Wahlrecht im Mai 1921, und der zuständige Oberpräsident in Koblenz genehmigte es wenige Wochen später.

»Was soll aus uns werden, Amadé?«

Liebesglück und Liebeskummer

Während ihres Studiums mußte Lilli das jüdisch-liberale Milieu immer wieder verlassen. Die meisten Kommilitonen und Professoren waren Nichtjuden. Ihre engsten Freundinnen allerdings stammten aus der vertrauten Umgebung. Mit den angehenden Ärztinnen Lilly Rothschild und Liesel Auerbach verbrachte Lilli einen großen Teil ihrer Zeit in den vier Kölner Semestern. Liesels Vater war zudem zeitweise ihr Chef: Geheimrat Benjamin Auerbach leitete das Israelitische Asyl für Kranke und Altersschwache in Köln-Ehrenfeld – jenes jüdische Krankenhaus, in dem Lilli vor und nach dem Staatsexamen immer wieder arbeitete.

Nach einigen wohl eher oberflächlichen Liebeleien lernte sie im Spätsommer 1923 einen frisch examinierten jungen Arzt kennen, der einen ganz anderen, ihr zunächst fremden familiären Hintergrund hatte: Ernst Jahn, Protestant von Hause aus, aber schon damals mit einer gewissen Neigung zum Katholizismus.

Ernst war am 29. März 1900 in Bielefeld geboren worden, also einige Wochen jünger als Lilli. 1918 hatte er noch ein paar Monate als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient. Zu seinem Freudeskreis, in den Lilli nun aufgenommen wurde, zählten vor allem zwei junge Katholiken, die Ernst aus seiner Heidelberger Studentenzeit kannte: der Jurist Leo Diekamp und der Journalist Leo Barth. Dessen Freundin und spätere Frau Hanne gehörte mit zur Clique, sie wurde im übrigen auch von Ernst heftig umworben. In diesem Kreis herrschte ein schwärmerischer Ton, man gab sich literarische Spitznamen, Leo Barth wurde nur Posa genannt, Ernst hieß Amadé, und Lilli bekam nun, aus welchen Gründen auch immer, den Namen Judith verpaßt.

Mit diesem Namen unterzeichnete sie auch den ersten überlieferten Brief an ihren späteren Mann. Sie schrieb ihn am 3. September 1923 in Köln:

Mein lieber guter Ernst Amadé,

ich bin heute so unsagbar müde und zerschlagen, daß ich zu rein gar nichts fähig bin.

Aber ich möchte Ihnen doch noch wenigstens ganz kurz ... von Herzen danken für Ihren wunderbar warmen, lieben, guten und zarten Brief! Mehr kann ich dazu nicht sagen – und brauche es wohl auch nicht. Wir haben uns wohl in dieser wortlosen Stunde mehr verraten, als wir in Briefen auch nur andeuten können.

Riesig gefreut habe ich mich, daß Sie überhaupt gekommen sind. Ich hatte Sorge um Sie und wäre sehr unruhig gewesen, wenn Sie ausgeblieben wären. Und wie liebevoll und feinsinnig Sie mir gestern das Buch überreichten! Ich bin gerührt von so viel Güte und freue mich ganz schrecklich auf den Augenblick, wo es seiner Bestimmung gerecht werden wird. Ich danke Ihnen – und nicht nur für das!

Und ich möchte mir wünschen, daß Sie endlich einmal alle Hemmungen überwinden und sich Ihr großes Leid von der Seele reden. Bitte, bitte, tun Sie es.

Ich bin ja schon so froh, daß Sie nach dem qualvollen Zustand der letzten Tage etwas Ruhe gefunden haben.

Wenn Sie am Mittwoch nach Barmen fahren, so komme ich am Donnerstag nachmittag zu Ihnen, fahren Sie nicht, so sagen Sie mir, ob ich am Mittwoch schon kommen darf.

Und rechnen Sie es meiner körperlichen – und seelischen Müdigkeit zugute, daß ich nicht so auf Ihre Worte eingehe, wie Sie es wohl mit Recht erwarten und wie ich es von Herzen gerne tun würde. Gerade Ihr Brief trägt ein wenig Schuld an meinem Zustand. Ich hoffe Ihnen bald wieder mehr sagen zu können.

In aller Herzlichkeit,Ihre Judith

Schon in Lillis erstem Brief klingt das große Thema dieser Liebe an: Ernsts Leiden an der Welt, an seinem Schicksal, aber auch an seiner Person. Zuweilen schien er diese melancholische, ja pessimistische Stimmung allerdings zu kultivieren, zumal sie weibliche Fürsorge und Anteilnahme erkennbar beförderte. Lillis Briefe aus dem Winter 1923/24 zeigen ein für die kommenden Jahre durchgängiges Verhaltensmuster: sie als mütterliche Freundin, er als bemitleidenswerter Unglücksrabe.

Doch das Leben hatte es ihm bis dahin auch nicht gerade leicht gemacht. Sein Vater, zuletzt Kaiserlicher Telegraphendirektor in Hamburg, war bereits 1905 gestorben, die tuberkulosekranke Mutter dann 1913. Der verwaiste Junge wurde von den Verwandten hin- und hergeschoben. Und schließlich verlor Ernst 1923, also in dem Jahr, in dem er Lilli kennenlernte, auch das von der Mutter geerbte Geldvermögen: Die Inflation vernichtete alles.

Ernst war schlicht bettelarm und suchte nun nach dem Examen händeringend nach einer festen Anstellung. Der junge Arzt machte diverse Praxisvertretungen, mal verschlug es ihn nach Barmen, mal nach Burgbrohl, dann nach Zittau und Dresden.

Lilli absolvierte währenddessen ihr letztes Semester an der Universität Köln. Zusammen mit ihrer Freundin Liesel Auerbach besuchte sie ein Seminar des prominenten Psychatrieprofessors Kurt Schneider. Am 22. Januar 1924 berichtete sie Ernst davon – die beiden waren längst zum Du übergegangen:

Ich habe manches Anregende, Interessante, Geistvolle und Schöne gehört über Liebe und Mitgefühl. Meine Einstellung war heute nämlich eine besonders subjektive, und tausendmal habe ich Dich herbeigewünscht, um mit Dir darüber reden zu können. »Liebe ist Kampf. Ein Kampf um uns selbst, ein Kampf um den anderen«, so wurde wohl heute Jaspers rezitiert. Manchmal allerdings wurde mir dies phaenomenologische, psychologische Kleid zu eng, und ich mußte nach Luft schnappen, weil alles so kalt, so berechenbar ist. Nichts von Wärme, von Glut, von Leben – ich möchte ja Schneider oft mal an den Schultern packen und ihn schütteln: Du lebst – ja – aber Du erlebst nicht an und mit Dir und durch Dich selbst – und so auch heute. Ich weiß nicht, ob ich recht habe, aber ich mußte an die Kunst denken, an die Musik. Sie bringen uns doch viel mehr bei, was Liebe ist, wie sie lebt und bebt – nicht nur die Erotik meine ich. Und dabei steht mir das Mittelstück aus Rubens’ Liebesgarten mit besonderer Deutlichkeit vor Augen. Aber schön war es doch, und man horcht gespannter in sich hinein und versucht sich selbst in seinen Beziehungen zu der geliebten Person vor sich hinzustellen. Aber ob es wohl gut ist, wenn man sich selbst so zersetzt und zergliedert?

Lilli mußte sich nun auf ihr Staatsexamen vorbereiten und wurde bald von Prüfungsängsten heimgesucht, wie sie Ernst am 29. Januar gestand:

Daß ich nur noch sechs Wochen Zeit habe, will mir gar nicht in den Sinn. Ich habe nun doch einen ziemlichen Druck und bin dabei nicht halb so leistungsfähig in der Arbeit, wie ich gerne möchte. Außerdem wird mir von verschiedensten Seiten die Hölle heiß gemacht, wie unklug es wäre, zu drei Juden ins Examen zu gehen. Ich bin ganz deprimiert darüber. Da ist doch nun nichts mehr zu ändern dran.

Als es dann aber soweit war, hellte sich ihre Stimmung erkennbar auf. Sogar während der Prüfungswochen arbeitete sie nebenbei im Israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache. Und am 11. April 1924 – Ernst war inzwischen nach Immenhausen bei Kassel weitergezogen und vertrat dort einen Sanitätsrat namens Keil, der ihm Hoffnung auf die Übernahme seiner Praxis machte – offenbarte sie ihm erste Pläne für eine gemeinsame Zukunft:

Mein Amadé, mein lieber kleiner Amadé,

heute morgen erhielt ich Deinen Brief mit Deinen lieben Osterwünschen und das wunderschöne Buch, mit dem Du mir eine sehr große Freude gemacht hast. Hab tausend innigen Dank, Lieb, wirklich, ich freue mich so sehr und will es auch ganz bald lesen.

12. 4.

Weiter kam ich gestern nicht mehr, und nach dem Abendessen war ich so todmüde, daß ich schon um halb 10 Uhr schlafen ging. Und nun habe ich heute in Vertretung von Fräulein Lobbenberg auf meiner Station und der Privatabteilung Dienst gemacht. Und da ich zu Hause doch nicht viel Ruhe haben werde, schreib ich noch hier schnell an Dich.

Was wirst Du wohl heute tun, mein Lieb? Ich möcht, ich hätt Dich hier und könnte Dir all Deine trüben Gedanken ein wenig zerstreuen. Und nun muß ich noch ein ganz ernstes Wörtchen mit Dir reden: Du bist ein ganz hartnäckiger Gesell, und ich verbiete Dir hiermit ein für alle Mal, Dir nur überhaupt noch irgendwie einen Gedanken oder einen Vorwurf über Deine Einstellung zu mir zu machen. Ich bin ja schließlich ein erwachsener Mensch, weiß, was ich tue und bin mir über die Konsequenzen meines Handelns vollständig klar. Daß äußere Dinge in meinem Leben eine Rolle spielen, weiß ich selbst am besten, aber Du dürftest mich doch genau genug kennen, um zu wissen, wieviel stärker mein Bedürfnis nach geistigem als nach materiellem Reichtum ist.

Ach Du lieber kleiner Amadé, mach es Dir selbst und uns beiden doch nicht so furchtbar schwer! Ich hab Dich so lieb!! Du selbst hast mir oft gepredigt: »Mehr alles hinnehmen, nicht so stürmisch sein«, und nun gebe ich Dir dieselben Worte zurück. Warte doch erst mal ein paar Monate ab und sprich bald einmal offen mit Sanitätsrat Keil. Daß die Praxis vor Ostern stiller wurde, ist doch ganz erklärlich – an den Feiertagen wollen die Leute nie krank sein; Du wirst schon wieder genug zu tun kriegen ... Gewiß kann man von 100 Mark im Monat keine großen Ersparnisse machen, aber das bleibt ja auch nicht so, und einen Teil der Einrichtung krieg ich doch von meinen Eltern mit. Sieh mal, eine eigene Praxis ist doch so gut wie eine Kapitalanlage, selbst wenn hier augenblicklich nicht viel flüssiges Geld vorhanden ist. Und bei meinen Freunden Janssens sehe ich doch auch immer wieder, daß man auch ohne Geld glücklich sein und mit wenigen Mitteln einen Haushalt führen kann ...

Schreib mir bald, daß alles so bleibt zwischen uns. Willst Du? Ich küsse Dich, Lieb, und danke Dir nochmals von Herzen!

Deine Lilli

Noch am selben Abend machte sich Lilli an den nächsten Brief, um Ernst über den Gang des Examens auf dem laufenden zu halten. Ihre Prüfer, darunter die Professoren Ferdinand Siegert, Erwin Thomas und Ferdinand Zinsser, schienen sich allerdings eher um Fragen der Tagespolitik zu kümmern:

Mein herzlieber Amadé,

eben als ich von Siegert nach Hause kam, gab mir der Briefträger Deinen Kartengruß; hab recht schönen Dank dafür. Du bist sehr lieb, daß Du so oft schreibst; ich freue mich jedesmal so sehr darüber.

Unser Examen geht doch nicht nach unserem Plan. Gestern, Freitag, trafen wir Siegert nicht an, da er zu sehr mit Reichstagswahlreden etc. beschäftigt ist. Bei einer Reichstagswahlrede in Kalk haben ihn die Kommunisten wahnsinnig angegriffen und ihm gedroht. Wenn sie ihn kriegten, hauten sie ihn tot. Thomas war verreist, und so mußten wir heute wieder hin. Nachdem er uns die Bedeutung der Unglückszahl 13 und des Unglückstages Freitag nach dem neuen Testament erklärt hatte und uns eine Propaganda-Rede für die Deutsch-Völkischen gehalten hatte, geruhte er uns für Montag zu bestellen. Hoffentlich nimmt uns Zinsser nun am Dienstag noch für Mittwoch an. – Lilly Rothschild und ich fühlen uns sehr wohl, seitdem wir uns »emanzipiert« haben.

Nun willst Du gewiß von der »Kassette« hören. Wir hatten noch eine schöne freudige Überraschung, da Schäferlein mittags unvermutet anrief – er war nach Köln gekommen, um sich nach uns umzusehen – und ging dann abends mit uns. Die Darbietungen waren unter aller Kritik, wir waren sprachlos und maßlos enttäuscht, weder Stil noch Esprit noch Künstlerisches – einfach platt und inhaltslos. Das Publikum auch nicht von dieser Qualität und Eleganz, wie immer geredet wurde.

Nachher wurde unten im Weinrestaurant bei ausgezeichneter Musik, herrlichem Tanzboden glänzend getanzt. Wir haben erst zugesehen und beobachtet, dann aber auch selber getanzt und wurden auch verschiedentlich von einem uns vollständig unbekannten Kavalier eines der Nachbartische aufgefordert, glänzender Tänzer mit fabelhaft guten Manieren, Alter Ende der 30, Typ: ehemaliger Offizier, allerdings ohne die übliche Blasiertheit und Verblödung. Jedenfalls fühlten wir uns recht wohl, wenngleich wir uns über die flache, geradezu infantile Musik und Tanzerei als den eklatantesten Ausdruck unserer Zeit durchaus im Klaren waren. Aber es war doch einmal sehr schön, und wir sind erst um drei Uhr nach Hause. Allerhand Leichtsinn in der Examenszeit, gell? ...

Übrigens spielen wir so leise mit dem Gedanken, nach meinem Examen eine achttägige Fußwanderung über die Bergstraße zu machen. Dann ist alles in voller Blüte, und außerdem soll es von da ja auch nicht so weit ins Hessische sein. Aber vorläufig sind das noch Luftschlösser ...

Ich hab ganz schrecklich viel dumme Sehnsucht nach Dir, und es wird doch nicht besser, wenn ich Dir das schreibe. Oft lese ich in Deinen Briefen – doch davon ein ander Mal –, oder ich spiele Chopin. Der liegt mir augenblicklich sehr. Ich grüße Dich von Herzen ...,

immer

Deine Lilli

Auch wenn die gemeinsam mit dem Studienfreund Schäfer besuchte Aufführung der Sternheim-Komödie »Die Kassette« offenbar ein Reinfall war: Lilli ging nur zu gern ins Theater, sie interessierte sich für Wedekind, Strindberg und war begeistert von Bernard Shaw. Aber noch häufiger besuchte sie Konzerte mit klassischer Musik. Und die Stars der zwanziger Jahre gastierten alle im Kölner Gürzenich. Lilli hörte Furtwängler mit der 7. Sinfonie von Beethoven und jubelte danach: »Das ist meine Welt«. Sie erlebte Bruno Walter und die Wiener Symphoniker mit Mozart und Mahler, den Geiger Adolf Busch und den Pianisten Arthur Schnabel. Und die Matthäus-Passion, so berichtete sie am 21. April 1924, habe sie nun »wohl schon zum 10. Mal« gehört.

Sie selbst spielte zudem leidenschaftlich Klavier, neben Chopin viel Mozart und Beethoven; mal begleitete sie ihre Schwester Elsa, die Geige spielte, mal spielte sie zusammen mit ihrer Freundin Änne vierhändig ganze Beethoven-Sinfonien nach.

Vorrang hatte in diesen Tagen aber natürlich das Examen. Lilli steckte mitten in den Prüfungen bei den Professoren Külbs und Schneider. Külbs leitete das Augustahospital und betreute später ihre Doktorarbeit, ein zwanzig Schreibmaschinenseiten starkes Werk »Über den Gesamtschwefelgehalt des Blutes, insbesondere der roten Blutzellen«.

Ernst arbeitete weiter in Immenhausen, die Frage der Nachfolge des Sanitätsrats Keil war jedoch noch immer ungeklärt. Und so erwog Ernst einen Umzug nach Honnef, wo sich offenbar eine neue Möglichkeit bot. Am 4. Mai 1924 ging Lilli auf diese Überlegungen ein:

Mein guter lieber kleiner Amadé,

immer freue ich mich auf den Augenblick, wo ich Zeit und Ruhe habe, um an Dich schreiben zu können. So auch jetzt ... Ist denn bei Euch auch nur so elend schlechtes und trübes Wetter? Hier merkt man gar nichts von Mai und Wärme und Sonne. Es ist direkt traurig!

Gestern sind wir nun endlich mit der »Inneren« fertig geworden. Külbs ließ uns wieder drei Stunden warten, prüfte uns neurologisch, verzapfte unglaublichen Blödsinn und schrieb uns dann »bestanden«. Also wieder eine Station weniger. Jetzt geht’s mit Dampf an die Pharmakologie.

Gestern nachmittag und abend war Änne bei mir. Wir haben viel geplaudert mit Mutti, nachher lange vierhändig gespielt und noch einen gemütlichen Abend gehabt ... Meine Eltern lassen Dich recht herzlich grüßen. Und wenn Du Ende Mai herkommst zwecks Deiner Übersiedlung nach Honnef und Dir Dein Zimmer nicht zur Verfügung steht, so bitten Dich meine Eltern sehr, doch die paar Nächte bei uns zu wohnen. Überleg es Dir!

Daß Du herzlich willkommen bist, brauche ich Dir ja nicht besonders zu betonen!

Am Freitag im Gürzenich war es herrlich schön. Dieser Italiener hat eine fast unglaublich schöne Stimme, wunderbar weich, reich modulationsfähig und warm. Rein musikalisch hat es mir weniger gegeben, da diese italienische Musik doch manchmal recht trivial und äußerlich ist. Der äußere Rahmen war prächtig; der ganze alte Gürzenich-Stamm war vertreten. Man kennt einander ja von all den Konzerten. Sehr viel Vornehmheit und Reichtum und gediegene Eleganz. Wir haben uns sehr wohlgefühlt.

Morgen ist Semester-Beginn. Schneider traf gestern Fräulein Rothschild und hat lange mit ihr bei Bremer gesessen und sich nach uns allen erkundigt. Er meinte, wenn Fräulein Auerbach, Fräulein Rothschild und ich nicht mehr ins Kolleg kämen, außer Herrn Schäfer würde er wohl kaum mehr Hörer haben. Ich werde wohl am Dienstag abend von 6–7 Uhr in seine Vorlesung gehen. Ich freue mich wieder sehr auf die Stunden bei ihm. Allmählich bekommen wir ja auch ein wenig persönlichen Konnex mit ihm. –

Gleich gehe ich »wählen«. Diese ganze elende Judenhetzerei des Rechtsblocks veranlaßt mich doch, meine Stimme abzugeben. Es bleibt uns nichts anderes übrig als demokratisch zu wählen. Am liebsten würde ich noch mehr links wählen.

Der Vater drängt mich, ich muß schließen. Ich umarme Dich von Herzen und geb Dir einen lieben, lieben Kuß,

Deine Lilli

Die Reichstagswahl vom 4. Mai 1924 brachte nicht das von Lilli gewünschte Ergebnis. Der Rechtsblock verzeichnete kräftige Stimmengewinne, die erstmals kandidierenden Nationalsozialisten zogen auf Anhieb mit 32 Mandaten in den Reichstag ein. Daß Lilli die linksliberale Deutsche Demokratische Partei wählte, war im übrigen wohl ein Zugeständnis an den Vater. Ihre eigenen Sympathien galten eher der SPD, zumal sich ihr großes Vorbild, Geheimrat Auerbach, zum Sozialismus bekannte. Die Erfahrungen, die sie als Praxisvertreterin in Kölner Arbeiterstadtteilen sammelte, ließen sie im Laufe der Zeit politisch immer weiter nach links rücken. »Als ich am Sonntag plötzlich in ein Haus mit mehr als 30!!! Familien kam«, so gestand sie einige Monate später, »verstand ich besser als je, daß man Kommunist werden kann.«

Ernsts Pläne, Immenhausen zu verlassen, zerschlugen sich bald. In seiner depressiven Stimmung suchte er Halt bei alten Freunden und vor allem Freundinnen – für die Beziehung zu Lilli eine erste, schwere Belastungsprobe. Sie vermutete sofort, daß ihn ihre jüdische Herkunft abstoßen könnte. Am 24. Mai 1924 stellte sie Ernst deswegen zur Rede:

Lieb – ich muß ehrlich sein, selbst wenn es Dir sehr weh tut – so sehr ich mich für Dich freue, daß Du ein paar Tage mit Hanne zusammen bist – aber auf die Dauer wirst Du mir dadurch fremd werden, ganz bestimmt. Dann kommt wieder das Andere, diese Welt, an der Du mich nie teilnehmen ließest, vielleicht aus dem Gefühl heraus, daß ich nicht hineinpaßte. Was soll aus uns werden, Amadé, die Sinne allein überbrücken diese Kluft nicht, und man friert innerlich hinterher um so mehr. –

Meine Verfassung ist traurig, ein Chaos. Alte Konflikte sind wieder wach. Ich war heute früh in der Synagoge. Mich packte ein Ekel und eine Wut über alles und mich selbst.

Ernsts Reaktion läßt sich nur indirekt aus Lillis nächsten Briefen erschließen. Offenbar versuchte er sie zu beruhigen und zu besänftigen. Im Laufe des Sommers klärte sich das Verhältnis der beiden vorerst. Und Lilli schlüpfte wieder ganz in die Mutterrolle, besorgt um das Wohl ihres »kleinen Amadé«.

Den plagten heftige Geldsorgen. Die Praxis in Immenhausen lief schlecht, an eine Unterstützung durch Lillis Eltern war nicht zu denken. Sie selbst verkaufte in ihrer Not ein paar Kupferstiche – das Stück für fünf Reichsmark – und half damit Ernst: »Ich schicke Dir also das Geld, bitte keinen Dank. Der Gedanke, Dich in Geldsorgen zu wissen, ist mir zu schmerzlich«, gestand sie ihm am 4. Juni. Und es blieb nicht bei dieser einen Geldspende. Sie tat, was sie konnte, um ihren Amadé glücklich zu machen.

»Versteh’ doch, wer ich bin!«

Ärztin, Ehefrau und Mutter zugleich?

Auch für Lilli war der Start ins Berufsleben keineswegs einfach. Eine Festanstellung im von ihr so geschätzten Asyl bot sich nicht an, sie wurde immer wieder nur für ein paar Wochen eingesetzt. Beharrlich absolvierte sie eine Reihe von Vorstellungsgesprächen bei diversen Kölner Sanitätsräten. Zunächst mußte auch sie sich mit Praxisvertretungen begnügen, verzeichnete aber immerhin – anders als Ernst – einen erheblichen Zulauf an Patienten. Am 4. November 1924 be- richtete sie ihm von ihrer Arbeit in einer Kölner Praxis:

Mein lieber kleiner Amadé,

heute bin ich also schon 14 Tage hier ... Die Sprechstunde war mal wieder rasend voll, von halb 3 Uhr bis kurz vor 6 Uhr. Zum Glück habe ich fast keine Besuche mehr zu machen; hoffentlich werd ich nicht mehr gerufen.

Ich will Dir heute nochmals herzlich danken für Deine feinen Briefe, die ich gestern ja nur nüchtern und eilig beantworten konnte.

Die Auszüge aus der Ricarda Huch haben mir viel Freude gemacht und mich veranlaßt, Dir darauf einiges zu erwidern. Die Verwandtschaft und Beziehungen der Künste untereinander hab ich schon oft empfunden und bin dem sehr gerne nachgegangen. Und nicht nur das, Du weißt ja selbst, wie oft ich ein Erlebnis oder einen Menschen sogar irgendwie musikalisch empfunden habe. Und das, was Tieck über Michelangelo etc. sagt, hab ich ganz evident immer wieder in Italien empfunden. Ach, nun wünsche ich mir die Ruhe, die Umgebung, die Schreibweise und Ausdrucksmöglichkeit wie eine Rahel Varnhagen, eine Caroline Schelling, um Dir so recht von allem erzählen zu können. Wir bewegen uns übrigens literarisch in der gleichen Zeit, Du und ich, denn abends im Bett lese ich oft noch mal ein oder zwei Briefe der Caroline Schelling. Die bekommst Du später mal von mir.

Und was nun Schlegel über das Verhältnis zur Musik sagt, so pflichte ich ihm durchaus bei. Im umgekehrten Verhältnis zum Beispiel habe ich besonders Bergsons Philosophie als köstliche Musik empfunden – nicht allein durch die Sprache. Die Musik hat genauso ihre Idee wie die Philosophie, und beide – Musik wie Philosophie – einer gemeinsamen Zeit weisen gewisse Ähnlichkeiten auf. Ohne über all das nachgedacht zu haben, passierte mir letztens im Gürzenich, daß ich beim Hören eines modernen Russen (Prokofjew) mich heldenhaft bemühte, mich mit dieser und anderer moderner Musik auseinanderzusetzen, und dann ganz plötzlich zur Änne sagte, ich hätte das Gefühl, als ob auch hier der alte Gottesgedanke gestorben sei – nicht im Sinne irgendeiner Religionsformel, sondern des kosmischen Gottesgedankens überhaupt. Verstehst Du, was ich meine? Und da war ich also ganz intuitiv von der Musik zur Philosophie gelangt.

Wunderst Du dich, dies alles von mir zu hören, nachdem ich Dir kürzlich erst sagte, wie ich Musik höre, koste, erlebe? Aber das hat gar nichts damit zu tun, denn diese Betrachtungen sind ganz im Unterbewußten und kommen erst viel später zur Oberfläche. – Hast Du in Spanien das Schloß Escorial gesehen? Ich las in der Kölnischen Zeitung eine so ausgezeichnete Skizze darüber.

Vorhin habe ich mit zu Hause telefoniert. Vater fährt erst nächste Woche. Das freut mich. Sag, Lieb, weißt Du vielleicht, in welcher Freimaurer-Loge Dein Vater gewesen ist in Hamburg? Es gibt nämlich verschiedene, und es würde meinen Vater interessieren.

Wie geht es Dir sonst, mein Guter? Hast Du viel Arbeit? Schreib mir bald wieder einen so lieben Brief und erzähl’ mir von Deinen Büchern und Gedanken ...

Deine Lilli

Ernst hatte 1924 seine Halbschwester Grete in Spanien besucht, die aus der ersten Ehe seines Vaters stammte. Lilli wollte nun die Gelegenheit nutzen, ihren Vater für Ernsts Familie zu interessieren, und sah in dem gemeinsamen Interesse an der Freimaurerei einen möglichen Anknüpfungspunkt. Sie selbst war mit Josef Schlüchterer immer wieder in der Loge gewesen, zum Beispiel bei einem Vortrag über den jüdischen Philosophen Spinoza. »Manches fand Anklang bei mir«, erklärte sie später im Hinblick auf die pantheistischen Anschauungen des Niederländers.

Auch Lilli hatte Reisepläne, im Frühjahr 1925 wollte sie erneut nach Italien fahren, diesmal zusammen mit einer Freundin nach Florenz. Doch in Köln hing der Haussegen schief, Schwester Elsa hatte sich in einen jungen Mann verliebt – in den falschen, wie die Schlüchterers sicher zu wissen glaubten. Am 1. März 1925, kurz vor ihrer Abreise nach Florenz, notierte Lilli noch schnell den Stand der Affäre:

Nun, der Hans war hier und hat um ihre Hand angehalten. Abgesehen davon, daß er meinen Eltern ebensowenig gefällt wie mir, hat er keine Existenz ...