Weltliteratur im SPIEGEL - Band 1: Schriftstellerporträts der Nachkriegsjahre - Martin Doerry - E-Book

Weltliteratur im SPIEGEL - Band 1: Schriftstellerporträts der Nachkriegsjahre E-Book

Martin Doerry

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Beschreibung

Weltliteratur im SPIEGEL Band I: Schriftstellerporträts aus dem SPIEGEL der Jahre 1949 bis 1959, ausgewählt und eingeleitet von Martin Doerry. Mit Beiträgen über Ernest Hemingway, Ernst Jünger, Bertolt Brecht, Erich Maria Remarque, Arthur Koestler, Max Frisch, William Faulkner, Ingeborg Bachmann, Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Rainer Maria Rilke, Agatha Christie, Jean-Paul Sartre, Ezra Pound, Hermann Hesse, Boris Pasternak, Arno Schmidt und Friedrich Dürrenmatt.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Ernest Hemingway
Dichter im weißen Wachtturm
Ernst Jünger
Der Traum von der Technik
Bertolt Brecht
Glotzt nicht so romantisch
Erich Maria Remarque
Weltbürger wider Willen
Arthur Koestler
Die große Illusion
Max Frisch
Ohne Urlaub von der Zeit
William Faulkner
Griff in den Staub
Ingeborg Bachmann
Stenogramm der Zeit
Thomas Mann
Der Zauberer
Carl Zuckmayer
Der fröhliche Wanderer
Rainer Maria Rilke
Weisen von Liebe und Tod
Agatha Christie
Das Mord-Vergnügen
Jean-Paul Sartre
Der arme Mitläufer Jean-Paul
Ezra Pound
Verse im Käfig
Hermann Hesse
Im Gemüsegarten
Boris Pasternak
Der Ehren-Doktor
Arno Schmidt
„ ,;.-:!-:!! “
Friedrich Dürrenmatt
Zum Henker
Impressum
Vorwort

Weltliteratur im SPIEGEL

Von Bertolt Brecht bis Thomas Mann: Schriftstellerporträts der Nachkriegsjahre
Der SPIEGEL der 40er und 50er Jahre war ein Magazin der Köpfe: Woche für Woche landete das Foto einer prominenten Person auf dem Cover, meist waren es Politiker, aber schon bald mischten sich auch Künstler und vor allem Schriftsteller unter die Titelhelden. SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein (1923 - 2002) hatte selber literarische Ambitionen, er schrieb nicht nur Kommentare und Titelgeschichten, sondern Gedichte und ein Theaterstück - das allerdings 1947 mit nur mäßigem Erfolg aufgeführt wurde. Seiner Begeisterung für die Literatur tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Mindestens zwei oder drei namhafte Autoren schmückten Jahr für Jahr den SPIEGEL. Und wer die hier versammelte Auswahl von Schriftsteller-Porträts betrachtet, wird einräumen müssen, dass der Autodidakt Augstein - er hatte nie studiert - ziemlich treffsicher jene Dichter auf den Titel hob, deren Bedeutung bis in die Gegenwart hinein unumstritten ist. Ob es Geschichten waren über Ernest Hemingway, Ernst Jünger oder Agatha Christie: Sie alle waren schon damals moderne Klassiker - und sind es noch heute. 
Ein SPIEGEL-Heft kostete 1954, vor 60 Jahren, genau eine Mark. Und dafür wurde eine Menge geboten: nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch das Neueste aus dem Feuilleton. Augsteins junge Mannschaft - Redakteurinnen spielten damals noch keine Rolle - verfolgte dabei einen durchaus enzyklopädischen Anspruch. Eine Titelgeschichte über Friedrich Dürrenmatt oder Erich Maria Remarque füllte gerne mal zehn dichtbedruckte Seiten. Selbst Literaturwissenschaftler dürften hier noch manches gelernt haben. Der Stil im übrigen war eher sachlich, manchmal sogar wissenschaftlich, also nicht so kalauernd und frotzelnd wie manch andere SPIEGEL-Geschichte. Die SPIEGEL-Dramaturgie wurde freilich stets befolgt: ein möglichst szenischer Einstieg, dann These und Rückblende, und schließlich die gründliche Ausarbeitung bis in die Gegenwart hinein. Die verantwortlichen Redakteure blieben stets anonym, der SPIEGEL selbst war der Absender, seine ganze Autorität sollte hier wirken. Man spürt Augsteins Bemühen, den großen Autoren auf Augenhöhe zu begegnen. Und man liest diese Geschichten noch heute gern, sie klingen erstaunlich frisch und lebendig wie am Tag ihres Erscheinens.
Die SPIEGEL-Leserschaft war allerdings deutlich kleiner als heute. Erst 1959 erreichte der SPIEGEL eine Verkaufsauflage von über  300 000 Exemplaren (heute sind es etwa 900 000), man produzierte ein Magazin für eine eher intellektuelle Kundschaft. Und die durfte nicht enttäuscht werden. 
Dieses Milieu war innovativer als die übrige deutsche Gesellschaft der 50er Jahre, man wollte Modernität und Fortschritt. Und viele Autoren entsprachen mit ihren literarischen Werken genau diesem Anspruch: Die Texte von Max Frisch etwa oder die Sprachschöpfungen des genialen Arno Schmidt zeugten von dem verbreiteten Wunsch, die bestehenden Autoritäten in Frage zu stellen. 
Die Dichter-Titel waren entsprechend politisch angelegt. Hermann Hesse etwa wurde wegen seiner Weltflucht mit sanftem Spott bedacht, Thomas Mann hingegen, der große Intellektuelle und - zumindest in der zweiten Hälfte seines Lebens - politische Kopf erfuhr großen Respekt. Die SPIEGEL-Redakteure analysierten Bertolt Brechts Rolle in der frühen DDR ebenso wie Arthur Koestlers Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. 
Wie im politischen Teil des Heftes so wurde auch im Feuilleton der Kommunismus als Gegenwelt des amerikanischen Imperiums zum zentralen Thema der Berichterstattung. 1958, nach der Verleihung des Nobelpreises an den in Moskau in Ungnade gefallenen Schriftsteller Boris Pasternak, würdigte das Magazin ausführlich die „demonstrative Geste des Stockholmer Komitees gegen totalitäre Staaten“, mit scharfer Kritik an den Hardlinern in der Sowjetunion. Und doch verzichteten die Autoren der Pasternak-Titelgeschichte klug auf jeden blinden Antikommunismus; sie erinnerten ihre deutschen Leser vielmehr daran, dass es kaum 20 Jahre her sei, dass das Nobelpreiskomitee auch einen deutschen Oppositionellen, den Kritiker des NS-Regimes Carl von Ossietzky, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet hatte. 
Mit ihren literarischen Titelgeschichten waren die SPIEGEL-Redakteure auf der Höhe der Zeit, ihr kritisches Urteil hat noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, Bestand.
Viel Spaß bei der Lektüre!    
Martin Doerry
SPIEGEL 34/1949
ERNEST HEMINGWAY

Dichter im weißen Wachtturm

Zuerst leben, dann schreiben
Ein lebendiger Mensch wird verfilmt. Ein Mann, mit sehr muskulösen Beinen auf der Erde wandelnd, wird Hauptgestalt eines Spielfilms, sein Leben zum Drehbuch. Der Mann ist Ernest Hemingway, Amerikas Schriftsteller, über den in der Welt nicht viel weniger geschrieben wird, als er selbst geschrieben hat.
Charles Bickford, der Pfarrer Peyramale im Film „Das Lied von Bernadette“, ist dabei, Hemingways Lebensgeschichte ins Drehbuch zu schreiben. In dem Film will Mr. Bickford selbst Ernest Hemingway spielen.
Filmleute stellen Ansprüche an ihre Themen. Hemingways Leben bietet einiges, um sie zufriedenzustellen.
Es begann 1898, am 21. Juli, in Oak Park, Illinois, in der Nähe von Chicago. Clarence Edmond Hemingway, der Vater, war Arzt. Grace Hall Hemingway, die Mutter, war Sängerin gewesen. Die Eltern hatten entsprechende Pläne mit dem Sohn.
Die Mutter wollte einen Musiker aus ihm machen. Ernie mußte Cello lernen und vorspielen, wenn bei Hemingways im großen Musikzimmer Hauskonzert war. In einer solchen Situation entschloß er sich, aus dem mit Stuckornamenten verzierten Elternhause wegzulaufen, und tat es. Er lief noch einige Male weg, zuletzt, als er 15 war.
Der Vater hätte aus dem Sohn, dem zweitältesten seiner sechs Kinder, gern einen Arzt gemacht, den Nachfolger in seiner guten Praxis. Er nahm Ernest Miller - Hemingway gab den Mittelnamen erst 1930 auf - zu Krankenbesuchen mit. Doch Ernie hatte auch zur Medizin keine Lust.
Der Vater hatte mehr Glück, als er den Sohn mit seinen Liebhabereien vertraut machte. Clarence E. Hemingway war ein enragierter Jäger und Angler.
Mit drei Jahren bekam Ernest die erste Angelausrüstung, mit zehn die erste Jagdflinte, und die Leidenschaft fürs Angeln und Jagen hat ihn nie losgelassen. Als er es literarisch und auch finanziell zu etwas gebracht hatte, griff er zur Erholung vom Schreiben immer wieder und manchmal für lange Zeit zu Angel und Gewehr. Er brachte es zu Ansehen auch als Angler und - in Afrika - als Großwildjäger.
Fischart à la Hemingway. Mit seiner Jacht „Pilar“ kreuzte er in den westindischen Gewässern, und die Fische hatten keine leichte Zeit. Er hat, Rekorde brechend, zentnerschwere Marlinge und Thunfische gelandet, nach stundenlangem Kampf mit den Schwergewichtern. Er ist stolz, daß eine Fischart nach ihm benannt ist, und darauf, daß Museen ihm Dankesbriefe schrieben für die seltenen Fische, die er ihnen von seinen karibischen Fahrten schickte.
1935 gewann er in Bimini das Fischfangturnier, was die Einheimischen nicht ohne Mißgunst sahen. Hemingway arrangierte zum Ausgleich Boxkämpfe mit Prämien: er versprach 200 Dollar dem, der es vier Runden lang im Ring mit ihm aushielt. Keiner schaffte es.
Denn Hemingway, 1,83 groß, mit einem Bizeps von 40 cm Umfang, auch sonst mit Muskeln bepackt und mit einer Brust, von der ein Reporter anerkennend schrieb, ihr Anblick lasse die Augen jedes Pelzhändlers übergehen - Hemingway ist auch ein mächtiger Boxer, ein Allround-Sportsmann überhaupt. Als weitere Liebhabereien nennt er selbst noch Schneeschuhlaufen und Trinken.
Hemingway hatte schon während der Schulzeit eine Neigung zur Publizistik: er gab die Schülerzeitung heraus und widmete seine Feder besonders der „News and Gossip“-Rubrik, der Spalte „Neuigkeiten und Klatsch“. Als er die Schule hinter sich gebracht hatte, kam er zu einem Job als Reporter am „Star“ in Kansas City. Er war es nicht lange, da begann der erste Weltkrieg.
Hemingway wollte dabei sein. Aber die Armee nahm ihn nicht. Mit einem seiner Augen war etwas nicht in Ordnung, eine Folge des Boxens. Hemingway meldete sich als Fahrer bei einer vom amerikanischen Roten Kreuz gestifteten Ambulanz und kam an die italienische Front.
Hemingway wollte richtig dabei sein. Er ging im Juli 1918 mit Italienern nach vorn auf Horchposten.
Die Österreicher donnerten schwere Mörsergranaten herüber, ein Volltreffer schlug ein. Hemingway hatte die Beine voller Splitter, und als er einen Kameraden zurückschleppte, fuhren ihm noch Steckschüsse in das Knie und das Fußgelenk.
Das war bei Fossalta di Piave. Hemingway bekam eine künstliche Kniescheibe aus Platin, seinen Abschied und hohe italienische Auszeichnungen. Darunter war die zweithöchste des Hauses Savoyen, mit einer lebenslänglichen Rente.
Zu Hause mußte Hemingway sich erst nach einer Beschäftigung umsehen. Er fand sie in Chicago, als Redakteur bei einer Zeitschrift für das Genossenschaftswesen. In dieser Zeit lernte er Hadley Richardson kennen. Sie wurde 1921 die erste von den nach und nach vier Mistresses Hemingway, die es mittlerweile gibt oder gegeben hat.
Ein Koffer wurde gestohlen. Hemingway wandte sich nach Kanada, wurde Reporter am „Toronto-Star“. Er hatte Erfolge mit seinen Berichten, und so durfte er als Sonderkorrespondent nach dem Nahen Osten, um über den griechischtürkischen Konflikt, und dann nach Lausanne, um über die Schlichtung des Konflikts zu berichten.
Dem Schriftsteller Hemingway widerfuhr damals ein Mißgeschick: seiner Frau wurde der Koffer gestohlen, der Ernests Manuskripte enthielt, seinen ersten Roman, Kurzgeschichten, Gedichte. Möglicherweise war der Dieb enttäuscht, Hemingway jedenfalls mußte literarisch von vorn anfangen.
In den Jahren, die Hemingway dann in Paris lebte, gehörte er zu der Expatriate Group, der amerikanischen Literatenkolonie um die Schriftstellerin Gertrude Stein, die seit 1904 in Paris lebte und 1946 dort gestorben ist. Sie und auch der mit autoritärer Gewalt über die Worte herrschende Lyriker Ezra Pound gaben ihm bedeutende Anregungen.
Er hatte ein kleines Zimmer am Montparnasse, nicht viel mehr als Tisch, Bett und Stuhl darin und nicht immer so viel Geld, um regelmäßig zu essen. Er hätte es besser haben können, Verleger machten ihm freundliche Angebote, aber er wollte unabhängig bleiben.
Mit seinen Erzählungen „In Our Time“ (In unserer Zeit) und dem Roman „The Torrents of Spring“ bereicherte er die literarischen Gespräche so wenig wie sich selbst. Aber dann kam „Fiesta“ heraus, im Original „The Sun Also Rises“ genannt.
Verlorene Generation. Ein paar hundert Leute hatten 1924 „In Our Time“ gekauft, von „The Sun Also Rises“ waren in anderthalb Jahren 25000 Exemplare abgesetzt. Mit diesem Buch, dessen Hauptpersonen vier junge Amerikaner und die Engländerin Brett, dessen Schauplätze Paris und eine Fiesta, eine spanische Stierkampfwoche, sind, wurde Hemingway zum „Sprecher der verlorenen Generation“.
Der Ausdruck „verlorene Generation“ stammte aus dem Kreise um Gertrude Stein. Er meinte die „hervorragenden, jungen und traurigen Männer“, die aus dem Krieg mit zerstörten Illusionen zurückgekommen waren in eine Welt, die stehengeblieben zu sein schien. Diese Generation um 1918 sah in Hemingway ihren Wortführer, und er wurde es noch mehr mit „A Farewell to Arms“*)
Dieser Roman von der italienischen Front 1917, die Hemingway so schmerzhaft genau kennengelernt hat, die Geschichte der Liebe Henrys, des Amerikaners beim Roten Kreuz, und Cathrines, der Krankenschwester aus Schottland, machte Hemingway berühmt. Es wurde auch ein permanenter finanzieller Erfolg.
Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, wird heute noch überall immer wieder neu gedruckt, wurde verfilmt, von Carl Zuckmayer deutsch dramatisiert und von Max Reinhardt gespielt, mit Käthe Dorsch und Hans Albers.
„Ausdrücke wie geheiligt, glorreich, Opfer und das Wort vergebens haben mich immer in Verlegenheit gebracht“, heißt es in „A Farewell to Arms“. Und: „Abstrakte Ausdrücke wie Ruhm, Ehre, Tapferkeit, heilig, klangen unanständig neben den Namen der Dörfer, den Nummern der Landstraßen, den Flußnamen.“
Es war ein Buch ohne Pathos, ohne sentimentale oder tragische Töne, ohne die optimistischen Farben verschwommener Illusionen. Die Art, Charaktere und Situationen ungeschminkt, Gewalt und Rücksichtslosigkeit, Brutalität und Chaos literarisch unfiltriert und ohne ideologische Schönfärberei darzustellen, hat es mit sich gebracht, daß Hemingway ein Zyniker, ein Sadist, ein Exhibitionist genannt wurde.
Man geht immer in die Falle. Zweifellos ist ein Mann ein Pessimist, von dem leitmotivische Sätze stammen wie: „Man geht immer in die Falle“ oder: „Wenn zwei Menscher sich lieben, kann das niemals gut ausgehen“. Und in dessen Büchern es entsprechend zugeht.
Aber Hemingways Gestalten erschöpfen sich bei allem Pessimismus nicht in Exzessen irgendwelcher Art. Sie suchen den verlorenen Lebenssinn durch ein um so zuchtvolleres Verhalten in einer ganz aussichtslosen konkreten Situation wiederzugewinnen.
Es erweist sich bei Hemingway allerdings immer als ein unmögliches, zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. „Dramen jammervollen Strebens und stoischer Ausdauer“ hat man seine Romane genannt.
Der typische Held Hemingways ist der Mensch, der, dem Zufall hilf- und hoffnungslos überantwortet, vor dem Nichts steht und das Risiko dieses Nichts, durch alle Mißerfolge ungebeugt, auf sich nimmt, entschlossen und ohne Augenzwinkern. Er ist Einzelgänger, der stark genug ist, ohne Illusionen zu leben.
In dieser Hinsicht steht Hemingway außerhalb der geistigen Hauptströmungen der Zeit, außerhalb ihrer sozialen und wirtschaftlichen Problematik. Diese Problematik ist für ihn nur Oberfläche, hinter der sich die eigentliche Lebensnot des heutigen, vom Nichts, von der Sinnlosigkeit des Daseins besessenen Menschen verbirgt.
Nicht wie ein Baby. Aber, sagt einer von denen, die Hemingway lieben, der Franzose Edouard Lavergne: Hemingway „jammert nicht wie ein Baby, das sein Bett naß gemacht hat, oder wie ein Philosoph, der unsicher am Rand des Nihilismus schwankt: er lebt.“
„Jeder seiner Romane ist gleichzeitig eine Reportage mit erstaunlich flüssigem und lebendigem Dialog. Hemingway ist eine Naturkraft. Er kann geistreich und erschütternd sein ...“
„Er besitzt die Bewegtheit des Lebens und zugleich göttliche Einfachheit. Seine Kunst ist gleichbedeutend mit seinem Leben, ein Spiegelbild seines Lebens ... Er gehört zu denen, die zuerst leben, dann schreiben.“
Das ist eine europäische Stimme, eine amerikanische ist anders, die Max Eastmans. Allerdings die Stimme eines Mannes, mit dem Hemingway jene erbitterte Feindschaft verbindet, die sich bisweilen einstellt, wenn es mit der Freundschaft vorher nicht geklappt hat.
Eastman nennt Hemingways Hang zur Darstellung kraftvollen, kaltblütigen Mannestums „einen Haufen innerlicher Aufgeblasenheit, die eine große Leere übertönen soll“. Der Romancier-Kollege Sinclair Lewis spricht von „adoleszenter Bewunderung des Abschlachtens“, in die Hemingway immer wieder verfalle. Aber er fügt schnell hinzu: „Wo er mit Themen ringt, die ihm wirklich am Herzen liegen, erreicht er wirkliche Größe.“
„Fast sechzig Prozent aller Kritiker und Literatur-Professoren zählen die Bücher von Ernest zu den besten unserer Zeit“, sagte Grace Hemingway, Ernests Mutter, kürzlich. Sie selbst allerdings hält, wie sie hinzufügte, die Aufsätze, die ihr Ernest als Schüler schrieb, für besser.
Die zweite Mrs. Hemingway. Hemingway schrieb „A Farewell to Arms“ zu Ende, als er 1927 nach Amerika zurückgekehrt war. Er hatte sich von seiner ersten Frau scheiden lassen und Pauline Pfeiffer geheiratet. Er hatte sie in Paris kennengelernt, wo sie Mitarbeiterin der Frauenzeitschrift „Vogue“ war.
Hemingway hatte sein Haus in Key West, Florida, sein erster Sohn wurde geboren, sein Buch von Spanien und Stierkämpfen (Hemingway liebt das eine wie die anderen) erschien: „Death in the Afternoon“ (Tod am Nachmittag), und danach kamen ein Band Kurzgeschichten, ein Buch des Großwildjägers Hemingway (Green Hills of Africa) und der gesellschaftskritische Roman „To Have and Have Not“ heraus.
Dann war wieder vernehmliches Waffengeklirr in der Welt: Bürgerkrieg in Spanien. Hemingway stellte für 40000 Dollar Wechsel aus, kaufte Sanitätswagen für die Republikaner und ging als Korrespondent für die Nort American Newspaper Alliance nach Madrid. Er stand sich mit den militärischen Führern der Republikaner bald gut genug, um sich allenthalben an der Front bewegen zu dürfen.
Die dritte Mrs. Hemingway. Die Ergebnisse waren: Das dreiaktige Schauspiel The Fifth Column (Fünfte Kolonne). Die Bekanntschaft mit der Korrespondentin Martha Gellhorn, die die dritte Mrs. Hemingway wurde. Ein Gentleman Agreement mit André Malraux, dem französischen Schriftsteller, der als Flieger für Rotspanien flog.
Man teilte sich in den Stoff des Bürgerkriegs: Malraux stand die Zeit bis 1937, Hemingway die Zeit danach zur Verfügung. Malraux schrieb „Espoir“ (Hoffnung), Hemingway „For Whom The Bell Tolls“**).
„Espoir“ wurde sehr umfangreich, und Edouard Lavergne findet es schwierig, „sich manchmal in der Trockenheit der einzelnen Abschnitte nicht gelangweilt zu fühlen. Wenn man danach irgendein Kapitel von Hemingway aufschlägt, glaubt man, die Gesellschaft eines Intellektuellen zu verlassen und sich einem lebendigen Menschen zuzugesellen.“
In Amerika wurden über eine Million Exemplare von „For Whom The Bell Tolls“, einem „der bewegendsten Bücher der modernen Weltliteratur“, verkauft. Das nationalsozialistische Deutschland lernte das Buch nicht kennen und das sowjetische Rußland auch nicht. Es war in jedem Fall zu wahrhaftig.
Der junge Amerikaner Robert Jordan, Freiwilliger auf republikanischer Seite, der hinter den feindlichen Linien eine Brücke sprengen soll, den Auftrag ausführt und mit dem Leben bezahlt, ist wieder ein Hemingway-Held: der Einzelgänger, der sich des Nichts, der totalen Aussichtslosigkeit einer Situation bewußt ist, aber das Nichts auf sich nimmt. Das ist der innere Vorgang, der sich in langen, äußerlich unpathetischen, inwendig bebenden Gesprächen ausspinnt.
Robert, Maria und Pilar. Es ist eine bei Hemingway häufig wiederkehrende Konstellation: zwei Menschen, Robert und Maria, seine Geliebte, zusammenstehend gegen eine feindliche Welt, unterstützt von einer verständnisvollen Vertrauten, Pilar. Maria, das junge Mädchen, zart, scheu und still, und Pilar, die alternde Frau, breit, beherzt und klug, sind zwei der schönsten Frauengestalten Hemingways.
Er verzichtet darauf, aus den Charakteren, wie üblich, eine breite Skala psychologischer Farbtöne zu entwickeln. Die Gefühle werden unterbetont, Hemingway gibt ihnen eine antiromantische Hülle. Die Darstellung bleibt in asketischer Strenge auf das eine große Thema konzentriert, das Hemingway bewegt: auf das Problem ehrenvoller Bewährung vor dem Nichts.
Darüber hinaus sehen Rezensenten in diesem Roman die „ersten Frühlingsblumen einer Sinngebung, ja, eines Glaubens an das Leben sprossen“.
Sie zitieren Robert Jordans „Gefühl der Hingabe an eine heilige Pflicht gegenüber all den Unterdrückten der Welt, ein Gefühl, über das man ebenso ungern redet wie über ein religiöses Erlebnis, und das doch genau so echt ist wie das Gefühl, das einen überkommt, wenn man Bach hört oder in der Kathedrale von Chartres oder von Léon steht und das Licht durch die großen Fenster hereinfallen sieht.“
Hier erhebe Hemingway sich aus dem „starren Trotz des Individualisten, der dem Chaos nur noch die Form seiner Selbstdisziplin entgegenzusetzen hat“, und finde, was den religiösen Menschen kennzeichnet: die Liebe.
Der so diesseitige Mensch dieser Zeit, sagt Bruno E. Werner, finde sich hier in die ganze große Verlorenheit zwischen Gott und Welt gestellt, in den unendlichen Raum, aus dem die Sehnsucht erwächst und der Notruf, das heißt das ursprünglich Religiöse.
„Ich bin pleite“. An „For Whom The Bell Tolls“ habe er mehr Zeit und Anstrengung gewandt als an irgendeine seiner bisherigen Arbeiten, gestand Hemingway, als er 1940 in New York mit seinem Verleger Charles Scribner die letzten Besprechungen hatte. „Siebenzehn Monate habe ich an nichts anderem gearbeitet, habe keine Kurzgeschichten und keine Artikel geschrieben und keinen Pfennig verdient. Ich bin pleite.“
Dies hinderte ihn nicht, die Gesellschaft seiner Freunde zu einer Feier im großen Stil einzuladen. Scribner sei nicht pleite, meinte er, er werde sich bei ihm einen kräftigen Vorschuß holen.
Außerdem hat Hemingway Hollywood als finanziellen Rückhalt, einen sehr stabilen Rückhalt. Nachdem „A Farewell To Arms“ und die Kurzgeschichte „Mörder“***) erfolgreich verfilmt worden waren, entstanden nach Hemingway-Stoffen die Filme „To Have and Have Not“ und „The Macomber Affair“.
150000 Dollar zahlte die Paramount für das mit Ingrid Bergman und Gary Cooper
verfilmte „For Whom The Bell Tolls“. Die Filmrechte von „Schnee vom Kilimandscharo“ erwarb die Fox für 125000 Dollar, die höchste Summe, die je für eine Kurzgeschichte gezahlt wurde.
Viele sind der Ansicht, daß Hemingways eigentliches Instrument die Kurzgeschichte sei. Hier finde sich am deutlichsten, was für den Schriftsteller Hemingway charakteristisch ist: Knappheit des Ausdrucks, natürlicher Dialog, keine Ausschmückung, Konzentration auf das Wesentliche, die Fähigkeit, sinnliche Eindrücke frisch und unverfälscht wiederzugeben.
Das sind stilistische Eigenheiten aus der Praxis des Reporters, und sie erklären, daß Hemingway Hollywood sympathisch ist. Es kommt der Technik des idealen Films entgegen, wenn Hemingway nicht Gefühle wiedergeben will, sondern „die wirklichen Dinge, die die Gefühle erzeugen“.
Und wenn er, wie in einer Großaufnahme, genau eingepaßt in die rhythmische Aufeinanderfolge des Zusammenhangs, die kleinen Dinge, das Beiläufige für eine Stimmung bedeutungsvoll, für einen Augenblick bezeichnend macht: den Duft zerdrückten Heidekrauts, einen Schluck Absinth, mit Wasser vermischt.
Spring' und schwimm'. Oder wenn er, wie in einer Totale, mit den unauffäligen Worten seines beinahe kargen Stils eine Landschaft vor den Leser stellt: die Wiesen, Wälder, Seen und Flüsse Amerikas, die Bergketten Kastiliens, einen Forellenbach im Schwarzwald.
Auch das ist in Hemingways Kurzgeschichten „filmisch“: seine Art, in seinen Stoff unverzüglich einzudringen, sein Thema ohne Umschweife anzugehen, die Spring-ins-Wasser-und-schwimm-Methode, wie William Saroyan es genannt hat.
Und auch die Gespräche sind es, die Hemingway seine Menschen führen läßt, Quintessenzen von Dialogen. Es wird mehr gesagt, als ausgesprochen, wird. Es ist hinter den alltäglichen Worten verborgen. Diese kunstreiche Dialogtechnik, überhaupt Hemingways Stil, der die Hauptsätze, ihr rhythmisches, unverknüpftes Nebeneinander bevorzugt, hat die Imitation eifrig bemühter Kopisten hervorgerufen.
Es ist wieder ein Roman, an dem Hemingway jetzt arbeitet. Über 1000 Seiten Manuskript sind fertig, aber er will darüber nicht mehr sagen, als daß der zweite Weltkrieg den Hintergrund bildet. Der Autor hat auch hier Kenntnisse und Erfahrungen aus eigener Anschauung, auf dem Meere, in der Luft und zu Lande.
Zuerst fuhr er im Dienst der Naval Intelligence mit seiner getarnten Jacht „Pilar“ Patrouille in den westindischen Gewässern. Danach war er in England, wo er als Kriegskorrespondent bei der RAF mitflog. Als der Durchbruch in der Normandie in Gang gekommen war, war Hemingway rechtzeitig dort.
Er trug damals einen beträchtlichen Vollbart, wie er denn überhaupt liebt, seine Barttracht von Zeit zu Zeit zu wechseln. Er stand sich gut mit den Soldaten, sie hatten viele Spitznamen für ihn, nannten ihn aber am liebsten Papa oder Pop. Ernest Hemingway unterschreibt seine Briefe noch heute gelegentlich mit Mister Papa.
„Life“ berichtete, er habe an einem deutschen Koppel zwei Feldflaschen getragen, eine mit Gin, die andere mit Wermut gefüllt. Aus beidem habe er sich ein kräftiges Getränk zusammengegossen.
Der Kommandeur der Infanteriedivision, der er sich angeschlossen hatte, pflegte mit besonderer Nadel auf der Karte vermerken zu lassen, wo Hemingway sich gerade aufhielt. Die Nadel und damit Hemingway steckte meistens dort, wo „etwas los“ war. Einmal forderte Kriegsberichter Hemingway Tanks an, falls er an seinem exponierten Platz ausharren solle.
Quartier im Hotel Ritz. Beim Vormarsch auf Paris war er so weit voraus, daß er in der Lage war, wichtige Erkundungen zu machen. Das führte zu einer Untersuchung, ob nicht die Bestimmungen, die laut Genfer Konvention für Kriegsberichterstatter bestehen, übertreten waren. Es wurde festgestellt, daß nichts dergleichen vorlag.
Auf alle Fälle war Hemingway der erste alliierte Kriegsberichter, der in Paris war. Als die Kollegen kamen, hatte er längst im Hotel Ritz Quartier genommen und sich erfolgreich auch im Weinkeller umgesehen.
Mit der 1. Armee war Hemingway später im mörderischen Hürtgenwald. Im Dezember 1946 schrieb er seinem deutschen Verleger Rowohlt, seinem „lieben Ernst“, er sei froh, daß sie sich weder dort noch sonst jemals gegenseitig getötet hätten.
Er hasse den Krieg, schrieb Hemingway 1942 in der Einleitung seiner Sammlung von Kriegsgeschichten. Wenn es dauernden Frieden in Europa geben solle, schrieb er weiter in diesem Jahre des Hasses, müßten die Wurzeln und die Saat beseitigt werden: Wenn der Krieg gewonnen sei, sollte Deutschland wirksam zerstört, sollten alle Mitglieder aller nationalen Organisationen sterilisiert werden.
Die vierte Mrs. Hemingway. Es war noch Krieg, 1944, als Hemingway Miß Mary Welsh kennenlernte, im Londoner Büro der „Time“. Mary Welsh, Tochter eines wohlhabenden Holzfällers aus Minnesota, hatte nach ihrem Studium an den Chikagoer „Daily News“ mitgearbeitet und war dann zum „London Expreß“ gegangen. Sie wurde nach dem Kriege Mrs. Hemingway Nr. 4.
Wenn Hemingway nicht auf Reisen ist, lebt er auf dem Landsitz Vinca Figia in Kuba. In dem in spanischem Stil gehaltenen Haus gehen viele ein und aus, es ist ein gastfreies Haus. Der Hausherr ist nah und fern sehr beliebt, und das nicht nur als Gastgeber und nicht nur, weil er alle Anwesenden freihält, wenn er in der Dorfkneipe ist.
Er ist heute ein Mann mit angegrauten Haaren an den Schläfen des mächtigen, hochstirnigen Kopfes. Seine braunen Augen sind immer noch so „leidenschaftlich interessiert“ wie Gertrude Stein sie vor Jahren beschrieben hat.
Im Wohnraum des Hauses hängen an den Wänden glasäugige Trophäen, die Köpfe von Tieren, die der Großwildjäger Hemingway in Afrika schoß. Ein Garten von 6 Hektar, ein Tennisplatz, ein Schwimmbassin und ein Extrahaus für die drei Söhne, die 26, 21 und 18 Jahre alt sind gehören zur Farm. Und nicht zu wenig Hunde und Katzen
Und ein weißer Wachtturm steht in Vinca Figia. Hier arbeitet der Dichter Ernest Hemingway.
*) Unter dem Titel „In einem anderen Land“ erschien die deutsche Übersetzung im Rowohlt Verlag, Stuttgart, Hamburg, Baden-Baden. Bei Rowohlt kamen ferner „In unserer Zeit“, „Fiesta“, „Männer“ (Erzählungen) heraus.
**) Deutscher Titel „Wem die Stunde schlägt“. Erschienen, in der Übersetzung von Paul Baudisch, in der S. Fischer-Bibliothek des Verlages Peter Suhrkamp, Berlin, in Gemeinschaft mit dem Verlage G. Bermann-Fischer, Amsterdam. 424 S., 4, - DM.
***) „Mörder“ ist eine der vier Kurzgeschichten, die der Rowohlt-Verlag jetzt in dem Band „Der Schnee vom Kilimandscharo“ (145 S., 7,50 DM) herausgebracht hat, in der Übertragung von Annemarie Horschitz-Horst, die auch die übrigen bei Rowohlt erschienenen Hemingway-Bücher übersetzt hat.
SPIEGEL 4/1950
ERNST JÜNGER

Der Traum von der Technik

Auf dem Briefkopf des vormaligen „Furche-Verlags“ in Tübingen steht jetzt „Heliopolis-Verlag“. Verleger Katzmann nahm Ernst Jüngers ersten Roman zum Anlaß, sein Unternehmen umzutaufen.
Ewald Katzmann hält die Feuilleton-Redakteure aller Zonen ganz ordentlich in Atem. Sein Verlag brachte kurz hintereinander zwei seitenreiche Bände heraus, beide mit demselben goldgeprägten, in einem Zuge durchgezogenen Handzeichen. „EJ“ läßt sich leicht daraus entziffern, wenn man es erst weiß.
Kaum hatten „Strahlungen“, Ernst Jüngers 648 Tagebuchseiten aus den Jahren 1941-1945, in moosgrünem Leinen, viel Tinte aufgerührt, da lag schon „Heliopolis“ in den Buchläden, 440 Seiten „Rückblick auf eine Stadt“, in gedecktem Blau.
Zwei Jahre hat Jünger an dem romanhaften Opus gearbeitet. Es schildert Gestalten und Geschehnisse in einer utopischen Stadt, zwischen dem Zusammenbruch des ersten und dem Beginn des zweiten Weltimperiums.
Der Übermensch soll durch den Menschen überwunden, die perfekte Technik in eine neue Theologie einbezogen werden. Jünger-Jünger wissen, daß diese Konzeption ihrem Meister seit den „Marmor-Klippen“ keine Ruhe mehr läßt.
Held in „Heliopolis“ ist der Kommandant Lucius de Geer, Soldat mit metaphysischen Neigungen, der zwischen den Fronten lebt und sich dann in Goldmaske und Asbestpanzer den irdischen Machtkämpfen durch eine Raketenfahrt ins Weltall entzieht. Lucius sagt, das Christentum sei „noch flüssig, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so drängt es auf ein drittes Testament, auf eine letzte Vergeistigung“.
Des Kommandanten Wahlspruch „De ger trift“ und sein Wappen zieren das Buch mehrfach. Der fortgeschrittene Jünger-Leser erkennt in ihm unschwer den Autor des „Arbeiter“. Aber zweifellos war der Autor des „Arbeiter“ aufregender.
Was 1932 im „Arbeiter“ noch grandiose Vision war, die neue Religion der Technik, hat sich inzwischen als grandiose Fata Morgana erwiesen, und es macht allmählich niemandem mehr Spaß, jeweils das heroisiert, mythisiert und theologisiert zu sehen, was nun einmal nicht zu ändern ist.
Auf der Innenseite des „Heliopolis“-Umschlags findet sich ein Plan der geträumten Sonnenstadt. Meister Werner Höll hat ihn gezeichnet, ein guter Bekannter Jüngers aus der Pariser Zeit. In Ravensburg, nahe dem Bodensee, haben sich die Duzfreunde wiedergefunden. Der Heliopolis-Plan entstand aus Freundschaft nebenbei, Höll, vielgewandt, malt hauptamtlich abstrakt oder interessante Damen.
Er bewährte sich auch als Quartiermacher, als Ernst Jünger vor einigen Monaten vom hannoverschen Kirchhorst nach dem mild-sanften Ravensburg umsiedelte. Jünger hat das halbverfallene Pastorat an der Straße Hannover-Celle gern mit dem freundlichen, modernen Siedlungshaus vertauscht, am Rande der mauerbewehrten schwäbischen Kleinstadt.
Hier ist er wieder in der Nähe Friedrich Georg Jüngers, der in Uebingen wohnt, der alle Manuskripte des Bruders vor der Drucklegung liest und dessen Person und Werk Ernst in „Strahlungen“ oft in brüderlicher Verbundenheit erwähnt. In Ravensburgs Wilhelm-Hauff-Straße 18 bewohnt Ernst Jünger mit Frau Gretha und Sohn Alexander den ersten Stock. Die zu kleine Bleibe ist nicht auf Dauer berechnet.
Das schmale Arbeitszimmer wirkt wie eine Gelehrten-Klause. Der monumentale Schreibtisch, hinter dem der Schriftsteller wie eine Spinne anmutet, ist mit Geschriebenem und Gedrucktem aller Art bestapelt und allen dienstbaren Geistern tabu. Außer Jünger kennt sich niemand in seiner vertrackten Topographie aus.
Mit einer Ausnahme: Armin Mohler, Doktor der Philosophie aus Basel, Ernst Jüngers Privatsekretär.
„Arminius“ führt die Korrespondenz, empfängt Besucher und Adoranten, sammelt Zeitungsausschnitte und tut alles, was sonst noch seines Amtes*). Außerdem arbeitet er für den Heliopolis-Verlag.
Im Labyrinth des Pro und Contra um Ernst Jünger findet Mohler sich besser zurecht als Jünger selbst. Arminius weiß genau, was im Pamphlet eines Skribenten steht, und erinnert sich lächelnd an das überspannte Aperçu im Brief eines adeligen Fräuleins. Ernst Jünger ist nahezu die einzige Persönlichkeit im deutschen Geistesleben, die nach Kriegsende wirklich in einem Wirbel von Zustimmung und Ablehnung stand. An der Diskussion seines „Falles“ erscheint besonders bemerkenswert, daß Stimmen maßvoller, sachlicher Kritik seltener sind als radikale Aeußerungen, Lobeshymnen und Schmähtiraden aller Schattierungen. Parodien aller Qualitäten fehlen nicht Die Hymnen pflegt Jünger nur zu überfliegen, negativen Stimmen hört er sehr genau zu, nicht nur aus Eitelkeit.
„Seit dreißig Jahren schwenken die Feuilletonredakteure meinen Skalp. Das bekommt mir ganz gut.“
Wie es in einem Feuilletonredakteur aussieht, weiß Ernst Jünger ziemlich genau. In den zwanziger Jahren war er selbst einmal für kurze Zeit Theaterkritiker und verriß in Berlin Ku-Damm-Premieren. Damals brauchte Jünger Geld. Seine Mitarbeit an Zeitschriften mit politisch eindeutigen Titeln wie „Standarte“, „Arminius“, „Vormarsch“ hatte andere Motive. Schon damals wurde vom Autor des erfolgreichsten Kriegsbuchs mit anerkennend oder mißbilligend emporgezogener Brauen gesprochen. Die „Stahlgewitter“, erste Auflage 1920, hatte der vierzehnmal verwundete Stoßtruppführer aus zerfledderten, blut- und schlammbespritzten Notizbüchern niedergeschrieben.
E. S. Mittlers Militärverlag verzeichnete in wenigen Jahren zackige Auflageziffern. Die Kritiker der Rechten feierten der „Metaphysiker der Materialschlacht“.
1914 hatte Jünger sich am ersten Tag freiwillig gemeldet. In der satten Bürgerlichkeit des Wilhelminischen Deutschland gehörte er zu den „jungen Leuten, die an Temperaturerhöhung leiden, weil in ihnen der grüne Eiter des Ekels frißt, den Seelen von Grandezza, deren Träger wir gleich Kranken zwischen der Ordnung der Futtertröge einherschleichen sehen“.
Der 16jährige war durchgebrannt, zur Fremdenlegion. Nach drei Wochen hatten die Eltern ihn wiedergefunden. Nur das Versprechen, nach dem Abitur an einer Kilimandscharo-Expedition teilnehmen zu dürfen, tröstete Ernst über die Blamage hinweg.
Sein erstes großes Abenteuer hat Jünger in den „Afrikanischen Spielen“ 1926 geschildert, nicht ohne Humor, den man seinen Büchern oft abspricht. Sein zweites, entscheidenderes Erlebnis wurde der Weltkrieg.
Dezember 1914 stand er schon im Feld, beim 73. hannoverschen Füsilierregiment. Vier Jahre kämpfte er an der Westfront. Wilhelm II. verlieh dem 23jährigen Leutnant d. Res. den Pour le Mérite. Hindenburg knurrte. Eine so hohe Auszeichnung sei gefährlich bei so jungen Leuten.
Bei den Vorgesetzten war Jünger dafür bekannt, daß er sein Bestes in scheinbar ausweglosen Situationen gab. Ein solches Ausharren ist der Untergrund seiner Bücher. Auch der Beter Jünger (mit und ohne Asbesthelm) scheint noch eine verlorene Bastion zu verteidigen.
Den „Stahlgewittern“ folgte 1922 „Der Kampf als inneres Erlebnis“, Ernst Jüngers Tribut an den literarischen Expressionismus. Zwei mikroskopische Vergrößerungen aus den Kriegstagebüchern folgten: „Feuer und Blut“. „Das Wäldchen 125“.
Jünger tat damals noch Dienst bei der Reichswehr. Seeckt hatte ihn nach Berlin gerufen, ins Ministerium, zur Mitarbeit an den neuen Heeresdienstvorschriften. Das Kasernenleben behagte Jünger nicht. 1923 zog er, nach Differenzen mit Vorgesetzten, den grauen Rock aus. Er ließ sich in Leipzig immatrikulieren.
Die Zeitschriften, für die er in den folgenden Jahren Beiträge vorwiegend kritischer Art schrieb, bemühten sich, meist in scharfer Opposition zur Weimarer Republik, um eine höhere Synthese von Nationalismus und Sozialismus. Ebenso deutlich setzte man sich von den Massenbewegungen des Kommunismus und Nationalsozialismus ab. Die Theoreme spann man aus, aber auf höherer Ebene, der vulgären Praxis ging man aus dem Wege.
Aehnlich operierten die Leute des „Widerstands“ um Ernst Niekisch, die im bürgerlichen Lager als Nationalbolschewisten verschrien waren. Ihnen hat Jünger mit seiner „Totalen Mobilmachung“ das Stichwort und mit seinem Buch „Der Arbeiter“ 1932 eine Art Manifest geliefert, einen Ueber-Zarathustra.
Im „Arbeiter“ wird die Abkehr von den Wertungen des Individualismus zu den neuen Wertungen des „Typus“ verklärt. Der neue Mensch, der Mensch nicht der Individualität, sondern des Typus, der „Arbeiter“ ist ersetzbar, er ist auf Ordnung und Unterordnung angewiesen. „Der Typus kennt keine Diktatur, weil Freiheit und Gehorsam für ihn identisch sind.“
Der kultische Rang dieser „Arbeit“ und dieser „Arbeiter“ kommt nach Jünger im namenlosen Soldaten zum Ausdruck. „Der Weltkrieg ist als ein Werkvorgang zu betrachten, bei dem die Nation in der Rolle der Arbeitsgröße erscheint.“
„Eine zynische Vision des totalen Staates“, sagte die damalige Kritik, „ein schreckliches Buch“, eine „Verwechslung von Soziologie und Metaphysik“. Die „Züricher Weltwoche“ schrieb, man habe bei der Lektüre „das Gefühl, das einen Mann beim Anblick in die Flamme befallen mag, die sein Haus verzehrt“.
Die Brandstifter, die Kommunisten wie die Nationalsozialisten, bemächtigten sich des Buches denn auch mit Leidenschaft. Karl Radek versuchte, seine KPD-Freunde zu überzeugen, daß die Gewinnung des Ernst Jünger mehr wert sei als alle neuen Wählerstimmen zusammen. Der „Arbeiter“ wurde als das „Hohelied der Sowjetunion“ reklamiert. Wenige Jahre später stand der nachtschwarze Leinenband auf den Bücherregalen der Ordensburgen Sonthofen und Vogelsang.
Daß Ideologen zweifelhaftester Ueberzeugungen sich auf ihn berufen ist Ernst Jünger gewohnt. Er selbst hat seine Bücher mit jenen Kristallen verglichen, die nur von einer Seite durchsichtig sind.
Daß seine Texte die gegensätzlichsten Auslegungen gestatten, weil unter dem geschliffenen Eis seiner Diktion verschwommene Bilder treiben, rechnet er sich nicht zur Sünde an. Nachdem das, was er als Seher verkündet und verklärt hat, in Otto Ohlendorf, in Stachanow, in Adolf Hennecke Gestalt angenommen hat, sagt Jünger (in „Strahlungen“): „Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch das Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, wenn man nicht zu den Primitiven zählen will.“
Hier wird klar, was „Ruf“-Gründer Alfred Andersch meint, wenn er den Autor des „Arbeiter“ jenen Leuten zurechnet, die Jünger selbst als den „sehr gefährlichen Schlag der konkreten Träumer“ abgestempelt hat.
Am 15. Juli 1946 stellte Ernst Jünger in einem „Brief an meine Freunde“ fest, daß er nicht zu den Leuten gehöre, die nicht an ihre Vergangenheit erinnert werden wollen. Dieser Brief ging geschrieben, getippt, hektografiert, gedruckt in den ersten Nachkriegsmonaten durch viele Hände, zusammen mit dem Traktat „Der Friede“.
„Wir haben die Opfer dieses Krieges angeschaut. Zu ihrem dunklen Zuge stellten alle Völker ihr Kontingent. Sie alle nahmen an den Leiden teil und daher muß auch ihnen allen der Friede Frucht bringen.“
Dies der Grundgedanke der Jüngerschen Friedensschrift. Es war eigentlich kaum ein Gedanke, sondern ein frommer Wunsch. „Möglich, daß ich den Blick an einen jener Sterne knüpfte, die man im Leben nicht erreicht“, gibt Jünger im Vorwort der „Strahlungen“ zu.
„Der Friede“, „gewissermaßen als 'Übung in der Gerechtigkeit'“ geschrieben, löste Ende 1945 eine Pressekampagne um den „Fall Jünger“ aus. Gegner warfen ihm vor, er versuche, die deutsche Kriegsschuld zu verschleiern. Ausgerechnet er, der Schrittmacher des Krieges und des Nationalsozialismus, wolle sich mit den Siegern anbiedern.
Eifrige Novizen der zweiten deutschen Republik ließen am Autor der „Stahlgewitter“ kein gutes Haar. Vernehmlich tönte es von Osten: „Dieser feine Schreiber mit der lanzettenartig geschliffenen Feder, dieser bedenkenlose Alchimist, der mit kühlen Tränklein eine Berserkerwut zu entfesseln suchte, ist einer der deutschen Hauptkriegsschuldigen.“
So Karl Schnog im „Ulenspiegel“, und die „Tägliche Rundschau“ sprach von Jünger als einem Verherrlicher der Gewalt und Barbarei. Seine Schriften seien die Inkarnation des Kriegerischen schlechthin, er habe den Krieger als Existenzform erfunden. Jung-Professor Wolfgang Harich stieß mit ins Horn.
Ernst Jünger hat zu allem geschwiegen. Einen Fragebogen der Militär-Regierung hat er bis heute nicht ausgefüllt. Er weigerte sich auch, einen Spruchkammerbescheid zu beantragen, weil er nie der NSDAP angehört hat. Und „Der Friede“ war nicht „eine Frucht der Niederlage“. Seine Planung fällt in das Jahr 1942 und, wie Jünger erwähnt, „zusammen mit der größten Ausdehnung der deutschen Front“.
Am 5. Januar 1942 trägt Jünger in sein Erstes Pariser Tagebuch ein: „... Papier erstanden für das Friedensmanuskript. Begonnen mit dem Grundrisse. Auch den Tresor auf Sicherheit geprüft. Das sind Ordnungsversuche zwischen Klippen und Haifischen.“
Damals tat Jünger als Hauptmann zbV Dienst in einem Pariser Kommandostab. Major war er nicht mehr geworden, weil er seine Truppe das verpönte Lied „War einst ein Polenmädchen“ hatte singen lassen. Es ist für ihn ein wehmütig-trutziges Leib- und Magenlied geworden, hauptsächlich zum Weine zu singen.
In den „Strahlungen“ nennt Jünger seine Bücher über den ersten Weltkrieg, den Arbeiter, die Totale Mobilmachung sein Altes Testament und „die Veränderung gründlich“. Und: „Es ist richtig, daß viele meiner Ansichten und insbesondere meine Wertung des Krieges und auch des Christentums und seiner Dauer sich änderten.“
Die Kritik stellte fest, daß in „Strahlungen“ „die Tugend der Demut wieder an ihren metaphysisch begründeten Ort rückt“. Das sei großartig. Aber daß zu solcher Erfahrung zwölf Jahre Terror, „auf unsere Kosten“, notwendig gewesen seien, das sei, bei Gott, ein wenig unverständlich.
So schrieb Albert Schulze-Vellingshausen, der sich für seine Rezension Narrenfreiheit ausgebeten hatte. „Da dürfte ich also sagen: der Kerl ist weich geworden.“
Ein paar bessere Zensuren, namentlich in Nebenfächern, austeilend, im übrigen scharf wie Haifischzähne handhabte Peter de Mendelssohn im „Monat“ den Bleistift des Merkers, in einem „Tagebuch zu Ernst Jüngers Tagebuch“: „Gegenstrahlungen“.
Das Fazit: Der Gott in den „Strahlungen“ sei „kein anderer denn der Gott der 'Stahlgewitter'“, eine „militärische Größe“. Dadurch fühlt Mendelssohn sich fast versöhnt, denn es zeige ihm, „daß die Haut den Mann nicht heraus läßt, so dringlich er aus ihr herausschlüpfen möchte“.
Es sei Jüngers Tragik, sagten gemäßigte Kritiker, daß man ihn, der ähnlich wie Macchiavelli nur Deskriptor sein wollte, als Präzeptor mißverstanden habe. Hier seien Erkenntnisse unversehens und ungewollt in magische Formeln umgeschlagen. Jünger teilte das Schicksal von Goethes Zauberlehrling.
Heinrich von Trott zu Solz, ein alter politischer Gegner, brach für Jünger eine ritterliche, wenn auch ein wenig stumpfe Lanze:
„Ich spreche jedem das Recht ab, Jünger einen 'faschistischen Literaten' zu nennen, der nicht konkret und im einzelnen beweisen kann, was er selber getan hat, um Hitler zu stürzen. Es ist billig, sich nachträglich ein Alibi zu beschaffen, indem man andere, die hervorgetreten sind und nicht geschwiegen haben, als Faschisten beschimpft. Wer so handelt, beweist, daß er nicht zu den Kreisen gehört, die in der Feigheit und Niedertracht des Dritten Reiches die 'Marmorklippen' aufgenommen haben wie einen Regen in der Wüste.“
In diesem schmalen Band in weinrotem Leinen brauchte man 1939 nicht zwischen den Zeilen zu lesen, um ihn als Kampfansage gegen die Diktatur zu begreifen. Reichsleiter Bouhler schrieb an Hitler, Reichs-Philosoph Bäumler drohte dem Verleger.
Die rätselvollen Figuren und Geschehnisse des merkwürdigen Buches fanden mannigfaltige, oft abstruse Deutungen. Der „Oberförster“, der aus seinen Wäldern die alte, blühende Kultur der „Marina“ mit Vernichtung bedroht, identifizierte man bald mit Himmler, bald mit Göring, bald mit Hitler. Jünger schwieg sphinxhaft.
„Der Genius Deutschlands hat begonnen, sich selbst wiederzufinden, angesichts der Katastrophe - das macht Jüngers Buch zu einem Meisterwerk der Weltliteratur“, schrieb die englische Literaturzeitschrift „19th Century and After“.
Es war nicht das erstemal, daß Jünger den Braunen unangenehm auffiel. Schon 1927 hatte er sich von Hitler, der ihn gern als Hofpoeten in seine Dienste genommen hätte, distanziert. Er schlug ein NSDAP-Reichstagsmandat aus. Er lehnte auch eine Berufung in die Dichter-Akademie ab. Dem „Völkischen Beobachter“ verbot er, seine Bücher abzudrucken.
Prompt folgte die erste Haussuchung. Als der Niekisch-Kreis, der getarnt nach 1933 weiterbestanden hatte, 1937 aufflog, blieb Jünger dank der Fürsprache hoher Offiziere in Freiheit. Seine Wohnung wurde viele Wochen hindurch überwacht.
Später hatte Jünger einen besonderen Strauß mit „Grandgoschier“, wie Goebbels in den „Strahlungen“ heißt. Wegen einer Stelle in „Gärten und Straßen“, dem Tagebuch von 1940. Dort heißt es unterm 29. März: „Dann zog ich mich an und las am offenen Fenster den 73. Psalm.“
Es dauerte ein Jahr, bis im Pro-Mi jemand Zeit fand, die Bibelstelle nachzuschlagen und zu lesen: „Denn es verdroß mich der Ruhmredigen, da ich sah, daß es den Gottlosen so wohl ging.“ Und: „Darum fällt ihnen ihr Pöbel zu und laufen ihnen zu mit Haufen wie Wasser.“
Goebbels verlangte, daß Jünger die Stelle in der nächsten Auflage strich. Jünger lehnte ab. Das Buch wurde verboten.
Daß die „Marmorklippen“ ein Buch des Widerstandes seien, lehnt Jünger heute schroff ab. Wohl aber wurde „Der Friede“ Marschall Rommel zugeleitet, wenige Tage bevor er sein Ultimatum an Hitler sandte. Nach dem 20. Juli bewahrten Jünger seine Freunde vor der Verhaftung.
Den „Frieden“ hat Ernst Jünger nachträglich seinem Sohn Ernstel gewidmet, der als Marinehelfer wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ verurteilt, dann zu Frontbewährung begnadigt wurde. Ernstel Jünger fiel 1944. 18 Jahre alt.
Er starb in den Marmorbrüchen von Carrara, dem Idealbild der „Marmorklippen“ „Ein quälender, orakelhafter Zusammenhang, mit dem Ernst Jünger sich nicht abzufinden vermocht hat“, schrieb der Franzose D. Raguenet, der bald nach Kriegsende in Kirchhorst zu Besuch war.
Es gibt viel Besuch im Hause Jünger. Sieben Verehrerinnen und zweieinhalb Journalisten sind in letzter Zeit der tägliche Durchschnitt. Unbekümmert plaudernde Gäste sind dem Hausherrn lieber als die ehrfürchtigen Schweiger. Langatmige Monologe sind seine Sache nicht.
Zuweilen werden Besuchern die Handschriften der Jüngerschen Bücher gezeigt, Manuskripte in sehr zierlicher, fast kalligraphischer Schrift. Das der „Marmorklippen“ ist in kostbarer, in Paris gefertigter goldgeprägter Lederkassette verwahrt.
Unbekannten begegnet Ernst Jünger höflich und reserviert. Der mittelgroße, fast schmächtige Mann in Knickerbockern und buntkarriertem Sporthemd entspricht nicht unbedingt ihren Vorstellungen von einem berühmten Mann.
Andere erfahren, wie Jünger im Gespräch auftaut. Das kann oft sehr schnell gehen. „Erstens hat es mit dem Wetter zu tun, und zweitens kommt es darauf an, ob sie ihm gefallen oder nicht“, kommentiert Dr. Mohler, der wie die Post auch die Besucher vorsortiert. Jünger, nervös, hochsensibel, ist überaus empfindlich gegen Zugluft, grelles Licht, vor allem gegen Radiogeräusche. Der Föhn macht ihm im Alpenvorland zu schaffen.
Ist Jünger guter Dinge, so zeigt er dem Besuch gern seine Käfersammlung. Letzter Stand: 30000 Exemplare. Mit seiner hellen, scharfen Stimme gibt er Erläuterungen. Wenigstens in der Stimmlage hat er es bis zum Major gebracht.
Entomologen schätzen Jüngers Urteil. Hin und wieder schreibt er kleine Aufsätze in Fachblättern, und zu einer Käferkunde, die sein zweiter Verleger Vittorio Klostermann unlängst herausbrachte, steuerte er ein Vorwort bei. Verfasser ist Albert Horion, katholischer Pfarrer in Ueberlingen. Mit ihm geht Jünger gern auf „subtile Jagd“.
Die Insektenbelustigungen pflegt Jünger als eine „hoffmanneske Ecke meiner Welt“ zu bezeichnen.
„Als Abweg aber kann ich das nicht sehen. Es ist das gleiche wie mit meinen Träumen - ich entferne mich da nicht aus meiner Sphäre, sondern ich vertiefe und erweitere sie.“
Philosophie und Zoologie waren Jüngers Hauptstudienfächer in Leipzig. Doch nach einem genußreichen Intermezzo in Professor Dohrns Aquarien in Neapel, ließ Jünger von der hauptamtlich betriebenen Wissenschaft ab, er ließ sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder.
Die naturwissenschaftlichen Studien fanden ihren ersten literarischen Niederschlag in einem ungewöhnlichen Buch, das damals, als Frucht der neugewonnenen Freiheit, langsam heranreifte, unter dem Titel: „Das abenteuerliche Herz.“
Es enthält „Aufzeichnungen bei Tag und Nacht“ oder auch „Figuren und Capriccios“, wie auf dem Vorsatzblatt der zweiten Fassung von 1938 zu lesen ist: Strandstücke und Flugträume, Anmerkungen zum Raskolnikow, zu Don Quijote und Tristram Shandy, Frutti di mare, Historia in nuce, Fliegende Fische, Violette Endivien und Die Tigerlilie, Betrachtungen über die Aprikose und über Grausame Bücher, Blaue Nattern und Das Lied der Maschine.
„Mit alle diesem ist der sehr einfache Vorgang verbunden, den ich das Erstaunen nenne, jene Innigkeit im Aufnehmen der Welt und die große Lust, nach ihr zu greifen wie ein Kind, das eine gläserne Kugel sieht.“
„Es ist das Kennzeichen der Geister erster Ordnung, daß sie im Besitze des Hauptschlüssels sind. So dringen sie, wie Paracelsus mit der Springwurzel begabt, mühelos in die speziellen Kammern ein, sehr zum Aerger der Leute vom Fach, die ihre Registraturen mit einem Schlage außer Kraft gesetzt sehen.“
Das waren Sätze, die bei der Lesergemeinde des Kriegsdichters Kopfschütteln hervorriefen. Der schreibende Soldat war über Nacht zum Schriftsteller geworden, zu einem, der seine nicht geringe Selbsteinschätzung nicht unbedingt unter den Scheffel stellt.
Sehr angetan waren die Sprachkritiker:
„Ernst Jünger gehört zu denen, die unsere ungelenke Sprache zwingen und sie zur Wiedergabe feinster, abstrakter Denkfiguren und plastischer Bilder zu benutzen verstehen. In seinem Buche herrschen die Windstille der Einsamkeit und die Schmiedeglut des Denkens.“
Jünger vermag über das Wörtchen „so“ und seine beiden Buchstaben zeilenlang Betrachtungen anzustellen. Soviel Meditationsbeflissenheit, hier und anderwärts, aber auch die anspruchsvolle Selbstbetrachtung ist für viele Jünger-Leser oder solche, die es zu werden versuchen, ein Knüppel zwischen die Beine.
„Das abenteuerliche Herz“ ist Ernst Jüngers großes Traumbuch. Trotz „Heliopolis“, in dem er schon jahrelang Nacht für Nacht spazieren geht. Den Träumen sind von 24 Stunden zehn vorbehalten, die Nachtseite des Jüngerschen Tagespensums: „Ich arbeite 24 Stunden“, pflegt Jünger denen zu antworten, die auf seine Passion fürs Schlafen anspielen. Von 440 Heliopolis-Seiten sind mindestens 220 aufs Nachtkonto zu setzen.
Tagsüber arbeitet Ernst Jünger gern im Garten. Geist und Körper, meint er, müßten sich gegenseitig aufziehen. Bei ihm habe sich das ganz schön eingependelt.
Adlatus im Garten ist Filius Alexander. Der geht noch zur Schule und wird vom Vater regelmäßig in der sachgerechten Führung eines Tagebuches unterwiesen.
Manchmal fährt er mit dem Autobus in die Alpen auf Kräutersuche. Oder er nimmt, ist das Wetter schön, eine Aktentasche voll Lektüre unter den Arm und ergeht sich in den Anlagen. Nur selten drehen sich Ravensburger Bürger nach ihm um. Ist das Wetter schlecht, geht Jünger auch schon mal ins Kino. „Fabiola“ hat ihm nicht gefallen.
Nicht selten unternehmen Jüngers einen Tagesausflug nach Ueberlingen zu Bruder Friedrich Georg, Dr. jur. und Lyriker und Denker dazu. „F. G.“ ist jedem Jünger-Leser vertraut. Das Verhältnis der beiden Brüder zueinander ist sehr herzlich: sie sind nebeneinander aufgewachsen, haben im gleichen Regiment gedient, haben zusammen die halbe Welt bereist. Sie fachsimpeln häufig in Pflanzen und Käfern. Ein Gemälde von A. Paul Weber zeigt sie beim Schachspiel.
Zum Bodensee bringt Ernst Jünger gern bevorzugte Gäste mit. Dazu gehören zwei Professoren der Rechte, der bedeutende Staatsrechtler Carl Schmitt der eine, Carlo Schmid der andere. Mit SPD's Falstaff stößt Ernst Jünger gern an.
Zu den Stammgästen gehört Dr. Gerhard Nebel aus Wuppertal, Altphilologe, Essayist, Fischfreund und Afrikareisender. Den braucht „Capitano“ Jünger als Katalysator, wenn Neues im Werden ist. „Capitanello“ ist mit Dionysos auf „Du“. Wenn Nebel zu Besuch da ist, dann hallen die Berge wieder von Capitanellos mächtigem Gesang.
Einen „glänzenden Geist“ hat der Capitano ihn in den „Strahlungen“ genannt. Gerhard Nebel interpretierte 1939 in seinem Buch „Feuer und Wasser“ Ernst Jüngers kriegerischen Nihilismus, seine Theologie des Abenteurers und seine Moral des Schmerzes als Erscheinungen ein und derselben elementaren Sehnsucht nach ungebrochener Seinsfülle, als Vorstufen zur Begegnung mit dem Göttlichen. Für diese These fand Nebel in den „Strahlungen“ die schlüssigsten Beweise.
Auf ein Damaskus, meint Nebel, werde man bei Jünger allerdings vergeblich warten. „Ich muß Gott erst beweisen, ehe ich an ihn glaube, den Weg zurückgehen, auf dem ich ihn verließ“, heißt es in den „Strahlungen“. Das „abenteuerliche Herz“ wird sich niemals in der Gewißheit eines Dogmas beruhigen.
Aber das abenteuerliche Herz mochte jetzt vor Anker gehen. Wenn nicht im Dogma, dann wenigstens im Mythos: „Der Schmerz erhöht uns in anderen Regionen, im wahren Vaterland. Es wird uns dort nichts schaden, wenn wir hier in aussichtsloser Lage und auf verlorenem Posten Dienst taten.“ Hier ist kein Raum mehr für ein Damaskus.
Von Gerhard Nebels zwei Bänden italienischer Kriegserinnerungen kam jetzt der erste heraus: „Auf Ausonischer Erde“, im Wuppertaler Marees-Verlag. Den hat sich Peter de Mendelssohn mit der vehementen Contra-Ernst-Jünger-Feder vorgenommen, unter der Ueberschrift „Der Sphinxblick des Capitano“.
Nebel wird, wo „in ihm ein eigener Kerl lebendig“ ist, wohlwollend betrachtet, aber Mendelssohn sieht „das stilisierte Götzenbild des Capitano fast überall“ durchscheinen. Und es „verbreitet eine eisige Kälte, wann immer sein starrer Blick einen trifft“.
Jüngers literarische Pläne liegen vorläufig noch im Dunkeln. Nach dem Erscheinen seiner bisher umfangreichsten Bücher, legte er eine Pause ein. An kleineren Arbeiten ist ein Aufsatz über den Nihilismus um Werden, ein schon lange gehegtes Projekt, das jetzt als Beitrag zur Festschrift für Martin Heidegger verwirklicht werden soll.**)
Ferner sind zwei Erzählungen und eine „Farbenlehre“ geplant. Auch die Briefe sollen gesammelt werden, in einem Brief-Journal, das der Reutlinger Reichl-Verlag herausgeben will.
Den umfangreichen Briefwechsel inspiriert mit zärtlichem Miauen Prinzessin Li-Ping aus Siam, das einzige weibliche Wesen, das den Schreibtisch berühren und sogar betreten darf. An dem äußersten Bücherstapel rechts streicht die exotische Dame mit krummem Rücken vorbei. Obenauf liegt ein blankes feldgraues Heftchen mit der Aufschrift: „Wehrpaß“.
*) Dazu gehört, jeden Donnerstag früh den „SPIEGEL“ links neben die Schreibmappe zu legen. Ernst Jünger bestellte den „SPIEGEL“ einst in Kirchhorst „für die 15 Flüchtlinge bei mir zu Hause“. In „Heliopolis“ hat er den „SPIEGEL“ literaturfähig gemacht: Seite 260, Zeile 9, anläßlich eines Attentats auf Messer Grande: „Nach fünfzig Minuten brachte der “Spiegel„ die ersten Berichte mit dem Nekrolog 'Er gab sein Herzblut'. Trotz aller Routine dieser Herren schien das nur möglich, wenn auch für den Fall des Attentates eine Version im Satz gewesen war.“
**) Als Friedrich Georg Jünger seinem Bruder vor Jahresfrist erklären wollte, was Existenzialismus sei, sagte Ernst: „Ach laß, ich fahre mal zu Heidegger und gehe einen Vormittag mit ihm spazieren.“
SPIEGEL 37/1950
BERTOLT BRECHT

Glotzt nicht so romantisch

„Er wirkt, wenn man ihn so sieht, unscheinbar wie ein Arbeiter, ein Metallarbeiter, doch für einen Arbeiter zu unkräftig, zu grazil, zu wach für einen Bauern, überhaupt zu beweglich für einen Einheimischen, verkrochen und aufmerksam, ein Flüchtling, der schon zahllose Bahnhöfe verlassen hat, zu schüchtern für einen Weltmann, zu erfahren für einen Gelehrten, zu wissend, um nicht ängstlich zu sein, ein Staatenloser, ein Mann mit befristeten Aufenthalten, ein Passant unserer Zeit, ein Mann namens Brecht ...“
So zeichnet - in einem eben bei Suhrkamp erscheinenden Tagebuch*) - der Schweizer Architekt und Schriftsteller Max Frisch das äußere Bild des denkenden, rechnenden Dichters Bert Brecht.
Die rund zwölf Seiten, auf denen Frisch seinen Umgang mit Brecht beschreibt, haben seltenen, dokumentarischen Wert. Ueber die Person Bert Brechts ist kaum etwas veröffentlicht worden. Brecht redet auch im privaten Kreis meistens zur Sache, mit Journalisten redet er möglichst gar nicht.
Max Frisch hat Bert Brecht im Dachgeschoß eines Schweizer Gärtnerhauses besucht, in einem der vielen, vorläufigen Quartiere des Emigranten. Solche Zimmer, die aussahen, als könnten sie binnen weniger Stunden verlassen werden und nichts bliebe zurück, hat der Passant Brecht seit dem Reichstagsbrand 1933 mit seiner Frau Helene Weigel und den beiden Kindern viele belegt:
Nacheinander in Prag, in Wien und in Svendborg (wo ihnen die romanschreibende Frauenverteidigerin Karin Michaelis ein strohgedecktes Häuschen einräumte), in Frankreich, Schweden und Finnland, in Moskau und im kalifornischen Santa Monica.
Brecht, der von den Kapitalsozialisten geächtete Marxist, fühlte sich nicht als Auswanderer, sondern als Verbannter. Er wollte kein Exil zur „neuen Heimat“ verklären:
"Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl!
Warum für vier Tage vorsorgen?
Du kehrst morgen zurück!
..........
Ziehe die Mütze ins Gesicht, wenn die Leute vorbeikommen!
Wozu in einer fremden Grammatik blättern?
Die Nachricht, die dich heimruft
Ist in bekannter Sprache geschrieben."
Die Nachricht kam; etwa zehn Jahre, nachdem das Gedicht sie erwartet hatte. Und erst dreieinhalb Jahre nach der Kapitulation, im Spätherbst 1948, ging Brecht zum ersten Male durch Berliner Ruinen.
Amerikanische Behörden hatten ihm zunächst die Ausreise erschwert. Dann, als Brecht schon in der Schweiz wartete, versperrte eine andere amerikanische Stelle die Einreise nach West-Deutschland. Freund Egon Erwin Kisch, der vom „rasenden Reporter“ zum Bürgermeister von Prag avanciert war, schickte einen tschechischen Paß. Die Russen öffneten und ebneten den Weg nach Ost-Berlin.
Es störte sie nicht, daß Brecht, Ende 1947 wegen unamerikanischen Verhaltens angeklagt, geleugnet hatte, Kommunist zu sein. Brechts vorsichtige und sanfte Antworten überzeugten den amerikanischen Ausschuß davon, daß der Dichter, der wirklich nie Mitglied der KPD war, die deutschen Arbeiter gegen den Faschismus und nicht die Arbeiter der Welt gegen den Kapitalismus aufgerufen habe.
(1934 schrieb Brecht und 1949 druckte es Suhrkamp wieder: „Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden.“)
„Sie haben sich sehr gut aus der Affäre gezogen, viel besser als die anderen. Die sollten sich an ihnen ein Beispiel nehmen“, klopfte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zum Schluß Brecht gleichsam auf die Schulter. Die Sitzung wurde auf eine Wachsplatte aufgenommen. Brecht spielt sie sich noch manchmal vor.
Sie gehört zu den wenigen Gegenständen, die Brecht bis nach Berlin gebracht hat. Eine kleine Schachtel mit Mikrophotos von einigen seiner Arbeiten und ein Schmalfilm von der Aufführung des Gewissensdramas „Galileo Galilei“ mit Charles Laughton auf einer Hollywood-Bühne waren auch im Gepäck.
Brecht steht im neuen Berliner Telefonbuch, ohne Berufsangabe und mit falsch geschriebenem Vornamen, Berthold statt Bertold. Sein Haus in Weißensee ist mit wenigen und hübschen Biedermeiermöbeln eingerichtet und - nicht billig - gemietet. Brechts Auto, ein Steyer-Zweisitzer, wie er ihn schon in den zwanziger Jahren fuhr, ist gekauft.
Die Sowjets wollten Brecht eine beschlagnahmte Villa und einen Prunkwagen stellen. Er bezahlte lieber.
Er verdient auch gern. Der gebräuchliche Vorwurf, er verrate mit der merkantilen Praxis die marxistische Theorie, trifft nicht. Der Marxismus verbietet, Kapital aus der Arbeit anderer zu ziehen. Ein Künstler, der nur seine Produkte vertreibt, darf nach Kräften reich werden.
Vor einiger Zeit prozessierten die Verlage Desch und Kiepenheuer wegen der Rechte am „Dreigroschenroman“. Sie grenzten zum Schluß ihre Verbreitungsgebiete ab und einigten sich darauf, daß besser beide gegen Brecht vorgegangen wären.
Der hatte zweimal verkauft, einmal 1934 an Allert de Lange, Amsterdam, den Kiepenheuer für Deutschland vertritt, und 1948 an Kurt Desch. Die Ostzone beliefert der Aufbau-Verlag mit dem Dreigroschenroman.
„Wenn es um Geld geht, ist der Brecht nicht schüchtern“, sagt sein Schulfreund, der Arzt Dr. Müllereisert. „Er hat den gesunden Erwerbssinn der Schwarzwälder Bauern.“
Aus dem Schwarzwald stammte die Mutter Brechts. „Vom armen B. B.“ handelt das letzte Gedicht in Brechts so weltlicher und ungemütlicher „Hauspostille“:
"Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein,
Als ich in ihrem Leib lag ..."
Das geschah 1898, Brechts Vater war in Augsburg Direktor einer Papierfabrik:
"Ich bin aufgewachsen als Sohn
Wohlhabender Leute. Meine Eltern haben mir
Einen Kragen umgebunden und mich erzogen
In den Gewohnheiten des Bedientwerdens
Und unterrichtet in der Kunst des Befehlens.
Aber
Als ich erwachsen war und um mich sah,
Gefielen mir die Leute meiner Klasse nicht,
Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden.
Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich
Zu den geringen Leuten."
Brecht, Student der Medizin, kam bis zum Physikum. Als Sanitätssoldat des ersten Weltkrieges schrieb er, kaum zwanzigjährig, die „Legende vom toten Soldaten“, die Ballade vom k. v. geschriebenen, begrabenen, wieder ausgegrabenen und marschierenden Krieger. Das wenig wehrfreudige Gedicht trug 1933 zur Ausbürgerung seines Verfassers bei.
Als der Schulfreund Müllereisert sich im Freikorps Epp den Krieg verlängerte, schrieb ihm Brecht: er werde im Falle des Heldentodes nicht am Begräbnis teilnehmen. Nach einer Woche korrigierte er sich: Dummheit sei kein Scheidungsgrund.
Er sehe dem Heldentod seines Freundes nunmehr fassungslos entgegen und werde zum Begräbnis kommen. „Da bin ich ausgetreten aus dem Freikorps“, sagt Müllereisert, der heute nahe dem Kurfürstendamm praktiziert.
In einem Münchener Lokal sang Brecht mit seiner dünnen, hellen Stimme die Legende vom toten Soldaten. Lebende ehemalige Soldaten warfen ihm dafür Biergläser zu.
Manchmal hatte das Lautenspiel angenehmere Folgen. Müllereisert: „90 % seiner Frauen hat er so bekommen.“
Die erste Sammlung von Brecht-Gedichten erschien 1925, ironisch „Hauspostille“ genannt. Sie war kein Handbuch für fromme Philister „zur Seite des wärmenden Ofens“. Diese Balladen von Seeräubern und Abenteurern, vom unschuldigen Elternmörder Jakob Apfelböck und von der rachitischen Kindsmörderin Marie Farrar, von grünem Schnaps und grünen Wasserleichen, klangen trunken und höhnisch zugleich, bitter und gütig. Brecht berichtete von Katastrophen oder sehr traurigen Zuständen und nahm dabei - noch ohne politisches Programm, aber mit lyrischer Gewalt - die Partei der „Mörder, denen viel Leids geschah“, der Armen, der Recht- und Glanzlosen.
Auch Brechts frühe Dramen waren melodischer Bürgerschreck. „Baal“, Dichter, Karussellbesitzer und Holzfäller, wütete in Gesängen, Getränken und Frauen. „Trommeln in der Nacht“ ist sein 1922 mit dem Kleistpreis ausgezeichnetes Stück vom ausgedörrten Heimkehrer Andreas Kragler, dessen Braut einem Geschäftsmann verkuppelt wurde. Die Dialoge sind kühn und ungebärdig, assoziativ verschnörkelt, die Stimmung pessimistisch.
Bei der Premiere in den alten Münchener Kammerspielen Otto Falckenbergs, einem bescheidenen Bumslokal in der Augustenstraße, befahlen Spruchbänder: „Glotzt nicht so romantisch!“ Das war Brechts erster Angriff auf die Verzückung des Publikums, der Kern der später ausgeführten und umstrittenen Theorie vom Illusionen-feindlichen „epischen Theater“.
Brecht sparte nie mit Anweisungen zur Aufnahme seiner Stücke. „Im Dickicht der Städte“, eine Folge mörderischer Geschäfte im Dschungel Chicagos, begleitete er mit dem sportlichen Rat: „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive des Kampfes, sondern beteiligen Sie sich an den menschlichen Einsätzen. Beurteilen Sie unparteiisch die Kampfchancen der Gegner und lenken Sie Ihr Interesse auf das Finish“.
Bei der Münchener Premiere, 1922, - Otto Wernicke kämpfte als malaiischer Holzhändler - wurde die Bühne des Rokokosaales mit Tränengas bombardiert. Der Aufmarsch der Heilsarmee hatte Pietätvolle verwundet.
Dafür fand Brecht bei dieser Inszenierung den kühlen und genauen Regisseur, den er brauchte: Erich Engel, den Gefährten in vielen Theaterschlachten bis heute. Der erste Brecht-Verteidiger und -Erläuterer hatte schon die „Trommeln in der Nacht“ vernommen: Herbert Ihering.
1922, als Ihering den Kleist-Preis zu vergeben hatte, gab er ihn dem jungen Brecht. Später befehdeten Ihering und Alfred Kerr einander ausdauernd in ihren Zeitungen, Ihering für Brecht und Kerr für Hauptmann.
Felix Holländer, lange Chefdramaturg Max Reinhardts, danach Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, bat nach der Lektüre von zwei Brechtdramen Ihering, ihn mit dem Autor zusammenzubringen: „Es sind die einzigen Werke, wo man etwas vom Genie merkt.“
Als Brecht das Direktionszimmer betrat, schoß Holländer los: „Herr Brecht, von nun an wird im Deutschen Theater jedes Jahr die Brecht-Uraufführung sein, was früher die Hauptmann-Uraufführungen waren.“ Später verzankte man sich, denn Holländer wollte Brechts Stücke im Reinhardt-Stil ausmalen, als farbigen Zauber.
Holländer verließ die Direktion, wurde Theater-Kritiker am Acht-Uhr-Abendblatt und verriß alle Brecht-Premieren „Aber Herr Holländer, wer hat denn diese Werke angenommen?“ fragte in der Pause der verbindliche Literarhistoriker Paul Wiegler. „Ich, aber das tut ja nichts zur Sache“, sagte der Rezensent.
Brechts eigener Aufführungsstil wurde zum erstenmal radikal an sein Lustspiel „Mann ist Mann“ gewandt (mit Peter Lorre und unter Brechts Regie). Der Stil der „Verfremdung“, der Distanz der Schauspieler zu ihren Rollen, soll den Zuschauer nicht entrücken, sondern zum Urteilen zwingen.
Brecht inszenierte „Mann ist Mann“, die Geschichte des irischen Packers Galy Gay, als strenges Maskentheater. Keine Mimik sollte vom Vorgang ablenken oder ihn dem Publikum so nahe bringen, daß es miterlebte statt zu werten.
Galy Gay geht in Indien auf den Markt, um einen kleinen Fisch zu kaufen. Er kommt nicht mehr nach Hause, sondern ersetzt der englischen Armee einen unterwegs verlorenen Soldaten. Gay erhält eine Uniform und verliert seinen Namen: Menschenmaterial ist austauschbar.
Wieder kommentierte sich der Autor in eingestreuten Songs und in Zeitungsaufsätzen. Nicht aus Eitelkeit - Brecht ist abenteuerlich uneitel - sondern der Forschung, seiner Soziologie zuliebe. Man möge in Gay „keinen alten Bekannten“ sehen, sondern „eine neue Art von Typ“, bat Brecht. Gay ist der Massenmensch, der, ohne Schaden zu nehmen, ummontiert wird wie ein Auto. Der Packer, der nicht nein sagen konnte, erstarkt in der Masse.
So zäh Brecht seit mehr als 20 Jahren dem Publikum und den Schauspielern seine Methoden und Ziele erläutert, er kann nicht hindern, daß er von wenigen verstanden wird und von vielen mißverstanden. Dabei ist seine Sprache, seit sie expressionistisch ausgestürmt hat, einfach, volkstümlich, fibelhaft, manchmal fast biblisch. Aber Brecht läßt die Ironie höchstens in einigen Novellen und Gedichten aus der Hand, Ironie erreicht die Massen nicht.
Die „Dreigroschenoper“, Spätsommer 1928 im Schiffbauerdamm-Theater, war der Publikumserfolg. Diese Parodie der historischen „Bettleroper“ von John Gay, die ihrerseits wieder die Händel-Oper des 18. Jahrhunderts parodiert, war vorher von vielen Bühnen abgelehnt worden. Noch am Abend der Generalprobe sollten die später so berühmten Songs gestrichen werden. Den Erfolg, erzählt Frau Brecht-Weigel, habe man erst vier Tage nach der Premiere bemerkt. Als die Hotel-Portiers anriefen, für ihre Gäste aus der Provinz.
In dem bürgerlichen Räuber Mackie Messer wollte Brecht den räuberischen Bürger treffen, jeden Bürger. Aber die Kapitalisten im Parkett freuten sich an den geschmeidigen Gangstern und witzigen Huren auf der Bühne und stimmten, der Heuchelei müde, zu, sangen mit:
"Erst kommt das Fressen,
Dann kommt die Moral."
Die Einwender verstanden Brecht so wenig wie die meisten der Applaudierenden, 1928 und 1945. Als die „Dreigroschenoper“ nach Kriegsende wieder in den Spielplänen auftauchte, protestierten katholische Jugendverbände gegen „die Verherrlichung des Bandenunwesens.“
Aber die soziologischen Inhalte hatten spürbar gelitten. Nicht darum, weil, wie die „Sächsische Zeitung“ schrieb, „Erst kommt das Fressen ...“ sich dem neuen Arbeitsethos nicht einfüge. Aber die Berliner Presse fand: „Die Bekenntnisse zu Brechts moralischen Thesen klingen wie leere Posaunenstöße.“
Der Film nach der Dreigroschenoper wurde 1947 in der Ostzone neu aufgeführt und wieder aus dem Verkehr gezogen.
"Ja, mach nur einen Plan