Mein Fahrrad und andere Freunde - Henry Miller - E-Book

Mein Fahrrad und andere Freunde E-Book

Henry Miller

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Beschreibung

Acht Porträts, die aus dem Rahmen fallen. Sieben der liebevoll-spitzfindigen Betrachtungen Henry Millers gelten Weggefährten aus Fleisch und Blut – die achte und zugleich letzte richtete er an sein Fahrrad, das er einem deutschen Sechstagerennfahrer im Madison Square Garden abkaufte.

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Henry Miller

Mein Fahrrad und andere Freunde

Erinnerungsblätter

Biographie

 

 

Aus dem Englischen von Hermann Stiehl

 

Über dieses Buch

Acht Porträts, die aus dem Rahmen fallen.

Sieben der liebevoll-spitzfindigen Betrachtungen Henry Millers gelten Weggefährten aus Fleisch und Blut – die achte und zugleich letzte richtete er an sein Fahrrad, das er einem deutschen Sechstagerennfahrer im Madison Square Garden abkaufte.

Vita

Henry Miller, der am 26. Dezember 1891 in New York geborene deutschstämmige Außenseiter der modernen amerikanischen Literatur, wuchs in Brooklyn auf. Die Dreißiger Jahre verbrachte Miller im Kreis der «American Exiles» in Paris. Sein erstes größeres Werk, das vielumstrittene «Wendekreis des Krebses», wurde – dank des Wagemuts eines Pariser Verlegers – erstmals 1934 in englischer Sprache herausgegeben. In den USA zog die Veröffentlichung eine Reihe von Prozessen nach sich; erst viel später wurde das Buch in den literarischen Kanon aufgenommen. Henry Miller starb am 7. Juni 1980 in Pacific Palisades, Kalifornien.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel «My Bike and Other Friends» bei Capra Press, Santa Barbara.

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 1982 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«My Bike and Other Friends» Copyright © 1978 by Henry Miller

Fotonachweise: Emil White (William Webb), Ephraim Doner (Pat Pence), Jack Garfein und Henry Miller (Capra Press). Alle anderen Fotos stammen aus dem Privatbesitz von Henry Miller.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Umschlag-Konzept any.way, Hamburg

Barbara Hanke/Heidi Sorg/Cordula Schmidt

Coverabbildung iStock/Gettyimages/subjob

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00588-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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1Harolde Ross

Harolde Ross im Jahre 1918

Es war die Zeit Freuds und des Schwarms von Neurosen, den er auf die Welt losließ. Jetzt wissen wir, was wirklich in dieser Pandorabüchse gesteckt hat.

Ich spreche von der Zeit zwischen 1910 und 1924. Was war das für eine herrliche, aufregende Epoche. Keine Drogen, keine Hippies; allenfalls versoffene Künstler und Gauner.

Es war die Zeit der großartigen Stummfilme mit vielen berühmten Stars aller Klassen. Chaplin und Greta Garbo stehen in der vordersten Reihe. Sie sind unsterblich, wie vielleicht auch einige andere von den ganz großen Schauspielern.

Es war auch die Zeit des Ersten Weltkriegs, eines der schrecklichsten Kriege, die je ausgetragen wurden. Man braucht nur den Namen Verdun zu erwähnen, um ihn wieder zu erleben. Niemandsland – ein Streifen zwischen den Fronten, der mit Leichen angefüllt war, so daß die einen wie die anderen beim Angriff zuerst über die toten Körper ihrer gefallenen Kameraden hinwegklettern mußten. (Aber in der Antike gab es schon die Schlacht von Platää, in der zwischen Morgengrauen und Mitternacht im Kampf Mann gegen Mann hunderttausend Krieger hingeschlachtet wurden.)

Es blieb gerade Zeit, einen flüchtigen Eindruck von Eleonora Duse und Sarah Bernhardt zu bekommen und von Mei lan Fang, dem berühmten chinesischen Mimen, der Frauenrollen besser spielen konnte, als dies Frauen vermochten.

Mittendrin begegnete ich einem ungewöhnlichen Menschen aus Blue Earth, Minnesota: Harolde Ross, Pianist, Musiklehrer, später auch Kapellmeister. Er kannte meine Frau, ehe ich sie noch kennenlernte. Er trug immer eine Notenmappe bei sich; auf dem Nachhauseweg las er die Musik von Brahms, Beethoven oder Skrjabin, so wie andere Leute Bücher lesen.

Er sah immer aus wie aus dem Ei gepellt, das Gesicht rot vom Schrubben mit Seife und Wasser. Noch nicht so ganz trocken hinter den Ohren. Das Inbild des Enthusiasmus. Immer etwas Interessantes auf Lager – vielleicht etwas über Nijinskij, über Dreisers letzten Roman, über die neueste Erwerbung der Met. Nie etwas über Box- oder Ringkämpfe oder Sechstagerennen. Zu solchen Ereignissen ging ich allein oder mit einem meiner «gewöhnlichen» Kumpels, wie sie in der Regel genannt wurden. Soviel ich mich erinnern kann, hat er mich auch nie in die Oper begleitet.

Als ich während des Krieges im Schneidergeschäft meines Vaters arbeitete, lernte ich einen älteren Herrn kennen, der mich gut leiden konnte. Er hieß Alfred Pach und war zusammen mit seinen Brüdern im Fotografen-Business tätig. Sie rühmten sich, von Lincoln ab alle Präsidenten der USA fotografiert zu haben. Alfred Pach war ein Exzentriker. Er wollte mit Geld nichts zu tun haben und befriedigte deshalb seine Bedürfnisse auf Tauschhandelsbasis. Er tauschte sogar Fotos gegen die maßgeschneiderten Anzüge und eleganten Westen, die er von meinem Vater bekam.

Eines Tages erzählte ich ihm zufällig, daß ich am Abend in die Met gehen würde, um Caruso und Amato zu hören. Ich sagte ihm, daß ich mich würde anstellen müssen, um eine Karte zu bekommen – was ich oft tat, und gewöhnlich mit leerem Magen. Dies führte zu einem lebhaften Gespräch über Musik. Als er erfuhr, daß ich seit zehn Jahren Klavier spielte, war er begeistert. Es stellte sich heraus, daß dieser gute alte Herr Freikarten für Opernaufführungen und Klavierkonzerte und fast alle anderen musikalischen Ereignisse bekommen konnte. Auf diese Weise sah ich Nijinskij mit seinem berühmten Ballett, ohne mir recht bewußt zu sein, welch ungewöhnliches Schauspiel sich mir da bot. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß ich die Freundlichkeit des alten Herrn voll ausnutzte. Die Berühmtheiten, die ich damals sah und hörte! Paderewski, Toscanini, Pablo Casals, Jan Kubelik, Alfred Cartot, John McCormack, Schumann-Heink, Mary Garden, Geraldine Farrar, Tetrazzini und noch andere mehr. Der einzige große Künstler, den ich nicht sehen, aber doch auf Platten hören konnte, war Sirota, der jüdische Kantor. Welch herrliche Augenblicke verbrachte ich allein mit ihm in unserer Leichenhalle, als ich ebenso total wie unglücklich in Una Gifford verliebt war. Noch heute kommen mir, wenn ich seine Stimme höre, die Tränen. Vielleicht die einzige Vokalmusik, die ich der seinen an die Seite stellen könnte, ist Tristan und Isolde, vor allem der Liebestod.

Für mich war die Oper das Nonplusultra, obwohl man das Zeitalter des Jazz schrieb und in der Roseland Dance Hall und im Small oben in Harlem immer etwas los war. Doch um auf Harolde Ross zurückzukommen … Als Eröffnung kam immer Percy Graingers Country Gardens. Trotz der vielen guten Musik, die ich gehört habe, ist mir diese Melodie im Gedächtnis geblieben. Ihn spielen zu hören, mit seinem ganzen Elan, war wie vor der Flagge zu salutieren.

Wenn er nach New York kam, mußte er immer seinen Freund Ostergren besuchen, der mich in das Werk von Knut Hamsun einführte, dessen Name mir damals unbekannt war. Von norwegischer Abstammung, wies mich Ostergren auf einige der gröbsten Fehler in der englischen Übersetzung hin … (oder bilde ich mir das alles nur ein?). Ganz gewiß weiß ich, daß Hamsuns erstes Buch, das ich je gelesen habe (Hunger), meine Frau mir in die Manteltasche steckte, als ich in Rochester einen Zug nach New York bestieg.

Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, erscheint mir New York als eine sehr zivilisierte Gegend. Es hatte alles – es hatte sogar Elektrizität in der Luft. Das wußte Harolde Ross besonders zu schätzen, wo er doch aus Blue Earth kam. Mich andererseits dünkte Blue Earth eine faszinierende Gegend, vielleicht nur wegen des Namens.

Es war die Zeit des Stummfilms – Laurel und Hardy etc. und der Wurlitzer-Orgel! Politische Führer sind nie Führer. Was Führerpersönlichkeiten betrifft, müssen wir nach den Erweckern Ausschau halten! Laotse, Buddha, Sokrates, Jesus, Milarepa, Gurdjiew, Krishnamurti.

Marie Corelli brachte Männer wie Frauen zum Schweigen! 101%ige Christin – eine Fanatikerin. Unter dem archaischen Stil verbarg sich eine Aussage von Bedeutung. Was tut's, ob sie zeitgemäß war oder nicht? Sie war jenseits der «Zeit». Sie schrieb aus dem Innersten heraus, was immer Anklang findet.

Aber kommen wir zur Musik zurück. Ich entdeckte eine Liste aller Musiker, die ich damals gehört hatte. Eine klassische Liste, irgendwie paßt sie zu meinen Tagen des Hungers und Nächten der imaginären Liebe. Ich stelle fest, daß ich Paderewski übersehen hatte. Wie konnte ich nur! Und wenn ich noch dazu daran denke, daß während meiner dritten Ehe meine polnische Frau ihm in einem Städtchen in New Jersey eine kleine Rede hielt, weil ihr Vater ein großer polnischer Patriot war. Dann war da der großartige John McCormack, der Tenor, der die Liebe aller gewann, die ihn hörten. Bei der Silberhochzeit meiner Eltern legte ich, statt mich ans Klavier zu setzen, eine seiner Platten (Mother Machree) auf.

Die Tatsache, daß meine damalige Frau Pianistin war und Klavierstunden gab (ich war einer ihrer Schüler), hatte nichts mit meinem Verlangen nach Musik, guter wie schlechter, zu tun. An einem Abend war ich in der Oper, am nächsten in der Roseland Dance Hall und geriet bei den Rhythmen von Fletcher Hendersons Band in Ekstase. An einem Abend war ich ganz Toscanini, am nächsten sah ich mir einen Ringkampf an (gewöhnlich dann, wenn einer meiner Favoriten auf dem Programm stand – Jim Londos, zum Beispiel, oder Earl Caddock, der Mann mit den tausend Griffen). An diesem heutigen Abend (1977) werde ich vor dem Fernsehapparat sitzen und mir die Ringkämpfe ansehen und inbrünstig hoffen, daß Mil Mascaras es den anderen zeigt.

Die Zeit, von der ich spreche, war auch die große Zeit des Stummfilms. Außer Greta Garbo sah man Stars wie Nazinova, Olga Petrovna, Anna C. Nillson, Marie Doro, Alice Brady, Clara Kimball Young, um nur einige wenige zu nennen. Auf der Bühne waren andere Stars zu sehen: Jeanne Eagels, Minnie Maddern Fiske, Leonore Ulric, Mrs. Leslie Carter und zahllose andere. Es war immer etwas los. Der Erste Weltkrieg hat das alles verändert. Seitdem war die Welt nie wieder so wie früher.

Damals lernte Harolde Ross Französisch, eine Sprache, von der ich kein Wort verstand. Während dieser Zeit war ich Personalchef der Botenzentrale der Western Union Telegraph Company. Eines Tages brachte mir die Post ein Manuskript von Harolde Ross. Er hatte einen Roman mit dem Titel Batouala von einem Autor namens René Maran für mich übersetzt. (Ich las damals, in englischer Übersetzung, Autoren wie Anatole France, Pierre Loti, André Gide und so weiter.) Ahnte ich vielleicht schon, daß ich bald lange Zeit in Frankreich zubringen würde?

Elsie Ferguson und Elsie Janus waren die beiden Schauspielerinnen, für die ich mich damals am meisten interessierte. Harolde nahm oft meine Frau mit in die Oper oder ins Konzert. Er hatte einen ausgezeichneten Geschmack, und wir redeten stundenlang über die Autoren, die Stücke, die Musiker, die uns gefielen. Es war nicht wie heute, wo man ganz allein ein Buch verschlingt und es am nächsten Tag in den Papierkorb wirft. Nein, Männer wie Dostojewski, Hamsun, Jack London bedeuteten uns etwas. Sie waren Teil unserer täglichen Gedanken – wir lebten mit ihnen. Und so war es auch mit bestimmten Schauspielern, ob berühmten oder weniger berühmten. Unvergeßlich blieben uns Emil Jannings (vor allem in Der letzte Mann), David Belasco, Sessue Hayakawa, Holbrook Blinn, Anna Held, Fritzi Scheff, Pauline Frederick. Dann war da die Theatre Guild, ins Leben gerufen von den Washington Square Players. Welch herrliche ausländische Stücke, nach denen wir so sehr dürsteten. Andrejew, Tolstoj, Gogol, Georg Kaiser. «Gas I» und «Gas II» etc., etc.

Und mitten in das hinein kommt die russische Revolution. LENIN. Aus mit Fürst Kropotkin und den Anarchisten. Jetzt ist es Trotzki, den ich oft in einer Teestube auf der Second Avenue, N.Y., sah. Jetzt geht wirklich alles durcheinander. Die Zukunft ist prekär, gelinde ausgedrückt. Unsere guten Schriftsteller wie Theodor Dreiser, Sherwood Anderson, Eugene O'Neill scheinen plötzlich aus dem Bewußtsein verschwunden zu sein. Wir lesen russische Romanciers – neue, hervorgebracht durch die kommunistische Revolution. In China war Sun Yat Sen groß in Mode gekommen, und mein Freund Bennie Bufano wird ihn besuchen, zurückkommen und eine Statue von ihm machen, die irgendwo an einem vorteilhaften Platz in San Francisco aufgestellt werden soll. Bennie, der Wunderknabe aus der Sullivan Street, New York. Nur einen Cent in der Tasche und streift in der Welt herum.

Etwa um diese Zeit war es mit den Sechstagerennen aus. Übrigens kann ich mich nicht erinnern, daß Harolde mich je zu einer Sportveranstaltung begleitet hat. Er war darauf nicht so verrückt wie ich – ich fuhr auch nach Staten Island, um mir anzusehen, wie sich der Mittelgewichtler Stanley Ketchel im Training unter freiem Himmel auf seinen Kampf mit Jack Johnson vorbereitete. Mir kam nie in den Sinn, ihn zum Mitkommen aufzufordern. Ich akzeptierte ihn so, wie er war, und er tat das gleiche. (Eine gute Praxis für eine Ehe oder Freundschaft!)

Jedesmal wenn er nach Blue Earth zurückgefahren war, bekam ich einen ganzen Schwall Briefe von ihm, immer auf dem gleichen gelben Papier. (Das erinnert mich an die Leinwandstücke, die Stieglitz John Marin schenkte und mit denen der Maler sein Leben lang auskam.)

Während dieser Zeit war H.L. Mencken so etwas wie ein Gott für uns. Mencken und Bernard Shaw. Es war bei uns «Intellektuellen» Mode, alles Amerikanische als lächerlich abzutun. Mencken hatte selber eine ganze Liste pejorativer Ausdrücke geprägt, um den amerikanischen Tölpel zu charakterisieren. Aber er hatte auch ein großartiges Buch, The American Language, geschrieben. Jahre später, nach meiner Rückkehr aus Frankreich, rief mich im Royalton Hotel jemand an. Es war Mencken, der anfragte, ob er mich ein paar Minuten sprechen könne. Er war sehr freundlich und zuvorkommend. Er hatte gegen das Verbot meiner Bücher protestiert, sagte er mir. Er fand sehr schmeichelhafte Worte für mich und ließ mich in einem Zustand der Verwirrung zurück, da ich Lob von meinen amerikanischen Literaturkritikern nicht gewohnt war.

Es war die Zeit des Hippodrome und des Prozesses der Evelyn Nesbitt. Ja, und von Pelléas und Mélisande, von Mary Garden in Thais, Gadski als Brunhilde, von Schumann-Heink, Frank Kramer, dem Radrennfahrer. Da waren auch solche Berühmtheiten wie Ben Ami, der aus der Bowery kam, um in der Theatre Guild zu spielen. Aus Rußland kam nicht nur Nijinskij, es kamen auch Boris Godunow und Nastasja Filipowna, aus Dostojewskis Der Idiot. Da war auch, außer Eleonora Duse, der unsterbliche Pablo Casals. Es war auch die Zeit des Luftschiffs, des «Graf Zeppelin», der an seinem Hangar in Flammen aufging. Neben John Drew, einem Liebling der Theaterbesucherinnen, gab es Männer wie Rudolph Valentino, Sir Thomas Lipton und die Yachtregatten. Und Lillian Russell und ihr Liebhaber, der Mann mit den zwei Mägen – Diamond Jim Brady.

Es gab auch Schriftstellerinnen wie Edna Ferber und Fanny Hurst. Und noch eine Handvoll Leute, die Marie Corelli gelesen hatten. Und es gab, nicht zuletzt, die Houston Street Burlesk. (Ich sehe noch das Gesicht des Kapellmeisters mit dem roten Haar vor mir, der so berauschend Klavier spielte.) Dann war da noch die berühmte Armory Show, wo Marcel Duchamp seinen «Akt, eine Treppe herabsteigend» ausstellte.

Mein Vater hatte noch nicht angefangen, mit dem großen Jack Barrymore auf Kneipentournee zu gehen, aber es sollte nicht mehr lange dauern. Und von Barrymore selbst sollte ich später erfahren, was für ein wunderbarer Gefährte mein Vater war, obwohl er un inculte war, wie die Franzosen sagen würden.

Wenn ich so daran denke, dann gab es damals in New York unglaublich schöne Frauen. Sie kamen aus allen Ländern. Eine große Gestalt darf ich nicht vergessen – Rabindranath Tagore, ein Mann, der vielleicht noch mehr verehrt und diskutiert wurde als Krishnamurti. Ich mußte ihn mir in der Carnegie Hall anhören, kurz nach seinem Eintreffen in Amerika. Diesmal begleitete mich Harolde, denn auch er war ein Verehrer von Tagore. Welche Enttäuschung! Der Vortrag bestand in der Hauptsache aus einer Verdammung Amerikas, vorgebracht in einer pfeifenden, jammernden Stimme, die seine Worte zu einem einzigen langen Klagelied zusammenfließen ließ. Uns war elend zumute, als wir unser Idol dergestalt zu Ton erstarren sahen. Doch mit den Jahren, die seitdem vergangen sind, ist meine Hochachtung und Bewunderung für Tagore noch gewachsen. Was er innerhalb der Spanne eines Lebens schrieb und vollbrachte, ist unbestritten außergewöhnlich.

Und wie kann ich je den Tag vergessen, an dem Charles Lindbergh mit seinem Eindecker den Atlantik überflog, und die ganze Welt, den Atem anhaltend, dabei war! Wirklich ein Tag, den man im Kalender der amerikanischen Geschichte rot anstreichen kann.

Und was wurde aus meinem lieben Freund in dieser Zeit? Zunächst einmal zog er von Blue Earth nach Rochester, Minnesota, wo er weiter als Klavierlehrer und Leiter eines kleinen Orchesters tätig war. Und er schreibt mir auch weiter Briefe auf dem gleichen gelben Briefpapier. Heute ist er dort in einem Altersheim, aber er hat ein Klavier in seinem Zimmer. Er sagt nie, was ihm zu schaffen macht – ich nehme an, es ist das Alter, genau wie bei meiner Wenigkeit.

Er war oder ist noch ein bis in die Fingerspitzen gebildeter Autodidakt, der doch sein ganzes Leben in der hintersten Provinz zugebracht hat. Was wir gemeinsam erlebten ist unvergeßlich. Er hat mein Leben unauslöschlich bereichert. Ich frage mich manchmal, ob er noch immer Percy Graingers Country Gardens spielt.

2Bezalel Schatz

In Big Sur, etwa 1950.

Von oben nach unten: Henry Miller, Bezalel Schatz und Henry Millers Tochter Valentine