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Das blaue Meer schlägt in sanften, gleichmäßigen Wellen an den feinen, flach abfallenden Sandstrand. Die neugierigen Schaulustigen starren, während die entschlossene Insel-Polizei den Fundort konsequent absichert. José García fragt mich wiederholt nach meiner Meinung oder Einschätzung. Innerlich verlangt es mich nach der achten Zigarette. Etwas Böses hat hier seine grauenvolle Tat vollbracht. An einem der schönsten Strände von Multikulti. Und es ist auf freiem Fuß. Ich schaue in die toten Augen dieses verunstalteten Unbekannten und denke permanent an die unheilvollen Worte meiner Großmutter: »Etwas atmet mich an!«
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Seitenzahl: 339
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sabine und Thomas Benda
Mercedes: Die Leichenaufschneiderin
Ein utopischer Thriller voller Spannung, Dramatik und Überraschungen.
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Mercedes:
1. Ich bin kein teures Auto!
2. Die Stille nach dem Zuschlagen der Kühlfachtür
3. Cosmopolitans
4. Mein großer Auftritt
5. Ypsilon
6. Ich habe ihn bei mir
7. Wenn der Schwefel stinkt
8. Drei Deutsche
9. Lassen Sie uns kurz über Sex reden
10. Düfte unterm Sternenhimmel
11. Was die Leichenaufschneiderin zu Hause erwartet
12. Der Traum
13. Frühstück
14. Wenn man nichts in der Hand hat – nicht mal den Spatz!
15. Rede mit mir, Nummer fünf!
16. Cruz, du bist an der Reihe!
17. Kurz noch, bevor ich mit dem Psycho-Doc rede
18. Die Hausaufgabe
19. Einsam
20. Beichtgelegenheit
21. Wer zu dicht am Haus steht, der kann das Dach nicht sehen
22. Gerardo
23. Consuela ... wenn ich die nicht hätte
24. Maria ... wenn ich die nicht hätte
25. Die Vogelkacke, der Rosenkranz und der Kurierdienst
26. Die Witwe und der Witwer
27. Der Kerker, der Scheiterhaufen und die blutigen Schlangen
28. Schnüffelei und Friedrich Schiller
29. Paco ... wenn ich den nicht hätte
30. Transfleur Exotic
31. Politisches Allerlei und Abendessen unter Ausländern
32. Keine Angst, wir wollen nur spielen!
33. Hallo, alle noch wach?
34. Schneidet ihr uns bitte mal ab!
35. Kurz, hart und rücksichtslos
36. Ich, die Mutanten-Drecksau
37. Das Kennenlernen nach dem Fick
38. Noch nie so sehr geliebt
39. Nachtgedanken
40. Das Gedicht – und total verknallt!
41. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!
42. Wenn ein Mann zu einem Arschloch mutiert
43. Unter der City
44. José … wenn ich den nicht hätte
45. Es gibt interessantere Gerüche
46. Der Vorteil des Nachteils
47. Parkhaus, Parkhaus – Aus die Maus!
48. Sakoi Petri, mein Dealer
49. Mehr als Bettgeflüster
50. Eine heiße Spur
51. Elendig!
52. Blut wird fließen ... ganz sicher!
53. Fünf Buchstaben
54. Die Alte mit dem Weidenkorb
55. Klina
56. Die Wahrheit
57. Im Aroma-Raum
58. Ich muss sie überzeugen!
59. Letzte Worte
Impressum neobooks
Die Leichenaufschneiderin
Utopie/Drama
Sabine & Thomas Benda
IMPRESSUM
© 2025 Sabine Benda, Thomas Benda
Korrektorat/Lektorat: Sabine Benda
Coverdesign: Sabine Benda
Sabine und Thomas Benda
Josef-Schemmerl-Gasse 16
A-2353 Guntramsdorf
E-Mail: [email protected]
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Hinweis der Autoren: Unsere Bücher sind nur für Erwachsene geeignet!
05.06.2025
Die Insel Multikulti (ehemals Mallorca), im Südmeer von New Europe (das ehemalige Mittelmeer Alt-Europas)
Es gibt Tage in meinem Leben, an denen wünsche ich mir, ich hätte mein Berufsziel vor über zehn Jahren gründlicher überdacht. Heute, an diesem 19. September, ist so ein Tag. An diesem sonnig-warmen Morgen stecke ich mir meine siebte Zigarette an, obwohl mir, einer 35-jährigen Akademikerin, durchaus bewusst ist, dass dieses Laster Krankheiten fördert, die mitunter einen tödlichen Verlauf nehmen können. Ja, ich bin unvernünftig, und ja, ich habe meine menschlichen Schwächen – und Rauchen von krebserregendem Tabak gehört dazu! E-Zigaretten, wie sie seit Jahrzehnten Lutscher-artig angeboten werden, sind mir nicht ursprünglich genug. Ich liebe das Klassische und hin und wieder das Konservative, obwohl ich eine sehr moderne Frau bin. Tabakrauchen: Ja, das ist klassisch … und klassisch dumm, weil es nicht die Gesundheit fördert und nicht die Lebenserwartung verlängert, sondern die scharfe Sense des Schnitters liebkost. Tabakrauchen: Es ist scheiße, aber ich muss es einfach tun! Müssen? Nun ja, das sage ich auch hin und wieder über meine Tätigkeit, meinen Beruf, der eher eine wahre Berufung ist. Einer muss es machen! Und ich mache die Sache sehr gründlich, was andere Menschen wohl zum Gaffen oder Kotzen bringt. Laut meinem Vorgesetzten José García mache ich meinen Job schlicht hervorragend! Nun ist der glatzköpfige José mit seinem gepflegten Oberlippenbart nicht leicht zu beeindrucken. Als Leiter des Instituts für Rechtsmedizin auf unserer wunderschönen Insel Multikulti hat er wohl in den letzten gefühlten 300 Jahren Dienstzeit alles gesehen, was man sich nur vorstellen kann. Zudem kann er sich erfrischend nüchtern und beachtenswert schnell ein Urteil über Menschen und Situationen bilden.
Während an diesem Freitag mein Feuerzeug bereits zum siebten Mal aufflammt, wird mir einmal mehr bewusst, wie sehr ich diesem Mann und seiner gewissen, fast schon stoischen Gelassenheit vertraue. Dass es dazu gekommen ist, grenzt schon an ein mittelprächtiges Wunder! Sie fragen sich sicherlich, warum, oder? Nun, ich werde es Ihnen erzählen: Als ich damals, als unerfahrene Berufsanfängerin, auf José García traf, faszinierte mich dieser markante Kerl mit seinen tadellosen Manieren so sehr, dass ich unbedingt mit ihm ficken wollte! Nein, ich musste mit ihm ficken! Ja, und da ist es schon wieder – dieses Wort: müssen! Der Altersunterschied von 15 Jahren zwischen José und mir hat mich nicht gestört. Ich erwischte ihn in einer schwachen Stunde und verführte ihn in einem einsamen Aktenraum im Keller unserer Behörde. Er spritzte heiß auf meine vollen Titten und bereute es bereits, als er seine Anzughose hochzog. Erst viel später begriff ich, wer José wirklich ist, welche Prinzipien er eisern vertritt und wie sehr er dieses sexuelle Vergehen noch heute bereut. Ich war damals naiv und geil und beschäftigte mich noch nicht mit dem Glauben. José änderte dies im Laufe der Jahre, so wie er immer wieder viel Gutes in mir bewirkt hat. Seine Ehe ist – Gott sei Dank – durch diese einmalige Aktion im Keller nicht in Gefahr geraten! Erst viel später habe ich Maria, seine Frau, auf einer Weihnachtsfeier kennengelernt. Sie kannte die Wahrheit und hatte dennoch diesen warmen, fast schon sanften und aufrichtigen Blick für mich übrig. Ich habe noch nie ein so alles verzehrendes Gefühl der Reue in meinem Herzen verspürt wie an diesem Weihnachtsfest. Das Wunder an der Geschichte? Wir wurden in den folgenden Jahren Freunde. Nicht nur José und ich – sondern José, Maria und ich! Maria ist die beste Freundin, die ich mir vorstellen kann.
Es gibt natürlich noch Consuela, aber davon werde ich Ihnen später in der Geschichte erzählen.
»Mercedes!« Eine fordernde Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Bevor Sie sich wundern, muss ich Ihnen gestehen: Ja, ich wurde tatsächlich auf diesen Namen getauft! Mercedes ist immer noch einer der beliebtesten weiblichen Vornamen spanischer Herkunft. Aber die richtige Aussprache beherrschen nur spanischsprachige Menschen phonetisch perfekt! Die deutschen Touristen, die unsere schöne multikulturelle Insel Tag für Tag besuchen, scheinen es nie richtig hinzubekommen! Und zur Erinnerung: Ich bin kein teures Auto, ganz ehrlich! Außerdem hat ein PS-starker Mercedes nur eine Hupe, und ich habe zwei! Ja, der Witz war flach, aber ich kann nicht anders, ich muss!
Kurz zu unserer Insel Multikulti: Ja, unser Eiland heißt wirklich so! Dies ist definitiv kein Scherz von mir! Die Einwohner nennen sich ebenfalls Multikulti – sowohl im Singular als auch im Plural, unabhängig davon, ob Schwanz oder Schlitz! Verzeihen Sie mir bitte das Vulgäre – manchmal geht es mit mir durch! Ich schiebe das dann immer gerne auf meinen derben Beruf!
»Mercedes!«, dringt die vertraute Stimme meines Vorgesetzten wieder an mein Ohr.
Ich blicke den langen, feinsandigen Nacimiento Beach entlang. José steigt über das Polizei-Absperrband und läuft mit großen Schritten auf mich zu. Ich winke ihm und schenke ihm ein entschuldigendes Freundschaftslächeln.
»Du bist spät dran!«, raunzt er. »Und dann noch Zeit für eine Zigarette?« Er hat recht – wie immer! Ich schnippe die Zigarette Richtung Meer und erzähle ihm kurz von meiner schlechten Nacht. Er quittiert meine wahrheitsgemäße Geschichte mit dem kurz angebundenen Klartext: »Komm mit!«
Ich nehme meine braune Ledertasche, schultere sie schnell und folge José, der mich sofort informiert. Ich finde, es ist nun an der Zeit, dass ich mich Ihnen kurz vorstelle. Meinen Vornamen kennen Sie ja bereits. Die Kelleraktion mit José habe ich Ihnen zu Beginn gebeichtet. Abschließend habe ich von der wunderbaren Freundschaft zwischen José García, seiner Frau Maria und mir berichtet. Nun sollten Sie noch ein paar persönliche Einzelheiten über mich erfahren – einiges davon haben Sie sich sicherlich schon gedacht!
Ich heiße Mercedes Cruz Jiménez. Und nein, ich habe nichts mit der Pop-Diva Lena Elena Cruz zu tun, die gerade die internationalen Charts stürmt! Außerdem sehe ich um Klassen besser aus – na ja, zumindest aus der Ferne! Bitte schauen Sie amüsiert! Das war ein Witz! Warum ich mit Ihnen sprechen kann? Das war eine Idee der Autoren Sabine und Thomas Benda! Gewöhnen Sie sich schon mal daran. So läuft es hier!
Die Vormittagssonne steht schon hoch über dem Meer, als wir uns der Stelle nähern. Dort herrscht die übliche Routine. Emsige Polizisten, sogenannte Guardians, versuchen, Neugierige und Reporter hinter die Absperrbänder zu verweisen. Ein Fotograf unserer Behörde (er heißt wirklich Manuel!) macht hektisch die ersten Bilder vom Geschehen. Einige Schaulustige halten ihre Com-Phones in die Höhe, um Bildmaterial für das Internet zu ergattern. Für mich sind sie moderne Leichenfledderer unserer Mediengesellschaft!
Bitte halten Sie mich nicht für konservativ! Ja, ich besitze auch ein Com-Phone – und ich liebe Selfies! Aber in erster Linie bin ich Medizinerin. Als Doktorin der hiesigen Gerichtsmedizin finde ich, dass man einem lebenden oder toten Menschen mit Würde und Respekt begegnen muss und ihn nicht als Schauwert fotografieren und im verfickten öffentlichen Netz zum Anklicken hochladen sollte.
Alejandro, einer der robusteren Guardians, gestikuliert streng mit seinem Schlagstock und beeindruckt mit dieser unverblümten Geste einige Gaffer. Die dreimal wöchentlichen Fitnessstudio-Trainings machen sich bei ihm bezahlt, stelle ich im Vorbeigehen fest. Und natürlich ist er verheiratet, also kein Beutetier mehr für mich! Lecker sieht er trotzdem aus! Endlich sind José und ich am Fundort angekommen. Manuel kommt uns mit seiner Kamera entgegen.
»Guten Morgen, Mercedes! So etwas hast du noch nicht gesehen!«
Was soll ich sagen? Er hat recht!
Gerüche gehören zu meinem Geschäft. Jeder, der schon einmal den Geruch eines verstorbenen Tiers wahrgenommen hat, wird niemals die Erinnerung daran vergessen. Doch der Verwesungsgeruch hier ist anders. So intensiv, dass sich sensiblere Gemüter sofort übergeben müssen. Die Leiche oder das, was von ihr zu identifizieren ist, liegt auf dem Rücken. Die bemitleidenswerten Überreste sind angezogen, sogar die Turnschuhe sind an den Füßen. Erste Insekten haben sich um den Körper versammelt und freuen sich sicherlich in der inseltypischen Septemberhitze auf einen leckeren Leichenschmaus. Austretende Körpersäfte haben sich auf der braunen Haut gebildet und sind hier und da zu klebrigen und schmierigen Stellen geworden. Summende Fliegen tummeln sich dort, angelockt von Süße und Fäulnis. Die Haut der Leiche ist an einigen Stellen extrem braun, fast wie ausgetrocknet, geradezu pergamentartig dünn, sodass die Knochen durchscheinen. Das weiße T-Shirt einer Nobelmarke ist zerrissen, darunter zeigt sich der aufgeplatzte Unterleib. Unzählige Insekten laben sich an Dünn- und Dickdarm. Die weit aufgerissenen Augen der Leiche starren mich entsetzt und ängstlich an. Der Mund ist zu einem dauerhaften Schrei geöffnet, den niemand mehr hören kann. Der Gestank und das Summen nehmen scheinbar sekündlich zu.
»Was meinst du?«, fragt mich José knapp und reicht mir einen weißen Mundschutz mit Gummiband.
»Ich brauche eine Zigarette«, antworte ich ruhig und blicke konzentriert in die Augen der Leiche, als ob ich darin eine Antwort finden könnte. Kennen Sie das auch? Dieses Kribbeln, dieses Gefühl des Unbehagens im Bauchraum? Meine Großmutter mütterlicherseits nannte dies immer sehr poetisch den Atem des Bösen. Manchmal sagte sie uns Kindern auch nur: »Etwas atmet mich an!« Ich denke, Sie kennen dieses Gefühl auch. Selbst die Rationalen unter Ihnen kennen es!
Das blaue Meer schlägt in sanften, gleichmäßigen Wellen an den feinen, flach abfallenden Sandstrand. Die neugierigen Schaulustigen starren, während die entschlossene Insel-Polizei den Fundort konsequent absichert. José García fragt mich wiederholt nach meiner Meinung oder Einschätzung. Innerlich verlangt es mich nach der achten Zigarette. Etwas Böses hat hier seine grauenvolle Tat vollbracht. An einem der schönsten Strände von Multikulti. Und es ist auf freiem Fuß. Ich schaue in die toten Augen dieses verunstalteten Unbekannten und denke permanent an die unheilvollen Worte meiner Großmutter: »Etwas atmet mich an!«
Ich betätige den kleinen Lichtschalter am Eingang. Mehrere Reihen Leuchtstoffröhren beginnen zu flackern, gleißend kaltes Licht strahlt auf die weißen Kacheln. Der Geruch von Sterilität und Formaldehyd liegt in der Luft.
Willkommen in meiner Welt! Sie fragen sich sicherlich, ob ich schon in jungen Jahren, als ich mit Puppen spielte, den Drang verspürte, nachzusehen, ob sich etwas im Inneren einer Puppe befindet. Ich muss Sie leider enttäuschen! Es ist ein Klischee zu glauben, dass eine Siebenjährige den tiefen Wunsch hat, Medizin zu studieren, um letztendlich im Bereich der Gerichtsmedizin tote Menschen zu untersuchen. Keine Siebenjährige hegt solche Wünsche! Selbst ich, die von den Medien gefeierte Koryphäe der Rechtsmedizin, war nicht sieben Jahre alt. Ich war acht!
Doch lassen Sie uns weitermachen und uns der Gegenwart widmen!
Eine Leuchtstoffröhre am Ende des großen Raumes flackert fehlerhaft. Der Hausmeister hat sie immer noch nicht ausgetauscht. Ich schreibe eine Erinnerungsnotiz in mein Com-Phone und lasse es dann in die rechte Tasche meines Arztkittels gleiten. Mit ein paar Handgriffen stecke ich mein langes braunes Haar hoch und verberge es unter einer weißen OP-Haube. Das Operationsbesteck liegt auf einem kleinen Edelstahlwagen, den ich zum Tisch schiebe. Das runde Sägeblatt der Autopsie-Säge tausche ich aus und stecke das Netzteil in die Steckdose. Ich teste den Einschaltknopf. Das Werkzeug surrt kurz auf, bevor es zu den anderen Instrumenten kommt. Schließlich gehe ich gezielt zur Wand mit den Kühlfächern. Ich öffne Tür Nummer fünf.
Und? Ist es spannend und interessant genug geschildert? Mir ist durchaus bewusst, dass der eine oder andere von Ihnen die gerade beschriebene Szenerie aus zahlreichen Horror-Filmen oder Thrillern kennt. Im Kino genießt man genüsslich Popcorn, trinkt aus dem 0,5-Liter-Softdrink und freut sich darüber, dass die Effekte-Abteilung der Filmstudios nun ihre Arbeit sichtbar macht. Spätestens bei der Szene mit dem Y-Schnitt rutschen die Mädchen tiefer in ihre Kinosessel und manche Jungs grinsen fies. Nun ja, ich will Ihnen Ihre Hollywood-Fantasien nicht nehmen, muss Ihnen jedoch ehrlich gestehen, dass die Realität nichts mit dem Kino zu tun hat. Ich habe männliche Studenten erlebt, die bei der Autopsie einen Dauerkotzanfall hatten, aber danach waren sie wieder ganz coole Jungs!
Das Geräusch beim Herausziehen oder Hineinschieben von Metallbahren ist für mich unverwechselbar. Genauso wie das hektische Flirren der Neonröhren beim Einschalten, das helle Surren der Rundsäge und das dumpfe Knacken von Rippen, wenn ich die Rippenschere benutze. Das Herausziehen der Bahre samt Leiche hat etwas von einem Theaterbesuch, wenn der Vorhang aufgeht und die Show beginnt. Ich starre auf das weiße Leichentuch, unter dem sich die schauerlichen Überreste des Strandtoten befinden. Meine Kollegen konnten keine persönlichen Gegenstände in seiner Kleidung finden. Es gibt weder Ausweise, Führerschein noch irgendeinen anderen Anhaltspunkt, der eine eindeutige Identifikation ermöglicht. Langsam schiebe ich die Bahre zum Tisch hinüber.
Erinnern Sie sich an eine filmische Autopsie-Szene, in der Sie gesehen haben, wie ein Leichnam von der Bahre auf den Obduktionstisch gehievt wurde? Nein? Richtig, das Fernsehen oder Kino zeigt kaum etwas von dieser gewaltigen Kraftanstrengung, die notwendig ist, um einen toten Körper zu bewegen. Sicherlich haben wir zur Not kleine Seilzüge an der Decke, um Leichname anheben zu können, doch schneller geht es natürlich mit einer helfenden Hand.
»Brauchst du Hilfe mit Nummer fünf?«, will Paco wissen. Ich drehe mich um und sehe in ein freundliches Augenpaar.
»Muchas gracias, Paco! Gerade habe ich an dich gedacht.«
Paco Hernández Pareja ist seit einigen Monaten mein Assistent. Er ist immer bereit, mir bei schweren Arbeiten zu helfen. Bevor jedoch die erotischen Fantasien einiger Leserinnen und Leser durchgehen, muss ich Ihnen energisch versichern: Nein, ich habe nichts mit Paco! Er würde auch keine Chance von mir bekommen, selbst wenn er es wirklich wollte!
Der großgewachsene Paco zieht schnell Gummihandschuhe an und es staubt Talkum-Pulver. Dann nimmt er das Leichentuch ab und zieht überrascht eine buschige Augenbraue hoch. »Hast du eine Ahnung, was mit ihm passiert ist?«
Ich betrachte die Überreste und bin froh, dass das Kühlfach die letzten Insekten zum Verstummen gebracht hat. »So auf die Schnelle? Ja, es handelt sich um einen Mann und er ist auf entsetzliche Weise gestorben«, antworte ich trocken wie Sand in der Wüste. Ein zynisches Lächeln spielt um meine Mundwinkel und ich denke schon wieder an eine Zigarette.
Wenn Sie glauben, dass nun eine detaillierte Beschreibung einer sensationsgeilen Autopsie folgt, muss ich Sie erneut enttäuschen. Mein Beruf erfordert strenge Disziplin und ich habe eigene, unverrückbare Richtlinien, wie ich meine Arbeit durchführe und darüber berichte. Sicherlich, wir befinden uns in einem utopisch gefärbten Thriller-Roman und nicht in einer medizinischen Sachanalyse, aber ich habe meine Prinzipien! Das habe ich mit den beiden Autoren Sabine und Thomas Benda so vereinbart! Die Bendas haben dies nach langen Diskussionen auch verstanden und eingesehen. Es führt kein Weg daran vorbei! Schluss aus! Denken Sie sich einfach aus, was ich gemacht habe! Sie haben doch sicherlich eine blühende Fantasie, oder?
Die runde Analoguhr im Autopsieraum zeigt 17:25 Uhr an. Vier Stunden sind vergangen, seitdem ich mein Aufzeichnungsgerät eingeschaltet und das Skalpell in die Hand genommen habe. Ich werfe die blutverschmierten Handschuhe in einen roten Abfallsack. Paco hat das Operationsbesteck zur Reinigung und Sterilisation in einen Nebenraum gebracht. Mit einem kurzen Ratschgeräusch verschließe ich den Leichensack. Da es sich um eine rechtliche Autopsie handelt, um die Todesursache zweifelsfrei festzustellen, waren diese vier Stunden wirklich notwendig. In dieser Zeit habe ich keine Sekunde an meine Nikotinsucht gedacht. Das ist immer so, wenn ich mich in meinem Element befinde, wie Paco täglich humorvoll mein Wissen und Können bezeichnet. Nur haben mein normales Wissen und Können dieses Mal nicht ausgereicht … wirklich nicht!
Nach der Autopsie habe ich mehr Fragen als zuvor. Das ist sehr selten! Hmm? Nein, eigentlich kommt es nie vor! Okay, bitte halten Sie mich nicht für überheblich und eingebildet! Es ist keine Arroganz, wenn ich Ihnen das sage! Es ist eine sachliche Feststellung.
Laut einschlägigen Medienberichten, unzähligen Reportagen und Dokumentationen über meine Person bin ich als die beste Gerichtsmedizinerin europaweit bekannt geworden. Nach mehreren Jahren in Nuevo Madrid und einem Medienrummel, der die volle Bandbreite von genial bis nervig beinhaltete, entschloss ich mich zur Flucht nach vorne und kehrte in meine multikulturelle Heimat zurück. Da meine Eltern hier sesshaft sind, war meine Rückkehr in ihre Nähe sozusagen eine regelrechte Heimkehr-Entscheidung! Hier habe ich nach dem Studium meinen Beruf begonnen und erste Erfahrungen sammeln können. Dann ging ich der Liebe wegen nach Madrid, wurde dort fassungslos berühmt und bin nun seit einiger Zeit noch berühmter und nikotinsüchtiger auf meiner Heimatinsel zurück. Ich lebe auf einer kleinen Finca am Rand von Port d’Alvarez.
Natürlich habe ich noch die eine oder andere Besonderheit und Eigenart, doch darüber möchte ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht äußern!
Ach ja! Bitte stellen Sie keine Fragen zu meiner vergangenen Liebesbeziehung in Madrid! Das hat leider genauso gut funktioniert wie eine Darmspiegelung mit einer Schöpfkelle!
Es ist Feierabend um 17:30 Uhr! Ich rolle den Leichensack mit dem Verstorbenen zurück zur Kühlfachwand und öffne Fach Nummer fünf. Nach einer Autopsie habe ich immer ein angenehmes Gefühl, wenn ich nach dem Zuschlagen der massiven Kühlfachtür nichts höre … außer Stille!
Der Weg zu meinem Auto ist beschwerlich. Der Fahrstuhl ist schon wieder ausgefallen. An die Schiebetür hat der Hausmeister ein provisorisches Hinweisblatt mit einem handschriftlichen "FUERA DE SERVICIO" angeklebt. Das bedeutet für mich, dass ich nun zwei Stockwerke tief, mit vier dicken Büroordnern beladen, in die Tiefgarage muss, um zu meinem heißgeliebten Auto zu gelangen. Nein, das Auto trägt nicht meinen Vornamen! Hinzu kommt, dass meine High Heels auf den Treppenstufen fast mein Ende bedeuten. Sicherlich fragen Sie sich nun: Warum trägt die Bescheuerte High Heels? Das kann ich Ihnen mit einem Wort sagen: Feierabend! Bei der Arbeit trage ich super flache Sportschuhe mit sicherem Halt. Bei einem normalen Feierabend trage ich normale Sportschuhe mit normalem Halt. Bei einem besonderen Feierabend trage ich besondere High Heels ohne Halt. Aber dafür machen mich die teuren Dinger smokin' hot! Klar soweit? Ja?
Nach zehn mühevollen Minuten auf meinen High Heels, erreiche ich meinen Käfer, ein US-Import aus dem Jahr 1978. Ich kann förmlich Ihr Grinsen sehen! Wie kann man mit hochhackigen Damenschuhen einen VW-Käfer 1303 Cabrio in der Farbe Marinogelb fahren? Ganz einfach! Ich ziehe die Schuhe aus! Das funktioniert prima! Ich werfe die schweren Ordner auf die Rückbank und drehe den Zündschlüssel um. Der unverkennbare Käfer-Motorensound begrüßt mich. Bevor ich losfahre und die Schranke passiere, verbinde ich mein Freisprech-Bluetooth mit meinem Com-Phone und wähle die Nummer meines Vorgesetzten. Gerade als ich in den Berufsverkehr von Multikulti einbiege, meldet sich die vertraute Männerstimme am anderen Ende knapp: »García!«
Da er seinen Nachnamen genannt hat, weiß ich, dass meine Handynummer immer noch unterdrückt ist.
»Hier ist Mercedes. Meine Nummer ist wohl immer noch unterdrückt. Ich gehe langsam davon aus, dass ich unfähig bin«, sage ich.
»Nein«, entgegnet José gelassen. »Du liest keine Bedienungsanleitungen und hältst sie für überflüssig.«
Recht hat er! »Die Autopsie ist abgeschlossen. Ich habe meinen vorläufigen Bericht per E-Mail an dich geschickt. Ich sage dir schon mal vorab, dass dir meine Ausführungen nicht gefallen werden.«
Er schweigt einige Sekunden, dann antwortet er sachlich: »Ich werde deine E-Mail gleich lesen. Wie lange bist du heute telefonisch erreichbar?«
Ich fahre die Nelson Avenue entlang, neben mir zeigt sich der hell erleuchtete Yachthafen von Gran Sunnéz. »Heute gar nicht mehr! Hast du vergessen, dass ich um 20:00 Uhr meinen großen Auftritt habe?«
»Ist das heute?«, fragt er ein wenig abwesend, scheinbar liest er gleichzeitig meine E-Mail.
»Richtig! Ich fahre gerade dorthin.«
Er wünscht mir alles Gute und das Telefonat wird beendet.
15 Minuten später fahre ich in ein öffentliches Parkhaus, das sich in der Nähe des Boulevard Anna Lorenzo befindet. Von hier aus sind es nur wenige Gehminuten bis zu meinem endgültigen Ziel. Ich schaue auf meine teure Armbanduhr französischer Herkunft. Es ist 18:46 Uhr. Ich schnappe mir meine schwarze Handtasche, verschließe meinen Käfer und verlasse die Parkebene. Auf dem mit Touristen gesäumten Boulevard beschließe ich, dass noch genügend Zeit ist, um einen Drink in einer gepflegten Bar zu nehmen. Natürlich habe ich zuvor die High Heels im Auto wieder angezogen! Das versteht sich von selbst, oder? Ich stakse den Gehweg entlang. Mein schwarzer Business-Rock passt wie angegossen. Die weiße Bluse mit dem mit Rüschen besetzten Ausschnitt ergänzt mein seriöses und zugleich sexy Outfit. Ein Push-up-BH betont das, was mir Mutter Natur ohnehin reichlich geschenkt hat. Trotz meines unsicheren Gangs mit den schwarzen Heels habe ich ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Ich weiß, dass ich toll aussehe! Zielstrebig betrete ich eine unscheinbare Cocktailbar. Ich habe noch knapp eine Stunde Zeit für einen leckeren Cosmopolitan. Cosmopolitan? Ja, ich weiß, das klingt nach einem weiblichen Klischee!
Der Tresen ist voller Touristen, wahrscheinlich Engländer oder Deutsche. Schlimmstenfalls beides. Mir ist das recht! Je weniger Einheimische, desto besser für mich! Da ich einigermaßen bekannt bin, begrüße ich die Gesellschaft von Fremden in meiner Freizeit. Vorsichtshalber trage ich auch mein langes, braunes Haar zu einem kecken Zopf. Die Öffentlichkeit kennt es überwiegend offen und schulterlang. Ich setze mein freundlichstes Gesicht auf und rutsche auf einen freien Barhocker. Der Test kommt noch, da der Barkeeper natürlich ein Einheimischer ist. Seine Augen strahlen, als er mich sieht, aber er scheint mich glücklicherweise nicht zu kennen. Ich schenke ihm einen netten Blick und ein freundliches Lächeln, als ich bestelle. Der Cosmopolitan ist ein Traum! Es dauert keine zwei Minuten, nachdem ich den ersten Schluck getrunken habe, da spricht mich ein Kerl an.
Ich bitte Sie, meine Damen, starren Sie nicht so ungläubig und entsetzt auf das Geschriebene! Ich bin Single, attraktiv und 35! Ich darf in solche Bars gehen und komme an solch einem Ort mit allen möglichen Situationen klar, ganz ehrlich! Wichtiger noch, ich möchte diese Situationen heraufbeschwören! Als Erstes rieche ich ihn. Ein Gemisch aus Bier und Schweiß schlägt mir entgegen. Erst dann blicke ich ihn wirklich an. Ich benötige drei Sekunden und meine Nase, um mir ein vorläufiges Bild von dem Mann zu machen, etwas, das meine vorläufige Meinung prägt. Anatomisch betrachtet hängen da zwei wohlgeformte Bizepse aus einem gelben Muskelshirt heraus. Vom Gesicht her wirkt er mit seinem ungepflegten Vollbart wie ein Wikinger aus einem B-Movie! Das halblange Haar scheint eine Weile kein Wasser gesehen zu haben. Es wirkt ein wenig fettig – vielleicht durch Reste von Sonnencreme? Seine Wangen sind von der Sonne oder von erheblichem Alkoholgenuss oder von beidem leicht rötlich und glänzend. Der Schweißgeruch ist an der Grenze zum Unangenehmen. Trotzdem lächle ich, da ich nicht unfreundlich sein will. Er fragt, ob er sich setzen darf. Natürlich gestatte ich es ihm.
Der Wikinger beäugt meinen Cocktail. Es folgt ein entsetzlich ausgesprochenes Spanisch. »Mi nombre era Christopher! ¿Saborear el cóctel que tan bien?«
Ich will laut amüsiert loslachen, aber kann mich rechtzeitig fangen. Spott hat er gewiss nicht verdient! Noch nicht! Und irgendwie wirkt der zweifellos deutsche Tourist so herrlich naiv und ist dadurch geeignet für eine schummrige Bar dieser Art. Geeignet für Smalltalk mit mir!
Ich kann Ihre Gedanken förmlich riechen! Die einen sind entsetzt, vielleicht sogar angewidert von der Situation. Andere unter Ihnen warten ab, was als Nächstes geschieht. Sind Sie weiblich, haben Sie eine unglaubliche Vorfreude darauf, wann ich als gepflegte Akademikerin den Typen eiskalt abserviere und wie ich das mache. Sind Sie männlich, würden manche unter Ihnen gerne mit Christopher tauschen und natürlich hoffen, nicht eiskalt abserviert zu werden! Eine kleine Gruppe von Leserinnen und Lesern denkt vielleicht aber auch, dass ich bei meinem oft extrem harten und grausamen Job wenigstens in meiner Freizeit ein unterhaltsames Kontrastprogramm benötige, um nicht völlig auszuticken!
Ja, und deshalb hat Christopher seine riesige Chance, mir einen zweiten Cocktail zu spendieren! Zuerst gestehe ich ihm, dass ich fließend Deutsch beherrsche. Das macht das Gespräch für ihn einfacher und für mich weniger amüsant, da ich seine Betonung des Spanischen urkomisch finde!
Ich habe noch 30 Minuten und werde durch den zweiten Drink lockerer. Christopher hat mir ein wenig von seinem Leben in Deutschland erzählt. Es gibt auch Gemeinsamkeiten zwischen uns! Er ist enttäuscht von der Liebe und ein eingefahrener Single! Er ist Mechatroniker und spielt in seiner freien Zeit leidenschaftlich gerne Rugby. Er hat ein weiteres Bier bestellt und trinkt es mit dem ersten Schluck halb leer. Mit Kumpels ist er auf Multikulti, um richtig Party zu machen! Hier in der Bar wartet er auf Holger und Peter, die sich wohl noch irgendwo herumtreiben. Er macht einige direkte Komplimente über meine braunen Augen und meinen herrlichen Kussmund. Dinge, die ich schon tausendmal gehört habe. Dennoch quittiere ich seine plumpe und unbeholfene Art des Anmachens mit einem netten Lächeln. Er leert das Bierglas glucksend und möchte etwas über meinen Beruf wissen.
Ich habe in den letzten Jahren einen Weg beschritten, auf dem Lügen keinen Platz mehr haben. Deshalb erzähle ich Christopher wahrheitsgemäß, dass ich viel mit meinen Händen arbeite und meine Leidenschaft dem menschlichen Körper gehört. Nach einem weiteren schnellen Bier hält er mich deswegen für eine Masseurin oder vielleicht auch für eine Masseuse! Ich schweige, lächle rätselhaft und stelle rasch eine Gegenfrage zu seinen Hobbys.
Ich habe noch fünf Minuten und will meine Handtasche nehmen, als ich seine behaarte Hand auf meinem Schenkel spüre. Schrecklich, wie sehr Ungeduld alles zunichtemachen kann! Glücklicherweise wird er nicht trotzig, als ich seine Hand auf den Tresen lege. Ich finde eingeschnappte Männer einfach unverschämt und unreif, wenn man sie bei einem sexuellen Übergriff abwehrt. Christopher verhält sich wacker, nein, richtig vorbildlich! Ich sage ihm, dass ich noch einen wichtigen Termin habe.
»Sag mal, bist du eine Professionelle?«, höre ich seine Stimme fragen, als ich elegant vom Barhocker gleite und im Begriff bin, mich zu verabschieden.
»In gewisser Weise bin ich das tatsächlich!«, antworte ich ihm verschmitzt und bleibe die rätselhafte Lady. Ich deute wortlos lächelnd auf meine beiden leeren Cocktailgläser.
»Ist schon okay«, meint er jugendlich locker, während seine Augen mich gierig mustern. »Ich übernehme das!«, entgegnet er freundlich und sammelt gerade Pluspunkte für gutes Benehmen bei mir.
»Und du hast sicherlich keine feste Beziehung?«, höre ich mich ihn plötzlich fragen.
»Nope! Das Thema steht im Moment nicht zur Debatte.«
Bevor ich endgültig die Cocktailbar verlasse, komme ich dicht an sein Gesicht heran, schließe die Augen und atme seinen Geruch tief ein. Abschließend gebe ich ihm einen zögerlichen Kuss auf die Wange. Überrascht blickt er mich mit freudigen Kinderaugen an.
»Gracias für das nette Gespräch!«, flöte ich ihm sanft zu und mache mich auf den Weg.
Sie fragen sich jetzt sicherlich, was das Ganze sollte und ob ich Christopher geglaubt habe. Natürlich habe ich ihm geglaubt! Er hat bestimmt keine feste Beziehung! Ich hätte eine Lüge im wahrsten Sinne des Wortes gerochen! Aber hundertprozentig!
Langsam habe ich mich eingelaufen und stolpere nicht mehr so unbeholfen mit den High Heels herum.
Zehn Minuten vor meinem großen Auftritt erreiche ich den neuen Buchladen. Das Geschäft hat erst kürzlich eröffnet und gilt schon jetzt als beliebte Anlaufstelle für Bücherliebhaber. Zuerst fällt mir das hell beleuchtete Schaufenster mit den ansprechenden Dekorationen auf. Drinnen werde ich herzlich von der Besitzerin begrüßt. Mit schnellen Schritten führt sie mich in einen größeren Raum, der vom Verkaufsbereich abgetrennt ist. Hier gibt es viele Stuhlreihen. Auf einer kleinen Bühne stehen ein altmodischer brauner Ohrensessel und ein stilvoller Schreibtisch, der von einer geschmackvollen Leselampe beleuchtet wird. Es sieht gemütlich aus – meine Bühne! Kaum habe ich Platz genommen, kommen die ersten geladenen Gäste. Stimmen und unzählige Gerüche strömen auf mich ein. Mein Körper schüttet Adrenalin aus. Ich fühle mich großartig!
Es ist mal wieder an der Zeit, dass ich mit Ihnen spreche! Ja, Sie begleiten mich gerade zu einer Buchlesung –entschuldigen Sie – zu meiner Buchlesung, meine ich! Es ist mein drittes literarisches Werk in Folge. Während die ersten beiden Bücher meine humorvollen und immer unterhaltsamen Gedanken zur menschlichen Anatomie enthalten, habe ich mich bei Nummer drei ganz mir selbst gewidmet. Es ist eine Autobiografie, mit enorm viel spanischem Herzblut geschrieben! Eine traurige Begleiterscheinung der Popularität ist, dass irgendjemand mit Geldgier daherkommt und in kürzester Zeit eine Biografie schreibt und damit jede Menge Kohle verdient. Ich gönne jedem seinen Beruf und seinen Verdienst – nur nicht, wenn es um mein Leben geht! Ein ganzes Jahr lang habe ich in meiner knappen Freizeit geschrieben und geschrieben und geschrieben! Das Ergebnis sind 572 Seiten mit sehr viel Mercedes Cruz Jiménez und noch mehr Mercedes Cruz Jiménez! Im seriösen Buchhandel Ihrer Wahl sind meine Worte als Taschenbuch für 24,95 New Euro erhältlich, oder als gebundene Ausgabe für 39,95 New Euro. Entschuldigen Sie, ich wollte eigentlich keine Werbung machen! Äh, als digitales Medium kann man es im Internet für 19,95 New Euro herunterladen!
Die erste Stunde meiner Lesung ist vorbei. Bisher habe ich dem gespannt lauschenden Publikum einige Passagen aus verschiedenen Kapiteln meiner Lebensgeschichte vorgelesen. Niemand ist dabei eingeschlafen! Ich interpretiere das als gutes Zeichen! Nun ist eine kurze Pause angesagt: Zeit, um sich die Beine zu vertreten, Sekt und Häppchen zu genießen und Smalltalk mit der örtlichen Prominenz zu führen. Ich erkenne ein paar Studenten und winke ihnen lächelnd zu. Einige Kolleginnen und Kollegen aus der Rechtsmedizin sind aus Höflichkeit ebenfalls gekommen. Viele Fremde, Privatpersonen, vor allem Frauen, halten ein Exemplar meines Buches fest in den Händen, als wäre es ihr größter Schatz. Übrigens bevorzuge ich die gebundene Ausgabe mit dem festen Buchrücken. Der Cover-Fotograf hat nämlich einen exzellenten Job gemacht! Auf dem glänzenden Schwarzweißbild wirke ich glaubwürdig seriös, wahnsinnig attraktiv und mindestens fünf Jahre jünger, als ich bin! Ich schüttle einige Hände, plaudere hier und dort ein wenig. Ab und zu schreibe ich persönliche Widmungen mit Autogramm in einige Bücher. Viele Gäste haben strahlende Augen, wirken aufgeregt und können das offizielle Autogramm am Ende der Buchlesung kaum erwarten. Die Düfte, die sie verströmen, sind Balsam für meine Sinne.
Noch fünf Minuten bis zur zweiten Runde. Ich lasse meinen wachen Blick über die Menge der Zuhörer gleiten. Es sind wirklich viele! Sie vermitteln mir ein gutes Gefühl.
Ramira, meine Verlegerin, kommt auf mich zu. Ihre flott aussehende Kurzhaarfrisur passt zu ihrer Wesensart. »Das nenne ich gelungen!«, beginnt sie statt einer förmlichen Begrüßung und umarmt mich mit Küsschen. »Der Saal ist ja brechend voll!«
Sie hat recht, denn die Lesung ist von der Besucherzahl schon jetzt ein wahrer Erfolg.
Schnell ergattert sie zwei Sektgläser. »Darauf müssen wir anstoßen.«
Ich nippe ein wenig und denke dabei an die zwei Cosmopolitans, die mir Christopher spendiert hat. Wenn ich meinen Führerschein behalten möchte, halte ich mich besser zurück. Die Verkehrspolizei auf Multikulti ist sehr gründlich und sehr streng.
Ramira sieht Bekannte in dem Trubel und ist im nächsten Moment verschwunden. So kenne ich sie – immer auf Gesprächstour! Sie ist eben eine Vollblut-Vertrieblerin!
Die Besitzerin des neuen Buchladens, Magdalena heißt sie, kommt gut gelaunt auf mich zu. In ihrem roten Strickkleid sieht sie schlicht umwerfend aus. »Wir starten wieder in wenigen Minuten, Mercedes!«, sagt sie zu mir.
Ich nicke ihr bestätigend zu, als mich eine weitere Frau von hinten anspricht. Ich drehe mich um und blicke in ein freundliches Gesicht mit einer hübschen Nase und gütigen braunen Augen. Es ist Maria Cabra de García, Josés Ehefrau. Wir umarmen uns herzlich und küssen uns zur Begrüßung auf die Wangen.
»José lässt ausrichten, dass er sich entschuldigt, Liebes! Nachdem er deinen vorläufigen Autopsiebericht gelesen hat, war er nicht mehr in Stimmung für ein gesellschaftliches Miteinander in einem niveauvollen Rahmen.«
Die besonnene Wortwahl ist typisch für Marias Vokabular! Als langjährige Moderatorin eines einheimischen Radiosenders hat sie ihre Redegewandtheit immer weiter verbessert und hin und wieder strotzt sie vor Ironie und Zynismus! Mir gefällt das sehr! Deshalb erhält sie auch alle meine Manuskripte zu meinen Büchern, bevor auch nur ein Lektor sie lesen darf. Maria ist meine Prüfstelle für meine geistigen Ergüsse!
»Ich freue mich, dich zu sehen!«, erwidere ich aufrichtig und strahle sie an.
Bevor Sie zu fragen beginnen, sage ich es Ihnen gleich: Ja, das Gefühl der Reue ist immer noch da! Selbst nach so langer Zeit, selbst nach 1.000 Begegnungen mit ihr, selbst nach einer tiefen und jahrelangen Frauenfreundschaft mit Maria! Die Reue sticht immer noch in mein Herz! Und vielleicht ist das ja so gewollt und wichtig für mich!
Maria und ich unterhalten uns noch einige Augenblicke, dann bittet Magdalena die Anwesenden, ihre Plätze wieder einzunehmen. Die Fragerunde zu meinem Buch kann beginnen.
Wenn Sie mich fragen, ist der offene Teil einer Buchlesung für eine Autorin oder einen Autor der spannendste und vielleicht auch heikelste Teil. Aber keine Sorge um mich, liebe Leserinnen und Leser! Wer eine Autobiografie schreibt und sich seinem Publikum stellt, ist auf alles vorbereitet! Na ja, zumindest hoffe ich das! Ach ja, noch eine Info für Sie! Damit das nächste Kapitel nicht zu überladen wird oder Sie sich langweilen, habe ich mit den Autoren Benda vereinbart, nur einen übersichtlichen Auszug der Fragerunde wiederzugeben und diesen nicht unnötig auszuschmücken. Das Weglassen von Personenbeschreibungen der Anwesenden oder gar deren Namen ist beabsichtigt. Auch das Fehlen von Emotionen und Gedanken meinerseits dient alleine der inhaltlichen Straffung, um Langeweile zu vermeiden. Vielen Dank für Ihr Verständnis!
Eine Anzahl von Fragen und Antworten in einer wertungsfreien Reihenfolge zur Autobiografie "Ypsilon" von Prof. Dr. med. Mercedes Cruz Jiménez (Anmerkung der Autoren)
Frage: Warum haben Sie Ihr Buch Ypsilon genannt?
Antwort: Sie kennen sicherlich den Begriff Y-Schnitt. Dieser Schnitt hat eine Y-Form. Dabei wird von beiden Schlüsselbeinen schräg zum Brustbein geschnitten und von dort gerade bis zum Schambein hinunter. Durch diese Schnittführung kann ein Pathologe oder Rechtsmediziner an alle Organe des Brust- und Bauchraumes gelangen – nach Entfernung des Brustbeins und der Rippen natürlich! Das Herz befindet sich im Brustbereich. Eine Lebensgeschichte zu schreiben, ist immer eine Herzensangelegenheit. Und um an mein Herz zu kommen, mache ich gedanklich einen Schnitt, eben ein Ypsilon!
Frage: Wie und wo schreiben Sie? Mit Block und Stift, Laptop oder PC? Schreiben Sie im Garten oder zu Hause?
Antwort: Ich schreibe mit einem Laptop, wo auch immer WLAN zur Verfügung steht! Nur im Garten nicht, die Umweltgeräusche lenken mich zu sehr ab. Ich schreibe gerne bei klassischer Musik, meistens etwas Dramatisches! Beethoven und Wagner gefallen mir besonders gut!
Frage: In Ihrem Buch schildern Sie sehr ausführlich, wie Sie als kleines Mädchen die Familienkatze, genannt Ladrón, tot aufgefunden haben. Ladrón wurde zuvor von einem Auto überfahren. Dieses schreckliche Kindheitserlebnis empfinden Sie rückblickend als Initialzündung für Ihr Interesse an der Anatomie. Warum hieß die Katze Ladrón? (Anmerkung der Autoren: Ladrón bedeutet auf Spanisch Dieb)
Antwort: Es war ein Kater. Ursprünglich hatte er einen ganz anderen Namen. Leider erinnere ich mich nicht mehr daran. Auch meine Eltern, die ich kurz vor der Veröffentlichung meiner Autobiografie danach befragte, können sich nicht mehr an seinen Originalnamen erinnern. Wir nannten ihn Ladrón, weil er immer ein paar Wurstscheiben vom sonntäglichen Frühstückstisch stibitzte!
Frage: In dem Kapitel, in dem Sie Ihr Studentenleben beleuchten, erzählen Sie uns in verständlicherweise zurückhaltenden Worten von einer brutalen Vergewaltigung, bei der Sie das hilflose Opfer waren. Durch diesen entsetzlichen Vorfall haben Sie begonnen, sich für Schusswaffen zu interessieren. Ist das noch immer ein Thema für Sie?
Antwort: Was mir damals passiert ist, sollte keine Frau erleben müssen! Ja, ich besitze eine entsprechende Erlaubnis für Kurzwaffen! Ja, ich trainiere wöchentlich den sicheren Umgang mit meinem Revolver! Ja, ich kenne die kontroversen Diskussionen zum Thema Waffen in privater Hand und die dazugehörigen kritischen Foren im Netz! Ja, ich halte mich strikt an die Gesetze und bin äußerst vorsichtig! Und bevor Sie fragen: Ja, ich schieße sehr gut, aber mit dem Skalpell bin ich noch besser!
Frage: Welche Empfindungen haben Sie während einer Obduktion?
Antwort: Bitte haben Sie Verständnis! Eine ausführliche Antwort würde den Rahmen dieser Lesung sprengen. Ich verweise Sie auf mein Buch, Seite 37, Kapitel 4, Ordnung und Chaos.
Frage: Wie viele rechtliche Autopsien haben Sie in den letzten zehn Jahren selbst durchgeführt?
Antwort: Leider viel zu viele!
Frage: Sie wurden durch die erfolgreiche Aufklärung einer Reihe von Morden an Prominenten auf dem Festland selbst eine Prominente und zieren so manches Titelblatt von Zeitschriften. Welche Unterschiede zeigen sich heute für Sie im Alltag im Vergleich zu früher?
Antwort: Hm, lassen Sie es mich so ausdrücken! Früher zog ich saubere OP-Handschuhe an, zog blutverschmierte aus und aß abends Suppe aus der Tüte! Heute ziehe ich saubere OP-Handschuhe an, ziehe blutverschmierte aus und esse abends Rumpsteak von argentinischen Angusrindern, zubereitet von meiner exzellent kochenden Haushälterin Consuela!
Die letzte Frage: Sie haben sich nicht nur landesweit, sondern auch europaweit einen Namen mit einer hohen Erfolgsquote gemacht. Statistisch gesehen unterlaufen Ihnen kaum Falschaussagen in der Rechtsmedizin. Was ist dabei Ihr Geheimnis?
Antwort: Eine ausdauernde Disziplin, eine perfekt dosierte Leidenschaft zur Wahrheitsfindung und ein besonders guter Riecher bei der Analyse nach einer Autopsie. Das ist – wenn Sie so wollen – mein Berufsgeheimnis!
Nach der Fragerunde folgt die Autogrammstunde, bei der eine lange Reihe von aufgeregten Menschen auf mich zukommt. Ich sitze bequem an einem kleinen Schreibtisch, auf dem sich rechts und links Bücherstapel meiner Autobiografie türmen. Meine Fans sind überwiegend weiblich, aber vereinzelt gibt es auch Männer, wahrscheinlich aus der Ärzteschaft. Natürlich erkenne ich auch den einen oder anderen Polizeibeamten.
45 Minuten lang gebe ich brav Autogramme und schreibe Widmungen in mein Buch. Einige Medizinstudenten schießen gutgelaunt Selfies mit mir und erhalten von mir die Erlaubnis zur Veröffentlichung im Internet. Ich liebe diese kostenlose Werbung und sehe mich gerne auf guten Fotos! Sie doch auch, oder? Erwischt! Ich sehe es an Ihrem Blick und ich rieche es!
Gegen 22:00 Uhr ist der Spuk vorbei. Ramira, meine Verlegerin, ist in bester Stimmung und bewertet den Abend als überaus gelungen. Wir unterhalten uns noch ein wenig, dann verlässt sie mich. Auch die Chefin des Buchladens, Magdalena, erzählt mir geradezu euphorisch, dass es unmittelbar nach dem ersten Teil der Lesung zu Spontankäufen meiner Autobiografie hier im Geschäft gekommen ist.
»Und wir reden nicht von der kostengünstigen Paperback-Version, sondern von der gebundenen Ausgabe!«, fügt sie noch rasch hinzu, während ihre hübschen grünen Augen funkeln. Nein, ich bin nicht lesbisch! Die schönen Augen würden jeder Frau auffallen. Ich stehe definitiv nicht auf Frauen! Obwohl, wer weiß?
Noch bevor sie spricht und ich mich zu ihr umdrehe, kann ich Maria riechen. Es ist dieser Hauch von frischem Lavendel, den ich so betörend finde! »Du kannst stolz auf dich sein!«, meint sie freundlich zu mir. »Deine Lesung war sehr gut besucht. Die Menschen schienen sehr interessiert an deiner Autobiografie zu sein.«
»Wahrscheinlich lag es auch daran!«, schmunzle ich und zeige auf meinen mit Rüschen besetzten Ausschnitt.
Maria lächelt amüsiert. »Vielleicht fördern deine Brüste ja deine Publicity und den Verkauf deines Buches!«
»Ach, wenn das nur so einfach wäre, Maria!«, antworte ich heiter und lache sie an. Wir unterhalten uns noch einige Minuten, dann sehe ich, wie ein Reinigungsteam durch den Lesungsraum läuft und mit Aufräumarbeiten beginnt.
»Soll ich dich zu deinem Wagen mitnehmen?«, höre ich Maria fragen.
»Nein, danke. Ich parke gleich um die Ecke, in einem hell beleuchteten Parkhaus. Dort gibt es Frauenparkplätze mit Videoüberwachung, keine Sorge!«