4,99 €
Meine lieben begrenzt Denkenden! Wow, Mercy hat mächtig was drauf – und damit meine ich nicht ihre Möpse! Verzeiht mir diese höllische Entgleisung meiner himmlischen Worte. Aber die Blondine ist echt beeindruckend und … wie sie diesem scheußlichen Shitface begegnen wird. Ich finde den Namen sowas von bezeichnend: Shitface! Nun ja, die Hölle ist ein ganz widerlicher Ort, wie ihr hautnah mitkriegen werdet, doch Mercy wird sich ordentlich durchbeißen – ja, das ist ein schelmischer Insider-Witz! Euer Samuel, der Erste Gärtner Gottes
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sabine und Thomas Benda
Mercy, die Straßenritze – Buch 6 – Das Shitface und die Hure
Ein 25-teiliges Serien-Genre-Crossover – ein himmlisch-höllisches Epos – eine unvergessliche Geschichte
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Schlechte Nachrichten
2. Breaking News von Marc Bowlers
3. Wenn sich einer Gedanken macht
4. Plausibel
5. Im Schneidersitz
6. Das kleine Rad
7. Plauderei am Esstisch
8. Jedes Ding hat seinen Namen
9. 06:00 Uhr in der Früh
10. Lehren
11. Konsequenzen und Prüfungen
12. Der Mom-macht-jeden-Scheiß-mit-mir-Tag
13. Saures
14. Von der Ungewissheit
15. Die Exekutive Gottes spricht
16. Die Schubkarre
17. Bharati meldet sich zu Wort
18. In der Garage
19. Gutes bewirken
20. Cappuccino Talk
21. Heiß und ehrlich
22. Streicheln
23. Telefonat und Stressabbau
24. Buchstaben
25. Trost
26. Arthur McFadden, Tierfänger und Sumpfmann
27. Sandrinas Gesichtsausdruck
28. Grausame Märchen
29. Stellung beziehen
30. Schokoshake und Himbeershake
31. Warum?
32. Wenn sich das Innere verändert
33. Die Geschichte von Sara und Emanuele
34. Die Heimleitung
35. Ganz nahe, ganz dicht
36. Als ich aufwache
37. Carlos
38. Unbeherrschtheit
39. Einfach so
40. Geh nach New York zurück!
41. Das ganze Theater
42. Der feuchte Traum
43. Am Ende hilft nur Scotch
44. Schnarchen
45. Glaube und Zuversicht
46. Der Einspruch
47. Waffe
48. Feinschliff und Migräne
49. Der Kreis
50. Ganz alleine
51. Heimflug
52. Mein großer Held
53. Gwen Gradener
54. Wenn der Nebel sich lichtet
55. Der vierte Buchstabe
56. Kurz vor der Landung
57. Das Drei-Augen-Gespräch
58. Das Urteil
59. Du alleine bist genug!
60. Von Lämmern und Löwen
61. Fleisch
62. Wie es sein soll
63. Flucht
64. Die drei Phiolen
65. Was ich nun bin
66. Damals … in Österreich
67. Wo ich fast den Tod fand
68. Beten
69. War es das wirklich?
70. Wenn Engel töten
71. Elternhaus
72. An unvorstellbaren Orten
73. Ein Geschenk des Himmels
Über die Autoren:
Impressum neobooks
Nachrichten können ansteckend sein.
Gezielt befallen sie Körper, Geist und Seele und fressen sich regelrecht in einen Menschen hinein.
Sind sie schlecht, können sie den Zuschauer oder Zuhörer maßlos belasten.
Sind sie ausschließlich gut, werden sie erst gar nicht gesendet oder gedruckt.
Das ist eine Frage der Vertriebspolitik - war es, ist es und wird es immer sein!
Schlechte Nachrichten machen sich bezahlt!
Wer will schon gute Nachrichten zur Prime Time sehen?
Als Thomas Bendermann vor seinem japanischen LED-Schirm hockend, hektisch getrieben von einem Nachrichtensenderkanal in den nächsten schaltete, wünschte er sich gerade das, was er in der Pressewelt nur spärlich zu sehen bekam: nämlich gute Nachrichten.
Natürlich war das nur Wunschdenken eines verzweifelten, älteren Mannes, der im Hinterland Dubais vor Entsetzen und Furcht gebannt die grauenhaften Neuigkeiten erfasste und in seinem inzwischen 73-jährigen Gehirn verarbeiten musste.
Übereilige Kommentatoren sprachen reißerisch, manchmal polemisch unsachlich von einer gezielten Terrorwelle, die über die Skyline Dubais hereingebrochen war.
Sicherlich, es sah ganz danach aus und passte haarklein ins aktuelle Weltgeschehen: erst ein mörderischer Anschlag in einem Hotel, dann eine Flugzeugkatastrophe mit einer noch unbekannten Anzahl von Toten und Verletzten.
Eine Terrorwarnstufe war von den Behörden ausgerufen worden.
Polizisten und Rettungskräfte waren im Dauereinsatz, bis zur totalen Erschöpfung versuchten diese, Herr über das Chaos zu werden. Dubai befand sich in einem nie dagewesenen Ausnahmezustand.
Die Hölle war in die Metropole aus Glanz und Gigantomanie hereingebrochen.
Schlagartig, unbarmherzig und unberechenbar war dies geschehen.
Die Stadt der grenzenlosen Luxusträume hatte sich in einen Alptraum verwandelt - und das in nur einer einzigen Nacht!
Dass es sich bei dem Grauenhaften nicht um normalen Terrorismus handelte, konnten weltweit weder Muslime, Christen, Juden oder andere Religionsangehörige ahnen. Um die aktuellen Geschehnisse in Dubai richtig deuten zu können, musste man erstmal die unfassbar machende Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Mensch beziehungsweise dessen Seele nur ein Spielball zwischen zwei uralten Kräften war: den Hellen und den Dunklen.
Mehr noch, es war auch hilfreich, eine ausgeprägte Fantasie zu besitzen, mit der man die simplen Zusammenhänge einfacher erklären konnte.
Schlechte Nachrichten informierten nicht nur, sondern speisten auch das innere Gaffer-Verlangen des Menschen. Diese angeborene Verhaltensweise war geradezu ein fruchtbarer Nährboden der unzufrieden machenden, der depressiv stimmenden und der aggressionsfördernden Gefühle.
Der daraus resultierende Pool an negativen Energien war für die bösen Mächte gleichsam bedeutend wie das köstliche Abendbuffet für einen All Inclusive-Pauschalurlauber.
Man konnte sich einfach hinsetzen, der Maßlosigkeit frönen und sich den Bauch vollschlagen!
Und das Böse liebte es, sich den Bauch vollzuschlagen - nur wurde es dummerweise niemals satt!
Auch Thomas Bendermann, der irgendwann einmal in Deutschland als Christ getauft worden war, kam es in keiner Weise in den Sinn - trotz seiner immensen Sorge um das Wohl und das Leben seiner Verlobten Mercy - einfach in Stille auf die Knie zu gehen und Gott um Beistand zu bitten.
Statt eines Gebetes schaute er vorrangig die sich immer und immer wiederholenden Nachrichten aus Dubai an, obwohl er bereits tiefherzig geschockt und ängstlich, geradezu von Furcht zerfressen war.
Ja, Thomas Bendermann war letztendlich auch nur Gaffer, ein Gaffer vor dem Herrn.
Mein Name ist Marc Bowlers. Dubai ist zu einem absoluten Chaos geworden! Erst haben wir einige vergnügliche Kennenlern-Tage in dieser geilen Skyline verbracht. Thomas Bendermann wollte, dass wir hier richtigen Spaß zusammen haben. Anfänglich hatte es auch wunderbar geklappt! Gerade mit Karl und Lydia kann man wirklich extrem viel Fun haben! Und meine Schwester Marcy, die jetzt Mercy genannt wird, die ich monatelang für tot gehalten hatte, war ebenfalls mit von der Partie! Dubai ist schon 'ne fette Nummer! Alles war easy! Wir hatten sogar unsere eigenen Leibwächter mit dabei - von Bendermann! Cooper und Miller hießen die beiden Typen. Das waren zwei seltsame Brüder - im wahrsten Sinne des Wortes!
Seltsam ist auch das richtige Adjektiv für die Ereignisse, die dann stattgefunden haben. Da gab es eine Krähenfeder, die ein kleines Mädchen namens Tabitha hat durchdrehen lassen! Auf eine stark befahrene Verkehrsstraße ist die Kleine gesprungen, ihr Gesicht zu einer diabolischen Fratze verzerrt! Als wäre das Böse in sie hineingefahren! Ehrlich, ich war dabei! Karl konnte die Kleine gerade noch retten! Dabei gab es einen Unfall mit mehreren Autos! Glücklicherweise wurde niemand verletzt! Irgendwie haben diese unheilvollen Krähen mit diesen sonderbaren Dingen zu tun!
Richtig irre wurde es dann in unserem Luxushotel! Das glauben Sie jetzt nicht!! Lydia und Mercy wurden beinahe von der rothaarigen Nelly aus Texas erschossen - auf der Damentoilette! Gleichzeitig haben Cooper und Miller durchgedreht und in der Lobby-Bar mit einer brutalen Schießerei ein Blutbad angerichtet! Karl Wisemeyer und Ansgar Gradener, Bendermanns Assistent, haben die beiden Arschlöcher gestoppt - für immer!
Seitdem waren wir ohne Pässe auf der Flucht. Ansgar konnte uns davon überzeugen, dass wir alle in Gefahr sind! Er kann sehr überzeugend sein, glauben Sie mir! Die Killerin Nelly schleppten wir mit, um sie zu verhören. Inzwischen hatte die Polizei alles wegen des Anschlages in der Lobby-Bar abgeriegelt. Eine Terrorwarnstufe wurde verhängt! Voll das Durcheinander, echt wahr! Unsere einzige Chance heil aus der Geschichte rauszukommen, wäre ein Anruf an Thomas Bendermann gewesen. Der hat nämlich Kohle und Einfluss! Doch wir hatten kein funktionierendes Smartphone! Wir mussten untertauchen!
Ein Koch und eine Küchenhilfe, Maurice und Bharati, nahmen wir zwangsweise als Geiseln mit! Die haben uns inzwischen unsere irrwitzige Story abgenommen. Sie glauben uns auch, dass wir eigentlich die Guten in diesem komischen Spiel sind - und keine Terroristen oder schlimmere Typen! Und wir durften eine Weile in einer abgelegenen Villa mit ihnen untertauchen, beziehungsweise uns verstecken. Ansgar hat dort angefangen, Nelly aus Texas brutal zu verhören! Das fand ich nicht lustig! Finger wurden abgeschossen, Zähne ausgeschlagen! Gesagt hat diese Verrückte trotzdem nichts! Bendermann schickte uns drei Angestellte mit Firmenlimousinen vorbei. Die sollten uns zum Flughafen bringen! Bendermanns Privatmaschine steht dort!
Auf der Fahrt zum Airport kam es dann zu einer schrecklichen Katastrophe! Ein riesiges Passagierflugzeug ist über Dubai abgestürzt und hat eine befahrene Brücke in eine Feuerhölle verwandelt! Das Inferno hat uns alle getrennt! Ich habe keine Ahnung, wo meine Schwester und Lydia stecken! Ansgar ist ebenfalls missing! Nur Maurice und Karl sind bei mir! Rettungsmannschaften haben uns aufgelesen! Wir wurden zu einem Sammelpunkt für Überlebende der Katastrophe gebracht! Wir warten hier erstmal ab! Keine Ahnung, was wird! Die Freundin von Maurice, diese Bharati, fehlt ebenfalls noch! Hoffentlich haben die Frauen diese Scheiße hier überlebt. Oh Gott, nicht auszudenken, wenn die anderen tot wären! Irgendwie müssen wir Bendermann erreichen! Ich denke, er ist unsere einzige Chance, aus der verdammten Geschichte herauszukommen! Hoffentlich!
Mein Name ist Karl Wisemeyer! Ich muss mit Ihnen sprechen - vor den anderen, vor Marc und Maurice, kann ich das nicht! Ich bin ziemlich fertig! Die Katastrophe, diese ganzen verrückten Ereignisse haben mich ziemlich mitgenommen, doch diese Blöße will ich mir vor Marc nicht geben. Er ist jünger als ich, er verlässt sich auf mich! Es ist fast so, als wäre ich eine Art großer Bruder für ihn! Angst habe ich auch!
Mercy und Lydia sind noch nicht aufgetaucht! Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, was ihnen vielleicht zugestoßen sein könnte. Lydia, unser Kind ... ich habe Panik deswegen! Wir rennen hier ziemlich ziellos umher. Ein riesiges Durcheinander!
Auf der Brücke ist die Feuerhölle noch nicht unter Kontrolle gebracht worden! Überall sind Leute, Verletzte, Tote - es ist schrecklich, so unvorstellbar! Meine Worte reichen nicht aus, dieses ganze Leid und Grauen zu beschreiben. Verkohlte Leichen, grässliche Schreie der Verletzten, dazwischen blecherne Megaphon-Stimmen, die in den Ohren dröhnen! Immer wieder Explosionen, Autos fliegen in die Luft! Glassplitter und Metallteile regnen vom Himmel herab! Diese scheiß Sirenen rauben mir den letzten Nerv!
Dazu bekomme ich ständig Flashbacks! Es ist erschreckend, was sich da in meine Erinnerung drängt! Die Todesangst in der Limousine, als wir in das Wasser stürzten! Dann dieser Kampf mit dieser durchgeknallten Nelly! Liddi hat ihr mit einem Stein immer und immer wieder ins Gesicht geschlagen! Ich wünsche normalerweise niemandem den Tod. Doch ich hoffe, dass diese Drecksfotze elendig ersoffen ist! Später, als wir durchs Wasser schwammen, wurden Lydia und ich getrennt! Scheinbar bin ich bewusstlos geworden. Ich war wohl in einer Art ... Zwischenreich! Gleißend hell war es und total still. Dort bin ich auf Alexandra getroffen!
Sie ist mein Engel! Ja, Sie haben richtig gehört! Sie hat mir von meinen drei Aufgaben erzählt, wegen denen ich geboren wurde! Und von meinem zukünftigen Tod wusste sie auch! Nämlich dann, wenn ich Tabitha ein weiteres Mal retten werde!
Sie erinnern sich noch an Tabitha? Das ist die Fünfjährige, die auf die Verkehrsstraße in Dubai gelaufen war! Ich habe sie vor dem Tod bewahrt. Diese Tabitha wird als erwachsene Frau wichtig für die Welt werden! Das behauptet jedenfalls Alexandra. Ich werde die erwachsene Tabitha wieder beschützen und dabei sterben. Krass, was? Würden Sie Ihrem Engel glauben oder an seinen Worten zweifeln? Glücklicherweise ist diese Zukunft noch weit entfernt!
Wir müssen die Ladys finden und Bendermann kontaktieren! Schon irgendwie eigenartig für mich. Wir rennen hier durch dieses Desaster, durch diese Katastrophe! Menschen sterben vor meinen Augen! Überall ist der Tod und wütet, und ich weiß, dass ich ebenfalls sterben werde! Aber ... nicht heute, nicht morgen, sondern dann, wenn Tabitha erwachsen sein wird! Könnten Sie sich das vorstellen? Können Sie nachempfinden, was in mir abgeht? Nein, sicherlich nicht! Warum sollten Sie auch? Sie sind nicht ich! Und Sie haben eine ganz eigene Geschichte in Ihrem Leben - Ihre Lebensgeschichte!
So ... ich muss weiter! Marc und Maurice brauchen mich! Danke fürs Zuhören, und wenn ich Sie wieder zum Quatschen brauche, dann spreche ich Sie einfach an!
Ein bulliger Mann, der der Uniform nach zu den offiziellen Rettungsmannschaften gehörte, ermahnte sie mit seinem kraftvollen Stimmvolumen, hinter der Absperrung zu bleiben.
Marc, Maurice und Karl hatten die Sammelstelle für Gerettete verlassen und waren in Richtung der brennenden Brücke gegangen, um in der lautstarken Szenerie aus Leid, Tod und Zerstörung ein Lebenszeichen der Ladys entdecken zu können.
Ein hastig aufgestellter Zaun hatte ihre kurzentschlossen entschiedene Entdeckungstour beendet.
»Das hat keinen Sinn«, meinte Maurice Xavier. »Hier kommen wir nicht weiter.«
Innerlich war der 55-jährige Koch sehr angespannt, denn seine Freundin Bharati war noch immer vermisst.
Genauso erging es Karl Wisemeyer und Marc Bowlers. In beiden Männern nagte entsetzliche Ungewissheit, da es noch keine Lebenszeichen von Mercy und Lydia gab.
Um Ansgar Gradener machten sich die drei Suchenden kaum Gedanken.
Warum auch?
Stand es doch in den menschlichen Genen niedergeschrieben, dass man sich zuerst um die Nahestehenden sorgte - und Ansgar hatte sich in den letzten Stunden schlicht als kaltschnäuziger und brutaler Mann präsentiert. Besonders beim Verhör der rothaarigen Nelly aus Texas war der Mann mit geradezu verachtenswerter Gewalt vorgegangen. Karl Wisemeyer dachte in diesem Moment daran, wie diese Nelly in der im Dubai Creek untergehenden Limousine versucht hatte, ihn zu ersäufen! Lydia hatte schließlich diese Verrückte mit verzweifelten Schlägen gestoppt - mit einem Stein gestoppt!
Woher war dieser Stein gekommen?, fragte sich Karl, wurde jedoch von Marc unterbrochen.
»Wir sollten versuchen, mit Bendermann in Kontakt zu treten«, sagte der lockenköpfige Mann. »Wenn die Frauen überlebt haben, werden sie dies gewiss auch tun!«
Das klang plausibel.
»Wenn es euch nichts ausmacht, möchte ich euch begleiten«, bat Maurice plötzlich.
Das klang nicht plausibel.
Denn Maurice gehörte nicht zur ursprünglichen Gruppe, war eher zwangsweise, als eine Art Geisel mitgenommen worden.
Warum hatte er den Wunsch, Karl und Marc zu begleiten?
Er war doch längst frei, konnte jederzeit gehen, hatte sogar ein Apartment in Dubai, war offiziell gemeldet und registriert.
Sicherlich, er war sehr besorgt um seine Freundin Bharati.
Doch ... warum suchte er die Gemeinschaft von Karl und Marc?
In der Not rauft man sich zusammen - egal mit wem, dachte Karl Wisemeyer und nickte dem französischen Koch zu.
Karl sah Bharati natürlich nicht, die langhaarige Engelsfrau, die unsichtbar neben Maurice stand und in sein Ohr hineinflüsterte: »Bleib bei ihnen! Alles wird gut! Vertraue darauf!«
Auch Marc nickte zustimmend. »Okay«, sagte Mercys Bruder. »Bleiben wir zusammen.« Schließlich sah er die beiden anderen Männer fragend an: »Habt ihr einen Plan, wie wir Bendermann in seinem Palast erreichen können? Im Telefonbuch steht er ja gewiss nicht, oder?«
Nein, gewiss nicht die Privatnummer, durchschoss Karl ein wahrer Gedanke. Die Telefonanschlüsse in Bendermanns Anwesen im sandigen Hinterland Dubais waren sicherlich geheim. Es gab jedoch einen Hoffnungsschimmer. »Bendermann hat doch eine Filiale in Abu Dhabi! Von dort aus hat er uns doch die Limousinen geschickt, nicht wahr?«
»Ja, du hast recht!«, durchzuckte es Marc gleichsam motiviert. »Das ist unsere Kontaktmöglichkeit zu Bendermann!«
Sind sie endlich draufgekommen, freute sich Bharati und verschwand so unbemerkt, wie sie gekommen war.
Sie hatte noch andernorts einen Termin, der dringend war. Irgendwo auf der Welt.
»Was mich am aktuellen Fußball nervt, ist die Häufigkeit der Fouls, die gang und gäbe geworden ist. Immer grätscht irgendein Spieler einem anderen zwischen die Beine, zerrt an seinem Trikot oder bringt ihn zu Fall! Von Fairness kann ich da nicht reden!«
Der zehnjährige Tobias plapperte seit einer Viertelstunde - ohne Punkt und Komma!
Fußball war seine größte Leidenschaft.
Ansgar Gradener ging gar nicht erst auf das Thema ein und hoffte inständig, dass sein Desinteresse, den Jungen veranlassen würde, endlich zu schweigen.
Sie waren seit 20 Minuten unterwegs, hatten sich von der Katastrophenstelle entfernt und waren den Strand des Dubai Creeks stadteinwärts gelaufen. Von fern leuchtete die Flammenhölle in den Nachthimmel. Ansgar hatte beschlossen, keine der Sammelstellen für Überlebende aufzusuchen. Einer inneren Stimme folgend hatte er Tobias mitgenommen und stapfte mit ihm durch den Sand. Immer wieder brausten Boote den Meeresarm entlang, um Rettungskräfte zum Unglücksort zu bringen. Obwohl sie immer wieder in die grellen Lichtkegel von Suchscheinwerfern gerieten, sprach sie niemand an.
Eigenartig ist das schon, als würden sie uns nicht wahrnehmen, sinnierte Ansgar, während Tobias über die stressige Situation der Torleute bei einem Elfmeter philosophierte.
»War bestimmt nicht einfach, als deine Mom einfach gegangen ist, oder?«, hörte er Tobias plötzlich mit einer unschuldigen Kleinjungen-Stimme fragen. »Du warst erst zehn - wie ich!«
Der schwarzhaarige Mann in dem durchnässten Leinenanzug blieb ruckartig stehen und schloss kurz die Augen, als ob ihn etwas schmerzte. Dann atmete er hörbar durch.
»Hör zu, Kleiner!«, antwortete Ansgar schroff und fasste Tobias grob an der Schulter an. »Ich kann dein Gelabere nicht mehr ertragen! Wenn du bei mir bleiben willst, dann halt endlich deine Klappe!«
»Du tust mir an der Schulter weh, Ansgar!«, protestierte der Junge plötzlich laut.
Ansgar erschrak und zuckte mit der Hand zurück.
»Du kannst einen Zehnjährigen nicht so hart anfassen! Mann, das tut man nicht!«
Tobias’ Blick durchbohrte den Mann regelrecht. Ansgar verspürte eine intensive Mischung aus Mitgefühl und einem schlechten Gewissen. Es fetzte direkt in sein Herz hinein.
»Sorry, Kleiner«, sagte er mit schuldbewusster Stimme. »Ich wollte dir nicht weh machen, ehrlich!«
Ansgar kniete sich zu ihm hinunter in den Sand, befand sich mit Tobias auf Augenhöhe.
»Es war unkontrolliert, ich war genervt ...«, versuchte er mit Worten, sein Verhalten zu rechtfertigen.
Die blauen Augen des Jungen wirkten sehr betrübt und auch anklagend.
»Du bist rasch gereizt - und bei Gewalt hast du kaum Hemmungen, nicht wahr?«
Ansgar Gradener fehlten die Worte, etwas schien ihn geradezu zu blockieren. Sein Herzschlag erhöhte sich, die Übelkeit in seinem Magen blieb wie ein träger Klumpen hängen.
»Du kannst nicht immer alle büßen lassen, Ansgar«, sagte Tobias nun in ruhigem Tonfall. »Das ist nicht gut! Du beschmutzt damit deine Seele - und die von anderen Menschen!«
Woher kennt der Kleine meinen Namen?, überlegte Ansgar, während sich sein Innerstes zusammenkrampfte. Er war sich ziemlich sicher, dass er seinen Vornamen gegenüber Tobias bisher nicht erwähnt hatte. Und von was redet dieser Tobias eigentlich?
»Ich wollte doch nur von dir wissen, ob du deine Mom immer noch vermisst! Und du packst mich, als wäre ich eine Bedrohung, ein Feind!«, schleuderte ihm Tobias entgegen und spitzte trotzig seine Lippen.
Ansgars Sinne schwanden, der Kreislauf sackte ein wenig ab. Er schloss seine Augen und rieb sich mit den Fingern über seine Stirn. Laut atmete er durch, wollte das Schwächegefühl weg atmen - was ihm natürlich nicht gelang!
Erschöpft hockte er sich auf den Boden und schlug die Handflächen vors Gesicht, verbarg sein Antlitz.
Tobias setzte sich zu ihm, im Schneidersitz, wie Engel es gerne machen, wenn sie mit Menschen reden. Dann legte er ihm behutsam beide Handflächen auf die Schultern und wartete geduldig ab.
Wenn längst vergrabene Gefühle sich durch raue Schalen fraßen, um zum Vorschein zu kommen, war es ratsam, den Menschen Zeit dafür zu lassen und nicht zu sprechen.
Emotionen, die so abrupt offenbar wurden wie bei Ansgar, erforderten wahrlich Engelsgeduld und Sensibilität. Beide Eigenschaften besaß Tobias in einem Höchstmaß, und er verstand es, diese im Sinne des Guten einzusetzen.
Als Ansgar nach einer Weile die Hände von den Augen nahm, sah der kleine Junge ehrliche Tränen im Mondlicht glitzern.
Endlich weinst du, Ansgar, dachte der Junge und streichelte sanft das Gesicht des Mannes. Endlich weinst du und reinigst deine Seele!
»Und nun, Ansgar!«, forderte Tobias mit tröstender Stimme. »Erzähl mir ein wenig von deiner Mom.«
Mein Name ist Gonzales Ortiz! Meine Familie und ich stecken ziemlich in der Klemme! Zwei falsche Paketzusteller haben mich in meiner Wohnung überwältigt! Nun sitze ich gefesselt und geknebelt mit meiner Frau Esmeralda und meinen drei Kindern am runden Esstisch in der Küche und werde von einer lächelnden Blondhaarigen mit einer Pistole bedroht. Neben ihr sitzt ein dicker Kerl, der mich permanent versucht zu beruhigen! Das macht mich nur noch panischer, als ich sowieso schon bin! Ja, glauben die beiden Killer, dass es mir nicht längst klar ist, weswegen sie gekommen sind?
Scheiße, das musste ja irgendwann mal passieren! Ich hätte längst aussteigen sollen, aber das Geld hat mich gereizt. Das Syndikat zahlt mir mächtig Kohle, wenn ich illegales Geld wasche. Man schätzt mich sehr! Der Job war verlockend! Ich habe mir da rasch einen guten Namen gemacht! Man vertraut mir! Und ich habe als Buchhalter einen allumfassenden Einblick in die weltweite Syndikatsstruktur erhalten.
Natürlich ahnt meine Frau von diesen speziellen Geschäften nichts! Sie glaubt, dass ich der redlich arbeitende Inhaber einer Vertriebsfiliale für Horror- und Voodoo-Artikel bin! Black Chimaera heißt die Firma, für die ich offiziell arbeite. Wir sind eine große Nummer in der Branche! Gerade in den Südstaaten reißen sie uns das Sortiment quasi aus den Händen!
Horror-, Esoterik- und Voodoo-Krimskrams - das Business mit dem Okkulten und Übernatürlichen boomt fast so wie in den mit Marihuana umnebelten 1960er- und 1970er-Jahren. Horror sells!
Nun ja, der echte Horror sitzt mir gerade an meinem Esstisch gegenüber und versetzt mich in Angst und Schrecken! Es war eine Frage der Zeit, bis irgendeine Bande oder Organisation im Bereich Menschenhandel damit beginnt, die Konkurrenten auszuknipsen!
Wieso fangen sie bei mir an? Mutter Gottes! Ich bin doch nur ein kleines Rad im Getriebe! Meine Familie! Meine Kinder! Scheiße, Scheiße, Scheiße ...!
»Ich werde Ihnen nun den Knebel lösen, Gonzales«, sagte Sandrina Rossi in ruhigem Tonfall, als ob man einem Kleinkind etwas erklärte. »Falls Sie nun in Ihrem kubanischen Gehirn darüber nachdenken, mit einem Hilfeschrei Aufmerksamkeit zu erregen, sollten Sie fairerweise darüber Bescheid wissen, dass ich in den letzten zehn Jahren 71 Menschen bestialisch getötet habe!«
Das Ehepaar Ortiz weitete synchron die Augen vor Entsetzen, die drei Kinder Marilena, Ria und Pablo wimmerten gleichzeitig los.
»Sch-sch-sch«, beruhigte Arthur McFadden die Kleinen und hob beschwichtigend die Hände in die Höhe. »Es wird euch nichts geschehen! Onkel Arthur verspricht es euch! Großes Ehrenwort!«
Gonzales blickte seine Frau direkt an. Esmeralda war starr vor Angst.
Wenn wir das hier überleben sollten, und es sieht nicht danach aus, dann bringt sie mich um! Ganz gewiss, dachte der Geschäftsmann absurderweise in diesem Augenblick der eindeutigen Gefahr.
Der Mann nickte Sandrina zu, signalisierte damit, dass er sie klar verstanden hatte.
Sandrina legte ihre Pistole auf den Esstisch und schritt zu dem Gefesselten hinüber. Mit einem Ratschen entfernte sie das graue Klebeband von seinem Mund. Ein paar Bartstoppeln segneten dabei das Zeitliche.
»Auuutsch!«, schrie der Mann, um sich sofort wieder zu beruhigen.
»Sorry, Gonzales«, entschuldigte sich die Blondhaarige. »Normalerweise bevorzuge ich Stoffknebel, doch wir hatten keine Zeit mehr, Stoffservietten oder Taschentücher zu kaufen. Das Klebeband haben wir aus einem Baumarkt, in dem ich neulich schon mal Einkaufen war. Der Laden ist supergünstig! Dort habe ich auch ein paar zuckerfreie Schokoriegel mitgenommen. Die gibt’s da an der Kasse.«
Gonzales Ortiz war wegen der quasselnden Killerin sichtlich verwirrt. Ständig wechselte sein aufgeregter Blick von Sandrina zu Arthur und Esmeralda und wieder zurück.
»Sie hat eine Art Schokoladensucht«, ergänzte Arthur McFadden das Gesagte um ein winziges Detail.
»Aber ... ohne Zucker müssen die Süßigkeiten sein!«, lächelte Sandrina. »Meinen Zähnen darf nichts geschehen.« Sie öffnete ihren Mund und zeigte hinein, dann erzählte sie: »Mein jetziger Auftraggeber hat mir einen Sender, eine Sprengkapsel und ein Toxin in einen Backenzahn implantiert. Wenn ich nicht spure, drückt er ein Knöpfchen und lässt meinen Zahn hochgehen! Verstehen Sie, was ich meine?« Gonzales verstand nichts, glaubte gerade, er wäre Teil einer irrwitzigen, schwarzhumorigen Thriller-Komödie zur besten Sendezeit.
»Mein Boss«, bemerkte Sandrina mit zynischem Lächeln im Mundwinkel, »ist Thomas Bendermann. Sie kennen Bendermann sicherlich, oder?«
»Ja«, antwortete Gonzales schnell, um bei der Signora nicht in Ungnade zu fallen. »Er hat die Sektion New York unter sich.« Schnell schob er nach: »Ich bin ihm allerdings noch niemals persönlich begegnet.«
Sandrina glaubte ihm. Sie hatte vielen Menschen beim Lügen zugesehen und zugehört. Meist waren diese von der Killerin bedroht worden. Gonzales log nicht. Das war klar an seiner Stimme und an seiner Mimik zu erkennen.
»Jemand hat begonnen, ältere Syndikatsmitglieder auszuschalten. Bendermann denkt an einen machtzerfressenen Aufstrebenden aus den eigenen Reihen.« Die Blondhaarige, die in ihrer zu groß geratenen Paketzusteller-Uniform alles andere als elegant aussah und sich genauso fühlte, nahm wieder die Pistole in die Hand, was Gonzales' Herzschlag erhöhte. Wieder wimmerten die Kinder hinter ihren Knebeln. Arthur beruhigte sie sogleich: »Nur keine Angst! Die Frau wird eurem Dad nichts tun!«
Esmeralda, die Gattin, und auch Gonzales selbst waren sich hierbei nicht so sicher wie Arthur McFadden.
Die Blonde hat 71 Menschen umgebracht! Warum sollte sie mich verschonen?, dachte Gonzales und betrachtete die Mündungsöffnung der Pistole.
»Haben Sie eine Idee, wer hinter den Anschlägen auf Helena Morrow und Sergej Sokolov steckt?«
Sandrina wartete einige Augenblicke, doch Ortiz schwieg.
Früher hätte ich jetzt mit dem Foltern begonnen, durchzuckte es Sandrina kurz.
Doch die Killerin hatte dem Bösen widersagt, hatte einen neuen Weg beschritten und den Pakt mit den Dunklen verraten.
Ich werde Ortiz nicht quälen und nicht töten, sagte sie sich immer wieder in ihrem Inneren. Wenn ich Gewalt anwende, jubiliert das Böse!
»Vielleicht rede ich ja undeutlich, Gonzales«, meinte sie augenzwinkernd. »Also, haben Sie eine Ahnung, wer innerhalb der Syndikatsmitglieder bereit ist, so eine große Aufräumnummer durchzuziehen?«
»Wenn ich rede, werden diese Leute mich und meine Familie töten«, sagte Gonzales und bekam eine riesige Angst, die Blondine mit dem italienischen Akzent zu verärgern.
»Diese Leute sind Ihr geringstes Problem, Gonzales«, entgegnete die Frau. »Vielleicht haben Sie schon von mir gehört. Ich bin Sandrina Rossi.«
Gonzales’ Kinnlade klappte nach unten. Jeder in der Branche kannte diese Durchgeknallte, diese perverse Killerin namens Sandrina Rossi. Viele hielten sie für einen Mythos, einige für ein Gespenst, wiederum andere für eine Ausgeburt der Hölle.
»Ich selbst wurde von Mittelsmännern des Syndikats beauftragt, Helena Morrow und Sergej Sokolov zu liquidieren. Das dritte Opfer, Thomas Bendermann, hat dann den Spieß umgedreht und mich rekrutiert, um den oder die Hintermänner der Morde ausfindig zu machen.« Sandrina schnaufte erschöpft durch. »Beginnen wir nochmal, Ortiz! Nicht zuletzt, weil ich Ihre Familie mag und weil Familie für Italienerinnen und Kubaner gleichsam heilig und wichtig ist!«
Esmeralda Ortiz deutete mit einem Laut an, sprechen zu wollen. Arthur blickte Sandrina an, diese nickte. Er riss das Klebeband von ihrem Mund.
»Gonzales Ortiz, kannst du mir sagen, in was für eine Scheiße du uns da gebracht hast?« Esmeralda war trotz der bedrohlichen Lage außer sich vor Zorn.
»Ich ... hätte dir das irgendwann erklärt, Liebes«, stammelte Gonzales halbherzig herum.
»Ach ja?«, giftete sie ihn an. »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt! Besser kann er gar nicht sein!«
Da hat sie recht, dachte Sandrina. Besser kann der Zeitpunkt für den lieben Gonzales gar nicht sein! Besser geht es wirklich nicht!
Hilfe, lieber Gott! Hilf uns!
Diese ersten Gedanken peitschten durch Mercy Bowlers' Verstand, als sie aus einer tiefen Bewusstlosigkeit erwachte.
Hektisch und ängstlich sah sie sich um. Der Fleischerhaken zu ihrer Rechten war leer. Einsam hing dieser an einer rostigen Kette von der Decke herab.
Wo ist Liddi? Um Himmels willen! Wo ist sie?
Wild zerrte die nackte Blondhaarige an ihren Fesseln, konnte sie jedoch nicht lösen.
Panik und endlose Angst bissen sich in ihren Magen und in ihr Herz hinein, schienen riesige Brocken herauszureißen. Erst jetzt bemerkte sie die Spuren von Rot an ihrem Körper. Ein brennender Schmerz grub sich in ihren Geist, als sie die Biss-Spur an ihrer linken Brust bemerkte, die dicht neben den alten Narben waren.
Diese alten Narben, die ihr einst Benjamin Micker, der psychopathische Nuttenmörder der Bronx, brutal zugefügt hatte.
Eine grauenvolle Erinnerung durchwühlte Mercy.
Mit diesen grässlichen Erinnerungsbildern setzte zeitgleich flammende Pein in ihrer wund gescheuerten Vagina ein.
Dieser elende Scheißkerl, durchschoss es die Frau in einer Welle aus aufschäumender Wut und grenzenlosem Hass. Erneut zerrte sie vergeblich an den strammen Stricken, mit denen sie an einem Fleischerhaken hing. Schließlich brüllte sie ihre Verzweiflung aufs Heftigste hinaus. Ihre Schreie hallten von den feuchten Kellerwänden und dröhnten in ihren Ohren. Sie gab sich dieser Unbändigkeit aus Leid und Furcht einige Minuten hin, schließlich brach sie erschöpft ab.
Es wird niemand kommen - ich bin ganz alleine, flammte ein einsamer Gedanke in ihr auf, um im nächsten Moment zu erlöschen.
Mit starker Wucht wurde die Stahltür am Eingang des Verlieses aufgestemmt. Metall schabte rau am Boden entlang. Benston, der Diener des Ur-Bösen, kam herein und lächelte erfreut. In seinem schwarzen Anzug und dem weißen Hemd hatte er das Aussehen eines kränklich wirkenden Leichenbestatters.
»Wo ist Lydia?«, raunzte Mercy ihn an. Tränen des Zorns und der Erschöpfung flossen über ihr Gesicht.
Benston, der Mercy seinen wahren Namen nicht verraten hatte, da er einen Angriff der gläubigen Frau durch ein Gebet mit Namensnennung befürchtete, schritt vor die Nackte hin und leckte über die frische Bissstelle.
»Wie köstlich eine Auserwählte doch mundet«, sagte er überheblich und schnalzte mit der Zunge.
Die Blondhaarige spuckte ihm daraufhin auf das Monokel, das er trug.
»Verrecke an meinem Geschmack, Bastard!«
Gemächlich holte der Mann ein schwarzes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche heraus und reinigte das Glas seiner Sehhilfe von Mercys Spucke.
»Oh, wie mir scheint, bist du eine kleine Wildkatze, nicht wahr?«, sagte er, und seine Mundwinkel formten ein fieses Lächeln.
»Gottes kleine Wildkatze!«, zischte Mercy Bowlers durch ihre Zähne.
Bei der Erwähnung Gottes stach es in Benstons schwarzes Herz. Es war für ihn ziemlich lästig, schon bei der Erwähnung des Herrn gepeinigt zu werden. Mit einer barschen Ohrfeige, die Mercys blondes Haar zur Seite wirbeln ließ, versuchte er seine Schwäche zu überspielen.
»Wenn du einen Namen benötigst, Schlampe, dann such dir einen aus! Meinen richtigen Namen nenne ich dir nicht!«
Die Blondhaarige spürte einen kupferartigen Geschmack in ihrem Mund. Wegen der Ohrfeige hatte sie sich auf die Zunge gebissen. Das Gemisch aus Schleim und frischem Blut spie sie mit einem verächtlichen Laut auf Benstons schwarze, blank polierte Salonschuhe. Der Dunkle weitete entsetzt seine Augen, da er sich das teure Paar erst vor kurzem hatte anfertigen lassen - und die exquisiten Schuhmacherwerkstätten in London waren gewiss nicht billig. Rasch beugte er sich nach vorne und wischte mit dem Taschentuch über die Schuhspitzen. Unvorsichtigerweise kam er der Frau zu nahe. Mercy winkelte blitzschnell ihr rechtes Knie an und fetzte es gnadenlos in sein Gesicht. Ein überraschter, sehr weibisch klingender Schmerzensschrei ertönte. Benommen torkelte der Mann zurück und landete hart auf dem Hintern. Sein Monokel war ihm vom Auge gefallen. Glücklicherweise hatte dieses zur Sicherung ein feines Goldkettchen, das an einem Knopfloch seiner Anzugjacke eingehakt war. Nun hatte Benston den Geschmack von Kupfer auf seiner Zunge.
Wortlos stand er auf und blickte Mercy abschätzend an.
»Das könnte zwischen uns beiden ... sehr unterhaltsam werden«, stellte er mit heiserer Grabesstimme fest.
Mercy ignorierte sein Gerede.
»Wo ist meine Freundin?«, wollte sie unbeirrt ein weiteres Mal von ihm wissen.
»Tot«, antwortete er knapp. »Oder hast du geglaubt, ich lasse die Stimme und ihren Balg am Leben?«
Mercy Bowlers wusste, wann ein Mann log oder nicht. Dabei war es gleichgültig, ob dieser zu den Hellen oder Dunklen gehörte. Sie war eine Straßenritze, eine Hure mit viel Gespür für solche Einzelheiten.
Männer waren nicht sonderlich talentiert, wenn es ums Täuschen oder Lügen ging.
Frauen ebenfalls nicht - doch die meisten Männer taten sich generell schwer damit, zu verstehen, was eine Frau wirklich meinte, wenn sie sprach.
»Du lügst«, stellte sie klar in den Raum und war sich sehr sicher bei dieser Aussage.
»Ach, du denkst, dass ich Unwahres verbreite? Wie amüsant! Es war ein Vergnügen ihnen dabei zuzusehen ...«, meinte Benston und verstummte absichtlich, um Mercy zu verunsichern.
»Zuzusehen? Wem?«, herrschte Mercy ungehalten heraus, von einer plötzlichen Ungewissheit gepackt. Spricht dieser Scheißer doch die Wahrheit?
Trotz der Sorge um Lydia, die sie nun vollends beherrschte, empfand sie ein durchdringendes Ekelgefühl, wenn sie den aristokratisch wirkenden Mann nur anblickte. Diese Abscheu schien stärker zu sein als alle Furcht vor dem Bösen, stärker als die Unklarheit, was den Verbleib ihrer Freundin anbelangte.
»Meine Vasallen«, flüsterte der Mann bedrohlich sanft und fixierte dabei Mercys blaue Augen, »haben sich leidenschaftlich an Lydias Weiblichkeit vergangen. Zu Dutzenden haben sie das getan, inbrünstig ihren Samen hinausgetrieben.«
Ein ungutes Gefühl machte sich schleichend in Mercys Herz breit, dennoch vertraute sie ihrem Instinkt und ihren Erfahrungen mit Menschen.
»Nur Gerede, Shitface! Ich glaube dir kein Wort!«
Auf Benstons kalkblasser Stirn zeigten sich Falten des Erstaunens.
»Shit ... face? Warum nennst du mich so?«
»Weil du mir deinen richtigen Namen nicht nennst - du sagtest, ich könne mir einen aussuchen. Schon vergessen?«
Der Dunkle spitzte angewidert seine blauhäutigen Lippen.
»Ich kenne mich mit den amerikanischen Sprachentgleisungen nicht aus! Übersetze ich das richtig mit ... Scheißgesicht?«
Mercy lachte kehlig heraus, was in Anbetracht der Umstände einem wahren Wunder nahekam.
»Nein, Shitface bedeutet schlicht ... Arschgesicht!« Zwinkernd schob sie brüsk nach: »Wahrscheinlich passt der Name sogar besser zu dir als dein richtiger!«
Benston war außer sich vor Wut. Seine dunklen Augen glühten regelrecht. Unbewusst ballte er die Fäuste.
»Du elende Fotze ...!«, schwappte es aus ihm hervor, um dann von Mercy schroff ausgebremst zu werden.
»Oh, danke!«, unterbrach sie Benston. »Ist doch bestens«, erklärte sie mit beißendem Zynismus in der Stimme. »Du sagst Fotze zu mir - und ich habe naturbedingt eine!« Lachend ergänzte sie ihre vulgären Ausführungen: »Deswegen nenne ich dich auch ... Shitface!«
Der Diener des Ur-Bösen zwang sich, zu schweigen.
»Du hast übrigens recht«, sagte die blondhaarige Straßenritze abschließend als freches, kurzes Resümee. »Das könnte zwischen uns beiden ... wirklich sehr unterhaltsam werden.«
Weiter so, Kleine! Lass dich nicht unterkriegen, flüsterte ihr der unsichtbare weibliche Schutzengel Stephanie Moody ins Ohr. Und dieses ... Shitface ist ja sowas von originell, obwohl ich dir ja eigentlich das Schimpfwort Loser zugeflüstert habe!
Mercy antwortete ihr in Gedanken.
Gott gab mir den freien Willen hierzu! Und ich bin sehr kreativ bei so etwas! Ich habe in der Bronx gearbeitet!
Stephanie war sehr amüsiert über Mercys Dreistigkeit.
»Und? Wie geht das hier nun weiter?«, fragte die Blondhaarige den Dunklen in forderndem Tonfall.
Doch Benston sagte weiterhin nichts, forschte ernst blickend in seiner Gedankenwelt. Äußerlich zeigte der Mann keinerlei Regung, doch eine erfahrene Frau wusste das natürlich besser.
Mercy grinste eine Spur herablassend den innerlich zur Weißglut gereizten Benston an, dessen wirklichen Namen sie erst in 30 Jahren erfahren würde.
Eines Tages werde ich dich töten, dachte sie - ein Gedanke, der ihre Furcht gänzlich tilgte und vergessen machte.
Ja, Gottes kleine Wildkatze war noch nicht am Ende.
Sie war schließlich eine Auserwählte vor dem Herrn.
Sie war die Macht - und Shitface würde dies eines Tages erfahren.
Früher oder später.
Es war 06:00 Uhr in der Früh, als Thomas Bendermann von Cedric geweckt wurde. Bendermann war vor dem LED-Fernseher im Sessel erschöpft eingeschlafen. In seiner Hand hielt er noch die flache Fernbedienung. Immer wieder war er aus Sorge um Mercy von einem Nachrichtenkanal in den nächsten gezappt, bis er schließlich übermüdet eingeschlafen war.
Cedric, ein hochgewachsener, junger Mann, englischen Ursprungs, befand sich seit zwei Jahren in der Anstellung als Butler. Er war mit den Eigenarten seines Chefs vertraut - jedoch hatte er ihn noch niemals vor dem Fernsehgerät geweckt.
Dies war eine Premiere.
Schlaftrunken rappelte sich Bendermann hoch.
»Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir«, näselte der Diener in dem dunkelblauen Anzug. »Ein Telefonat in Ihrem Arbeitszimmer - ein gewisser Spencer Waxman, aus der Filiale in Abu Dhabi.«
Thomas Bendermann war hellwach und schnellte regelrecht aus dem Sessel hoch.
Cedric wunderte sich sehr darüber, dass der ältere Mann noch diese Schnelligkeit besaß.
Waxman, durchschoss es Bendermann. Vielleicht hat er eine Nachricht!
Spencer Waxman war der vertretende Geschäftsführer. Seine Vorgesetzte war Stephanie Moody. Bendermann hatte Stephanie und zwei Mitarbeiterinnen aus der Buchhaltung losgeschickt, um Mercy, ihren Bruder, sowie Lydia van Bush und Karl Wisemeyer in Dubai mit Firmenlimousinen abzuholen. Das war unmittelbar nach dem Anschlag in der Lobby-Bar des Hotels gewesen, Stunden vor dem entsetzlichen Flugzeugabsturz, der seitdem alle Rettungskräfte in Atem hielt.
»Hier spricht Bendermann«, sagte der Grauhaarige in das Telefon. Seine Stimme war eine Mischung aus großer Aufregung und purer Sorge.
»Waxman hier, Sir. Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber hier sind drei Männer aufgetaucht, die mich darum baten, Sie anzurufen.«
Bendermann sah auf die Armbanduhr.
»In der Filiale? Was machen Sie in aller Herrgottsfrühe dort, Waxman?«, fragte er unsinnigerweise nach. Ein Chef eines Unternehmens konnte irgendwie nie so richtig damit aufhören, sich Gedanken um seine Angestellten und deren Arbeit zu machen - selbst in kritischen Ausnahmesituationen.
»Da Sie Peggy und Claire aus der Buchhaltung zu einem Sonderauftrag abberufen haben und Stephanie ebenfalls nicht vor Ort ist, habe ich mich schon mal mit Arbeit eingedeckt, Sir.«
Guter Mann, dachte Bendermann. Er hatte es noch nicht bereut, den wegen Steuerhinterziehung gesuchten Waxman vor Jahren in seine Filiale aufgenommen zu haben - inklusive neuer Papiere und eines neuen Nachnamens. Und während man in Europa nach einem gewissen Peter Schulze fahndete, arbeitete dieser als Spencer Waxman in Abu Dhabi und hatte sich als schwer ersetzbarer Mitarbeiter bei Bendermann’s Basics eingearbeitet.
»Top Job, Waxman«, bestätigte Bendermann knapp. »Wer sind die drei Männer?«
»Die sind mit einem Taxi gekommen«, erklärte der Mann rasch, »und haben dann wie die Bekloppten gegen die Glastüren unserer Filiale gewummert. Beinahe hätten die Typen unseren Alarm ausgelöst!«
»Mit einem Taxi ...?«
Thomas Bendermann konnte das Gehörte noch nicht richtig begreifen - vielleicht war es auch noch zu früh am Morgen.
»Das Taxi habe ich bezahlt - mit Bargeld aus der Filialkasse!«, schilderte Waxman weiter. »Ich hoffe, das war in Ordnung, Sir. Die Typen haben weder Geld, noch Ausweise, doch Sie sagten ...«
Schließlich wurde dem munter erzählenden Spencer Waxman das Telefon aus der Hand genommen.
»Hier spricht Karl Wisemeyer!«
Thomas Bendermann fiel der sprichwörtlich oft zitierte Stein vom Herzen - jedoch nur kurzzeitig und nicht ohne einen bitteren Beigeschmack.
Es hatte sich nur Wisemeyer gemeldet.
Nicht Mercy und nicht Ansgar.
Und wieder war Bendermann voller Furcht.
Ein Gefühl, das scheinbar dauerhaft ein ungeliebter Gast geworden war.
Etwas Schlimmes ist geschehen, dachte er und erwartete genau dieses zu hören.
Er wurde nicht enttäuscht.
Mein Name ist Estelle Brukner!
Wissen Sie, was mich an Engeln stört - sie sind anstrengend! Und sie erfüllen nicht das geringste Klischee, das normalsterbliche Gläubige von ihnen haben! Vergessen Sie schlicht unsere romantisierte Vorstellung von Himmelsboten mit Flügeln auf dem Rücken! Der Engel von heute flattert und fliegt nicht umher, er denkt sich irgendwo hin - und das weltweit! In Sekundenschnelle macht er das! Ja, Sie haben richtig verstanden!
Nehmen Sie auch gleich Abschied von der weit verbreiteten Meinung, dass Engel keinen Sex haben! Und damit meine ich nicht Sex untereinander, sondern vielmehr ... Sex mit uns! Oh, blass sind Sie geworden! Ja, bei dem Thema musste ich auch schlucken - und zwar heftig! Selbstredend gibt es männliche und weibliche Engel!
Brauchen Sie mehr Informationen? Wollen Sie überhaupt mehr Informationen? Diese werden nämlich Ihr bisheriges Bild von Engeln kräftig demontieren! Sie wollen es trotzdem hören? Gut, ich habe Sie gewarnt!
Engel können sich in uns Menschen verlieben! Wenn diese Liebe erwidert wird und einen absolut reinen und guten Ursprung hat, ist es dem Engel gestattet, ein menschliches Dasein zu wählen. Dies wird natürlich nicht so gern gesehen, ist aber möglich. Der Engel verliert dann all seine Befugnisse und Gaben und wird zu einem sterblichen Menschen. Im Gegenzug muss er ein Kind zeugen oder gebären. Das werden dann besondere Menschen mit besonderen Aufgaben, die ich noch nicht herausgefunden habe.
Wenn Sie bisher nicht an meinem Verstand gezweifelt haben, dann können Sie sich getrost den Rest meines Vortrages anhören. Ob Sie mir glauben, ist eh Ihre persönliche Sache.
Jeder Mensch, dem sich ein Himmelsbote offenbart, sieht den Engel so, wie er ihn gerade in seiner Vorstellung benötigt. Sie verstehen, was ich mit meinem recht unbeholfenen Satz sagen möchte? Verständlicher kann ich es nämlich im Augenblick nicht erklären. Ich habe mir einen Engel immer als einen alten, weisen Lehrmeister vorgestellt. Diese fantasievolle Vorstellung hat sich in der Wirklichkeit manifestiert! Samuel, so heißt mein Engel, zeigt sich mir als Mittsiebziger mit weißen Haaren und passendem Kinnbart. Fay Fraser, eine ehemalige Lustdame, hält Engel für gutgebaute Schönlinge mit wilden Locken - und sie hat tatsächlich diese Fantasie in Fleisch und Blut erhalten! Sie wollen mehr Details, ja? Fay durchlebte mit meinem Engel Samuel eine entsprechende Nacht der hemmungslosen Liebe!
Oh, Ihre Kinnlade steht schon wieder offen! Sie wollten das doch hören, nicht wahr? Ich sagte Ihnen bereits zu Beginn, das wird ihre Vorstellung durcheinanderbringen, oder etwa nicht?
Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass sich die Himmelsboten oder Himmelsbotinnen in wohl gewählten und geschliffen gestelzten Sätzen ausdrücken. Sie können sich recht rasch den verbalen Voraussetzungen des menschlichen Gegenübers anpassen. Mit Kraftausdrücken sollte man ihnen jedoch nicht begegnen!
Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass sich Samuel schelmisch über die - wie er immer wieder sagt - begrenzte menschliche Art und Weise meiner Kommunikationsmöglichkeiten und meines Intellekts lustig macht. Echt wahr! Samuel überhäuft mich im Dialog mit frechen Doppeldeutigkeiten und tiefsinnigen Witzeleien, dass mir der Schädel brummt! Ich erzählte Ihnen ja schon, dass Engel anstrengend sein können! Meiner ist es jedenfalls!
Natürlich kann Samuel auch ernst mit mir sprechen - manchmal zu ernst! Da bekomme ich fast Furcht! Wenn er mir vom ewiglichen Kampf der Hellen gegen die Dunklen erzählt, erhöht sich mein Pulsschlag! Gute und böse Flüsterer, geheime Spiele, bei denen Seelen gewonnen oder verloren werden! Krähen, die als Boten des Bösen übers Land fliegen! Dazu gibt es einen diabolischen Sektionschef, der sogenannte Diener des Ur-Bösen. Er hat todbringende Knechte und seelenverderbende Vasallen als Anhänger! Die Dunklen sind Jünger des Bösen! Bei diesen Themen kann Sie die blanke Furcht packen!
Doch es gibt auch witzige Momente mit Samuel, der immer und immer wieder von sich behauptet, dass seine Dienstbezeichnung eigentlich Gärtner lautet und nicht Engel. Nicht nachfragen, bitte! Sie haben alles richtig verstanden - und ich mache keinen Scherz! Ich habe diese Information aus erster Hand - und er ist gewiss kein Mensch, und er lügt niemals!