Mittelrheinbrücke - Manuela Lewentz - E-Book

Mittelrheinbrücke E-Book

Manuela Lewentz

3,9

Beschreibung

Tod an der Rheinbrücke Nur der Tod ist dir gewiss, das Lachen dringt hohl an meine Ohren. Die Walther PPK zeigt auf mich, dann wird es dunkel. Die Zeitungen berichten schon seit Jahren über die geplante Mittelrheinbrücke, ein Plan, der die Gemüter der Menschen am Mittelrhein erhitzt und die Meinungen teilt. Während die einen nur eine Zukunft mit der Brücke für sich sehen, ruft der Plan zahlreiche Menschen, Umweltorganisationen und politische Akteure, wie die Grünen, auf die Straße, wo sie ihren Unmut kundtun. Erst die letzte Landtagswahl, die neue Koalition, hat die Rheinbrücke wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Ein renommierter Architekt aus Frankfurt ist für die erste Planung verantwortlich. Während Woche um Woche, immer wieder donnerstags, die Gegner der Brücke demonstrieren, geschieht ein Mord. Für einige Menschen ist fraglich, wie es nun weitergehen wird, ob die Mittelrheinbrücke noch gebaut und der Traum vieler Menschen wahr werden kann. Ein neuer Fall für Jil Augustin

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Inhaltsverzeichnis

20. Mai Minister Jörg Wagner

Freitag, 27. Mai »Ich«

Rückblick: 13. März, Wahlsonntag Jil Augustin, Kommissarin

Freitag, 20. Mai Kai Groß Organisator der Demo gegen die geplante Mittelrheinbrücke

Bürgermeister Otto Berg

Dienstag, 24. Mai Architekt Dr. von Stein

Lisa Maar Sprecherin der Gegner der Brücke

Architekt Arno Sauer

Marianne von Stein Mittwoch, 25. Mai

Doktor Caesar von Stein

Gegen 23.45 Uhr

Klaus Than, Besitzer der Fähre

Kai Groß Gegner der geplanten Rheinbrücke

Donnerstag, 26. Mai am Morgen Otto Berg, Bürgermeister

Innenminister Jörg Wagner Am Donnerstagabend

Doktor von Stein

Minister Jörg Wagner

Lisa Maar

Am nächsten Morgen

Freitag, 27. Mai Kommissarin Jil Augustin

Doktor Caesar von Stein

Freitag, 27. Mai »Ich«

Kommissarin Jil Augustin

»Ich«

Freitag, 27. Mai 16 Uhr Kommissar Schuster

Jil Augustin Kommissarin

Klaus Than Besitzer der Fähre

Kommissar Schuster

Kommissarin Jil Augustin

Lisa Maar

Jil Augustin Kommissarin

Samstag, 28. Mai am Morgen Jil Augustin

»Ich«

Lisa Maar

Jil Augustin

Marianne von Stein

Kommissar Schuster

»Ich«

Sonntag, 29. Mai Jörg Wagner Innenminister

Jil Augustin

Lydia

Marianne von Stein

Jil Augustin

Kai Groß Gegner der Mittelrheinbrücke

»Ich«

Arno Sauer Architekt

Jil Augustin

Montag, 30. Mai Kommissar Schuster

Marianne von Stein

Klaus Than

Jil Augustin

Kai Groß Organisator der Demo gegen die Brücke

Lydia

Arno Sauer Architekt

Dienstag, 31. Mai Marianne von Stein

Kommissarin Jil Augustin

Kommissar Schuster

Jil Augustin

Mittwoch, 01. Juni Bürgermeister Otto Berg

Kommissarin Jil Augustin

Arno Sauer Architekt

Kommissar Schuster

Jil Augustin

Otto Berg

Lisa Maar

»Otto Berg«

Jil Augustin

In den Medien war zu hören und zu lesen, es ist soweit! Die Rheinbrücke wird gebaut werden. Jahre haben die Menschen im Mittelrheintal, je nach Auffassung, verzweifelt für oder gegen den Bau der Brücke gekämpft, ganze Wahlen wurden dadurch beeinflusst. Erst die letzte Landtagswahl hat ermöglicht, das Bauvorhaben wieder auf die Agenda zu bringen. Der neue Landtag hat sich formiert und aus dem Abgeordneten Jörg Wagner ist unser neuer Innenminister geworden.

Jörg Wagner ist zuständig für Polizei, Feuerwehr, Straßen und nun auch für die Mittelrheinbrücke. Gerade diese ist zu einem Hauptthema geworden und steht seit seinem Interview vor zwei Tagen nun noch mehr im Fokus der Öffentlichkeit. Die Ankündigung, die Mittelrheinbrücke so rasch wie möglich zu bauen und dafür bereits Angebote von Architekten vorliegen sowie die Kostenplanung ins Auge gefasst zu haben, hat wie ein Blitz eingeschlagen. Umweltaktivisten sind seither aufgebracht am Diskutieren, am Demonstrieren. Einige Aktivisten der Gegenseite trafen sich bereits mehrmals, um ihren Unmut kundzutun. Die Gegner der geplanten Brücke marschierten am Rheinufer einiger Ortschaften, besonders viele in Sankt Goarshausen und in Kamp-Bornhofen.

Einer der Hauptaktionisten ist Kai Groß, 45 Jahre alt, Besitzer einer kleinen Gärtnerei in Kamp-Bornhofen. Bereits vor der Landtagswahl 2011 fing Kai Groß mit seiner Demo gegen die Mittelrheinbrücke an. In den vergangenen Jahren hat er seine Pläne zielstrebig verfolgt.

Vor der Wahl im März 2016 sah man ihn jeden Samstag am Rheinufer stehen, mit Plakaten, einem Stehtisch und dem inzwischen bekannten Gemüts-Tee, den er gerne ausschenkt. Sein Versuch, im Vorfeld die Menschen zum bewussten Wählen seiner Partei zu motivieren, immer in der Hoffnung die Brücke zu verhindern, ist in der Region bekannt. Kai Groß ist kein Mann mit leisen Tönen, im Gegenteil, er versucht mit allen Mitteln sich Gehör zu verschaffen. Allein am letzten Donnerstag sind mehr als 112 Demonstranten in dem kleinen Dorf am Mittelrhein auf die Straße gegangen. Mit Plakaten ausgerüstet, einige mit Sonnenblumen in der Hand, marschierten sie am Rheinufer entlang bis nach Kestert. Die kleine Demonstration verlief ruhig, so die Mitteilung der Polizei. Bürgermeister Otto Berg, erst seit rund zwölf Monaten im Amt, musste die kleine Demonstration dulden. Obgleich ihm dies, als vehementem Befürworter der Rheinbrücke, schwerfiel.

Kai Groß ruft die Aktivisten auf, auch am kommenden Donnerstag wieder zu demonstrieren. »Wir müssen die Politiker wachrütteln, den Menschen vor Augen halten, was sie mit unserer Umwelt vorhaben!«, so seine Worte, die er laut in ein Mikrofon spricht. Applaus erklingt, Sonnenblumen ranken in die Höhe, die Masse scheint zufrieden zu sein. Bevor man sich trennt, lässt Kai Groß noch ein Foto machen, die örtliche Presse ist dankbar für das Spektakel. Nach etlichen Berichten über nicht wirklich aussagekräftige Themen ist jetzt wieder Salz in der Suppe.

20. Mai Minister Jörg Wagner

Mein Tagesablauf ist neu für mich. Seit ich Minister bin, füllt sich mein Kalender mehr und mehr, freie Zeit für mein Hobby, das Joggen, fehlt. Ich möchte mich rasch in die neuen Aufgabenfelder einarbeiten, mein Ziel, die Mittelrheinbrücke zu bauen, will ich forcieren und werde damit den Menschen der ganzen Region einen Aufschwung bringen. Während des Wahlkampfes habe ich gespürt, wie sehr die Menschen sich die Brücke wünschen. Viele der Argumente, die ich Abend für Abend hörte, waren mir bekannt. Auch ich habe oft darunter leiden müssen, nicht die Kontakte zu Freunden zu pflegen, die auf der anderen Seite des Rheins leben. Einen Umweg von 50 bis über 80 km nimmt niemand mal so eben in Kauf. Jeder Termin, jede Einladung wird ohne Rheinbrücke genau abgewogen. Lohnt es sich, den Stress auf sich zu nehmen? Solche und ähnliche Fragen standen von Anfang an in meinem Kopf. Natürlich nutze ich auch die Fähre, bin froh darüber, durch sie wenigstens über Tag beweglich zu sein. Mobil möchte ich dieses Angebot nicht nennen. Immer und immer wieder ärgere ich mich, wenn ich an der Haltestelle der Fähre ankomme und diese gerade ablegt. Geflucht habe ich deswegen des Öfteren, sicherlich nicht als Einziger. Die 12 bis 18 Minuten, die ich auf diese Weise bisher verloren habe, unnütz in meinem Auto sitzen und nur die Fähre beobachten konnte, lassen sich rasch auf Stunden, über die Jahre hinweg zu Tagen, summieren. Nutzlos wurde hier Zeit verloren, die kostbar und anders einzusetzen gewesen wäre.

Mit der Mittelrheinbrücke kommt die zeitliche und räumliche Unabhängigkeit. Niemand muss mehr an Geld für die Überfahrt denken, niemand verliert Zeit durch unnützes Warten. Einmal ist es mit tatsächlich passiert, ohne Geld auf der Fähre zu stehen. Es war ein Tag, der sich zum Wiederholen nicht eignet. Ich hatte Stress auf der Arbeit, meine damalige Freundin hatte am Tag zuvor mit mir Schluss gemacht, mein Kopf war voll mit Sorgen.

Das für den Bau der Brücke ausgesuchte Architekturbüro hat einen grandiosen Ruf, weltweit waren die Mitarbeiter im Einsatz. Mir wurde versichert, der Auftrag für die neue Mittelrheinbrücke sei in den besten Händen. Mein Bauchgefühl war von Anfang an positiv, die Gespräche haben meinen Eindruck bestätigt, den ich schon beim Lesen der Referenzen erhalten hatte.

Nervig finde ich die Demos, die regelmäßig von Kai Groß organisiert werden. Bereits im Wahlkampf versuchte er polemisch, mich anzugreifen, kam zu Veranstaltungen und dachte, mit seiner Art zu punkten, mich aus dem Rennen zu bringen. Eigentlich, so denke ich mir, ist der Mann ein armes Würstchen. Seine Gärtnerei soll nicht mehr gut laufen, auch daran ist er selbst schuld, da bin ich sicher. Ich hege auch kein Interesse mehr an dem Einkauf bei ihm. Statt dem gewünschten Blumenstrauß kommt eine Belehrung, oft mit lauten Worten untermalt, das muss ich mir nicht antun.

Trotzdem will und kann ich den Mann nicht unterschätzen. Immerhin gelingt es ihm Woche um Woche, Menschen dazu zu mobilisieren, auf die Straße zu gehen. Böse Stimmen sagen, denen geht es nur um ein Happening, doch ganz einfach so sehe ich die Demonstrationen nicht. Plakate werden regelmäßig neu gestaltet, dahinter steckt Arbeit und eine gewisse Organisation.

Seit meinem Interview, der offiziellen Ankündigung, die Planungen rund um die Mittelrheinbrücke zu forcieren, steht mein Telefon nicht mehr still. Mein Wunsch, alles soll ruhig verlaufen, scheint nicht in Erfüllung zu gehen. Die Anzeichen, die ich erkennen darf und muss, verheißen nichts Gutes, das macht mir Kummer.

Freitag, 27. Mai »Ich«

Seit einigen Tagen ist die Vergangenheit für mich wieder präsent. Ich fange an, unruhig und fahrig zu agieren, mein Handeln ist nicht mehr durchdacht, somit schleichen sich Fehler ein. Alles, was die Menschen der Region gerade beschäftigt, hat mit der geplanten Mittelrheinbrücke zu tun. Die Zeitung ist täglich voll mit Kommentaren, Artikeln und Fotos. Mich beschäftigt das Projekt ebenfalls, wenn auch auf eine ganz tiefe, innere und eigene Erfahrung beruhend.

Hass ist kein gutes Gefühl. Ich spüre jedoch, dass der Hass in mir die Überhand gewinnt und ich das, was ich dachte, verdrängt zu haben, nicht vergessen kann. Bilder sind vor meinen Augen, die zeigen, dass ich handeln muss. Ja! Ich bin inzwischen der festen Überzeugung, dass ich etwas tun muss, auch der Überzeugung, dass ich töten darf. Wenngleich mir der Schweiß bei dem Gedanken daran auf die Stirn kommt. Es gibt den Spruch: Der Krug kommt solange zum Brunnen bis er bricht. Mit der Seele ist es so ähnlich. Meine Seele hat vor langer Zeit Risse erhalten, die nicht heilen wollten, deren Wunden noch schmerzen und mir immer wieder vor Augen führen, was ich vergessen, verdrängen wollte. Meine Vergangenheit!

Mein Leben ist es, das ich schützen möchte. Viel zu lange habe ich gelitten, heimlich, ganz einsam und so, dass die anderen Menschen nicht mitbekommen konnten, was ich empfinde, wie sehr ich leide. Viel zu viele Träume sind gefüllt mit Blut. Ich wache morgens auf, bin aufgewühlt, verschwitzt, fühle mich, als hätte ich nicht für eine Minute meine Augen zu gehabt.

Bei meinem Anblick im Spiegel sehe ich einen Menschen, der sich entfalten muss, aus seinem Kokon heraus will, um endlich aufzublühen, zu leben. In diesen Minuten lege ich meine Walther PPK in meine Hände.

Die Waffe liegt dann schwer und doch so leicht in meinen Händen. Oft, ja, sehr oft schon, habe ich sie in meinen Händen gehalten, sie fühlt sich gut an. Je öfter ich die Waffe in meiner Hand habe, umso vertrauter ist der Ablauf. Heute ist jedoch noch die Schießscheibe mein Ziel. Ich bin gut, richtig gut bin ich geworden. Das Ziel wird schon bald ein anderes sein, eines, das ich treffen werde, mitten in das kalte Herz. Ein Datum bin ich am Suchen, eines, das die Menschen sich merken können. Mein Handeln soll in Erinnerung bleiben. Ich will und muss mich auf einmalige Art und Weise verankern in den Köpfen der Menschen vor Ort. Wenn ich ehrlich in mich hinein höre, meine innersten Wünsche nach Rache erkenne, fühle ich oft zweierlei Empfindungen. Die eine Seite, die mir die Rache erlaubt, mich glauben lässt, dadurch frei und stark zu sein, dann wieder kriecht auf der anderen Seite die Angst in mich, der Schweiß bricht aus beim Gedanken, zu schwach für dieses Leben zu sein. Ich muss es ertragen, den Schweiß zu spüren, der kalt über meine Stirn läuft, sich seinen Weg sucht.

Wer hat jemals gefragt, wie ich mich fühle? Meine Versuche, einen einzigen Namen zu finden, sie scheiterten. Niemand war für mich da! Auf eine offene Tür warte ich noch heute. Launig gehe ich durch den Raum, in meiner Hand noch immer die Walther PPK.

Wieso komme ich nicht zur Ruhe? Warum kann ich nicht einfach so weiterleben, nach vorn schauen und meine Aufgaben erledigen? Anderen Menschen gelingt dies doch auch. Sie streifen am Abend mit ihrer Kleidung die Sorgen ab, legen sich hin und schlafen.

Erneut blicke ich auf die Waffe in meiner Hand. Die Walther PPK, ein handliches Modell, eine gute Waffe. Wird sie mir die innere Freiheit geben? Mein Handy klingelt, ich schiele auf die Nummer, die mir seit vielen Jahren bekannt ist, unvermittelt bin ich wieder in der Gegenwart.

Die Waffe lege ich fort, lasse sie jedoch in Reichweite ruhen, als Sicherheit für mich selbst. Meine Stimme klingt ganz normal, als ich das Telefonat annehme, routiniert antworte ich, obgleich mein Blick immer noch auf der Walther PPK ruht.

Ist es Fügung? Der Anruf? Die Verabredung? Mein Gang zur Toilette zollt meiner plötzlichen Nervosität, ebenso mein Durchfall. Beim Waschen meiner Hände blicke ich in den Spiegel, lächele mich an, siegessicher! Mit leichtem Schritt verlasse ich mein Haus. Meine rechte Hand umklammert die Walther PPK, die in der Tasche meines Sommermantels liegt. Ist der Tag der Abrechnung doch schon gekommen? Die Waffe zu fühlen, hilft mir meinen Entschluss zu festigen. Mit jedem weiteren Schritt gehe ich ihm entgegen, dem Menschen, der mir so wehgetan und mich gedemütigt hat. Ist es ein Weg in die Hölle? Kommen Mörder in die Hölle?

Meine Gedanken weichen ab in meine Kindheit. Ich sehe mich in der Grundschule sitzen beim Religionsunterricht. Ein Schauer läuft mir über meinen Rücken. Kurz bleibe ich stehen, atme tief ein und aus, umklammere noch fester die Walther PPK und gehe weiter. »Vergebung«, flüstere ich vor mich hin.

Als ich ihn sehe, spüre ich wieder diesen Druck in meinem Bauch, blinzele mit meinen Augen, blicke mich nervös um. Auch seine Hände sind nicht leer, was genau er festhält, kann ich noch nicht erkennen. Meine Schritte werden schwerer, jeder Schritt fühlt sich beklemmend an.

»Ich habe schon gewartet!«, ruft er mir launig entgegen. Ja, genauso ein arrogantes Verhalten habe ich vermutet. Nur eine Minute habe ich mich verspätet, mein Durchfall nahm mir die Zeit, das jedoch geht ihn nichts an. Sein anschließender Blick auf seine Armbanduhr, deren Gold in der Sonne glänzt, passt ebenfalls. Kurz bleibe ich stehen und beobachte ihn. Beim Weitergehen sind meine Füße leicht, mein Gang beschwingt, ich grinse, in meiner rechten Hand liegt immer noch die Walther PPK. Die nächsten Worte, die er mir entgegen schreit, polternd und mit Hohn in den Augen, bringen mein Blut in Wallung. Ein Versuch, ihn von seiner Idee und Drohung abzubringen, scheitert. Von mir gibt es nur noch Verachtung. Das Gefühl, vernichtet zu werden, in sich einzusacken, keine Kraft mehr zu verspüren, um aufzustehen. Ich musste sie erleben, diese Zeit, und ich habe mir geschworen, so tief sinke ich nie wieder.

Meine Hand reagiert ganz automatisch, wie von fremder Feder gelenkt. Ich handele und doch fühle ich mich, als stünde ich neben mir, bin nur der Regisseur, nicht der Handelnde. Beim Anblick der Walther PPK in meiner Hand erlischt sein Lachen. Panik macht sich breit, seine Augen zucken, stammelnde Worte kommen aus seinem Mund. Habe ich noch gedacht und gehofft, es seien Worte der Entschuldigung, der Erklärung für sein Verhalten, so habe ich mich getäuscht.

Rückblick: 13. März, Wahlsonntag Jil Augustin, Kommissarin

Der heutige Sonntag ist seit langer Zeit ein freier Tag für mich. Die letzten Wochen waren anstrengend, es gab immer wieder kleinere Delikte, die bis zu ihrer Aufklärung Zeit gekostet haben. Eine Reihe von Einbrüchen konnte nun endlich geklärt und somit gestoppt werden. Die Menschen waren schon in großer Aufregung. Gestern am Abend bin ich mit dem festen Vorsatz, endlich einmal auszuschlafen, in mein Bett gegangen. Mein Handy hatte ich in alter Gewohnheit auf meinen Nachttisch gelegt, was mir nun zum Verhängnis wird. Gegen acht Uhr werde ich unsanft vom Klingelton geweckt, denke schon, die Kollegen können doch mal einen Tag auf mich verzichten. »Was ist passiert?«, melde ich mich und darf unvermittelt die fröhliche Stimme meiner Mutter hören. »Guten Morgen, Jil, ich hoffe, mein Anruf hat dich nicht geweckt?«

Meine Mutter, ich soll sie bitte nur Lydia nennen, das klinge jünger und moderner, erzählt, sie bereitet gerade eine neue Vernissage vor. »Bitte nicht schon wieder eine Ausstellung, die ausschließlich Aktbilder zeigt«, betone ich launig. Lydia lacht meine Sorgen weg. »Komm bitte zu mir und hilf mir, die Bilder in das Rathaus zu bringen!«, höre ich Mutter ins Telefon trällern. »Wir können dann auch gleich gemeinsam ins Wahlbüro gehen«, legt Mutter den Hörer auf. Das Telefonat ist damit beendet. Dieses Verhalten passt zu ihr, genau wie der Wunsch, von der eigenen Tochter beim Vornamen angesprochen zu werden. Mutter ist so unkonventionell, so frei in ihrem Handeln, im Umgang mit Worten, wie ich es leider nie sein werde. Alles an ihr ist auffallend, schillernd. Eine Frau in ihrem Alter, so dachte ich noch bis vor wenigen Jahren, muss sich zurückhaltend kleiden, die Haare, wenn überhaupt, dezent färben. Meine Mutter hält sich an keine Vorschriften, lebt ihre Vorstellungen von einem individuellen Leben aus. Inzwischen, das muss ich mir lächelnd eingestehen, bin ich wirklich stolz auf sie, obgleich ich mich zurückhalte, ihr das zu sagen. Meine große Angst ist, dass dies Motivation für sie sein könnte, noch mehr über den Tellerrand zu blicken. Noch einmal schaue ich auf meinen Wecker, inzwischen ist es viertel nach acht. Beim Verlassen meines Bettes ist mein erstes Ziel die Kaffeemaschine, anschließend eile ich unter die Dusche.

Mutter steht schon wartend in ihrem Flur, als ich bei ihr ankomme. Sie wirkt wie der Frühling in ihrem langen Leinenkleid mit Blumenmuster. Dagegen wirke ich mit meinem Strickpulli und den Leggings wie ein Landei.

Bürgermeister Otto Berg, so berichtet Mutter mir mit fröhlicher Stimme, wird die Laudatio bei der Vernissage halten. Mein Schmunzeln kann ich nicht verbergen. Alleine die Vorstellung, dieser doch eher unscheinbare Mann spricht über meine Mutter, ihre Kunst, die Bilder, lassen mich am Gelingen zweifeln. Was auch immer Lydia in Richtung Kunst in die Finger nimmt, es ist bisher nicht ohne die nötige und gewollte Aufmerksamkeit ausgegangen.

Meine Gedanken wandern zurück zu ihrer letzten Vernissage in der Bank. Damals kam Manfred Luck, als Vertreter der hiesigen Presse, hinzu. Wir beide waren lange ein Paar mit vielen Höhen und Tiefen. Augenblicke und Momente aus dieser Zeit kommen in meinen Sinn und zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. Es liegt in der Natur der Menschen, mit Abstand nur das Schöne noch zu sehen, wenngleich ich mich nicht für naiv halte. Für mich, so will ich es mir einreden, ist es besser so, dass Manfred weg ist.

Aus den Augen aus dem Sinn, wenn das mal so leicht wäre. Männer, denen ich bisher näher kam, lieben es, anschließend das Weite zu suchen. Mein Kollege Hermann Josef Metzger hat sich ebenfalls nach der gescheiterten Beziehung mit mir versetzen lassen. Er arbeitet inzwischen in Karlsruhe. Tief in meinem Herzen weiß ich, es ist besser so. Auch mit ihm war das Leben nicht immer leicht und unbeschwert. Wer weiß, was das Leben noch an Überraschungen für mich bereithält. Es kann nur besser werden, ist mein neues Lebensmotto.

Mutter nimmt mich mit in ihr Atelier, etliche Bilder stehen an die Wände gelehnt und warten darauf, von uns ins Rathaus transportiert zu werden. »Anschließend gehen wir ins Wahlbüro, du hast doch deine Wahlberechtigung dabei?«, sieht Mutter mich skeptisch an. »Das heute ist eine sehr wichtige Wahl. Jede Stimme zählt. Ich erinnere dich an die geplante Brücke!«

Die Mittelrheinbrücke war in den Medien das Hauptthema in den letzten Wochen. Meine Mutter, das ist für mich zunächst kurios gewesen, hat sich vehement für den Bau der Brücke eingesetzt. »Wenn wir heute Abend genügend Stimmen haben, dann wird gefeiert«, ihre Wangen glühen, als ich gemeinsam mit Mutter die Bilder in ihren Wagen lade. Im Flur stehen ebenfalls Bilder für die geplante Vernissage. Ich frage mich, ob sie tatsächlich vorhat, alle mitzunehmen. Dieses Vorhaben scheitert jedoch schnell an der Größe ihres Wagens. Wir bekommen zunächst nur vier Bilder unter. »Dann müssen wir noch ein paar Mal hin- und herfahren«, seufzt Mutter, lächelt jedoch unvermittelt wieder. Etwas später tragen wir die ersten Bilder unter den Augen etlicher Menschen, die ins Wahlbüro gehen, ins Rathaus. Auch das ist typisch für meine Mutter. Dieses Vorhaben auf Montag zu verschieben, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Sie liebt es, im Mittelpunkt zu sein. Wenigstens müssen wir die Bilder nicht selbst aufhängen, dürfen alle vorsichtig an die Wand lehnen. Der Rest wird am Montag vom Bauhof erledigt.

Vor dem Wahlbüro zieht Lydia mich zur Seite, will mir noch sagen, wen ich wählen muss. »Ich bin aber schon erwachsen«, lasse ich sie lachend stehen, öffne die Tür und wähle in freier und geheimer Art und Weise.

»Wir sehen uns am Abend«, eilen wir vor dem Rathaus auseinander. Ich blicke Mutter noch kurz nach, lächele über ihr Verhalten, dann überquere ich die Straße. Mir ist nach einem kurzen Spaziergang am Rheinufer. Warum, so frage ich mich, habe ich nicht daran gedacht, meine Joggingschuhe anzuziehen? Heute wäre der ideale Tag für mein Hobby. Einen kurzen Moment überlege ich, nach Hause zu eilen, um mich umzuziehen, dann aber fällt mir mein Schreibtisch ein, der dringend geordnet werden muss, es ist bereits Mittag. Unachtsam habe ich in den letzten Tagen Kontoauszüge, Rechnungen und Werbepost gestapelt.

Tief Luft holend verweile ich einen Moment am Rheinufer und gehe einige Schritte, die mir guttun.

Mit Lydia bin ich fünf Mal hin- und hergefahren, um alle Bilder zu holen. Die ausgewählten Bilder, die wir ins Rathaus gebracht haben, sind geschmackvoll. Mutter hat ein Händchen für Farben, sinniere ich auf dem Rückweg.

Wieder zu Hause angekommen, sortiere ich Papiere und meine liegengebliebene Post, vergesse darüber die Zeit. Mutters Anruf kommt gegen 19 Uhr. Sie jubelt und bittet mich hörbar aufgekratzt, zu ihr zu kommen, um mit ihr auf das Wahlergebnis anzustoßen. Zunächst finde ich die Idee, mit meiner Mutter auf der Couch zu sitzen, Champagner zu schlürfen und den vermeintlichen Wahlsieg zu feiern, verrückt. Lydia kann ich aber in ihrer Freude nichts entgegensetzen und verspreche zu kommen. Ihren Wunsch, ich solle mich hübsch machen, nehme ich kommentarlos auf. Tatsächlich streife ich ein frisches Shirt vor dem Verlassen meiner Wohnung über, ziehe meinen blauen Blazer an, den ich letzte Woche erst gekauft habe. Den Lippenstift habe ich schon in der Hand, lege ihn aber wieder zur Seite. Für ein Treffen mit meiner Mutter muss ich nicht das ganz große Programm wählen, so mein innerer Impuls.

Mutter, so stelle ich vor ihrem Haus erstaunt fest, hat nicht nur mich eingeladen. Das Haus ist hell erleuchtet, Stimmen klingen bis auf die Straße. Schon von weitem habe ich die vielen Autos, die in der ganzen Straße verteilt sind, verwundert zur Kenntnis genommen, aber nicht gedacht, dass das Haus meiner Mutter Ziel ihrer Fahrer war. Beim Öffnen der Haustüre habe ich Mühe, durch den Flur zu kommen, überall stehen, teilweise mir unbekannte, Menschen. Einige Gesichter jedoch sind mir vertraut, so auch das von Bürgermeister Otto Berg. Was Mutter mit dem will, frage ich mich, grüße ihn jedoch freundlich und eile an dem Mann vorbei in den ersten Stock. Otto Berg macht auf mich einen spießigen Eindruck. Er hält, das habe ich direkt gesehen, ein Glas Wasser in den Händen, das passt in meinen Augen zu dem Mann.

Im Wohnzimmer treffe ich auf Mutter, die mich zur Seite zieht und mir nochmals sagt, ich solle sie vor den Leuten hier Lydia nennen. »Lydia macht mich jünger, ich fühle mich gut, beschwingt und hasse nichts mehr als Staub. Mein Körper zerfällt noch früh genug, heute jedoch wird gefeiert«, ein Glas Champagner oder vielleicht ist es auch der Sekt vom Supermarkt, wechselt dabei von ihren Händen zu mir. »Prost, Jil! Auf die Mittelrheinbrücke! Auf ein Miteinander der Menschen, dem Wachstum der Wirtschaft, dem Aufblühen der Region!«, ruft Lydia lautstark. Die Gäste klatschen und vergessen ihre gerade geführten Unterhaltungen, Lydia ist der heimliche Star. Ich sehe Mutter von der Seite an. Ihre roten Locken, das lange Leinenkleid, die großen Halsketten, die bunten Schuhe und Armreifen, alles an ihr ist ausgefallen. Mein Vater, so ist mir bewusst, hat mir seine Gene vererbt. Leider kam von Lydias Leichtigkeit, ihrer Freude das Leben anzunehmen, es zu genießen, nicht viel bei mir an.

Etwas abseits stehend beobachte ich das Spektakel im Haus meiner Mutter. Gegen 22 Uhr kommt noch ein Besucher. Ich bin überrascht und verwundert, denn Landtagsabgeordneter Jörg Wagner steht plötzlich in unserem Wohnzimmer. Lydia umarmt den Mann, beide lachen, er tätschelt Mutter die Wangen, nimmt gelöst ein Glas Sekt entgegen und stößt mit ihr an. Erst, als Lydia mich dazu bittet, bemerke ich, alle anderen Gäste haben die Szene ebenfalls beobachtet. Fasziniert liegen deren Augen noch immer auf Lydia und dem Abgeordneten, der nun wieder in den neuen Landtag einziehen wird und dank des tollen Ergebnisses sogar Chancen hat, Minister zu werden.

Gegen Mitternacht verabschiede ich mich von Lydia und von Jörg ebenfalls. Er, das muss ich zugeben, ist der erste Abgeordnete, den ich mit Vornamen ansprechen darf. Jörg, so finde ich, ist ein Mann ohne Allüren, völlig gelöst von dem Ergebnis der Wahl. Offen und herzlich, so durfte ich ihn kennenlernen.

Wieder in meiner kleinen Wohnung angekommen, bin ich beim Ausziehen meiner Schuhe gedanklich noch immer bei Mutter und ihrer Art, das Leben zu bewältigen. Nein, zu leben ist der richtige Ausdruck. Freiheit und Freude, diese Wörter passen zu ihr.

Freitag, 20. Mai Kai Groß Organisator der Demo gegen die geplante Mittelrheinbrücke

Mir liegt meine Heimat am Herzen. Das ist meine Motivation, meine Antriebsfeder, auf die Straße zu gehen, mich gegen die Politiker und ihre Entscheidungen zu wehren. Bereits seit Jahren versuche ich, meine Argumente anzubringen, meinen Worten Gehör zu verschaffen.

Am nächsten Donnerstag werden über 100 Menschen meinem Aufruf zur Demo gegen die geplante Mittelrheinbrücke folgen, vielleicht kommen jetzt nach dem Interview des Ministers noch mehr. Ich spüre, wie ich vor Freude kaum mehr auf meinem Stuhl sitzen kann. Die Plakate werden in meinem Gartenhaus gezeichnet, ich habe einen exakten Plan aufgestellt über den geplanten Ablauf. Uhrzeit des Treffens ist 18 Uhr, Treffpunkt ist die Anlegestelle der KD am Rheinufer in Kamp-Bornhofen. Die Lage ist zentral, in unmittelbarer Nähe gibt es Parkmöglichkeiten. Einige wenige Autos können auch auf meinem Grundstück vor meiner Gärtnerei parken. Die Frage nach Toiletten kam auf, ebenso nach Getränken. Mein Organisationsteam hat acht Aktive, die mich unterstützen und bei der Ausführung meiner Pläne helfen. In Wellmich findet zeitgleich eine weitere Demo gegen die Brücke statt, diese wird von einem anderen Team geplant.

Seit einigen Tagen erhalte ich anonyme Schreiben mit einem fast immer gleichen Wortlaut: »Eine sichere Zukunft für unsere Kinder, mehr Jobs mit der Brücke, Zusammenführung von Familien, gemeinsam Feste feiern.« Die Befürworter der Brücke lassen keine Gelegenheit aus, mir zu sagen und mir zu zeigen, was sie von mir und meinen Demos halten, nämlich nichts! Mehr und mehr werde ich zu einem Außenseiter.

Diese und ähnliche anonyme Schreiben landen immer wieder in meinem Briefkasten. Meine Gärtnerei wird von einigen Menschen ignoriert, nicht mehr zum Einkauf gewählt, seit ich aktiv wurde. Im Supermarkt werde ich angesprochen, bekomme Vorwürfe, solle endlich Ruhe geben und mich dem Entscheid beugen. Die kennen mich noch lange nicht, ist dann oft mein erster Gedanke. Kai Groß lässt sich nichts sagen, nichts vorschreiben oder durch anonyme Briefe unter Druck setzen. Das Gegenteil ist der Fall, ich bin jetzt wach genug, um mit ganzer Kraft zu kämpfen, mich dort einzusetzen, wo ich es für richtig halte. Aufhalten lasse ich mich nicht mehr!

Beim Verlassen des Supermarktes am Morgen hing ein Schreiben an meinem Fahrrad. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, einen Brief auf dem Fahrradsitz festzukleben. Zunächst hatte ich meine Lebensmittel in der Satteltasche verstaut, anschließend habe ich nachgesehen, was mir so dringend mitgeteilt werden musste.

Beim Aufreißen des Umschlages fielen mehrere Zettel auf die Erde. Ich bückte mich danach und registrierte, es war wieder nur Unsinn, der mir ins Auge fiel. Irgendein Mensch hatte sich erneut die Mühen gemacht, mir seine Pro-Mittelrheinbrücke-Argumente aufzuschreiben bzw. aufzulisten. Ich packte alles zusammen und brachte es zu dem Mülleimer am Supermarkt. Anschließend blickte ich mich noch einmal um. Der Parkplatz war gut gefüllt, im Minutentakt verließen oder besuchten Menschen den Supermarkt. Vielleicht, so überlegte ich beim nach Hause radeln, bekomme ich in den nächsten Tagen mitgeteilt, wer mir die Nachricht hat zukommen lassen. Irgendwer musste etwas beobachtet haben.

Ich will keine Brücke, für mich ist alles gut so wie es jetzt ist. Die Natur, so bin ich überzeugt, will und braucht keine Brücke, der Mensch hat kein Recht, einfach einzugreifen, seinen Willen der Natur aufzuzwingen.

Jetzt zu Hause koche ich mir einen Tee, suche die innere Ruhe. Eine Nachricht im Radio zu der geplanten Mittelrheinbrücke lässt mich aufhören. Ein Architekturbüro für den Bau sei gefunden, höre ich den Sprecher sagen. Jetzt, so spüre ich tief in mir, muss ich handeln. Die Zeit scheint gegen mich zu laufen, ich spüre Unruhe in mir aufkommen. Seit zwei Tagen glaube ich gegen den Strom zu schwimmen, gegen die laufende Zeit zu kämpfen. Ob ich wirklich einsehen muss, dass meine Demonstrationen, meine Aktivitäten keinen Erfolg haben werden? Unruhig laufe ich auf und ab, versuche, eine Lösung zu finden, die mir gefällt, meine Ziele und Wünsche verwirklichen kann. Eines ist gewiss, einen Kai Groß sollte man nicht unterschätzen. Mein Blick fällt auf mein Handy, ich nehme es an mich, überlege einen Augenblick. Ich bin fahrig, das ist nicht gut, trotzdem gebe ich dem Impuls nach und lasse die Nummer anwählen. Nur zusehen, rumstehen und abwarten bringt keinen Erfolg. Wenigstens versuchen muss ich für meine Ideale zu kämpfen.

Bürgermeister Otto Berg

So habe ich mir meine neue Aufgabe nicht vorgestellt, so hektisch, meine ich. Vor einem Jahr war es mir vergönnt, das Amt meines Vorgängers, er war viel zu früh und tragisch ums Leben gekommen, zu übernehmen. Als Mitglied meiner Partei bin ich seit Jahren aktiv, kenne die Belange der Bürger von Kamp-Bornhofen, dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Daher weiß ich auch, was für meine Heimat gut ist und wovon wir lieber die Hände lassen sollten. Jetzt also soll der große Aufschwung kommen, mit der Mittelrheinbrücke. Der Tourismus verspricht sich einen ultimativen Aufschwung für die ganze Region, die Politik verspricht den Menschen mehr Möglichkeiten, Arbeit zu finden. Mussten die Menschen bisher Umwege von bis zu 80 Kilometern in Kauf nehmen, soll es in Zukunft leichter werden, an zahlreiche Zielorte zu gelangen. Ein großes Plus wird auch die zeitliche Unabhängigkeit sein, kein Warten auf die Fähre ist mehr von Nöten.

Jahre, ja, Jahre wird es nun dauern, bis die Brücke steht. »Ich werde in Rente gehen, wenn es soweit ist«, habe ich lachend zu Innenminister Jörg Wagner gesagt. »Nein, nein!«, hat er abgewunken. »Das bekommen wir schneller hin.«

Wäre mir nur recht, ich hoffe die Gegner behalten in der Zukunft etwas mehr Ruhe. Dass ausgerechnet in meinem Ort die wöchentliche Demonstration stattfindet, passt mir nicht wirklich. Was soll ich tun? Mir sind die Hände gebunden. Jörg Wagner wird es nicht leicht haben in den nächsten Jahren, davon bin ich überzeugt. Der Besitzer der Rheinfähre in Boppard, Klaus Than, hat am letzten Sonntag einen Tag lang gestreikt, wollte so auf seinen Job aufmerksam machen und kundtun, dass die neue Brücke seine Arbeit vernichte. Seine Ankündigung, ab jetzt regelmäßig zu streiken, wirft noch immer neuen Unmut in der Bevölkerung auf. Sein Kollege aus Sankt Goarshausen will sich der Aktion anschließen, verhält sich aber noch sehr ruhig.

In unserer Region haben sich einige Architekten nach der Bekanntgabe erhofft, an dem Bau mitwirken zu können. Ich, das gebe ich offen zu, jedoch nicht. Mein Architekturbüro ist klein, meine Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Bau von Einfamilienhäusern, eventuell noch im Umbau des Kindergartens. Gestern war in einem Bericht zu lesen, dass zunächst ein Architekturbüro aus der Region den Zuschlag erhalten sollte, das Büro Arno Sauer. Mir ist das Büro bekannt, es zählt mit seinen sieben Architekten zu den weltweit besten Büros. Was letztlich ausschlaggebend dafür war, sich für das Büro von Doktor von Stein aus Frankfurt zu entscheiden, ich weiß es nicht. Natürlich habe ich in der Presse mit großem Interesse alle Berichte über die geplante Rheinbrücke verfolgt und intensiv gelesen. Der erste Entwurf, den ich in der Presse sehen durfte, hat mich zunächst verwundert und bei genauerem Hinsehen ... Ich war geschockt, ja, das war ich wirklich. Jetzt aber, vielleicht auch bewogen durch die Reaktion der Menschen vor Ort, finde ich meinen Frieden mit den Plänen der Architekten. Die Menschen stehen dem Entwurf positiv gegenüber. Er bringe sich ohne große Unruhe in das Gesamtbild ein, so der allgemeine Tenor. Es stimmt auch, die filigrane Linienführung der Brücke ist geradezu prädestiniert. Vor Tagen war auch ein Entwurf von dem Büro Arno Sauer in der Zeitung abgebildet. Mir kam er behäbig vor, die Brücke war zu dominant, jedenfalls in meinen Augen. Trotzdem werde ich, sobald sich die Gelegenheit ergibt, Innenminister Jörg Wagner diesbezüglich fragen, welche Gründe ihn und seine Kollegen zu dieser Entscheidung bewogen haben.

Erinnerungen aus meinen Kindertagen haben in mir rasch den Entschluss pro Brücke gefestigt. Es war für uns damals nicht möglich, Kontakt mit Kindern vom anderen Rheinufer zu halten. Vor allem in Teenagerzeiten, als wir anfingen bis abends auszugehen, waren wir durch die Fährzeiten stark eingeschränkt. Die letzte Fähre fuhr im Winter um 20.30 Uhr, definitiv zu früh für einen 17-Jährigen, um schon nach Hause zu fahren. Meine Eltern hatten nicht das Geld, mich umständlich über Koblenz fahrend abzuholen. »Denk nur daran, was das an Spritkosten mit sich bringt«, hat mein Vater oft betont. Meine Eltern sahen das nicht anders als die Eltern meiner Freunde. Kontakte zum anderen Rheinufer blieben daher aus. Heute sehe ich, mit einer gewissen Lebenserfahrung, noch mehr Probleme in der unnatürlichen Trennung von Menschen, die sich im Grunde so nahe sind. Bei der Gründung meines Architekturbüros habe ich auch an Boppard als Sitz gedacht. Die Umständlichkeit jedoch, jeden Morgen mit der Fähre in mein Büro fahren zu müssen, die Angst, bei Hochwasser einen Umweg über Koblenz und somit ungefähr 50 Kilometer zusätzlich in Kauf zu nehmen, haben mich diese Idee rasch verwerfen lassen.

In der Dorfkneipe, auf dem Sportplatz, überall ist die Mittelrheinbrücke das Hauptthema. Selbstverständlich haben die von Kai Groß initiierten Demonstrationen donnerstags ihr Übriges dazu beigetragen.

Wie seit wenigen Tagen fast jeder hier in der Region weiß, hat das Architekturbüro aus Frankfurt den Zuschlag erhalten. Dr. von Stein ist ein Architekt mit viel Erfahrung. Er und sein Team werden die Mittelrheinbrücke bauen. Googeln brauchte ich nicht, als ich den Namen hörte. Von Stein, das ist mir bekannt, hat viele Jahre in Dubai gearbeitet, genau wie ich. Lange ist es her, die wenigen Fotos von damals sehe ich gelegentlich an. Braungebrannt bin ich zu sehen. Die Zeit im Ausland, meine Arbeit, alles war prägend für mich. Doktor Caesar von Stein hat einige Hochhäuser in seinem bisherigen Leben schon erbaut, Brücken ebenfalls, im In- und Ausland, wie mir bekannt ist. In seinem Team arbeiten noch fünf weitere Architekten, drei Männer, zwei Frauen, allen bin ich schon begegnet, klasse Leute. Mit einer Mitarbeiterin ist er inzwischen verheiratet. Sie jedoch, kam mir nicht so umgänglich vor. In meinen Augen ist die Frau eine Karrierefrau. Wenn ich ganz ehrlich bin, etwas neidisch auf ihren Erfolg bin ich, vielleicht daher mein raues Urteil über diese Frau.

Gestern kam ein Anruf aus dem Ministerium. Der Vorschlag, hier in Kamp-Bornhofen eine Informationsveranstaltung zu der geplanten Mittelrheinbrücke durchzuführen, hat mich überrascht, mir vom ersten Augenblick an Kummer bereitet. Mein Einwand, dass in unserer Gemeinde gerade donnerstags für die nächsten Wochen Demos geplant sind, hat die Verantwortlichen nur in ihrem Vorhaben bestärkt. Kommenden Donnerstag, 18 Uhr, findet die Infoveranstaltung, so der Sprecher des Ministeriums, in unserer Gemeinde statt. Angekündigt als Redner sind Jörg Wagner, der Minister persönlich, ebenso Dr. Caesar von Stein, der Architekt, der zwei seiner Mitarbeiter mitbringen und den Anwesenden vorstellen wird und ebenso seine Frau Marianne, die mit ihm an dem Projekt der Brücke arbeitet. Die Vorbereitungen zu der Infoveranstaltung liegen nun in meiner Hand. Um einen reibungslosen Ablauf wird gebeten, so der Sprecher des Ministeriums. Missmutig habe ich zugesagt und mich anschließend geärgert, nicht Nein gesagt zu haben. Wieso, so frage ich mich, konnte ich meine Zweifel nicht stärker bekunden, mich durchsetzen?

Unruhig überlege ich mir am Abend die Worte zur Begrüßung. Einerseits ist es für mich eine passende Gelegenheit, mein Können im Umgang mit Worten zu präsentieren, andererseits, das macht mir Kummer, ahne ich, die Menschen werden mir nicht lange zuhören wollen. Einen Zettel mit Stichpunkten habe ich rasch gefüllt, der Stift wandert jedoch ebenso schnell wieder über einige Wörter. Ich streiche sie von meiner Liste. Der Entschluss, mich nur auf das Nötigste zu beschränken, erscheint mir am Sinnvollsten. Den Menschen, die zu der Veranstaltung kommen, wird es weniger um mich, dem Ortsbürgermeister, gehen, sondern vielmehr um das, was der Minister und der Architekt berichten werden.

Einen kurzen Moment denke ich an die auch für kommenden Donnerstag wieder geplante Demo der Gegner der Rheinbrücke. Die Idee, ausgerechnet den Donnerstag zu terminieren, hat mir von Anfang an nicht gefallen. Nur gut, dass die Demo der Gegner, wie bereits in den letzten Wochen, am Rheinufer stattfindet, weit genug von der Turnhalle und der Grundschule entfernt. Jedenfalls hoffe ich sehr, es bleibt dabei. Dem Hauptaktionisten, Kai Groß, traue ich zu, die Infoveranstaltung zu stören. Den Mann konnte ich nie leiden, persönliche Gefühle muss ich aber außenvorlassen, rede ich mir selbst ein.

Vor den Reden von unserem Innenminister Jörg Wagner und dem Architekten von Stein können die Bürger Wasser trinken, Cola und Tee lasse ich ebenfalls reichen. Auf Alkohol verzichte ich bewusst. Das kann die Gemüter unnötig zum Kochen bringen, so meine Erfahrung. Meine ersten Überlegungen, wo die Veranstaltung stattfinden kann, schwankten zwischen dem Rathaus und der Turnhalle, die unmittelbar an die Grundschule angrenzt, hin und her. Das Rathaus bietet Platz für knapp 50 Menschen, was sicherlich nicht ausreichen wird. Vorsichtshalber habe ich die Turnhalle bestuhlen lassen, dann bin ich auf der sicheren Seite, so mein abschließender Gedanke zu dem Standort. Die angrenzende Grundschule bietet Platz für Vorbesprechungen im Vorfeld, was ebenfalls ein Vorteil sein wird.

Menschen aus der ganzen Region werden erwartet. Wenige Tage bleiben mir noch zur Vorbereitung. Die Presse habe ich als Erstes informiert, anschließend gab ich die Meldung auch an das Radio weiter. Das Fernsehen hat sich bereits angemeldet, nicht nur der Südwestfunk, auch ARD und ZDF werden anwesend sein, die Vertreter der Tageszeitung selbstverständlich auch. Die Menschen, so ist mir bewusst, haben die Mittelrheinbrücke als Tagesthema auf ihrer Agenda stehen, auch eine kurzfristige Einladung beziehungsweise Ankündigung über die Veranstaltung wird Scharen von Menschen anziehen. Hoffentlich läuft die Infoveranstaltung nicht in die falsche Richtung, so meine Ängste. Die Polizei ist informiert, das wurde von Seiten des Ministeriums erledigt. »Machen Sie sich keine Sorgen!«, so der Sprecher aus dem Ministerium, »Wir sind solche Termine gewöhnt, Probleme sind dazu da, angegangen zu werden«, beendete er das Gespräch.

Meine Hände sind feucht, ich schwitze. Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus. Mich ärgert, dass gerade meine Gemeinde für die Infoveranstaltung ausgesucht wurde. Auch das habe ich mit großer Wahrscheinlichkeit Kai Groß zu verdanken. Ruhe finde ich seit dem Anruf nicht mehr, die Vorbereitungen nehmen mich in Beschlag, ebenso die Sorgen und meine Hoffnung, dass am Ende doch alles ruhig verläuft. Ich bin ein Ortsbürgermeister und kein Staatsekretär, mir ist nach einem ruhigen Ablauf, geregelten Terminen für die Gemeinderatsitzung, Tagesordnungspunkten ohne große Reibungen. Ich stöhne, fehlt mir jedweder Ehrgeiz? Wovor soll ich mich ängstigen? Ich muss, so versuche ich mir gut zuzureden, mich freuen auf die Chance, so eine Plattform zu erhalten. Unvermittelt nach diesen Gedanken ist mir deutlich bewusst, ich will keine Plattform, ich will meine Ruhe!

Dienstag, 24. Mai Architekt Dr. von Stein

Erleichtert und mit viel Vorfreude auf meine zukünftige Arbeit, habe ich den Auftrag, die neue Mittelrheinbrücke zu bauen, angenommen. Mir wird es gelingen, die Menschen der Region zusammenzuführen und die Gemüter der Gegner zu beruhigen. Allerdings, das habe ich auch im Ministerium betont, kann ich nicht ständig Vorträge halten und Werbung pro Brücke durchführen. Meine Aufgaben sind die Planung und Ausführung. Mein Vorschlag, unseren Mitbewerber, Architekt Arno Sauer, mit den Vorträgen zu beauftragen, kam im Ministerium nicht gut an. Die Menschen, so der Innenminister, haben ein Anrecht darauf, mich persönlich kennenzulernen, ich sei die Spitze der Truppe.

Die erste Variante, einen Tunnel zu bauen, wurde bereits verworfen, ich bin erleichtert. Weltkulturerbe zu sein, natürlich ist das für die Region von großer Bedeutung, mir ist die Verantwortung vertraut. Ich denke an Dresden. Nicht immer sollte man sich den Vorschriften beugen, sich lenken lassen, ohne nachzudenken. Mein Entwurf für die Mittelrheinbrücke ist einmalig und sensationell, wie ich finde. Diese filigrane Lösung mit den Stahlseilen kann sich auch bei den Verantwortlichen des Weltkulturerbes Kulturlandschaft, Oberes Mittelrheintal sehen lassen. Ich bin überzeugt, dass der Region der Zusatz Weltkulturerbe mit meinem Entwurf erhalten bleibt.

Die Kosten? Ich atme tief ein. Einsparungen sind möglich, werden von mir und meinen Mitarbeitern diskutiert. Arno Sauer hat sich eingebracht. Mir jedoch passen seine Vorgehensweise und Aufdringlichkeit nicht. Der von ihm ausgesuchte Bodenbelag für die Brücke ist in der Tat gut durchdacht, rutschfest, wetterbeständig und trotzdem kostengünstig. Allerdings muss ich Arno Sauer noch beibringen, wer die Nummer eins bei der Planung ist. Für meinen Geschmack versucht er, sich zu sehr in den Vordergrund zu spielen. Überhaupt, die Idee, beide Büros sollen zusammenarbeiten, ich musste schlucken, um nicht patzig zu werden. Der Minister hat darauf bestanden, die Ministerpräsidentin ebenfalls.

Meine Frau hat sich rasch mit dem Wunsch abgefunden. Sie versteht es trotzdem, geschickt Arno Sauer ihre Skepsis zu zeigen. Bei einem ersten Treffen war ich staunend ihrem Gespräch gefolgt. Sicherheit sei für meine Frau und Kollegin das oberste Kriterium, sie betont dies bei jeder Gelegenheit. Meine Marianne, einst war sie meine Traumfrau und jetzt? Wo führt der gemeinsame Weg uns noch hin? Welche Steine müssen aus dem Weg geräumt werden, um wieder Freude zu finden, auch zu empfinden. Bei aller Logik, allem Planen und bewusstem Handeln, es ist doch einmalig und nicht unendlich, unser Leben. Noch vor zwei Jahren konnte mir niemand mit solchen Sprüchen kommen, gelacht habe ich bei so viel Sentimentalität. Jedoch gibt es Momente, Erlebnisse, die lassen einen dazu bewegen, Dinge aus einer anderen Sichtweise zu betrachten, das eigene Handeln noch einmal zu überlegen.

Jetzt jedoch steht die Arbeit im Vordergrund, Marianne sieht das genauso. Donnerstag also ist der Vortrag in Kamp-Bornhofen, wie mir der Sprecher des Ministeriums mitteilt. Marianne wird mich begleiten, auf zwei weitere Mitarbeiter, wie zunächst vom Ministerium gewünscht war, werde ich verzichten. Die Zeit läuft, ich kann nicht meine Leute von dem Projekt abziehen und gleichzeitig zügig arbeiten. Das Wochenende gehört seit dem Zuschlag für den Bau bereits dem Projekt Mittelrheinbrücke. Mir ist es lieb so. Marianne betrachtet mein Verhalten mit Argwohn. Sie zieht sich mehr und mehr von mir zurück. Während ich das Wochenende nutze, um zu arbeiten, ist sie unterwegs. Mich interessiert nicht, wohin sie fährt. Das ist traurig, aber wahr. Mich ärgert nur die Tatsache, dass sie in dieser Zeit nicht arbeitet. Etwas mehr Gradlinigkeit habe ich erwartet. Marianne war immer der Fels in der Brandung, was nun gerade in ihrem hübschen Kopf vorgeht, ich weiß es nicht.

Gestern fand ich einen Flyer an meinem Auto mit dem Aufdruck >Scheiß Rheinbrücke! Die will niemand!< Ein anonymes Schreiben habe ich auch schon erhalten. >Totengräber<, war in großen Lettern darauf zu lesen. Unangenehm, jedoch war mit solchen Reaktionen zu rechnen.

Warum sich der Hass auf mich richtet? Ich bin nur der Planer, nicht der Entscheider, keine Ahnung. Mir sind manche Menschen und ihr Verhalten einfach nur fremd.