Suche Mann zum Renovieren - Manuela Lewentz - E-Book

Suche Mann zum Renovieren E-Book

Manuela Lewentz

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Beschreibung

Eine Villa, zwei Handwerker plus drei Freundinnen ergeben jede Menge Chaos. Ausgerechnet Lotte, die gerne in den Tag hineinlebt und viel Zeit für ihre kreativen Augenblicke braucht, soll eine Villa in Frankfurt geerbt haben? Dabei kennt sie die edle Spenderin nicht einmal. Lydia Lowere, eine Dame der High Society, hat Lotte für ihr Erbe ausgesucht. Doch, was um alles auf der Welt hat diese Lady dazu bewegt? Lotte weiß sich keinen Rat. Von einer Verwandtschaft mit dieser Frau ist ihr nichts bekannt. Bei einer Recherche im Internet stößt Lotte auf das Foto von Lydia Lowere, das Konterfei hat sie nun wenigstens schon einmal gesehen. Ob sie von Lottes Geldproblemen wusste? Dann ist auch noch die Sache mit der Kolumne. Für ein Magazin soll sie die perfekte Kontaktanzeige entwerfen und Tipps geben, wie man sich einen Traummann angelt. Bei den Recherchearbeiten bezieht Lotte ihre besten Freundinnen mit ein - romantische Turbulenzen sind vorprogrammiert.

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Inhaltsverzeichnis

Lotte

Der nächste Morgen

Der nächste Tag

Ina

Lotte

Die nächsten Tage

Karin

Petra

Lotte

Petra

Ina

Karin

Lotte

Ina

Marc

Lotte

Petra

Lotte

Karin

Der nächste Tag

Ina

Lotte

Der nächste Morgen

Am Abend

Ina

Am nächsten Morgen

Marc

Lotte

Karin

Zwei Wochen später

18:00 Uhr

Petra

Eine Woche später – das erste Treffen

Kurz vor dem ersten Date

Sonntag

Zwei Wochen später

Marc

Eine Woche später

Lotte

Sonntagabend

Hermann Josef von Breggele

Lotte

Der nächste Morgen

Der nächste Tag

Petra

Lotte

Freitag

Sonntag

Sonntagabend

Eine Woche später

Hermann Josef von Breggele

Karin

Lotte

Karin

Lotte

Ina

20 Uhr

Lotte

Lotte

Es ist einer dieser herrlich warmen Tage, die viel zu kostbar sind, um sie nicht im Freien zu verbringen. Ich gehöre zu den Menschen, die in der Sonne aufblühen, kreativ werden und Ideen entwickeln, die jedoch im Winter, wie unter einem Schleier verborgen scheinen.

Am Mittag habe ich meine Freundin Ina auf ihrer Arbeit angerufen. Ich weiß, dass ihr Marc heute Abend zum Tennisspielen mit seiner Mannschaft verabredet ist. Diese Abende gehören seit Langem uns Mädels, meistens sitzen wir, wie auch heute, zusammen in meinem alten, verwilderten Garten, vor uns ein Glas Wein auf dem Tisch und eine Platte mit belegten Broten. Bereits seit Mittag freue ich mich darauf! Es soll ein schöner und entspannter Abend werden, so habe ich es mir gewünscht. Bei meinen Treffen mit Ina, die immer unkompliziert verlaufen, kann ich auf ein Styling meiner Haare und besondere Kleidung getrost verzichten, was meiner Natur sehr nahe kommt.

Als Ina meinen Garten betritt und ich sie sehe, kommt sie mir gleich verändert vor. Der Gesichtsausdruck ist alles, nur nicht gelöst und positiv. Ich denke mir, hoffentlich wird es trotzdem ein entspannter Abend, so wie ich es mir vorgestellt habe. Die Begrüßung ist freundlich, jedoch, wie ich es empfinde, gespielt.

»Alles in Ordnung mit dir?« Ich sehe meine Freundin fragend an und beobachte, wie sie sich auf den Gartenstuhl setzt.

»Es geht nicht um mich«, eröffnet Ina einen Redeschwall, der sich in den nächsten Minuten über mich ergießt.

Zunächst versuche ich noch, lächelnd alles an mir abprallen zu lassen, doch das, was ich mir anhören muss, weckt meinen Unmut.

Probleme mag ich nicht, doch wer kann das schon von sich behaupten? Meine Freundin Ina findet meine Art, mit Problemen umzugehen, unmöglich.

»Lotte, du musst endlich lernen, den Tatsachen ins Auge zu sehen, dein Verhalten gleicht einem pubertierenden Teenager«, ist nur einer ihrer guten Ratschläge.

»Danke, liebe Freundin, für das Kompliment, noch so viel Jugendlichkeit auszustrahlen«, kommt prompt meine Antwort.

Ganz ehrlich, einen kleinen Moment bin ich stolz auf mich, diese Schlagfertigkeit scheint gelungen, so meine Hoffnung. Doch leider weit gefehlt, mein vager Versuch, Ina in ihrem Redeschwall zu stoppen, missglückt. Meine Freundin scheint sich an dem Gedanken festgebissen zu haben, mich und die ganze Welt, in der ich lebe, zu verbessern. Ich verdrehe meine Augen. Dass Ina aber genau die Themen ansprechen muss, die mir auf der Seele liegen, bringt meine Gefühlswelt ins Wanken.

Unruhig schaukle ich mit meinem Gartenstuhl hin und her. Ina sitzt aufrecht mir gegenüber, sie redet und redet auf mich ein, hört mit ihrer Kritik überhaupt nicht mehr auf. Ich frage mich, ob wir Vollmond haben und warum nur Ina heute so auf meiner Seele herumtritt?

»Kannst du es nicht gut sein lassen? Genieß mal den Abend, den leckeren Wein und die Brote!«, sage ich genervt und halte in meiner Schaukelei inne, sehe sie vorwurfsvoll an.

Meine Worte kommen nicht bei Ina an. Ohne auf meinen Kommentar einzugehen, bleibt sie ihrem Thema treu. Mir ist jetzt auch die Lust vergangen, mein Schinkenbrot esse ich nicht, vielmehr stopfe ich es frustriert in mich hinein. Mein Blick haftet dabei die ganze Zeit an Ina, die mit den Händen ausschweifend gestikuliert, als ginge es darum, ihr Leben zu verteidigen. Ich ärgere mich darüber, keine Ruhe zu finden, um mein Brot zu genießen. Die ersehnte Entspannung bleibt ebenfalls aus und ist in ferner Sicht auch nicht zu erkennen.

»Dass du immer deine Augen so vor den Tatsachen verschließen kannst.« Ina ist nun ganz in ihrem Element.

»Vielleicht stoßen wir mal an?« Ich proste ihr zu, sie greift ebenfalls nach ihrem Glas, was mich freut. »Du hast im Gegensatz zu mir noch nichts gegessen«, füge ich hinzu.

Auch diese Bemerkung fruchtet. Wir kosten die belegten Brote, die Ina auch lobt! Jedoch empfinde ich ihren Gesichtsausdruck immer noch als verändert. Ich suche das ausgeglichene Wesen, das mir immer so an meiner Freundin gefällt. Anders als sonst sitzt sie nicht entspannt in ihrem Stuhl, die gerade Haltung wie bei einem Vortrag behält sie bei.

Ja, meine Freundin kommt mir sehr verändert vor. Ich überlege, ob Ina ein Problem hat und sich über meine Situation abzulenken versucht. Davon habe ich schon mal gelesen, traue mich aber nicht, meine Freundin auf diese Vermutung direkt anzusprechen. Warum eigentlich nicht?, frage ich mich. Ina geht auch nicht gerade zimperlich mit mir und meinen Gefühlen um. Der Moment, in dem sie ihr Brot isst, einmal ihren Mund hält, tut mir gut. Ich bin froh, als sie ihr zweites Glas Wein austrinkt.

»Sollen wir noch eine Flasche öffnen?« Ina blickt mich über den Rand ihres Glases an. »Es gibt noch einiges, über das ich mit dir reden möchte«, fügt sie hinzu.

Ich höre in mich hinein. Einen ersten Impuls, mich der Situation zu fügen, verwerfe ich rasch. Auf eine zweite Flasche Wein habe ich keine Lust, vielmehr ist es an diesem Abend Ina, die ich loswerden möchte. Mein Kopf brummt von den Vorwürfen, die sie über mich ergossen hat.

»Ich glaube, ich muss mich mal früher hinlegen.« Ich gähne herzhaft und bewege Ina damit zum Aufbruch. So ganz will sie meinen Worten nicht Glauben schenken, doch gerade ist es mir egal. »Den ganzen Tag über hatte ich schon Kopfschmerzen«, unterstreiche ich meine Worte.

»Na, dann«, meint Ina und zieht ihre Jacke an, »schlaf dich mal gut aus!«

Als Ina durch mein Gartentor verschwunden ist, bleibe ich melancholisch zurück. Die Themen, die meine Freundin heute angesprochen hat: meine Mutter im Altersheim, die Schulden, die ich habe, der fehlende Job, die Tatsache, immer noch ohne festen Partner zu sein, laufen noch einmal vor meinem geistigen Auge ab. Mich ärgert, dass ich ein schlechtes Gewissen wegen Mutter habe, die seit Vaters Tod in einem Heim lebt. Auch dass ich nicht so gut mit Geld umgehen kann wie Ina, keinen festen Job und kein Einkommen habe und, das ärgert mich am meisten, ich keinen Mann finde. Hier im Dorf ist keine Chance für mich. Die wenigen Männer, die in unserem 260-Seelen-Dorf leben, sind entweder zu alt, verheiratet oder gehen noch zur Schule.

›Was genau will ich?‹, frage ich in mich hinein. Noch einmal lasse ich den Abend mit Ina Revue passieren. Hat Ina vielleicht recht? Mein Leben ist im Allgemeinen als schön zu bezeichnen, das steht außer Frage, und trotzdem fehlt mir etwas. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht bei dem Gedanken an die Kolumne, die ich schreiben soll.

Ich schiebe das Weinglas zur Seite, hole meinen Laptop und schalte ihn an. Rasch bin ich auf einer der bekannten Seiten für Singles. Dass es gegen Mitternacht kühl wird, stört mich nicht, viel zu spannend ist das, was ich gerade am Lesen bin. Die Agentur verspricht ohne große Mühen einen 80-prozentigen Vermittlungserfolg. ›Damit auch Sie nicht mehr länger alleine sein müssen‹, steht in großen, dicken Buchstaben vor mir auf dem Display. Wenn das, was ich gerade lese, stimmt, bin ich nur noch wenige Klicks von meinem Traummann entfernt. Vielleicht nimmt mein Leben dann die so ersehnte Wendung, auf die ich warte?

Euphorisch suche ich nach einer Weile eine weitere Agentur auf, die mir ebenfalls ohne lange Wartezeiten eine rosige Zukunft zu zweit verspricht. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, denke nach. Vielleicht haben viel mehr Menschen in meinem Umfeld, als man denken würde, ohne darüber zu reden, auf diese Art und Weise einen Partner gefunden. Nicht alle haben das große Glück wie Ina und Marc, sich schon zu Schulzeiten getroffen und gefunden zu haben. Mit Sicherheit ist es als Teenager einfacher, einen Partner zu finden, als jetzt in meinem Alter. 42 ist natürlich noch kein Alter, dessen bin ich mir bewusst, doch so unbekümmert wie mit 20 bin ich nicht mehr.

Damals war es kein Problem, jedes Wochenende neue Leute kennenzulernen. Inzwischen tue ich mich damit schwer, kein Wunder, die meisten Wochenenden verbringe ich zu Hause, allein oder mit meinen Freundinnen. Ich überlege, ob ich mal wieder ausgehen sollte, doch die nächste Frage lautet dann, wohin und mit wem? Alleine in ein Restaurant gehen? Schon der bloße Gedanke daran macht mir Angst. Und Ina? Sie meinte, wenn mir ein Leben zu zweit vorbestimmt sei, dann würde es sich auch ergeben. Nur wann? Und kommt der Traummann dann hierher, nach Bremberg? Findet er überhaupt unser kleines Dorf mit nicht mal 300 Einwohnern? Ich habe meine Zweifel an der Theorie von Ina und glaube viel lieber, was ich im Internet zu lesen bekomme. Seit ich diesen Auftrag für die neue Kolumne habe, glaube ich, es sei eine Fügung.

Gegen halb zwei beschließe ich, mich hinzulegen und meine weitere Recherche in puncto Partnersuche auf den morgigen Tag zu verschieben. Ein wenig Angst steckt mir in den Knochen, dass jetzt alles zu schnell laufen könne, das erste Date sollte doch vorbereitet sein. Oder liege ich damit falsch? Mit 20 habe ich solche Gedanken sicherlich nicht gehabt. Ich wollte Ina eigentlich noch fragen, ob sie mit Marc glücklich ist, dann fehlte mir aber die Gelegenheit.

Ina hat sich verändert, überlege ich erneut. Sie ist noch ernster als früher geworden. Die tiefe Furche über ihrer Stirn, die mir heute gleich ins Auge gefallen ist, war mir vorher auch nie aufgefallen. Wieder spüre ich eine Traurigkeit über den Verlauf des heutigen Abends.

Vor dem Schlafen öffne ich mein Fenster und atme noch einmal die frische Nachtluft ein. Bewusst verbiete ich mir, noch einmal über Ina nachzudenken, vor dem Schlafen, so meine Devise, soll man nicht an Sorgen denken. Meine neue Kolumne und die Recherche im Internet lenken mich ab. Ich freue mich schon auf den neuen Tag und ganz besonders da rauf, was mir meine Recherche bringen wird. Eigentlich, so überlege ich, ist das Thema für die neue Kolumne wie ein Wink des Schicksals. Jetzt habe ich einen Grund, mir die diversen Plattformen für Partnervermittlungen anzusehen, immer schön mit der Ausrede, es gehe nur um die Arbeit.

Die Wahrheit aber ist, ich habe schon längere Zeit den Wunsch, meine Neugierde zu diesem Thema zu stillen, endlich herauszufinden, was von all dem, das die Leute so erzählen, der Wahrheit entspricht. Einige verpönen eine Kontaktaufnahme über das Internet, einige andere, wenn auch wenige Stimmen, habe ich aber gehört, die begeistert sind.

Der nächste Morgen

Einen Wecker stelle ich mir nur in Ausnahmefällen. Mag sein, dass ich etwas chaotisch bin, warum auch nicht? Immerhin das scheint ein großer Vorteil aller Singles zu sein, man muss sich für nichts entschuldigen, braucht keine Rücksicht zu nehmen und niemandem gegenüber Rechenschaft abzulegen.

Gegen halb zehn bin ich wach, die Lust auf eine Tasse frischen Kaffee holt mich aus dem Bett. Gerade als ich die Filtertüte am Füllen bin, erblicke ich durch mein Küchenfenster Ina. Jetzt erinnere ich mich, sie hat heute ihren freien Tag.

Dass ich zu dieser Tageszeit noch nicht geduscht und richtig angezogen bin, ist sie von mir gewöhnt. Wie Ina das nur immer schafft, am Morgen so toll auszusehen? Und beim Bäcker war sie auch schon, die Tüte mit frischen Brötchen hebt sie lachend in die Luft.

»Oh, Ina! Wie schaffst du es nur, am Morgen schon so toll auszusehen?«, begrüße ich sie mit neidvoller, aber ernst gemeinter Anerkennung.

Ina macht nur eine flapsige Handbewegung als Antwort, dann hilft sie mir, das Frühstück vorzubereiten.

»Ich schenke dir Weihnachten einen Wecker.« Sie kann es sich einfach nicht verkneifen, beim Raustragen des Käsetellers das noch zu sagen.

Ich blicke ihr einen Moment nach und wünsche mir, dass Ina während des Frühstücks nicht nur zickig ist. Der Tag ist zu schön für große Probleme, wie ich finde.

Wir decken den kleinen Gartentisch, an dem wir gestern Abend schon saßen. Die Weinflasche steht noch mitten auf dem Tisch.

»Lotte, du musst dich ändern!«, bemerkt Ina und bringt die Weinflasche in die Küche. »Einen neuen Job brauchst du auch«, steht sie kurz darauf wieder neben mir im Garten. Bevor ich die Gelegenheit bekomme, etwas zu sagen, setzt sie gleich nach: »Ich habe gestern Abend auf dem Nachhauseweg über dich nachgedacht. Dein Verhalten macht mir große Sorgen, und so findest du auch keinen Mann, auch im Internet nicht.«

Ina macht eine Pause, ich denke mir, das Thema sei nun durch, da redet sie erneut auf mich ein. »Wer dich so kennenlernt, Lotte, den vergraulst du in wenigen Tagen wieder aus deinem Leben.«

»Ina!« Jetzt bin ich entrüstet. Gut, gestern Abend hat Ina es schon geschafft, mich nachdenklich zurückzulassen. Auf eine weitere Einmischung in mein Leben habe ich keine Lust. Andererseits ist mir auch nicht nach einem Streit mit Ina, deshalb breche ich ab, hole tief Luft und schweige. Ina scheint nichts davon zu merken.

»Du musst dich verändern! Auch dein Aussehen. Dir fehlt Pflege, Lotte. Glaub es mir, Männer stehen auf schöne Hände, gepflegte Füße, nicht zu vergessen die Haare.« Ich betrachte Ina. Sie ist gepflegt, das stimmt. Ihr Haus ist auch immer ordentlich, das Auto immer geputzt und im Inneren liegen nie die Reste von Schokoriegeln herum, so wie bei mir. Ich seufze.

»Glaub es mir, Lotte! Du musst mehr Zeit in deine Pflege investieren.«

»Dann muss ich auch neue Kleider kaufen und dafür habe ich nun mal kein Geld«, ich hoffe, das Thema sei nun vorbei. Die Freude über Inas Kommen hält sich allmählich in Grenzen.

»Für deinen Job brauchst du keine Designerklamotten«, bemerkt Ina und sieht mich prüfend an. »Wir beide sind Landmäuse, meine Liebe.«

Ja, wenn ich uns beide so hier, in meinem alten Garten, sitzen sehe, dann hat Ina mit ihrer Bemerkung recht. Nur, Ina gehört zu der Sorte hübsche Landmaus und ich komme mehr auf die Gattung graue Landmaus hinaus. Ina ist nie mondän oder ausgefallen gekleidet, doch stets gut und, wie meine Mutter sagen würde, adrett gekleidet.

»Wer bitte sucht eine Landmaus? In den Hochglanzmagazinen sehen die Frauen, die von den Männern umschwärmt sind, irgendwie anders aus … dünner, hübscher, mit glänzendem Haar und strahlender Haut«, stöhne ich.

»Lotte?«

»Ach, Ina! Du bist verheiratet, hast ein Haus, das ihr gemeinsam abzahlt, einen Beruf und ich?«

»Das kannst du auch alles haben, wenn du nur willst.« Ina lacht, ich lasse mich anstecken und empfinde Erleichterung, wie schön, dass Ina mal lacht.

»Bist du glücklich mit deinem Marc?« Die Frage ist mir rausgerutscht. Aber warum soll ich nicht so direkt sein dürfen wie Ina?

Ina blinzelt mich erschrocken an, fast bekomme ich den Eindruck, diese Frage passt ihr nicht.

»Das tut doch nichts zur Sache, Lotte. Es geht gerade nicht um mich oder Marc. Vielmehr sorge ich mich um dein Leben.«

»Das kommt aber nicht glaubwürdig rüber, Ina«, entgegne ich schnippisch.

Sie nippt an ihrem Kaffee, eine weitere Antwort bekomme ich nicht. Nach einer Minute belassen wir es dabei und finden schnell andere Themen, über die wir angeregt reden können. Glücklicherweise keine, die mich sorgen. Es tut so gut, mit Ina zu klönen, obwohl wir beide so verschieden sind wie Tag und Nacht. Lediglich die Tatsache, dass wir beide nie hier aus Bremberg weggezogen sind, ist gleich.

Ina und ich, wir kennen uns schon seit Schultagen. Als Teenager war es noch unser Ziel, hier aus dem Dorf rauszukommen, weg vom Land, raus in die Stadt. Mein Ziel war die Disco, Ina suchte die Nähe zum Theater, den Bibliotheken, Lesungen, die in den großen Buchläden angeboten wurden, Kultur eben. Damals gehörte noch Karin zu uns. Wir drei waren unzertrennlich, alberten herum, gingen am Wochenende aus, so gut es hier auf dem Land eben ging.

Irgendwann fing ich meine Lehre im Kindergarten des Nachbarortes in Herold an, die Zeit zum Wegziehen war ungeeignet. Ina bekam eine Lehrstelle bei einem Rechtsanwalt. Die Kanzlei in Limburg lag nur zwölf Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt, und das Geld war nicht üppig, daher blieb auch Ina im Dorf wohnen. Nur Karin zog es weiter weg. Sie machte ihr Fachabitur und konnte anschließend in Berlin studieren. Unsere Schwüre ihr gegenüber ›Wir kommen dich regelmäßig besuchen‹ blieben lange ein Wunsch und am Ende ein klägliches Versprechen. Jetzt haben wir uns aus den Augen verloren. Das eine oder andere Mal kommt Karin uns auch heute noch in den Sinn. Was wohl aus ihr geworden ist?

»Hast du noch was von Karin gehört?«, ich stelle meine Frage, während ich mein Brötchen mit Butter bestreiche.

»Ja, Karin wirst du bald wiedersehen. Aber…«, unterbricht Ina ihre Worte und sieht mich vielsagend an, »ich spreche später mit ihr am Telefon, lass uns danach reden.«

Ina beißt in ihr Brötchen, rote Kirschmarmelade tropft auf ihre weiße Hose. »Nein, das darf nicht wahr sein!«, sogleich eilt sie in meine Küche, um den Fleck zu behandeln. Inas Hektik, wenn es um Flecken geht, kenne ich, deshalb bleibe ich auf meinem Platz sitzen, trinke meinen Kaffee und beobachte die Szene.

»Schau dir meine Hose an!«, meint Ina und kommt zurück an den Tisch.

Ihre Hose ziert immer noch der Fleck, der gleich an Marmelade denken lässt. Ich nehme ihn mit Erleichterung zur Kenntnis, dann bleibt für meine Zukunft ja doch noch Hoffnung, grinse ich in mich hinein.

»Weiße Hosen sind für mich ein Gräuel, ich selbst schaffe es nie, dass sie auch nur bis zum Mittag sauber bleiben.« Ich schenke uns Kaffee nach.

»Hast du nie das Gefühl, etwas verpasst zu haben?« Ich blicke Ina fragend an, angele mir ein weiteres Brötchen aus der Tüte.

»Nein, wieso auch? Hast du das Gefühl, Lotte?« Ina legt vorsichtig ihre Strickjacke auf die Rückenlehne.

»Irgendwie schon. Vielleicht hätte ich den Job im Kindergarten nicht gleich nach der Lehre aufgeben sollen. Mir fehlen ein geregeltes Einkommen und ein Auto, das auch fährt, wenn ich wegwill.«

»Dein Käfer ist kaputt?«

Ich nicke. »Nächste Woche bekomme ich einen Beetle, Cabrio, nur zwei Jahre alt«, füge ich stolz hinzu.

»Aber du bist doch so gut wie pleite?« Das ist meine Ina, immer nur vorsichtig, gradlinig und ernst, pessimistisch eben. Ihre Stimme klingt angespannt.

»Nimm mal alles etwas lockerer. Der Leasing-Vertrag ist gut, wirklich. Nur 99 Euro im Monat.« Ich lehne mich zufrieden in meinem Gartenstuhl zurück. Der Deal ist mir wirklich gelungen. Doch meine Freundin Ina gibt so leicht nicht auf.

»Und die 99 Euro bekommst du woher? Dein Mini-Job ist auch weg, oder?«

Ina beugt sich ein Stück über den Tisch. Ich schnappe nach Luft. Solche Gespräche mag ich nicht. Ina lässt aber nicht locker, fragt erneut nach meinem kleinen Nebenjob.

»Zeitungen austragen war eben nicht mein Ding. Ich hab die Dinger ja verteilt, nur nicht am Morgen, aber gleich nach dem Frühstück.«

»So gegen halb zwölf?«

Ina hat leider recht. Ein Job am Morgen kommt aber wirklich nicht infrage. Mit dem Geld, das ich für meine Kolumne bekomme, die ich jeden Monat in einer Frauenzeitschrift veröffentlichen darf, komme ich gerade so rum.

»Wenn dein Vertrag bei der Zeitschrift gekündigt wird? Die deine Kolumnen nicht mehr drucken? Was machst du dann, Lotte?«

»Lass das Thema! Im Moment läuft für mich alles rund, nicht schnell, aber alles läuft. Für mich ist das in Ordnung so, und wer weiß, ich träume immer noch von meinem Prinzen, der auf einem weißen Schimmel daherkommt …«

»Und meine Traumlotte zu sich auf das Schloss mitnimmt.«

Wir lachen erneut, der Kaffee schmeckt uns gut, mein Blick durch den verwilderten Garten stimmt mich zufrieden.

»Das nächste Thema meiner Kolumne heißt: Kontaktanzeige.« Ich hebe vielversprechend mein Glas mit Orangensaft, nippe kurz daran und blinzele Ina zu. »Tatsächlich habe ich überlegt, ob das auch etwas für mich ist, wie ich dir ja gestern Abend schon verraten habe. Bei meinen Recherchen habe ich herausgefunden, dass heute über 30 Prozent der Paare sich auf diese Weise kennenlernen, von einer Erfolgsquote von 80 Prozent war zu lesen.«

»Puh! Das wäre nichts für mich!« Ina hebt theatralisch ihre Hände, schüttelt zeitgleich den Kopf. »Die meisten lügen doch und stellen sich als besonders sportlich, intelligent und mit einem hohen Einkommen vor. Am Ende stimmt nichts von alledem. Denke mal an die Fotos! Glaubst du, jemand stellt von sich ein ehrliches Foto ein? So mit Lachfalten und mit einer normalen Frisur? Oder ein Bild, auf dem gleich jeder erkennen kann, dass man einen dicken Hintern oder Bauch hat? Von Cellulitis ist bestimmt auch keine Rede.« Ina redet sich in Rage.

»Ach, Ina! Du siehst immer alles so pessimistisch. Denk doch mal an früher, was haben wir da alles gemacht, ohne so viel darüber nachzudenken wie heute?«

»Ja, Lotte. Du und Karin, ihr wolltet immer alles anders machen, damals war das bestimmt noch okay. Jetzt sind wir keine fünfzehn mehr.«

Ich schaue Ina nach ihren Worten traurig an. Mir fehlt Karin in unserer Runde. Sie ist lockerer als Ina. Schon als Teenager konnte ich ihr alles, jede Schwärmerei erzählen. Schade nur, dass Berlin so weit weg ist. Ich könnte Karin anrufen. Nur was, wenn sie inzwischen kein Interesse mehr an Ina und mir hat? Das hier, unser Dorf und alles, gehört vielleicht nur noch zu Karins Vergangenheit.

»Du musst einen Job finden, du könntest am Abend in einer Kneipe bedienen«, das ist wieder Ina, sie holt mich aus meiner Gedankenwelt heraus. »Dann kommst du auch mit dem Geld besser zurecht.«

»Aus dir spricht immer nur die Vernunft. Planst du jeden Tag? Gibt es bei dir keine spontanen Aktionen mehr? Ina, wir sind noch nicht zu alt, um was Verrücktes zu machen. Du redest schon wie meine Mutter.«

»Nein, Lotte. Tatsache ist, dass du nicht realistisch lebst, wirklich. Wenn du das Haus hier verkaufst, dir eine kleine Wohnung nimmst, die …«

»Hör auf, Ina!«, meine Stimme wird laut. »Das Haus gehört der Bank. Mein Vater hat das Haus mit hohen Schulden an mich übergeben. Immerhin weiß ich jetzt, dass mein Umgang mit Geld erblich bedingt ist, mich also an meinem Desaster keine Schuld trifft.«

Meine Aussage bringt Ina zum Lachen. »Gut«, sie hebt erneut und versöhnlich die Arme. »Belassen wir es dabei. Ich denke ja auch, wir beide sind eben unterschiedlicher Natur, trotzdem oder gerade deshalb mag ich dich ja so, Lotte!«

Ich freue mich darüber, dass Ina einlenkt, sie muss bemerkt haben, dass mich das ganze Gespräch rund um mein Leben mehr trifft, als ich zugeben möchte. Hoffentlich, so überlege ich, sitzen wir in zehn Jahren nicht hier in meinem Garten und ich habe immer noch die gleichen Sorgen und Probleme. Etwas ändern muss sich, das stimmt. Mir fällt wieder meine Kolumne ein, vielleicht ist sie der Schlüssel zu einem anderen Leben. Wir reden entspannt weiter, jedoch nicht über die Kolumne.

Gegen zwei Uhr springt Ina erschrocken auf, nachdem sie auf ihre Uhr gesehen hat. »Ich muss noch für das Abendessen einkaufen«, eilt sie hektisch davon.

Mir ist das auch lieb so. Ich fühle mich erleichtert, bin dankbar, dass ich wieder alleine sein darf. Mein erster Gedanke gilt wieder der Kolumne. Sogleich hole ich meinen Laptop hervor. So einfach, wie Ina tat, ist das Leben nun einmal nicht. Ich habe kein Interesse daran, weiter über ihre Ratschläge nachzudenken. Mein Ziel ist es, noch eine andere Kontaktagentur als gestern Abend aufzurufen. Die passende Seite ist rasch gefunden, ich fühle mich gut, bin ein wenig aufgeregt, wie zu Teenagerzeiten, wenn ich etwas Verbotenes tat.

Dieses Mal melde ich mich tatsächlich an, gebe meine Anschrift, mein Alter und meinen Familienstand ehrlich preis. Meine Hände zittern, meine Wangen glühen. Mit einem Mal fühle ich mich wieder um 20 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Frech und trotzdem ehrlich, mit einem Schuss Humor fange ich an, mich zu beschreiben. Ein Link erscheint, das ging jetzt richtig flott, nur Sekunden später werde ich mit nur einem weiteren Klick zu dem ersten Mann geleitet.

Unruhig rutsche ich hin und her auf meinem Gartenstuhl, dann hält mich nichts mehr auf den Beinen, ich muss zur Toilette, das ist sicher die Aufregung.

Die erste Anzeige, die ich wenig später lesen darf, klingt schon recht vielversprechend: Solider Mann, Anfang 50, geregeltes Einkommen, Dr. Jura, alter Adel, keine Kinder, ledig, sucht warmherzige Sie zwischen 36 und 44 Jahre.

Mein Herz schlägt höher … ein Doktor, alter Adel … Wahnsinn! Ich gerate ins Schwärmen, vergesse über dieses Gefühl leider, auch nur eine Zeile für meine Kolumne zu Papier zu bringen, träume dafür von diesem Herrn Anfang 50, wie er mit einem schicken schwarzen Wagen der Luxusklasse vor meinem Haus vorfährt, natürlich mit Blumen in der Hand. Wie Richard Gere zu Julia Roberts in Pretty Woman. Im Schönträumen bin ich spitze.

Schade nur, dass die Wahrheit oft so weit davon entfernt liegt. Erst als mein Magen knurrt, blicke ich auf meine Uhr, inzwischen ist es halb sieben. Zum Kochen kann ich mich nicht aufraffen, auch habe ich keine Lust, schon wieder eine Pizza in den Ofen zu schieben. Nein, Fastfood kommt auch nicht infrage, alleine schon aus Rücksicht auf meine Figur.

Ein Blick in meinen Kühlschrank zeigt, dass ich ihn in den letzten Tagen vernachlässigt habe. Im Eisfach findet sich noch eine Packung Schokoeis und eine Pizza Hawaii, das ist alles. Im Kühlfach entdecke ich Butter und ein Päckchen Gouda. Ok, das ist schon ein Anfang. Brot liegt noch im Brotkorb. Beim Belegen meines Brotes driften meine Gedanken erneut zu der Kontaktanzeige ab. Warum sollte ich nicht meinen Traummann finden? Irgendwo da draußen wartet sicherlich ein toller Mann auf mich, träumt von einem Leben mit Lotte Wolke!

Eine halbe Stunde später widme ich mich wieder der Plattform. Zu meiner Freude wurde ich aufgrund meiner Angaben, die ich zuvor eingetippt habe, zu mehreren Seiten von alleinstehenden Männern geleitet. Wow! Das ist jetzt aber einfach, zu einfach? Mir kommen Zweifel, ich hole mir ein Glas Wein und ein weiteres Stück Gouda für auf die Hand. Dann sitze ich wieder vor meinem Laptop, versinke erneut in der Welt der Gefühle. Am liebsten möchte ich Ina anrufen, sie um einen Rat bitten, doch ich lasse es bleiben. Meine Angst, von Ina nur pessimistische Äußerungen zu meinem Vorhaben zu hören, schreckt mich ab.

Erneut fällt mir Karin ein. Mir fehlt eine aufgeschlossene Freundin zum Reden, immerhin dessen bin ich mir bewusst. Zögerlich durchschreite ich meinen Garten, laufe auf und ab, hole mir noch ein Glas Wein.

Die Zeit scheint zu rasen, der nächste Blick auf meine Armbanduhr zeigt, es ist kurz vor Mitternacht. Einem der Männer eine Nachricht zu senden, dazu kann ich mich nicht überwinden, mir geht alles zu schnell. So leicht ist das dann doch nicht mit den Bekanntschaften im Internet, überlege ich und verschiebe mein Vorhaben auf den folgenden Tag. Immerhin bin ich schon einige Schritte vorangekommen, was mich innerlich beflügelt. Und wenn ich es gewollt hätte, so sage ich mir vor dem Einschlafen, hätte es einen ersten Kontakt per Mail schon heute gegeben. Ob mein Traummann wartet? Ich falle in einen unruhigen Schlaf.

Der nächste Tag

Noch ganz in meiner eigenen Welt bei meinem morgendlichen Kaffee, den ich auch heute wieder im Garten einnehme, denke ich an die Kontaktagentur und die Anzeigen, die ich gestern Abend lesen durfte. Ich rede mir ein, für meine Kolumne könne es nur von Vorteil sein, heute die Initiative zu ergreifen und einem der Männer zu schreiben.

Dieser Gedanke erfreut und beruhigt mich gleichermaßen. Ich fühle mich beflügelt, glücklich in meiner Haut. Ich habe schon darüber nachgedacht, Ina als Lockvogel zu nehmen, was aber sicherlich zu einem großen Ärger führen würde. Sollte herauskommen, dass ich ihre Identität verwendet habe, wäre die Freundschaft kaputt, das will ich nicht riskieren. Karin kommt mir wieder in den Sinn. Ich frage mich, wie komme ich an ihre Anschrift? Mich ärgert es, dass ich nicht nachgehakt habe, als Ina von ihr sprach. Sie wollte mit Karin doch telefonieren, so habe ich Inas Worte noch in Erinnerung. Karin ist sicherlich bereit, mich zu unterstützen, würde mich bestimmt auch zu dem ersten Treffen begleiten, heimlich als Vertraute im Hintergrund.

Meine Fantasie geht weiter. Ich male mir diese Szene in den schönsten Formen aus. Verträumt trinke ich dabei meinen Kaffee, stelle mir das erste Date mit Mister Traummann vor, der mich ganz auf Händen trägt. Karin, die im Hintergrund das Kennzeichen von meinem Traummann überprüft und wie eine Detektivin alles für mich erkundet.

Ob ich mit 20 auch so gedacht habe? Nein, ich glaube, da war ich lockerer. Mir fällt mein erster Kuss ein, heimlich auf dem Schulhof. Ich war kurz zuvor gerade mal 13 geworden.

»Fräulein Lotte?«

Ich höre eine mir wohlbekannte Stimme. Meine herrliche Idylle stört der Postbote. Allem Anschein nach will er mal wieder über meinen überfüllten Briefkasten jammern. Ich hasse Rechnungen, Mahnungen ebenso. Warum also sich den Tag mit diesen Schreiben vermiesen?

»Fräulein Lotte?« Mein Briefträger stapft schon durch meinen Garten, ehe ich den Hauch einer Chance erhalte, ihm zu antworten.

»Ich hätte hier nackt sonnen können«, begrüße ich ihn betont unfreundlich.

Er lächelt. »Warum nicht? Das wäre mal eine schöne Abwechslung.«

Seine Zahnlücke kenne ich schon gefühlte 100 Jahre, kein Wunder, ich bin in diesem Haus ja aufgewachsen, und an einen anderen Postboten kann ich mich nicht mehr erinnern. Meine Güte, wird mir schlagartig klar, wie alt muss der Mann inzwischen sein?

»Ach, Mädchen, leer doch mal den Briefkasten, das kannste doch so net lasse!«

Er wirft einen großen weißen Umschlag auf den Gartentisch, mein Blick huscht mehr aus Neugierde an der hübschen Briefmarke vorbei auf den Absender. Notariat Doktor von Breggele. Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Ich fange an zu lachen, von Breggele … spreche den Namen laut aus, er klingt wirklich komisch. Lotte Wolke war jetzt auch nicht der tollste Name, trotzdem ist Wolke allemal schöner als von Breggele.

Den Umschlag drehe ich in meinen Händen. Jetzt, da er schon einmal so weit zu mir vorgedrungen ist, kann ich ihn nicht mehr ignorieren. Fünf Minuten warte ich noch, so lange, bis sich mein Postbote verabschiedet hat. Zuvor unterrichtet er mich noch über den neusten Zuwachs in unserem Dorf.

»Und morgen kannste mir dann sagen, warum ein Notariat dir geschrieben hat, Lotte.« Er dreht sich um, winkt im Weggehen.

Erneut drehe ich den Umschlag in meinen Händen, der Inhalt macht mich neugierig, besonders, da ich den Absender nicht kenne. Ich erliege daher meiner Neugier und öffne den Umschlag mit meiner Kuchengabel, die noch von gestern Mittag auf dem Tisch liegt. Die Reste eines Erdbeerkuchens schmücken Sekunden später den weißen Umschlag. Aber wen störte das schon? Meine Freundin Ina ist zum Glück nicht in meiner Nähe, sie hätte sich einen bissigen Kommentar bezüglich meiner Unordnung nicht verkniffen. Ich grinse, stelle mir Inas Gesicht vor.

Das erste Wort, das mir ins Auge fällt, lenkt mich allerdings sogleich ab. Erbschaft ist in großen Buchstaben zu lesen, das ist mir wesentlich sympathischer als Mahnung. Doch wer sollte mir etwas vererben? Mein Vater hat mir sein verschuldetes Haus hinterlassen, das Letzte an Wert geht gerade für das Altersheim meiner Mutter weg. Meine Verwandtschaft ist weder vermögend noch ist aktuell jemand verstorben.

Neugierig ziehe ich den Brief nun ganz aus dem Umschlag und lese: »Hiermit laden wir Sie zu der Testamentseröffnung für den 20.07. um 15 Uhr in unser Notariat in Wiesbaden ein.« Ich lese die Zeilen wieder und wieder, kann mir keinen Reim darauf machen. Dann grübele ich über den Namen der Verstorbenen nach, Lydia Lowere. Bis heute habe ich diesen Name nie gehört. Mein nächster Griff gilt meinem Handy, ich lasse es aber wieder zurück in meine Tasche fallen, der Akku ist leer. Eine Tasse Kaffee und einen kleinen Sherry später – der musste jetzt sein, so viel Aufregung vertrage ich nicht so kurz nach dem Wachwerden – suche ich im Internet nach dem Namen Lydia Lowere.

Es dauert nicht lange, und ich kann unter einer Vielzahl von Einträgen zu diesem Namen wählen. Aufgeregt und neugierig lese ich die Zeilen: ›Lydia Lowere, alleinstehende Dame der Society ist letzte Woche überraschend tot in ihrer Wohnung gefunden worden. Einen Selbstmord schließt die Polizei nicht aus.‹ Die vermögende ›Lady‹, wie die Zeitung schreibt, war eine gute Freundin des Ministerpräsidenten von Hessen, langjährige Weggefährtin von Industriellen. Es folgt eine Liste von Namen, die ich nur aus der Presse oder über Produkte, die ich immer einkaufe, kenne. Alles richtig große Namen, Persönlichkeiten, die, so kann ich lesen, auch zu der Beerdigung gekommen sind. Schade, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht informiert war. Die Beerdigung liegt nur zwei Tage zurück. Den Bildern zu entnehmen war Lydia eine sehr attraktive Frau gewesen, wenn auch nicht mehr ganz so jung. Glaube, sie war schon ein paarmal operiert, warum auch nicht? Soll doch jeder machen, was ihm guttut.

Ich googele weiter, finde zu meiner Überraschung Verbindungen zu den Adelshäusern in Holland und Dänemark. Überall war Lydia Lowere gern gesehener Gast. Dann betrachte ich mir diese Frau noch einmal etwas genauer. Irgendwie habe ich das Gefühl, doch eine Erinnerung an sie zu haben.

Plötzlich macht es Klick in meinem Kopf. Ich lasse alles stehen und liegen, mein Klappstuhl kippt nach hinten, ich eile in mein Haus, hinauf in das Gästezimmer. Als Kind habe ich dieses Zimmer geliebt, oft stundenlang mit meinen Puppen dort verbracht. Mit großer Freude habe ich dann aus dem großen Fenster gesehen, über die Wiesen hinweg, geradewegs auf die Pferde, die nur unweit von unserem Haus standen und grasten. Ja, dort habe ich viele Stunden meiner Kindheit verbracht und genau dort könnte der Schlüssel zu meinem unerwarteten Erbe liegen.

Mit Schnappatmung erreiche ich das Zimmer im dritten Stock, seit Mamas Auszug in das Altersheim bin ich nicht mehr hier oben gewesen. Der Staub auf den letzten Treppenstufen zeigt mir, dass ich meine häuslichen Pflichten nicht gut genug wahrnehme, was mich aber nicht stört. Mutter hatte einen Putzfimmel und mich damit oft an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Mit meiner Hand auf dem silbernen Türgriff, der mehr glänzt, als er in Wahrheit wert ist, verharre ich einen Moment vor dem Zimmer mit den Erinnerungen an meine Kindheit. Meine Gedanken gleiten ab zu dem Text, den ich soeben über Lydia Lowere gelesen habe.

»Es kann keinen Zweifel geben …«, spreche ich laut vor mich hin und drücke im selben Moment die Türklinke nach unten. Wovor, so frage ich mich, empfinde ich plötzlich Angst? Mein Herz scheint zu rasen, liegt das an dem Sherry, den ich sonst noch nicht zum Frühstück zu mir nehme? Nein! Es liegt an dem Bild in diesem Raum, das ich so gut in Erinnerung habe. Ich bleibe im Türrahmen stehen, starre auf die Frau im großen Holzrahmen, der, seit ich denken kann, über dem Bett hängt.

Die Frau auf dem alten Ölgemälde scheint Lydia Lowere zu sein, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Sie sieht tatsächlich so aus wie die Frau, die ich soeben im Internet angesehen habe, wenn auch noch deutlich jünger. Wie oft habe ich als Kind meine Eltern nach der Frau auf dem Gemälde gefragt, jedoch nie eine zufriedenstellende Antwort erhalten. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter diesem Gesicht? Oder kann es reiner Zufall sein, dass meine Eltern dieses Bild hier aufgehängt haben? Vielleicht war Lydia Lowere in jungen Jahren ein gefragtes Model und verdiente sich so die erste Million?

Es ist komisch, ich hatte als Mädchen stets das Gefühl, es gibt eine Geschichte, die mit der Frau auf dem Ölgemälde und meiner Familie zu tun hat. Oder lag es an meiner grenzenlosen Fantasie? Hatte ich mir nur wieder einmal etwas Besonderes gewünscht? Wie oft habe ich als Teenager Geschichten erfunden, nur um mein Leben hier auf dem Land etwas spannender zu machen.

»Lotte und ihre große Fantasie«, lachte Mutter meine Ideen oft weg. Vater sagte nichts, jetzt glaube ich mich zu erinnern, dass ihm das Gefrage seiner Tochter unangenehm war. Doch warum nur? Später habe ich Mutter noch einmal nach diesem Gemälde befragt, da hatte auch sie barsch reagiert, davon gesprochen, den alten Schinken bei nächster Gelegenheit zum Speermüll zu stellen. Das wollte ich natürlich nicht.

Ich beließ es dabei, und mit den Jahren gerieten das Thema und meine Fragen nach der Frau auf dem Gemälde in Vergessenheit. Ich lache bei meiner Erinnerung, wie ich mir damals Gedanken gemacht habe, wer diese Frau sein kann. Meine Geschichten habe ich noch im Kopf. Meine Mutter hat nie wirklich zugehört, wenn ich erzählte, hatte mir immer eine barsche Reaktion gezeigt und mich eine Spinnerin genannt, eine Tagträumerin. Es hat wehgetan, doch trotz alledem bin ich immer wieder in meine Welt der Fantasie geschlüpft. Wann immer mir etwas unangenehm war, eine Situation schier unmöglich erschien, verschwand ich in meine eigene Welt. Und jetzt soll tatsächlich etwas Spannendes hinter diesem Gemälde stecken? Meine kindliche Fantasie soll so viele Jahre später noch eine Reputation erhalten?

Ich brauche noch einen Sherry. Mit raschen Schritten eile ich in den Garten zurück, es ist jetzt halb zwei am frühen Nachmittag. Ich fühle mich berauscht vor Glück, mit dieser Lydia in Verbindung gebracht zu werden, fühle mich wie auf einer Wolke. Ich muss lachen, das passt ja auch zu meinem Name: Lotte Wolke.

Etwas später gebe ich zu dem Namen von Lydia Lowere noch meinen ein, was allerdings keine Übereinstimmung bringt. Schade! Nun gut, mir war das eigentlich bewusst. Trotzdem habe ich mir für einen Bruchteil von einer Minute vorgestellt, eine uneheliche Tochter dieser Lydia zu sein. Meine Fantasie baue ich noch ein wenig aus und so male ich mir in meinen Gedanken zurecht, mein Vater habe ein wildes Verhältnis mit dieser Schönheit gehabt.

Fraglich nur, wo er diese atemberaubende Frau hätte treffen können? Dafür reicht meine Vorstellung nicht aus, das kann ich mir noch nicht zusammenreimen. Mein Vater war ein stattlicher Mann, allerdings kein Begleiter für diese Lydia Lowere, der ich soeben im Internet näher gekommen bin. Trotzdem finde ich die Idee, Vater habe, wie auch immer, ein Verhältnis mit dieser Frau gehabt, fantastisch! Aus dem Verhältnis bin ich, Lotte, entstanden!

Lydia Lowere, diese hübsche Frau, wollte keine Kinder, das passte nicht in ihr aufregendes Leben in der Society. Mein Vater, der zu dieser Zeit schon mit Mutter verlobt ist, gesteht ihr den Seitensprung, das klingt glaubhaft. Nur, wie kam ich dann zu meiner Mutter? Ich muss nicht lange grübeln, die Idee, Mutter hat Vater verziehen, mich dann zu sich genommen, finde ich plausibel und so wurde ich zu Lotte Wolke aus der Hauptstraße in Bremberg. Was wiederum auch Mutters Verhalten bei meinen Fragen zu dem Gemälde erklären würde.

Meine Überlegungen gehen noch weiter. Was, so frage ich mich, was wäre aus mir geworden, wenn mich Lydia nicht zur Adoption freigegeben hätte? Würde ich heute mit einem Adeligen in einem Schloss sitzen? Umgeben von drei Kindern, die von drei Kindermädchen täglich betreut werden? Müsste ich dann jede Woche zur Maniküre gehen? Einerseits gefallen mir meine Überlegungen diesbezüglich, andererseits finde ich sie auch sehr befremdlich. Habe ich nicht auch eine glückliche Kindheit und Jugend hier verbracht, frage ich mich.

Die Zeit mit Karin und Ina fällt mir ein. Unsere ersten Dates mit Jungs aus dem Nachbardorf. Wir haben wirklich viel gemeinsam unternommen und hatten viel Spaß. Nur meine Mutter war nicht sehr umgänglich, und diese Formulierung empfinde ich noch als wohlwollend. Wie peinlich war es für mich, als Mutter plötzlich an der Kirmes vor mir stand. Ich durfte damals das erste Mal mit meinen Freundinnen auf eine Kirmes. Wir hatten uns die Lippen rot angemalt, die Haare toupiert. Heute würde ich schreien, müsste ich noch einmal meine Haare so tragen. Damals bin ich stolz und glücklich gewesen. Den ganzen Nachmittag hatten wir damit verbracht, uns zurechtzumachen.

Die Mutter von Ina hat uns um fünf Uhr am Nachmittag nach Gutenacker gefahren. Meine Mutter sollte uns gegen 20 Uhr wieder abholen. Sie stand dann aber schon um halb sieben vor mir, machte eine peinliche Szene wegen der Jungs, die um uns herum mit ihren Mopeds standen und rauchten. Ich sehe diese Szene noch immer vor mir. Die Kirmes war gelaufen. Mutter bestand darauf, mich mit nach Hause zu nehmen. Karin und Ina mussten notgedrungen auch mitfahren. Diese Erinnerung bestärkt meine Fantasie, dass ich nicht ihre leibliche Tochter bin.

Natürlich habe ich auch andere Erinnerungen an Mutter, Ausflüge mit meinen Eltern, dann die für mich stets positiven Reaktionen auf meine Zeugnisse, die nie gut waren. Da muss ich Mutter einmal loben, sie hat nie geschimpft. Vater hat mir immer eine kleine Standpauke gehalten, spätestens am nächsten Tag war das Thema Zeugnis dann aber wieder vom Tisch.

Ja, es gibt in der Tat einige nette Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Mir war es gut gegangen. Mit einer Mutter wie Lydia Lowere hätte ich in diesem Alter sicherlich schon mit manikürten Händen zu einem Ball gemusst. Ich lache laut bei dem Gedanken. Wie so ein Brief einen doch durcheinanderbringen kann, Gedanken auslöst, die mich aufwühlen und meine Fantasie auf Reise schicken. Etwas mehr Luxus wäre schon schön gewesen, gleich mit achtzehn ein Auto zu besitzen, das hatte ich mir vergeblich gewünscht. Karin und Ina bekamen auch kein Auto, ihre Eltern lebten den gleichen Standard wie meine. Das Traurigste daran war, wir blieben von unseren Eltern abhängig. Wenn wir am Wochenende ausgehen wollten, brauchten wir ihre Unterstützung.

Hier im Dorf konnten wir nicht viel machen, die einzige Kneipe, die es noch heute gibt, wurde nur am Freitag geöffnet, was heute noch so Tradition ist. Besonders schlimm war die Tatsache, dass auch unsere Eltern freitags dorthin kamen, das war natürlich todlangweilig für uns. Lieber noch saßen wir mit Limonade und Chips bei Karin, Ina oder bei uns im Garten und redeten, als neben den Eltern am Tisch zu sitzen, immer unter Beobachtung.

Das Leben war zu dieser Zeit nicht wirklich aufregend für uns. Immerhin das Ritual mit den Chips ist geblieben, überlege ich. Dann drifte ich gedanklich wieder ab zu Lydia Lowere. Ich soll erben, wow! Was, so frage ich mich, wird sich in der Zukunft verändern? Wieder male ich mir aus, was nun auf mich zukommen wird. So richtig große Wünsche hege ich nicht, Geld spielte immer eine untergeordnete Rolle in meinem Leben, allerdings am Ende eines jeden Monats wird die Bedeutung katastrophal groß!

Karin kommt mir wieder in den Sinn. Schade nur, dass die Freundin so früh aus dem Dorf weggezogen ist. Vielleicht kann ich sie mit dem Geld aus der Erbschaft endlich einmal in Berlin besuchen.

Gegen 15 Uhr hält mich nichts mehr auf meinem Klappstuhl. Die Sonne scheint und im Allgemeinen ist das so ein Tag, der zum Schreiben und Arbeiten im Garten geradezu gemacht ist, aber heute kann ich mich nicht konzentrieren, in meinem Kopf herrscht Chaos.

Auf dem kurzen Weg durch den Garten zu meinem alten Käfer sende ich Stoßgebete zum Himmel dafür, dass die Karre auch fährt. »Bitte, nur noch einmal!«, sage ich vor mich hin. In letzter Zeit, besser gesagt seit Mutters Auszug, passiert mir das öfter, das mit dem Laut-vor-mich-hin-Reden. Mein Stoßgebet wird erhört, der Wagen springt sofort an, und zu meiner Freude befindet sich auch noch genügend Benzin im Tank. Heute scheint in der Tat ein Glückstag zu sein. Etwas bang wird mir bei der Vorstellung, gleich Mama gegenüberzustehen. Ob mein Glück dann auch noch anhält?

Das Altersheim liegt zirka acht Kilometer entfernt, direkt an einem kleinen Waldstück. Mutters Zimmer ist in diese Richtung gelegen, ruhig und idyllisch wirkt ihr neues Zuhause auf mich, wenngleich ich vor Altersheimen Angst habe. Mit raschen Schritten eile ich die Stufen in den dritten Stock hinauf. Mir geht es gut, alles scheint mit einem Mal so aufregend. Mein Leben endlich so, wie ich es mir immer gewünscht habe. Vor Mutters Zimmer bleibe ich stehen, die Hand liegt schon auf dem Griff. Ich atme noch einmal tief durch.

»Mama?« Die Tür zu ihrem Zimmer öffne ich mit Bedacht.

Beim Betreten des Zimmers spüre ich etwas Angst, mehr als eine Woche bin ich nicht bei ihr gewesen. Ich weiß, ich werde gleich von ihr diesbezüglich gerügt werden. Es liegt an der Atmosphäre im Altersheim, mir behagt sie nicht, ich fühle mich dem Tod zu nah und fürchte mich daher vor diesem Ort. Ebenso versuche ich, Friedhöfe zu meiden, nur das Verrückte ist, ich lebe gleich neben einem Friedhof. Mir hat mein Vater mal gesagt, das sei doch praktisch, so müsse man nach dem Ableben nur umgebettet werden. Ich schaudere bei diesem Gedanken. Wenn tatsächlich eine Beerdigung in meinem Dorf stattfindet, leide ich den ganzen Tag mit den Angehörigen. Stehe am Fenster und beobachte die Vorbereitungen, ebenso die stillen Besuche danach.

»Lotte! Wird auch Zeit, dass du mal wieder kommst. Deine Mutter stirbt mit jedem Tag und du, was machst du?«

»Auch schön, dich zu sehen, Mutter«, geselle ich mich zu ihr an den kleinen Tisch am Fenster mit Blick in den Wald.

»Was für ein herrliches Wetter.« Ich bin bemüht, meine Stimme freudig klingen zu lassen, immerhin bin ich doch heute dem Glück ganz nah.

»Bist du gekommen, um mit mir über das Wetter zu reden? Dann stiehlst du mir meine Zeit. In einer halben Stunde fängt der Malkurs an.«

Mutter ist immer so, ja, wie soll ich sagen, etwas direkt. Früher dachte ich noch, es liegt an mir, ich bemühte mich, lieb, aufmerksam und eine gute Tochter sein, nur um Anerkennung zu bekommen. Alle meine Versuche diesbezüglich scheiterten.

»Lydia Lowere, Mama, was sagt dir dieser Name?«, überfalle ich Mutter direkt mit meiner Frage, die mir auf der Seele brennt und wegen der ich hergekommen bin.

Augenblicklich verzieht Mutter ihren Mund. Die von Natur aus schmalen Lippen scheinen sich in Nichts aufzulösen. Mutter starrt aus dem Fenster. Sie hat es, seit ich bei ihr im Zimmer bin, vermieden, mich anzusehen. Aber auch daran habe ich mich mit der Zeit gewöhnt.

»Bitte, du musst mir etwas über diese Frau sagen! Das Gemälde im früheren Kinderzimmer, du weißt doch noch, dass es dort immer hing?«, meine Worte überschlagen sich.

»Fängst du schon wieder mit dem alten Schinken an, Lotte? Deine Fantasie ist grenzenlos und leider auch naiv. Wahrscheinlich bist du deshalb immer gescheitert, beruflich, privat und auch als …«

»Tochter? Wolltest du das sagen?«, ich schlucke. Genau das schien Mutter gemeint zu haben. Tief in meinem Inneren fühle ich einen Schmerz. »Sag mir doch bitte etwas über die Frau auf dem Gemälde! Es ist mir sehr wichtig, Mutter.« Ich versuche, Mutter in die Augen zu sehen, sie aber starrt unentwegt aus dem Fenster.

Mutter zeigt keine Regung, ich bekomme auch keine Antwort. Sie bleibt stumm. Seit Vaters Tod hat sich ihr Zustand rapide verschlechtert. Inzwischen sitzt sie in einem Rollstuhl, das ist auch der Grund, weshalb ich sie in dieses Heim gegeben habe. Unser altes Haus, das viele Zimmer über drei Etagen verteilt hat, ist für ihre körperliche Verfassung ungeeignet.

»Ich kann dich mit in den Park nehmen, wir trinken einen Kaffee zusammen«, meine Stimme sollte ruhig klingen. Obgleich ich nervös bin, bemühe ich mich, dies zu verstecken. Mein Ziel ist es, etwas über Lydia Lowere zu erfahren. Mutter zeigt noch immer keine Regung, und ich frage mich, ob es an den Medikamenten liegt, die sie einnehmen muss. Mein Blick fällt auf meine Armbanduhr, ich denke gerade darüber nach, wieder zu fahren, als Mutter doch noch mit mir redet.

»Diese Frau gehört nicht in mein Leben, verstehst du?« Mutters Stimme überschlägt sich. »Sie gehört auch nicht in dein Leben. Du sollst mich nicht mehr nach dieser Person fragen, nimm das Gemälde von der Wand und wirf es auf den Sperrmüll! Das hätte ich schon vor Jahren tun sollen.«

Mutter schreit förmlich, das bin ich nicht gewöhnt von ihr. Die vielen kleinen Stiche, die sie immer anbringt und mit sanfter Stimme in ihre Aussagen verpackt, ohne sich jedoch im Ton zu vergreifen, sind aber noch schlimmer für mich.