Kuckucks Mord - Manuela Lewentz - E-Book

Kuckucks Mord E-Book

Manuela Lewentz

0,0

Beschreibung

Ein neuer Fall für Jil Augustin! "Als ich meine Augen öffne, sehe ich in den Lauf einer Flinte, höre einen Kuckuck, vielleicht ist es nur eine Einbildung. Wo ist Andreas? Ich will nach ihm schreien, dann wird es dunkel." Die Geister der Vergangenheit ruhen nicht: Petra, eine junge Journalistin findet heraus, dass im Kreiskrankenhaus Babys vertauscht wurden. Die Recherche wirbelt viel Staub auf. Doch bevor sie ihren Artikel veröffentlichen kann, wird sie vergiftet, Achim, ihr Vorgesetzter, erschossen. Zwei Fälle, die Kommissarin Jil Augustin auf den Plan rufen. Bei ihren Ermittlungen findet sie in der kleinen Gemeinde ein Netz aus Neid, Eifersucht und eiskalter Berechnung. Ein Jagd-Krimi!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 280

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Die Personen

Januar

13. Januar

15. Januar

16. Januar

17. Januar

Rückblick Sonntag, 14. Januar

18. Januar

19. Januar

20. Januar

21. Januar

22. Januar

Letzte Erinnerung vor dem Tod

Die Personen:

Jil Augustin: Kommissarin, ledig, vierzig Jahre, ohne Kind, lebt in einer kleinen Dachgeschosswohnung mit dem Journalisten Manfred Luck zusammen, die Beziehung ist brüchig

Kommissar Hansen: lebt von seiner Frau getrennt, sehr korpulent, macht gerade erfolgreich eine Diät

Hermann-Josef Metzger: Kollege von Jil Augustin und Kommissar Hansen, etwas jünger als die Kommissarin, sehr gut aussehend und verliebt in Jil

Manfred Luck: Journalist, Freund der Kommissarin, Alt-68er, liebt das Leben und die Frauen

Toni Karbach: Bürgermeister von Kamp-Bornhofen, Jäger

Petra: Journalistin, schreibt am liebsten über Probleme, verheiratet mit Andreas, die beiden leben seit einigen Wochen getrennt

Andreas: Noch-Ehemann von Petra, Architekt, Jäger

Achim Greel: Chef von Petra und Manfred bei der Tageszeitung, Jäger, Freund von Andreas

Silke: Freundin von Petra, alleinerziehend, arbeitet halbtags in einer Anwaltskanzlei

Monika: gut aussehende Freundin von Petra und Silke, ledig, keine Kinder, arbeitet im Architekturbüro von Andreas

Roman von Tannenberg: Geschäftsmann, Jäger, lebt in der Villa seiner Eltern

Julia und Ferdinand von Tannenberg: Eltern von Roman, leben zurückgezogen in einer Villa am Rand von Kamp-Bornhofen

Ferdinand: Pächter des Jagdreviers, kandidiert zum Verbandsbürgermeister

Susanne Mei: Haushälterin vom Pfarrer Klein, lebt alleine, ist geschieden

Pfarrer Klein: Seelsorger der Gemeinde

Anja Moor: Zeugin

Anni Lundt: Hebamme im Ruhestand

Lydia Augustin: Mutter von Jil, Künstlerin

Elke: lebenslustige Frau um die vierzig, Single

Januar

Petra

Auf die lustigen und angenehmen Erlebnisse warte ich voller Sehnsucht, ebenso auch auf eine Schwangerschaft, die sich nicht einstellen will. Jeden Monat darf oder muss ich das Gleiche durchmachen, erst hoffen, endlich ein Kind in meinem Körper zu tragen, bangen, dass alles gut gehen mag, um dann doch festzustellen, dass ich wieder einmal nicht schwanger bin. Vielleicht ist dieses Warten auch der Grund meiner inneren Veränderung? Dieser Unruhe, die mehr und mehr mein Leben erschwert.

Es tut so weh, dieses Warten. Unser Sex verläuft inzwischen geplant ab, immer schön alles aufheben für die fruchtbare Phase, die Lust bleibt mehr und mehr auf der Strecke, das Verlangen, den Anderen zu spüren, genießen, sich hingeben zu wollen, weicht nur noch einem einzigen Ziel: endlich schwanger zu werden. Es gibt sogar Monate, in denen Andreas und ich nicht ein Mal miteinander schlafen, wie Geschwister das Leben teilen. So habe ich gewiss keine Chance, endlich schwanger zu werden. Mich beschäftigt nur noch dieses eine Thema: Wie werde ich schwanger? Auch meine Arbeit in der Redaktion ordne ich inzwischen diesem Leitgedanken unter. Lieber schreibe ich über einen Kinderarzt oder ein Kinderwunschzentrum als über den örtlichen Sportverein oder das Feuerwehrfest.

Mein Chef hat mich bereits abgemahnt, meint, ich sei verrannt, solle mal locker werden, auch meine Berichte würden verkrampft rüberkommen.

Ich spüre tief in mir ein Verlangen, etwas zu verändern. Aus diesem Korsett, wie ich mein Leben gerade empfinde, zu entfliehen.

»Du musst was tun, Petra! Schau mal in den Spiegel!«, ermahnt Monika mich. Seit Jahren sind wir befreundet und verbringen meistens die Freitagabende zusammen. Kino, klönen, Pizza essen, mal shoppen fahren, eben das Frauenprogramm!

»Weißt du, ich habe keinen Spaß mehr am Sex.«

Monika lacht zuerst, kein Wunder, meine Erkenntnis teile ich ihr mit, während ich auf einem Stück Pizza kaue.

»Klar, Petra, du mit deiner besonderen Art von Humor.«

Für Monika gibt es kein Problem mit dem Thema Kind, d.h. das Thema Kind ist nicht mal ein Thema. Monika möchte einfach keine Mutter werden, somit lacht sie meine Sorgen immer weg.

»Denk mal darüber nach, wie viele Freiheiten du jetzt hast! Das Leben mit Andreas kann doch auch ohne Nachwuchs schön sein, keine Nächte mit Geschrei oder Pullis, die zeigen, was es heute für das Baby zum Essen gab. Nee, das ist nichts für mich.«

Mein Blick wandert nach ihren Worten automatisch zu Silke, der Dritten in unserem Bunde.

»Und Silke? Die macht das doch ganz toll, auch noch als alleinerziehende Mutter. Und jetzt sei mal ehrlich, Monika, dir gefällt die Kleine doch auch?«

Monika nickt.

»Klar gefällt sie mir. So für dreißig Minuten macht es auch Spaß, mit der Kleinen zu spielen, aber bitte«, sie hebt ihre Stimme, »das reicht dann auch.«

An diesem Abend spreche ich nicht weiter über meine Probleme. Wir bestellen Wein und verfallen in Themen, die uns zum Lachen bringen.

Dieses Treffen ist nun schon ein Jahr her. Wahnsinn, was ich im letzten Jahr alles erlebt habe, was sich in meinem Leben verändert hat. Noch vor zwei Jahren, wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich heute von meinem Mann getrennt in einer eigenen Wohnung leben werde, laut losgelacht hätte ich. Nein, geplant war die Veränderung nicht, jedenfalls nicht von langer Hand.

Es gab diesen einen Morgen, mitten im Mai, den ich gerade wieder deutlich vor mir sehe. Die Sonne scheint in unser Schlafzimmer, und ich denke, so, das war es jetzt? Das soll alles gewesen sein in meinem Leben?

Lange Zeit zum Denken bleibt mir an dem Morgen nicht. Ich stehe auf, eile unter die Dusche und decke anschließend den Frühstückstisch für Andreas, meinen Mann, und für mich. Als Andreas mir gegenübersitzt, wie an jedem Morgen mit der Tageszeitung beim Frühstück, ich hätte Grimassen schneiden können, er hätte es nicht einmal bemerkt. Immer öfter stelle ich mir die Frage, was wohl noch kommen würde, was das Leben noch für mich bereithält.

Erst als mein Entschluss feststeht, mich von Andreas zu trennen, spreche ich meine Freundinnen erneut auf mein Leben an. Wieder sitzen wir in unserer Lieblings-Pizzeria.

Silke sieht mich nach meinen Worten an, ohne eine Regung zu zeigen.

»Los, sag schon was!«, mir missfällt, wie sie mich ansieht. Ohne auf meine Aufforderung einzugehen, dreht sie sich zu dem Kellner um, bestellt eine Runde Prosecco. Diese Reaktion ist neu, so etwas habe ich von ihr nicht erwartet. Dann redet Monika auf mich ein, ich solle keine übereilten Handlungen machen, sie erwähnt ein Buch, das sie mir und Andreas empfehlen könne. »Sex auch nach vielen Jahren mit Spaß genießen«, so lautet der Titel.

»Jetzt weißt du, wer an deiner Seite ist, Petra. Du kennst die Fehler von Andreas, aber doch auch die Vorzüge von eurem Leben. Ich würde es mir gut überlegen, das alles so einfach fallen zu lassen. Glaube mir, Petra, es gibt Frauen, die sich freuen, wenn dein Andreas wieder zu haben ist.«

Meine Verwunderung kann ich kaum verbergen, so kenne ich Monika nicht. Sie, die immer taffe, alleinlebende Frau. Für mich steht das Wort selbstständig mit Monika auf einer Stufe. Sie, die immer gut gelaunt, fleißig, toll gekleidet ist, alles an Monika spiegelt ein perfektes Singleleben wider. Warum nur will ausgerechnet sie mir einreden, bei meinem Leben zu bleiben? Oder weiß sie etwas, das ich nicht mitbekommen habe? Immerhin arbeitet Monika für Andreas. Meine Zweifel, aber auch die Neugierde sind geweckt. Richtig zum Grübeln komme ich nicht, Monika redet sich gerade in Rage.

»Es geht darum, dass ich jedes Mal, wenn wir uns näherkommen, den Kinderwunsch im Kopf habe. Ich kann ihn einfach nicht ausblenden. Seine Eltern, meine Eltern, alle reden nur davon, dass ich schwanger werden solle. Andreas schaut in jeden Kinderwagen, fast sehnsüchtig.«

Immerhin hat Monika mir zugehört, sie verdreht ihre Augen, scheint nachzudenken. Es dauert nicht lange und der nächste Ratschlag von ihr folgt.

»Bildest du dir das vielleicht nur ein? Dein Andreas arbeitet viel, genau wie du. Kann es nicht vielmehr sein, dass nur die Eltern euch den Druck einreden?« Monika redet und redet, Silke blickt mich nur stumm von der Seite an. Wieso sagt sie nichts zu meinem Problem?

Die Prosecco kommen, Silke hebt ihr Glas, wir prosten uns zu.

»Auf was genau trinken wir?« Ich blicke meine Freundinnen an.

»Wie wäre es mit Freiheit?« Silke! Sie hat tatsächlich etwas gesagt.

»Du nennst das also Freiheit? Das Ende einer Beziehung hat für dich keine andere Bedeutung?«

Ich bin schon wieder überrascht. Silke hält meinem Blick stand, bis Monika es schafft, das Thema zu wechseln, was Silke mit Freude unterstützt.

Der Abend dümpelt so vor sich hin, keine weiteren tiefgründigen Gespräche wollen mehr entstehen.

»Ich bin müde, sorry. Und den Babysitter muss ich auch ablösen.« Silke wirft zwanzig Euro auf den Tisch, packt ihre Tasche, hat nicht einmal die Zeit, ihre Jacke anzuziehen, und eilt davon, ohne noch einmal mit mir über mein Problem gesprochen zu haben.

Komisch, früher war das anders, als Silke alleine dastand, schwanger, ohne Vater für ihr Kind. Monika und ich waren damals permanent an ihrer Seite. Auch jetzt noch, wenn die Kleine was hat, wir stehen ihr zur Seite. Silke kann bei mir anrufen, wann immer sie möchte. Ich springe, lasse meine Arbeit liegen und fahre zu ihr.

Meine Arbeit! Auch so ein Thema. Wenn ich die nicht hätte, ob ich wirklich aufhören soll mit meiner neuen Recherche? Mein Chef hat mich erneut ermahnt, will, dass ich für morgen einen Bericht schreibe, der für die Lokalredaktion geeignet ist. Puh, mich beschäftigen gerade andere Dinge, wichtigere Themen. Ich behielt meine Gedanken dem Chef gegenüber aber für mich, sagte ihm stattdessen den Artikel über die Feuerwehr für den nächsten Tag zu. Sobald ich zu Hause bin, muss ich den Text tippen und absenden.

»Ich lade dich ein«, hält Monika mich davon ab, mein Portemonnaie zu öffnen. Die zwanzig Euro von Silke steckt der Kellner grinsend ein, eigentlich hätten fünfzehn Euro gereicht. So großzügig kenne ich meine Freundin nicht.

»Sie hat doch sonst immer Geldprobleme«, kann ich mir beim Rausgehen aus der Pizzeria nicht verkneifen.

Monika hebt die Schulter, geht nicht auf meine Worte ein.

Warum kann ich nicht mal abschalten? Immer und immer habe ich Sorgen in meinem Kopf. Wenn es nicht die eigenen sind, dann beschäftigt mich meine Umwelt.

»Vielleicht hat Silke Liebeskummer?«, ich blicke Monika an, sie zieht erneut nur die Schultern hoch, hakt sich bei mir unter. »Kalt ist es geworden«, fügt sie noch hinzu.

Zu Hause angekommen, versuche ich Silke anzurufen, irgendwas scheint meine Freundin zu bedrücken. Mein Versuch, mit ihr zu telefonieren, bleibt zumindest für diesen Abend erfolglos. Mir fällt meine Arbeit ein, ich muss den Bericht über die Feuerwehr noch verfassen, also hole ich meinen Laptop hervor.

Es dauert, bis ich die nötige Ruhe finde, mich ins Bett zu legen. Mein Blick wandert auf die Uhr, halb zwei in der Nacht, Andreas ist noch nicht zu Hause. Er hat sicher einen Termin, von dem ich nichts mitbekommen habe. Den Text über die Feuerwehr habe ich abgesandt, war mir auch gut gelungen, wie ich selbst finde. Vielleicht, so überlege ich mir, sollte ich wieder öfter über allgemeine Themen schreiben. Die nehmen mich nicht so gefangen und emotional mit wie das Thema Kindesentführungen. Seit ich bei meinen Recherchen darauf gestoßen bin, kann ich nicht mehr loslassen. Dieser Anruf, was genau will man nur von mir? Mir wurde gesagt, dass ein Treffen notwendig werde, dass ich in den Weg gekommen sei und störe. Warum nur? Gegen drei Uhr fällt mein Blick ein letztes Mal auf den Wecker.

Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen gilt Andreas. Wo er nur bleibt?

13. Januar

Andreas

Es ist gerade mal acht Uhr, als mich, etwas ruppig, wie ich finde, Petra weckt. Wie habe ich mich auf den Samstag gefreut! Endlich mal ausschlafen, kein Wecker, nein, nur Zeit, um das zu tun, was ich wirklich mal will. Am Abend werde ich mich mit meinem Freund Achim treffen, wir wollen auf den Ansitz, der Mond ist voll und somit ideal. Überhaupt, am besten entspannen kann ich in der Natur. Diese Ruhe, ich schöpfe richtig Kraft in der Natur. Schade nur, dass meine Petra nie die Passion zum Jagen entdeckt hat, wenigstens steht sie meiner Leidenschaft und meinem Hobby nicht im Weg.

Wir müssen mal reden, meint sie und sitzt auf meiner Bettkante, verheult. Meine Augen wollen noch nicht geöffnet bleiben.

»Was? Wieso denn jetzt?«, frage ich nach.

Ich bin gerade mal drei Stunden im Bett. Meine Frage bleibt nicht lange unbeantwortet, ein Redeschwall, Vorwürfe und Tränen brechen über mich herein.

»Ist schon gut«, sage ich und stehe Minuten später auf, kapituliere. Mein erster Weg führt mich in die Küche, ich fülle die Kaffeemaschine und denke mir, das Wochenende fängt ja toll an.

»Wir können deine Eltern besuchen«, bemühe ich mich, was Aufmunterndes zu sagen.

Petra eilt mir nach und setzt sich an den Küchentisch. Sie schnieft in ein Taschentuch. So ganz verstehe ich immer noch nicht, was los ist.

Sie redet von Babys, Eltern, Stress, an der Stelle unterbreche ich sie. »Stress? Wo hast du Stress, Petra? Wir haben eine Putzhilfe, du hast keine Geldsorgen, kannst mit deinen Freundinnen immer etwas unternehmen, und das Thema Kind sollten wir in der Zukunft einfach ausblenden.«

»Klar! Nur, wie bitte«, sie holt tief Luft, »soll ich schwanger werden ohne Sex?«

Missmutig drehe ich mich wieder zu Petra um, jetzt ist mir auch die Lust auf einen Kaffee genommen.

»Auf Grundsatzdiskussionen am Morgen habe ich keine Lust«, teile ich ihr mit.

Doch Petra lässt nicht locker, wir streiten, schreien uns an. Ich habe nicht mitbekomme, wie über dieses Theater die Zeit verstrichen ist. Als es an der Tür klingelt, fällt mein Blick auf die Uhr. Es ist schon halb zwölf.

Achim, mein Freund, will meinen Bohrer ausleihen. Mir kommt die Gelegenheit gerade recht.

»Ich bleib bei Achim, und wir gehen dann von seinem Haus aus gemeinsam zum Ansitz«, teile ich kurz entschlossen Petra mit.

Meinen Weg zum Waffenschrank beobachtet sie wortlos. Beim Öffnen des Garderobenschranks sagt sie auch nichts. Draußen hole ich tief Luft. So kann unsere Ehe nicht weitergehen, das steht für mich fest.

Klar, für Petra ist es vielleicht nicht immer so leicht, wie ich vermute. Dieser Druck, ein Kind zu produzieren, so nenne ich inzwischen unser körperliches Zusammensein, raubt jede Lust.

Achim blickt mich beim Aufschließen seiner Wohnung entschuldigend an. Er hat mal wieder nicht aufgeräumt, ich lache. Ist mir aber auch egal, es ist nicht meine Wohnung, und Achim konnte nicht wissen, dass ich direkt mit zu ihm kommen werde. Mein Blick wandert auf seinen PC, die davorliegenden Unterlagen, die ich auch schon einmal bei Petra gesehen habe, fallen mir ins Auge. Nee, denke ich und dreh mich gleich weg. Für heute bitte keine Probleme mehr!

»Willst du ein Bier?«, räumt Achim verlegen den Küchenstuhl frei, doch das lehne ich vehement ab. Jagd und Alkohol geht gar nicht, da bin ich richtig konsequent.

»Nach dem Ansitz aber gerne.«

Gegen fünf überfällt mich wieder diese Unruhe, wir packen unsere Sachen und fahren in den Wald.

»Der erste Vollmond im neuen Jahr«, ich blicke in den Himmel, jetzt fühle ich mich auch wieder entspannt und wohl in meiner Haut. Petra, das leidige Thema Kinder bekommen, ich blende diese Sorgen einfach aus. Und mal ehrlich, ich fühl mich zu jung, um bis an das Ende meiner Tage mit einer hysterischen Frau zusammenzuleben. Dann sollte man lieber alleine bleiben.

Achim

Ist mir richtig peinlich, in den Streit von Petra und Andreas reinzuplatzen. Eigentlich will ich nur den Bohrer ausleihen.

Andreas ist dann froh, dem häuslichen Unfrieden zu entkommen, und kommt gleich mit zu mir. Petra ist ziemlich verheult. Schon in den letzten Wochen verkroch sich der Andreas immer öfter bei mir. Wir kennen uns seit Kindertagen, ich lebe alleine, und wegen mir kann er kommen und gehen, wann immer er will. Trotzdem, das mit der Petra und ihm ist nicht so gut, ich traue mich aber auch nicht wirklich, mal zu sagen, also, was ich denke. Ich glaube, eine Trennung auf Zeit würde die beiden entspannen. Wenn das nicht hilft, dann müssen sie sich dauerhaft trennen, so ist das im Leben.

Aber dieses ständige Theater, das Auf und Ab, der viele Ärger und Streit, das macht einen doch kaputt. Petra sieht auch schon richtig mitgenommen aus, wirkt immer angespannt, nervös, arbeitet auch zu viel in der Redaktion, ich sehe sie ja täglich. Petra war mir gleich sympathisch, als ich vor vier Jahren bei der Redaktion anfing. Sie hat mir alles gezeigt, sie kann ich immer ansprechen, wenn etwas unklar ist. Dann bin ich die Karriereleiter nach oben geklettert, inzwischen bin ich ihr Chef. Unser Verhältnis ist trotzdem gut geblieben, wie ich finde.

Es wird viel gemunkelt, einige sagen, Petra hat einen Freund, was aber Quatsch ist, die Petra doch nicht! Nein, die will doch nur ein Kind, mehr hat die nicht im Kopf. Und Andreas? Er ist ein Toparchitekt, kreativ, hat schon einen Landespreis gewonnen. Es gibt Tage, da beneide ich ihn, wirklich. Eine Trennung von Andreas und Petra würde den ganzen Freundeskreis durcheinanderbringen, eine Vorstellung, die mir nicht behagt. Die Monika arbeitet bei ihm, ist nicht nur eine enge Freundin von Petra, wir beide hatten auch mal eine kurze Beziehung. Monika sehe ich immer noch gerne.

Silke tut sich etwas schwer in unserer Runde, vielleicht liegt es daran, dass sie ein Kind hat und als Alleinerziehende über wenig Freizeit verfügt. Über den Vater ihres Kindes spricht sie nicht. Petra hat Silke damals in den Freundeskreis mit eingeführt. Das ist jetzt schon vier Jahre her, unser Kennenlernen, trotzdem denke ich noch oft über diese Zeit nach und frage mich, ob ich das Ende meiner Beziehung zu Monika hätte verhindern können. Wenn ich jedoch ehrlich bin, glaube ich, dass Monika nicht der Typ Frau ist, der richtig Interesse an einer festen Beziehung hat.

Mein Umzug von Köln in die alte Heimat hat mir richtig gutgetan. Andreas und ich hatten uns nie wirklich aus den Augen verloren. Deshalb bin ich auch nach meiner Rückkehr in seine Nähe gezogen. Durch ihn habe ich auch Kontakt zu Ferdinand von Tannenberg bekommen, der mir einen Begehungsschein für sein Jagdrevier eingetragen hat.

Es ist mir peinlich, dass meine Wohnung so unordentlich ist, doch dann denke ich, es ist nur Andreas und nicht der König, der in meiner Küche sitzt.

»Lass uns endlich rausgehen«, meint Andreas gegen fünf Uhr. Keine zehn Minuten später, und ich bin schon bereit.

Andreas entscheidet sich für einen Hochsitz, den er schon seit Jahren bevorzugt. Ich suche mir ein ruhiges Plätzchen nur unweit entfernt. Der erste Vollmond scheint mehr Jäger in die Natur zu ziehen als nur uns beide. Kaum, dass ich auf meinem Hochsitz ankomme, höre ich Schritte. Mein Fernglas liegt wie immer griffbereit neben meiner Sitzbank.

Gerade erst stelle ich meinen Rucksack ab, als ich von Weitem sehen kann, dass Andreas raucht, mein Fernglas lege ich mit einem Lächeln wieder neben mich auf die Sitzbank. Er schafft es einfach nicht, mit dem Rauchen aufzuhören, sind meine Gedanken, als ich Schritte höre, die allem Anschein nach näherkommen. Ob Andreas sehen kann, wer unterwegs ist? Mein Blick fällt sozusagen ins Leere, ich kann niemanden sehen, obgleich der Mond inzwischen gute Sicht verschafft.

Ich verharre und lausche in die Nacht. Wir haben uns doch eingetragen, dann sollte eigentlich keiner hierherkommen und uns stören, dafür führen wir doch das Jagd-Ansitzbuch. Das Revier gehört Ferdinand von Tannenberg. Im Gegenzug für den Begehungsschein helfen wir ihm auch in der Pflege des Reviers. Ist ein prachtvolles Revier. Von Tannenberg ist nicht wirklich ein passionierter Jäger. Ich glaube, er führt nur die Familientradition fort. Warum auch nicht? Ein Knacksen im Gebüsch unter mir lässt mich aufschrecken, das Fernglas ergreife ich automatisch, kann aber immer noch nichts sehen. Mein nächster Gedanke ist, ein Tier sei im Gebüsch unter meinem Hochsitz und wird sich bald zeigen. Zufrieden mit diesem Gedanken gleitet mein Blick in die Ferne, der Mond leuchtet hell, es tut so gut, hier in der Natur zu sein.

Fünfzehn Minuten später sehe ich, nicht weit von mir entfernt, ein Wildschwein, greife nach meinem Gewehr, und dann höre ich wieder dieses komische Geräusch. Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass es kein Tier sein kann. Das Wildschwein ist aufgeschreckt weggerannt, ich bin sauer. Irgendwas unterhalb meines Hochsitzes bringt meinen Abend durcheinander. Der Tag hat komisch angefangen, wenigstens jetzt will ich meine Ruhe haben. Erneut greife ich zu meinem Fernglas, mein Blick fällt in die Richtung von Andreas, jetzt kann ich ihn nur noch schemenhaft erkennen. Rufen will ich nicht. Dann, keine Minute später, fällt ein Schuss. Andreas hat sicherlich das Wildschein zur Strecke gebracht, das mir davongelaufen war. Dann Waidmannsheil!

»Waidmannsheil!«, ertönt fast zeitgleich mit meinen Gedanken eine Stimme an mein Ohr. Da treibt sich jemand unter meinem Hochsitz herum. Ein Verrückter? Ein Jagdgegner? Ohne weiter nachzudenken, greife ich mein Gewehr und schaue nach unten. Nichts, ich kann trotz der Helligkeit des Mondes nichts sehen. Mein Verstand sagt mir aber, dass sich ein Mann unterhalb meines Hochsitzes im Gebüsch versteckt haben muss. Dreiundzwanzig Sprossen sind es bis zum Boden.

»Nein!«, rufe ich in die Nacht. Gerade mal fünf Sprossen habe ich genommen, als eine unter meinem Fuß nachgibt und ich falle. Da höre ich ein Lachen, dann spüre ich das Gebüsch, meine Hände reißen auf, und mein Gesicht brennt, als ich endlich auf der Erde aufschlage. Meine Beine kann ich nicht mehr bewegen, ich will aufstehen und loslaufen, nachsehen, wer mir so übel mitgespielt hat. Als ich meine Augen öffne, sehe ich in den Lauf einer Flinte, höre einen Kuckuck, vielleicht ist es nur eine Einbildung. Wo ist Andreas? Ich will nach ihm schreien, dann wird es dunkel.

Silke

Puh, bin ich überrascht, als Petra so verheult vor mir steht, am Samstag, ohne sich angekündigt zu haben.

»Muss ich als Freundin erst anrufen?«, blafft sie mich an.

Meine Kleine schreit, sie ist gefallen, während ich Petra die Tür geöffnet habe. Kein Wunder, seit sie dieses Dreirad geschenkt bekommen hat, rast sie immer durch unsere Wohnung, die nicht wirklich groß ist. Als Petra sie auf den Arm nimmt, verschlägt es mir für einen Moment die Sprache. Es ist einer jener Momente, die mir die Luft zum Atmen zu nehmen scheinen. Was bin ich nur für eine Freundin? Wie lange lebe ich schon mit einer Lüge? Und doch ist es so besser, als die Wahrheit zu sagen, die nur verletzen würde. Meine Angst ist, nach einer Aussprache alleine zu sein, ohne Petra und Monika, die mir immer zur Seite stehen, wenn ich glaube, es alleine nicht mehr zu schaffen. Ich finde den Gedanken, alleine zu sein, unvorstellbar. Deshalb schweige ich.

»Was war mit dir gestern Abend los?« Erschrocken drehe ich mich zu Petra, die mich aus meinen Gedanken holt.

»Lass mich erst mal einen Kaffee aufsetzen«, eile ich in die Küche. »Hast du Hunger?«

»Nein«, kommt eine launige Antwort zurück. »Ich muss mal hier raus. Habe das Gefühl, mich im Kreis zu drehen, verstehst du mich? Mit Andreas läuft es nicht wirklich gut. Schwanger werde ich auch nicht, und bei meiner Arbeit mache ich Fehler, nichts läuft richtig.«

»Soll ich mal mit Achim reden? Der muss wirklich nicht immer so einen Druck ausüben auf dich, das ist nicht in Ordnung.«

»Nein! Bitte nicht! Es ist die neue Recherche, mich nimmt das Thema so mit, Kindesentführung, direkt nach der Geburt. Kannst du dir das vorstellen, Silke, jemand hätte dir deine Kleine nach der Geburt weggenommen, gesagt, sie sei tot auf die Welt gekommen? Horror!«

Petra redet sich in Rage. Aber das kenne ich ja. Ohne wirklich zuzuhören, auch wenn das, was sie sagt, schlimm klingt, stelle ich Kaffee und Plätzchen auf den Tisch. Als Monika auf Petras Handy anruft, wickele ich gerade meine Kleine. Ohne mich zu fragen, lädt Petra sie ein. Nun gut, wir sind Freundinnen, aber gefragt werden möchte ich doch noch, wen Petra zu mir nach Hause einladen will. Ob ich so gereizt bin wegen Petras Worten gestern Abend in der Pizzeria? Ich weiß es nicht.

Kaum dass Monika bei uns ist, kommt der Vorschlag von Petra, auch heute Abend wieder essen zu gehen.

»Ich kann heute nicht mit zum Italiener. Wer soll auf die Kleine aufpassen?«

»Was ist mit deinem Babysitter?«

Meine Augen verdrehe ich automatisch. »Mein Einkommen ist gut, jedoch nicht ausreichend dafür, jeden Abend einen Babysitter und ein Essen im Lokal zu finanzieren.«

Das leuchtet den beiden ein und wir beschließen, gemeinsam zu kochen. Mein Kühlschrank bietet Tomaten, Käse, Butter.

»Nicht gerade üppig«, kommentiert Petra. Bei ihren Worten dreht sie sich um, holt ihr Handy aus der Tasche und ruft den Pizzaservice an. Mein Blick wandert ganz automatisch an ihrer Figur hinab, Petra wird zusehends kräftiger, sollen diese Pfunde ein Ausgleich zu der ausbleibenden Schwangerschaft sein? Bin ich neidisch auf Petra, auf ihr Leben an der Seite eines erfolgreichen Architekten? Ja! Tief in meinem Inneren habe ich mir so ein Leben immer gewünscht, so einen Mann wie Andreas an meiner Seite zu haben. Was hege ich für Gedanken? Was bin ich nur für eine Freundin? Die Frage stelle ich mir schon zum zweiten Male heute.

»Und dann können wir uns alle mal so richtig erholen. Es ist ein Last-Minute-Angebot, sind nur noch wenige Plätze frei. Die wollen das Schiff voll bekommen …« Nur so nebenbei höre ich Monikas Worte. Ja, das ist es, ein Urlaub könnte uns allen guttun!

»Ich bin dabei!«, meine Stimme überschlägt sich. Die Vorstellung, mal rauszukommen, was anderes zu sehen, dem trüben Januarwetter zu entfliehen, gigantisch!

»Wer passt auf die Kleine auf?«

Schnell lande ich wieder in der Realität. »Meine Mutter?« Mir ist klar, dass sie nicht die klassische Omi ist, leider! Trotzdem greife ich unvermittelt zum Handy, während Monika anfängt, den kleinen Tisch zu decken.

»Und Urlaub? Wir müssen auch Urlaub bekommen.« Das ist mal wieder Petra, sie denkt und grübelt, auch wenn es gerade mal so herrlich verrückt und schön sein kann. Lass dich doch mal fallen, will ich ihr spontan antworten, lasse es aber sein, meine Mutter ist in der Leitung.

»Und mein Weihnachtsgeschenk habe ich auch noch offen. Also Babysitterdienst ist mir am liebsten. Ja, warum nicht? Gleich ab Montag, ist nur für eine Woche Mama. Du hast Zeit? Supi!« Strahlend lege ich mein Handy auf den Tisch. »Mutter ist einverstanden!« Ich fühle mich grandios.

Beim Pizzaessen beobachte ich Petra. Sie schlingt die Portionen in sich hinein, trinkt viel zu schnell den Rotwein, den ich auf den Tisch gestellt habe. Sie passt nicht zu Andreas, er ist doch so fein, ordentlich und in Wahrheit mein Traummann. Mein Blick bleibt an Petra heften.

»Silke? Woran denkst du?«, holt Monika mich zurück in die Gegenwart.

Monika spricht dann auch gleich weiter, was mir nur gelegen kommt. Sie hat schon einen Zettel neben ihrem Teller liegen und macht sich Notizen. »Bis Montag bleibt wenig Zeit. Das Wichtigste, Silke hat einen Babysitter! Ich brauche meinen Chef«, sie grinst, »nicht anzurufen, da ich ohnehin Urlaub habe.«

»Ich habe ebenfalls ab Montag eine Woche frei, Achim meint, ich muss mal Abstand zu der neuen Recherche bekommen«, gibt Petra mit vollem Mund und daher unverständlich von sich. Solch ein Benehmen kann ich nicht leiden, ich finde es sogar abstoßend. Petra sieht mich auch direkt komisch von der Seite an.

»Und was ist mit dir, Silke?«

Erschrocken hebe ich meinen Kopf. Monika wiederholt ihre Frage. »Ich kläre das schnell ab, da ich noch alten Urlaub habe, da wird mein Chef nichts einzuwenden haben.«

»Wow!«, klatscht Monika in ihre Hände. »Dann, liebe Mädels, werden morgen Koffer gepackt.« Monika verlangt nach ihren Worten nach meinem Laptop und dreißig Minuten später hat sie bereits für uns gebucht! »Eine Woche Sonne und Urlaub auf einem Schiff. Wir drei ganz eng zusammen, wie früher in einem Zimmer.« Monika hat dies so betont, mir zieht sich augenblicklich der Magen zusammen bei dem Gedanken, dass wir drei ganz eng zusammen in einem Zimmer liegen werden, ich bekomme Angst! Merke erst jetzt, auf was für ein Abenteuer ich mich gerade einlasse.

15. Januar

Jil Augustin

Für mich ist es die erste Kreuzfahrt in meinem Leben. Schon auf dem Flug zum Ablegehafen kann ich meine Nervosität, die mir vorkommt wie zu Teenagerzeiten, nicht verbergen. Beim Betreten des Schiffs kann ich zu meiner Freude registrieren, dass, wie vom Veranstalter versprochen, überwiegend Singles an Bord gehen. Die meisten auch in meinem Alter. Meine Laune erreicht ihren Höhepunkt, als ich die Kabine beziehe. Die ersten Schritte führen mich zu dem kleinen Fenster über meinem Bett.

»Die Luke ist nicht zu öffnen«, zieht der Stewart die Tür hinter sich zu, mir ist es egal. Zuvor habe ich ihm noch einen Fünf-Euro-Schein in die Jackentasche gesteckt. Mir gefällt, was ich sehe. Klein, aber sauber ist mein Reich der kommenden Woche. Der Blick in das angrenzende Badezimmer fällt auch zu meiner Zufriedenheit aus. Ich lasse mich übermütig mit ausgestreckten Armen auf mein Bett fallen. Für einen Augenblick überlege ich, mein Handy aus der Tasche zu holen und Manfred anzuklingeln. Aber warum? Nein, diese Freude mache ich ihm nicht, lasse ich den Gedanken wieder fallen. Die wenigen Tage gehören mir. Keine Arbeit, kein Mord, der aufzuklären ist, jetzt kümmere ich mich nur mal um mich.

Für mich ist es nicht so einfach, die Gedanken abzuschalten und zu akzeptieren, dass auch ich ein Recht auf Urlaub habe. Meine Mutter kommt mir in den Sinn. Ich habe Lydia nichts von der Reise gesagt, sie wird ausflippen. Obwohl? Meine Mutter soll ruhig bleiben, sie lebt ihr Leben doch auch so, wie sie will, unkonventionell und mit einem hohen Freiheitsbewusstsein, oft beneide ich sie. Ganz in meinen Gedanken versunken höre ich dann eine Durchsage über den Lautsprecher.

»Bitte kommen Sie alle an Bord, wir erklären Ihnen nun die wichtigsten Details für den Fall eines Unglücks, was wir nicht erwarten. Ende der Durchsage«.

Na, dann. Minuten später befinde ich mich in einer Menschenmenge, eine junge Frau neben mir streckt mir ihre Hand entgegen.

»Ich bin die Petra.«

»Angenehm, Jil.«

»Von wo kommste?«

»Kamp-Bornhofen.«

»Ach, Kamp-Bornhofen. Das ist ja lustig, ich komme aus Osterspay, das heißt, ich wohne erst seit wenigen …«, dann werden wir unterbrochen und zur Ruhe ermahnt. Ich lerne in den nächsten Minuten erst einmal die Sicherheitsweste in einem Notfall anzulegen, versuche, mir auch genau alle Anweisungen für einen Notfall zu merken. Petra scheint das Ganze etwas lockerer zu nehmen, sie redet unentwegt mit den Leuten um uns herum. Zwei der Frauen in unserer Nähe scheinen zu ihrer Clique zu gehören. Ich muss mich zwingen, mal etwas gelassener zu sein, nehme mir fest vor, Petra und ihre so ganz eigene Art als Vorbild zu nehmen, jedenfalls für die Dauer meiner Reise.

Kaum dass die Einweisung vorüber ist, hakt sich Petra bei mir unter, die beiden anderen Frauen eilen uns nach. Petra zieht mich mit an die Bar.

»Es ist gerade mal drei Uhr am Nachmittag!«, blicke ich sie an, doch dafür ernte ich ein Lächeln.

»Bleib mal locker!«

Mein Blick streift hinüber zu den beiden Freundinnen von Petra, beide lachen über meinen Versuch, einen Prosecco abzulehnen. Silke und Monika kommen mir vor, als stehen sie Petra in nichts nach. Gut, überlege ich mir, ich habe doch vor, mich zu amüsieren, Abstand zu meinem Alltag, meinem Freund zu suchen. Mit einem Seufzer denke ich wieder an Manfred! Rasch hole ich mein Handy aus der Hosentasche, kein Anruf von Manfred oder sonstige Nachrichten sind eingegangen.

»Gut, dann nehme ich auch einen Prosecco!«

Der Prosecco schmeckt auch am Nachmittag, das ist mir neu. Die zweite Runde will ich bezahlen, doch Monika zieht ihr Portemonnaie vor mir. Erst gegen halb fünf verabschiede ich mich von den dreien, die, so habe ich inzwischen erfahren, alle in meiner Heimat wohnen. Verrückte Welt! Wofür so eine kleine Reise gut sein kann, lächle ich und erreiche beschwingt meine Kabine. Fast stoße ich mit einem wirklich gut aussehenden Mann zusammen, was mir auch peinlich ist. Ob er meinen alkoholschwangeren Atem gerochen hat? Dieses Lächeln, überhaupt der ganze Mann, seine Erscheinung, alles erinnert mich an einen Werbespruch: Lecker, locker, leicht zu nehmen. Was für Gedanken sich in meinem Kopf tummeln − Alkohol am helllichten Tag! Lydia wird stolz auf mich sein, wenn sie davon erfährt. Warum habe ich sie nicht mitgenommen? In die lustige Frauenrunde hätte Lydia auch mit über sechzig gepasst, wahrscheinlich besser sogar als ich. Als ich mich von den dreien verabschiedet habe, vorhin, wollten sie noch auf die Außenterrasse, um weiter Prosecco zu trinken. Ich lächle erneut und mir kommt der Gedanke, dass der nächste Prosecco mein Untergang wäre. Zufrieden streife ich meine Schuhe ab und lege mich, mit Kleidung, auf mein Bett. Mir fällt Manfred ein, ich suche erneut mein Handy, stecke es aber traurig zurück. Als es heftig an meiner Tür klopft, wünsche ich mir, Manfred stehe davor, was absoluter Unsinn ist.

»Sie müssen an Deck kommen«, ruft eine Männerstimme. »Eine junge Frau ist zusammengebrochen, ich glaube, sie ist tot.«

Manfred Luck

Dass Jil mich einfach so hier alleine lässt, das hat es früher nicht gegeben. Da habe ich meine Tasche geschnappt und bin weg, wenn es mir zu viel mit meiner Jil wurde oder ich eben mal das Gefühl hatte, eine Auszeit zu brauchen. Den kurzen Brief finde ich am Morgen auf dem Küchentisch. War doch eine richtig geile Nacht, überlege ich, während ich die wenigen Zeilen von ihr überfliege. Jil war so locker gewesen. Ich Trottel habe ihr gestern Abend noch eine Rose mit in die Pizzeria gebracht, richtig zum Affen hab ich mich deklariert, wollte Jil mal ’ne Freude machen, nach all dem, was ich ihr zugemutet habe. In der letzten Zeit hab ich mal wieder Mist gebaut. Die Treffen mit der Elke nimmt Jil allem Anschein nach ernster, als ich vermutet habe. Sie soll locker sein, ja, das hab ich ihr oft gesagt, doch das hier, alleine in den Urlaub abhauen, nichts sagen, geht überhaupt nicht. Zum Trottel oder Weichei lass ich mich jetzt bestimmt nicht machen. Wenn Jil zurückkommt, ist die Wohnung leer.