Mogador - Martin Mosebach - E-Book

Mogador E-Book

Martin Mosebach

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Beschreibung

Nicht immer wird ein Sprung aus dem Fenster zum Sprung in eine andere Welt. Aber als der junge, auf der Karriereleiter seiner Bank schon ziemlich hoch hinaufgelangte Patrick Elff nach einem Gespräch im Polizeipräsidium aus dem Fenster springt, ist das der Beginn einer gefährlichen Reise. Er hat betrogen, die Entdeckung steht bevor. Nun sucht er Hilfe bei einem mächtigen marokkanischen Finanzmann, der ihm noch einen Gefallen schuldet, und flieht nach Mogador. Doch auch in der Stadt an der marokkanischen Atlantikküste erweist sich das Untertauchen als schwierig. Um der Aufmerksamkeit der Polizei zu entgehen, mietet er sich nicht in einem Hotel, sondern im Haus der Patronin Khadija ein, einem Universum im kleinen, einer verborgenen Welt mit eigenen, weit jenseits des Normalen liegenden Gesetzen: Khadija ist Hure und Kupplerin, Geldverleiherin, Zauberin und Prophetin. Patrick, der sich selbst als einen erlebt, der mehr oder weniger unfreiwillig in seine Tat hineingeschliddert ist, stößt hier auf eine Frau, die mit ihrem Willen einen Kult bis zur Selbstvergötzung treibt. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit übertritt er die eben noch unverrückbar scheinenden Grenzen seines Lebens, sieht die Geisterwelt, lernt Schrecken kennen, die irdische Strafen übersteigen. «Mogador» ist beides zugleich, Kriminalfall und Seelenreise, genaueste Wirklichkeitsbeobachtung und ins Dämonische ausschweifende Phantastik. Wie immer stehen Menschenschilderungen in der Mitte von Martin Mosebachs Erzählen: die unheimliche Khadija und ihr illoyales Faktotum Karim, der mächtige Monsieur Pereira und Patricks kühl ironische Ehefrau Pilar. Die Reise nach Mogador wird zum Traum, der Patrick Elff auf den Boden der Realität zurückführt.

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Martin Mosebach

Mogador

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nicht immer wird ein Sprung aus dem Fenster zum Sprung in eine andere Welt. Aber als der junge, auf der Karriereleiter seiner Bank schon ziemlich hoch hinaufgelangte Patrick Elff nach einem Gespräch im Polizeipräsidium aus dem Fenster springt, ist das der Beginn einer gefährlichen Reise. Er hat betrogen, die Entdeckung steht bevor. Nun sucht er Hilfe bei einem mächtigen marokkanischen Finanzmann, der ihm noch einen Gefallen schuldet, und flieht nach Mogador.

Doch auch in der Stadt an der marokkanischen Atlantikküste erweist sich das Untertauchen als schwierig. Um der Aufmerksamkeit der Polizei zu entgehen, mietet er sich nicht in einem Hotel, sondern im Haus der Patronin Khadija ein, einem Universum im kleinen, einer verborgenen Welt mit eigenen, weit jenseits des Normalen liegenden Gesetzen: Khadija ist Hure und Kupplerin, Geldverleiherin, Zauberin und Prophetin. Patrick, der sich selbst als einen erlebt, der mehr oder weniger unfreiwillig in seine Tat hineingeschliddert ist, stößt hier auf eine Frau, die mit ihrem Willen einen Kult bis zur Selbstvergötzung treibt. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit übertritt er die eben noch unverrückbar scheinenden Grenzen seines Lebens, sieht die Geisterwelt, lernt Schrecken kennen, die irdische Strafen übersteigen.

«Mogador» ist beides zugleich, Kriminalfall und Seelenreise, genaueste Wirklichkeitsbeobachtung und ins Dämonische ausschweifende Phantastik. Wie immer stehen Menschenschilderungen in der Mitte von Martin Mosebachs Erzählen: die unheimliche Khadija und ihr illoyales Faktotum Karim, der mächtige Monsieur Pereira und Patricks kühl ironische Ehefrau Pilar. Die Reise nach Mogador wird zum Traum, der Patrick Elff auf den Boden der Realität zurückführt.

Über Martin Mosebach

Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, hat sich nach dem II. juristischen Staatsexamen 1979 in seiner Geburtsstadt als Schriftsteller niedergelassen und lebt dort noch heute. Sein erster Roman, Das Bett, kam 1983 heraus; seitdem sind zehn weitere Romane entstanden, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Erster Teil

1

Hitze, den ganzen Körper köstlich durchglühende Hitze.

Er lag, nur mit einer klatschnassen weiten Badehose bekleidet, die ihm nicht gehörte, auf durchwärmtem feuchten Kachelboden, ausgestreckt wie ein Erschossener mit ausgebreiteten Armen, und blickte zur Decke, blinzelnd, wenn ihm der salzige Schweiß in die Augen rann. Ein Tonnengewölbe erhob sich über ihm; in Jahrhunderten und Jahrzehnten immer wieder neu verputzt, von einer blätternden Farbkruste bedeckt, die sich da und dort löste, da und dort auch heruntergefallen war – die letzte Farbschicht war weiß, darunter gab es ein erdiges Rosa, darunter ein löschpapierfarbenes Hellblau, darunter ein sattes Gelb, nur an einer Stelle hoch über ihm war der Ziegelstein freigelegt, weich vom aufsteigenden Dampf verwischt.

Der junge Mann war nicht allein in diesem Dampfbad. Um ihn herum ein wirres Stimmenkonzert, Rufe, durch das Gewölbe zum Lärm gesteigert; wenn die Henkel auf die Wassereimer herabfielen, wurde das Geklapper zum Knall. Der Hall, der jedem Wort ein Echo mitgab, nahm den Stimmen die Schärfe – er erzeugte ein abgerundetes, brunnenhaftes Dröhnen, als rede der Raum selbst, als sei er eine angeschlagene Riesenglocke. Dabei blieben dem Liegenden die Hervorbringer des Lärms verborgen; was sich rechts und links von ihm und zu seinen Füßen tat, geschah außerhalb seines Gesichtsfelds. Ab und an traf ihn ein im Fallen leicht abgekühlter Wassertropfen, der sich vom Gewölbe gelöst hatte; nein, er sah ihn nicht näher kommen, wie auch, und dennoch gelang es ihm immer, die Augen rechtzeitig zu schließen – er wandte seine Aufmerksamkeit allein diesem Tropfenfall zu. Ein Spiel mit einem unbelebten Partner oder doch nur Einbildung? Er spürte seinen Körper schwer auf dem harten, heißen Boden ruhen, mit ihm geradezu zusammenwachsen – unvorstellbar, sich aus dieser steinernen Ruhe wieder zu erheben. Und zugleich ließ der Hall eine Empfindung von Schwerelosigkeit entstehen, ein Schweben in dem durch das Getöse grenzenlos werdenden Raum.

Dieser Zustand war unerwartet. Ruhelosigkeit und unablässige Bewegung waren ihm vorangegangen, ein Zurücklegen großer Entfernungen in einer Verfassung, die jedes Innehalten verbot, ein panisch gedankenloses Voranstürzen. Es war ein Wunder, wie das durch sein Gegenteil ausgetauscht worden war. In dieser Lage gab es nur Vergessen. Alle Grübeleien lösten sich in der Hitze auf.

Der Saal war nur mäßig beleuchtet. Zwei schwache Birnen, deren Licht ein Hof von Dampfschwaden umgab, wie von Wolkenschleiern umwehte Monde, beschienen die auf dem Boden ruhenden Männer. Andere waren mit dem Waschen beschäftigt, sich methodisch einseifend, sich aus Eimern heiß übergießend, dann wieder aus einem großen Trog, in den es gurgelnd hineinplätscherte, neues Wasser schöpfend, das allzu heiße mit kälterem aus einem zweiten Trog mischend, ihm den Biß nehmend, im kunstvoll erfahrenen Hin-und-her-Gießen eine erträgliche Temperatur erzeugend: ein konzentriertes Tun, allein der Steigerung der Badewollust gewidmet.

Ein Stoß ließ den jungen Mann den Kopf heben. Neben ihm kauerte ein kleiner kahlgeschorener Greis, entfleischt, uralt und dennoch von sehniger Körperkraft, die Rippen waren zu zählen, die Lippen eingefallen, die Zähne dahinter bis auf einen einzigen verschwunden. Er wollte seine Arbeit beginnen; die Hitze lähmte ihn nicht, sie war sein Element, seine Finger fühlten sich kühl an. Er hatte einen Handschuh aus kratzigem Stoff, ein wahres Reibeisen, und begann damit, erst den Oberkörper, dann Arme und Beine des jungen Mannes zu traktieren, roh und gleichzeitig wohltuend. Um seine Effizienz zu beweisen, hielt er ihm ab und zu den Handschuh unter die Nase, der voller Hautfetzen war; nicht einfach nur Schweiß und Schmutz sollten abgewaschen werden, es ging vielmehr darum, die Epidermis, die davon bedeckt gewesen war, systematisch abzutragen. Auf dem Rücken bereitete die Gommage das größte Wohlbehagen. Der junge Mann erlebte eine Häutung – war jemand, der dieser Behandlung unterzogen worden war, eigentlich noch dieselbe Person? Liegen Gutes und Böses nicht vor allem auf der Oberfläche eines Menschen und haben mit der Tiefsee darunter vielleicht gar nicht so viel zu tun? Ein flüchtiger, absichtsloser Gedanke war das, als habe die Vorstellung, ein anderer zu werden, der abgeschüttelt hat, was hinter ihm lag, gar keinen besonderen Reiz für ihn, als sei sie nur ein müßiges Spiel im Reich der Zeitlosigkeit.

Draußen war es trüb und naß. Der Wind pfiff durch die Straßen, er ließ die Markisen über den Läden wie Fahnen knattern. Noch vor wenigen Stunden war die feuchte Kälte bis auf seine Knochen gedrungen. Bei seiner Ankunft in der Stadt hatte er in seinem leichten Nadelstreifenanzug längst aufgehört zu schlottern, er war erstarrt gewesen, das freundliche offene Gesicht grau, die Nase rot. Schon als er aus dem Omnibus stieg, in der abweisenden Öde des Busbahnhofs, hatte er die Knochen kaum mehr unter Kontrolle gehabt; noch nie im Leben hatte er so gefroren. Aber diese vielstündige Tortur war eben die Voraussetzung für den überwältigenden Genuß – das Eingießen heilsamen Feuers in alle Glieder und Zellen, man meinte es knacken zu hören, etwas faltete sich auseinander wie eingeschrumpelte Kamillenblüten, die wieder zu frischen kleinen Blumen werden, wenn das kochende Teewasser über sie gegossen wird.

Für die Männer in diesem Hammam war das offenbar ein sich häufig wiederholendes Erlebnis. Sie hausten in unheizbaren Zimmern ohne heißes Leitungswasser, von Badezimmern zu schweigen, jedenfalls wenn es in den übrigen Häusern der Stadt auf dem von Atlantikwellen umrauschten Felsen so ähnlich aussah wie in seiner eben gefundenen Unterkunft. Da war man sicher versucht, sich nicht täglich zu waschen, überhaupt so wenig wie möglich auszuziehen, um dann einmal in der Woche die Befreiung von allen Entbehrungen zu erleben, vom Gluthauch des Badeofens angeblasen, von den abgestorbenen Schichten der Haut erlöst. Das Ein- und Ausatmen war das Gesetz hinter jeder großen Freude, der Wechsel von Druck und Erleichterung, Entbehrung und Erfüllung. Es gab dramatische Konversionen: Menschen, die durch Eingreifen höherer Mächte von einem Augenblick zum andern alles aufgaben, was sie gewesen waren, um zu neuen Menschen zu werden – ein staunenerregender, auch unheimlicher Vorgang. Der junge Mann bekannte sich, stets im verborgenen gebetet zu haben, daß es ihn niemals derartig packen und erwischen möge – war er nicht mit sich selbst so zufrieden gewesen, wie er das als wohlgestalter und vielfältig begabter, schnell von Erfolgen verwöhnter aufsteigender Bankmann auch sein durfte, ja sein mußte? Solcher Aufstieg wird nicht den Selbstzweiflern zuteil, zur Berufsbeschreibung gehört ein für altmodische Verhältnisse schon unverschämt zu nennendes Selbstbewußtsein.

Inzwischen hatte die Neuschaffung seiner Person, soweit das von außen und ganz materiell möglich war, den Zustand der Vollendung erreicht, mit Wasser und Feuer und rabiater Abreibung. Ein Schwall heißen Wassers traf ihn ins Gesicht, ein zweiter und ein dritter, eine Totalüberflutung. Kein Eintauchen im Meer konnte den Eindruck solcher Wasserfülle hervorrufen wie die Güsse des uralten Badedieners mit den Stahlseilmuskeln. Er taumelte aus dem Saal hinaus, storchenartig über die ausgestreckten Beine der anderen Badenden steigend. Männer allen Alters und aller Körperverfassungen lagen nebeneinander: dicke weiße Bäuche, flache braune, Väter mit ihren Knaben, die im Abreibungs- und Reinigungsgeschäft ebenso ernsthaft unterwiesen wurden wie beim Unterricht in der Medrese im Gebet. Alte Männer zeigten hier ohne Scham ihre Verwachsenheit. Ein traurig blickender Zwerg mit nach vorn gewölbter rachitischer Brust, die dünnen Beinchen verschränkt, goß Wasser hin und her zwischen zwei Eimern, als sei es das Spiel eines verlassenen Kindes. Der mahagonibraune Badediener, dieses schwitzende Skelett, beugte sich soeben über einen Mann seines Alters mit tief zerfurchtem dunklen Kopf und verblüffend dagegen abstechenden weißen jugendlichen Beinen, die von den Daumen des Masseurs durchwalkt wurden, ohne daß er sich Schmerzensrufe entlocken ließ. Der Greis wandte den Kopf nur geduldig und mit einer Demut zur Seite, als sei mit diesen weißen Beinen eine Art Schuld sichtbar geworden, deren Bestrafung er nun schweigend hinzunehmen hätte.

Hinter einer Plastikmatte ging es zum Frigidarium, alles in diesem Bad glich einer antiken Therme. Hier empfing kühle Luft den jungen Mann freundlich und schmeichelnd, er fühlte erst jetzt, wie anstrengend der Aufenthalt in der Hitze gewesen war. Und dort erwartete ihn Karim, so nannte er ihn schon ganz vertraut, nicht ausgekleidet, im Gespräch mit einem Mann mit mächtig vortretendem Bauch, der sich von einem schlanken Jüngling die Achseln rasieren ließ – so etwas als Statuengruppe mußte es im Hellenismus doch gegeben haben, dachte er und bewies sich damit selbst, daß er ein so anderer doch noch nicht geworden war. «Silen empfängt den kosmetischen Dienst eines jugendlichen Korybanten.»

«Du findest es heiß, aber es gibt Hammams, die noch heißer sind. Die werden mit alten Autoreifen geheizt. Dieser hier nur mit Holz.» Karim wies auf den eifrig und sorgfältig Rasierenden. «Für ihn ist es im großen Saal zu heiß. Er ist herzkrank. Der Doktor hat ihm die Arbeit hier eigentlich verboten. Armer Kerl …» – seine Miene war mitleidig und zugleich herablassend, als wolle er sagen: ein schöner Apfel voller Würmer.

Der junge Mann stützte die Stirn in die Hände. Er dampfte, aber die Kühle beruhigte und weckte zugleich. Der Zustand der Zeitlosigkeit, das Vergessen der eigenen Herkunft und von allem, was der Reise vorangegangen war, wich allmählich. Seit bald sechsunddreißig Stunden hatte er nicht richtig geschlafen, gedämmert schon, war auch manchmal in tiefere Zonen weggeglitten, aber stets nur kurz, bereit hochzufahren. Bei diesem ruckartigen Erwachen kehrte dann alles eben Vergangene auf einen Schlag zurück. Und immer vor dem Generalhintergrund der Kälte: Sie gab der Reise einen bedrohlichen Akzent, weil sie ihn an die Grenzen seines Durchhaltevermögens geraten ließ.

Spätabends war er am Vortag in Casablanca gelandet, die Ausweiskontrolle hatte er ohne weiteres passiert, aufatmend nach heftigem Erschrecken – er hatte gar nicht bedacht, daß Marokko einen Paß bei der Einreise verlangte –, da fand er in der Brusttasche, angstvoll tastend, den Paß von der letzten Amerikareise her. Welch ein Glück, welch ein Zeichen für den Erfolg seiner Reise, jetzt schon hätte sie gescheitert sein können. Sie war also gewünscht, sie sollte sein, das Schicksal blies Wind in seine Segel. Aber von nun an durfte der Paß keine Rolle mehr spielen. Es mußte jetzt gänzlich ohne Paß gehen. Ab sofort durfte er keine Spuren mehr hinterlassen, anonym und inkognito wie in den noch nicht so lange zurückliegenden Studentenjahren wollte er sich weiterbewegen, aber das war mühevoll und mit dem verbunden, was ihm in seiner gegenwärtigen Verfassung am wenigsten gelang: mit Warten.

Am verlassenen Busbahnhof von Casablanca stieß er auf ein Grüppchen Männer in einem Schuppen, die sich um einen Gaskocher mit Wasserkessel versammelt hatten. Herzlich war die Aufnahme in diesem Kreis nicht gerade, er fiel mit seinem Anzug auch ungut auf, die anderen waren abgerissen mit Baseball-Kappen und schwarzen Kunstlederjacken, aber sie verwehrten ihm nicht, seine Hände über dem Kessel auszustrecken. Das war mehr eine Erinnerung an Wärme als wirkliches Auftauen, die Bestätigung der Hoffnung, daß es irgendwann einmal gelingen werde, die steifen Glieder zu lösen.

Die Fahrt dann am frühen Morgen, nach Stunden, von denen er sich jetzt noch fragte, wie er ihr Verstreichen hatte ertragen können, im dichtbesetzten Bus, zwischen schweigenden Passagieren mit viel Gepäck, zog sich dahin, der Bus hielt oft, er fuhr am Meer entlang, das Wasser war grau, der Himmel darüber noch mehr, und immer wieder verbanden sich die Meeres- und Himmelsgewässer im Sturzregen, der die Scheiben undurchsichtig werden ließ. In Safi stiegen Fischer und Arbeiter aus der Sardinenfabrik zu, ein intensiver Fischgeruch haftete an ihrem Ölzeug, die Männer waren gut gelaunt und weniger reserviert als die übrigen Reisenden, eine wilde Truppe, bronzebraun gebrannt und wie von Vorfreude erfüllt – auf die Ausfahrt oder auf die Heimkehr?

Dies war eine Reise ins Ungewisse. Die Fahrkarte galt bis Mogador, aber was ihn dort erwartete und wie er sich dort durchschlagen würde, das war völlig unklar. Er hatte ein Ziel; danach wußte er nicht weiter. In Mogador mußte sich alles entscheiden – aber was konnte er selbst noch dazu tun? Die Kälte, die in der Nachbarschaft eines von Schaumkronen bedeckten Meeres immer feuchter wurde, hatte auch ein Gutes. Mit solchen Fragen hätte er bei freundlicheren Temperaturen die fünf Stunden im Bus zergrübeln können, statt dessen brauchte er all seine seelischen und physischen Kräfte dazu, im Stillsitzen nicht die Nerven zu verlieren. Konnte man nicht durch Selbstsuggestion Wärme im Körper erzeugen? Einfach beschließen, unter Aufbietung des ganzen Willens: Ich friere nicht? Dem Vernehmen nach war das möglich, aber das hätte vorbereitet sein müssen. Er hatte die letzten Jahre nur nach außen gewandt gelebt. Er versuchte, sich in sich zu versenken, aber er zitterte dabei so stark, daß es seinem Nachbarn, einem Mann mit weißem gehäkelten Käppchen, auffiel. Stumm schob er ihm einen kratzigen Schal zu, das erste fremde Kleidungsstück, mit dem das Land den Reisenden ohne Gepäck begrüßte.

Wie richtig es war, sich keine Gedanken über den weiteren Verlauf nach der Ankunft zu machen! Er fühlte sich ungewaschen, er war unrasiert und ungekämmt. Als er aus dem Bus stieg, waren die Beine so steif, daß er sich auf den hohen Stufen ungeschickt anstellte. Ein eisiger Wind pfiff. Er zog die Anzugjacke eng um sich und stellte den Kragen hoch. Für die Verhältnisse, die er antraf, war er dennoch eine auffällige Erscheinung, nur die blonden Bartstoppeln halfen, ihn besser ins Gesamtbild einzufügen; rasiert war kein einziger seiner Mitreisenden.

Ein kleiner Mann trat an ihn heran, mit großem Kopf und großen Händen, von unbestimmtem Alter, die Falten auf der Stirn ließen vorgerückte Jahre vermuten, er war aber nicht älter als er selbst, das stellte sich bald heraus, ein Bauerngesicht mit runden Augen und dicken Lippen, Persianergelöckel auf dem Kopf, das Männliche und das Kindliche waren bei ihm seltsam gemischt. Ob Monsieur schon ein Zimmer habe? Etwa eines suche? Nicht zu teuer? Mitten in der Medina?

Es gebe eine Schwierigkeit – der junge Mann war stolz auf seine Geistesgegenwart, ganz vereist war das Gehirn noch nicht –, er habe seinen Paß verloren.

«Vergiß den Paß!» «Monsieur» ging bei dem kleinen Mann mit «Du» zusammen. Die Sorge war nicht der Rede wert, das mußte gar nicht vertieft werden. «Aber halte dich bitte ein paar Schritte hinter mir, die Polizei mag die freien Vermittler nicht» – auch das war beruhigend, offenbar verstand er sich nicht als Gehilfe der Ordnungsmächte.

Das verfallene Haus, zu dem er ihn führte, schien unabsehbar weitläufig, mit großem Innenhof, um den sich in drei Stockwerken Arkaden zogen, rutschiger, enger Treppe, Frauen, die auf den Galerien vor Holzkohleöfchen hockten und kochten, Plastikplanen, die die Arkaden behelfsmäßig verschlossen und im Wind flatterten, die Regentropfen rannen daran herab. Das Gemäuer hatte etwas von einer alten Burg. Das Zimmer, das Karim, so stellte sich der Vermittler vor, aufschloß, war fensterlos und völlig leer.

«Wir werden dir hier etwas hereinbringen, es gibt genügend Decken. Heute Nachmittag ist alles bereit.»

Bis dahin bin ich tot, dachte der junge Mann.

«Und bis dahin gehst du in einen Hammam und wärmst dich auf.» Aufmerksam war Karim, seinem Blick entging das Wesentliche nicht.

Der Badediener war ihm ins Frigidarium gefolgt und reichte ein feuchtes Handtuch, Karim brachte die Kleider, die in einen Plastikeimer gestopft worden waren. Es wurde Ernst gemacht mit dem neuen Leben. Was gestern war, das hätte der junge Mann jetzt durchaus erzählen können, aber wie einen Roman, mit Wirklichkeiten gemischt und doch selbst ihm im Ganzen unwahrscheinlich.

2

«Unten sind ein paar Reporter für Sie – wir lassen die Presse grundsätzlich in der Halle warten.»

Der Beamte im Vorzimmer des Kommissars blickte kaum von seinem Schreibtisch auf. Nichts Bemerkenswertes lag für ihn in einer Mitteilung, die dem jungen Mann in die Glieder fuhr. Nach dem Gespräch eben war er ein anderer – kein Nachdenker, kein Argumentierer, kein Abwäger, kein Taktierer mehr. Jedes Wort wurde in seinem Kopf sofort zum Bild, unter Überspringung aller Zwischenschritte. Gerade war ihm die Falle gezeigt worden, mit gezähnten Backen – noch geöffnet, aber zum Zuschnappen gespannt. Der Kommissar hatte ihn nicht ganz bis zur Tür begleitet; in der Mitte des Raumes hatte er innegehalten und ihm eine trockene Hand gereicht. Wollte er ihn allein in sein Verhängnis laufen lassen? War dies ein Spiel mit verteilten Rollen: Sollte es an den Reportern sein, die eigentlichen Fragen zu stellen? Würde er von jetzt an alles falsch machen?

Da war der Waschraum, die Reihe der Urinale: eine Zuflucht im Feindesland, in die keine Fragen drangen. Das Fenster stand offen, Januarluft strömte herein. Im Büro des Kommissars war es sehr warm gewesen, sein vorgerücktes Alter ließ ihn offenbar leicht frösteln. Der junge Mann hatte keinen Mantel an, mochte Mäntel nicht, war ohnehin mit dem Wagen da. Er sah aus dem Fenster: Er befand sich im zweiten Stock, aber es gab ein kiesbestreutes Vordach in drei Meter Tiefe … Drei Meter sind nichts, aber wenn man nach unten blickt, werden sie viel. Er spannte die Muskeln an und ließ sich behutsam hinab. Als er ausgestreckt an der Wand hing, war nur noch ein Meter zu überwinden. Er ließ sich fallen.

Die Fenster gegenüber waren grau erleuchtet, Frauen gingen darin auf und ab, hinter einer Pflanze saß ein Mann in Hemdsärmeln am Schreibtisch und blickte auf seinen Bildschirm. Niemand sah zu ihm herüber, er war unsichtbar wie ein Fensterputzer. Jetzt der Sprung auf einen Müllbehälter, dann stand er im Hof. Er blickte hinauf zum zweiten Stock – eine unüberwindliche Steilwand. Der Kalk des Verputzes hatte weiße Spuren auf seinem dunklen Anzug hinterlassen, im Laufen klopfte er sich ab. Es war viel schiefgegangen; sollte jetzt wieder etwas gelingen?

Auf der Straße hielt ein Taxi. Er fühlte sich geführt, er stieg ein. Immer noch hatte er keinen Plan, der über die nächste Sekunde hinausreichte. Die Frage des Fahrers nach dem Ziel war die erste Unterbrechung seiner hellwachen Benommenheit. Wohin? Er dachte tatsächlich: Weiß der das nicht? Da war sein verwirrtes Gesicht im Rückspiegel, Schweißtropfen standen ihm auf den Schläfen an diesem Wintertag. Wohin? Aber das war doch ganz einfach … nach Hause oder ins Büro? Sagen hörte er sich: «Bringen Sie mich zum Flughafen von Brüssel – schaffen wir das in drei Stunden?»

Eben noch war alles Bewegung gewesen; was in ihm vorging, hatte sich restlos in Handlung umgesetzt. Was, wenn er mit angeknackstem Knöchel liegengeblieben wäre? «Was wäre, wenn …», das gab es nicht. Im Taxi wurde ihm Ruhe aufgezwungen. Wenn er nur am Steuer hätte sitzen können, wie gewohnt zügig die Verkehrshindernisse nehmend, immer hart am Verbotenen vorbei, mit einer Konzentration, die den Genuß nicht ausschloß und riskante Manöver erlaubte. Auto fahren konnte er, das durfte er in aller Bescheidenheit von sich behaupten.

Jetzt mußte er dankbar sein, daß die Ungeduld sich nicht ausrasen konnte. Bloß nicht auffallen, das war alles, was er wünschte. Erst handeln, dann nachdenken – leider nie seine Stärke –, aber wer schnell sein mußte, durfte das Risiko nicht scheuen. Der Erfolg rechtfertigte jede Kühnheit.

War seine Flucht ein Erfolg?

Der Anruf mit der Bitte, ins Düsseldorfer Polizeipräsidium zu kommen, hatte ihn erreicht, als er am Vormittag gerade die Bank verlassen wollte, um mit einem dicken Geldscheinbündel das soeben ersteigerte Motorrad bar zu bezahlen und abzuholen, Erfüllung eines in mageren Studentenjahren vergeblich gehegten Wunsches, der vielleicht zu spät Wirklichkeit werden sollte. Alles hat seine Zeit. Wenn er an seinen Kauf dachte, lächelte er über sich, aber in die Selbstironie war Freude gemischt. Die Eroberung des Motorrades bildete eine Insel in der Sorgenstimmung, die ihn seit zwei Wochen mit unbestimmten Befürchtungen erfüllte: daß etwas eintreten werde, etwas Unbeherrschbares, Gefährliches.

Zwei Wochen zuvor war Doktor Kurt Filter an einem Heizungsrohr erhängt aufgefunden worden. Das hatte im Büro für beträchtliche Unruhe gesorgt. Er hatte in jener Abteilung gearbeitet, welcher der junge Mann vorstand, man kondolierte ihm als dem Chef. Er war zwanzig Jahre jünger als Filter; der galt als Relikt einer guten alten Zeit, als man noch von «Bankbeamten» sprach, ein Mann von der glanzlosen Zuverlässigkeit, die einstmals das Kapital eines Hauses darstellte. Wie er es in einem Testament, das sonst keinerlei Verfügungen enthielt, angeordnet hatte, sollte er eingeäschert werden, lag in der Kühlkammer aber noch in seinem Sarg, mit einem weißen Schal um den Hals, um die blauen Druckstellen zu verdecken; noch schien er nicht ganz gestorben. Es spannen sich, woher, war unbekannt, Gerüchte um sein Ende. Die Stimmung in den Konferenzen verdichtete sich. Der junge Mann sah sich Fragen nach ihm ausgesetzt, die er beim besten Willen nicht beantworten konnte.

«Unser Verhältnis war von Diskretion geprägt», sagte er bei solcher Gelegenheit in einem getragenen Ton, als zitiere er aus einem Nachruf. «Er war ein Mann der Diskretion, man konnte bei ihm lernen, was Respekt heißt.»

Es war gut, daß er diese Formeln schon ein paarmal ausprobiert hatte, jedesmal eine gewisse Verlegenheit damit erntend. Sie würden ihm im Kommissariat, wohin er sich jetzt aufmachte, ebenso sicher zu Gebote stehen.

Im Dienstzimmer des Kommissars traf er auf eine für ihn längst versunkene, aber wohlvertraute Welt. Wo bei ihm in der Bank ein unruhiges, mit Pinselhieben ausgeführtes Gemälde eines bekannten amerikanischen Künstlers hing, schmückte hier der Abreißkalender einer privaten Detektei die Wand. Er war weit davon entfernt, das Fehlen von schwarzen Ledersophas mit Herablassung zu registrieren; sein Vater war Richter gewesen und hatte im Landgericht ähnlich karg residiert. Im Gegenteil, die Autorität teilte sich in der Sprache solcher Dürftigkeit nur eindringlicher mit. Beim Vater hatten noch die Wolken zahlreicher Zigaretten in der Luft gehangen und dem Zimmer ein weich-bläuliches Licht verliehen. Das war jetzt verpönt, dafür war der Geruch des Kommissars in säuberlicher Eigentümlichkeit zu erschnuppern, nicht unangenehm, wie nach alten, in einem Schrank pfleglich aufbewahrten Kleidern. Das Schönheitsbedürfnis dieses Mannes war durch eine widerstandsfähige afrikanische Pflanze mit dolchspitzen Blättern offenbar zur Genüge befriedigt. Er war sehr höflich, schien in Wirtschaftssachen erfahren und den Umgang mit weltläufigen Leuten gewohnt, obwohl er nie versucht hatte, von deren Auftreten selber etwas anzunehmen; sein Anzug umgab ihn starr, wie aus Ofenrohren zusammengeschweißt. Zwar glomm ein Bildschirm auf seinem Tisch, aber es war klar: Man betrat hier noch ein Reich des Papiers. Akten türmten sich auf einem Ständer, und auf der Schreibtischplatte waren sie übereinander ausgebreitet, das sah geradezu nach Unordnung aus. Holzhaltige, schnell vergilbende Formulare mit akkuraten Textblöcken und Zahlenkolonnen: die hatten auch auf dem Schreibtisch des Vaters gelegen. Das Transportmittel für solches Papier war die abgeschabte Aktentasche, die am Schreibtisch lehnte – eine ganz ähnliche hatte der Vater besessen. In dieser Abgeschabtheit verkörperten sich Pflichtbewußtsein und Unbestechlichkeit; war nicht auch Doktor Filter mit einer solchen Tasche aufgetreten?

Der Kommissar hatte sich erhoben, als er eintrat.

«Herr Doktor Elff, ich danke Ihnen, daß Sie meiner Einladung so schnell Folge geleistet haben.» Gewiß habe der tragische Fall die Kollegen sehr bedrückt.

Das konnte der junge Mann nur bestätigen.

Man frage sich in solchen Fällen doch immer, ob man versäumt habe, zur rechten Zeit Signale wahrzunehmen, «Hilferufe sozusagen».

Der Kommissar bediente sich eines psychologischen Terminus in bewußter Distanz zu solchen Sachverhalten, er war schließlich Spezialist für Wirtschaftsfragen. Ein vollständig trockener Mensch, die Haut aus Seidenpapier, zart zerknittert, im Mund nur ein Tropfen Speichel, um hin und wieder mit einem rosigen Schildkrötenzünglein die Lippen zu befeuchten. Aber eben nicht die Finger, wie es früher manche Leute taten; wenn die eine Zeitschrift gelesen hatten, waren die unteren Ecken der Seiten verfärbt. Unvorstellbar beim Kommissar die Verbindung von Papier und Speichel. Die Aktenstücke kamen seinen Fingern entgegen zu einer keuschen, geschwinden Berührung, die keine Spuren hinterließ. Spuren hinterließen andere; und waren sie noch so flüchtig, dem Kommissar würden sie nicht entgehen.

Er entschuldigte sich noch einmal ausdrücklich, Herrn Doktor Elff aus der Arbeit gerissen zu haben. Aus seinen grauen kleinen Augen sprach die Sorge, er könne behindern – gab es doch keinen anderen Daseinszweck für den Menschen als die Arbeit; dabei zu stören rührte an ein erhabenes Gesetz, selbst wenn es um die Hilfe bei einer polizeilichen Ermittlung ging.

Der Dahingeschiedene habe äußerst bescheiden gewohnt, in einem Hochhaus aus den siebziger Jahren am Stadtrand mit Ein-Zimmer-Apartments, penibel aufgeräumt, ohne die Hilfe einer Putzfrau offenbar, und deshalb habe das Durcheinander im Raum zunächst verdächtig gewirkt, der umgestürzte Stuhl, die zu Bruch gegangene Stehlampe, die von dem Tischchen heruntergefallene zersprungene Flasche. Diese Details entnahm der Kommissar einem Protokoll; es gelang ihm, das Wort «Kampfspuren» wie in Anführungszeichen auszusprechen, es gehörte ebenfalls nicht zu seinem täglichen Vokabular. Alles hatte eine einleuchtende Erklärung gefunden – den Stuhl habe Herr Doktor Filter wohl selber umgestoßen, nachdem er sich die Schlinge um den Hals gelegt hatte, die anderen Sachen seien durch den Stuhl in Bewegung geraten.

Zum wievielten Mal las er das Protokoll? Niemals würde ihn etwas Geschriebenes langweilen. Überdruß war eine ihm unbekannte Empfindung. Dann löste er sich aus dem Bann, in dem die Buchstaben seinen blassen Blick gefangenhielten, und sah sein Gegenüber an.

«Er war manisch-depressiv, wußten Sie das?» Herr Doktor Filter habe es eine Weile mit einer Therapie versucht, sei aber zu einer rein medikamentösen Behandlung übergegangen, als die Gespräche mit dem Arzt nach Jahren fruchtlos blieben.

«Man ist in unserem Beruf mit dem Bekenntnis eines solchen Leidens sehr zurückhaltend.» Elff wollte den Eindruck eines verständnisvollen, aber auch reservierten Vorgesetzten erwecken, den die Privatangelegenheiten seiner Untergebenen nichts angehen. Der Weg, auf dem die Unterhaltung voranschritt, beruhigte ihn.

Der Kommissar studierte die offenen, harmlosen Züge seines Gastes, der sich bemühte, reif und erwachsen zu wirken, nickte aber ermutigend.

Filter sei so zuverlässig gewesen, fügte Elff hinzu, daß der Gedanke an Stimmungsschwankungen gar nicht erst aufgekommen sei. Er könne sich vorstellen, daß der Kollege sie mit äußerster Disziplin unterdrückt habe. Jetzt wagte er etwas: Disziplin könne eben auch zur Selbstzerstörung führen.

Der Kommissar zog die Augenbrauen in die Höhe. Kein Gedanke konnte ihm ferner liegen; der exquisiten Seelenkunde seines Gastes wollte er gleichwohl gern folgen. «Daß er nicht verheiratet oder geschieden war, ist Ihnen gewiß aus der Personalakte vertraut –»

Elff beeilte sich zuzustimmen.

«Und sonst … Menschen … irgendeine Form von … Partnerschaft?» Wieder ein Fremdwort für den Kommissar, der zwar wußte, daß es dergleichen gab, dem Phänomen aber nicht näherrücken wollte.

Nein – keine «Partnerschaft». Nichts davon war Elff bekanntgeworden; aber in ihm wuchs eine stille Sorge, auf diesem Punkt könnte länger verweilt werden.

Doch der Kommissar sah sich vor anderen Schwierigkeiten. Die Vermögenswerte, die Doktor Filter hinterlassen habe, seien nicht unbeträchtlich, ein Erbe nicht in Sicht.

Elff bedauerte das. Es sei ihm klar gewesen, daß Herr Doktor Filter aus soliden Verhältnissen stammen müsse.

«Warum?» Der Kommissar fand das wohl weniger klar.

«Es war etwas in seinem Verhältnis zum Geld – er war wie ein Mann, der sich nie darum hat sorgen müssen … Geld war für ihn nur ein theoretisches Problem – so wirkte er auf mich …» Das war tatsächlich sein Eindruck gewesen.

«Herr Doktor Filter stammte aus kleinen Verhältnissen, wie man so sagt. Der Vater war Eisenbahner, die Mutter Verkäuferin –»

Elff hatte einen Einfall: «In einem Textilgeschäft etwa?»

Der Kommissar staunte verhalten – man kannte sich offenbar doch recht gut?

«Nein, es ist nur so eine komische Assoziation: Er war sehr gewählt, ich meine, etwas zu sorgfältig gekleidet – und immer ganz in Grau, Anzug, Hemd und Krawatte in verschiedenen Grautönen. Ich erinnere mich sogar einmal, im Sommer, an graue Schuhe. Ich mußte bei seiner Erscheinung an das Wort Garnitur denken – das stammt doch wohl aus dem Handel …»

«Sie vermuten richtig: Die Mutter arbeitete in einem kleinen Textilkaufhaus in Bielefeld.»

An diesem Punkt der Unterhaltung war es dem jungen Mann, als ob die eisernen Reifen der Beklemmung, die bis dahin um sein Herz gelegen hatten, absprangen. Warum war er mit dunklen Ahnungen in dieses Gespräch gegangen? Es ging hier doch anscheinend nur um den säkularen Erinnerungsdienst an einem Verstorbenen aus dem benachbarten Büro, der nüchternen Natur des Kollegen entsprechend nicht überschwenglich, sondern in stiller Nachdenklichkeit. Erwachsene Männer wissen ihre Empfindungen in Gesellschaft zu zügeln.

«Ich kann mir vorstellen, daß er sparsam war. Er hatte keine Verpflichtungen und ein sehr gutes Gehalt, da kommt mit den Jahren etwas zusammen.»

Elff meinte, mit dieser Bemerkung an Erfahrungen seines Gegenübers zu appellieren, bei dem er gleichfalls ein ökonomisches Temperament vermutete. Die Erleichterung machte ihn redselig. Leute, die nichts brauchten, konnten sehr viel haben – ging nicht ein größerer Besitz oft mit einer Neigung zur Bedürfnislosigkeit einher? Kannte man nicht die asketischen Mönche in reichen Klöstern, die Monarchen, die auf Feldbetten schliefen? Besitzlosigkeit hält die Phantasie wach – alles, was man nicht besitzt, ist begehrenswert. Er war mit dieser Gefühlslage vertraut.

Der Kommissar stimmte dem zerstreut zu, meinte dann aber, wieder aufmerksam werdend, daß es sich angesichts des Umfangs des bei weiland Herrn Doktor Filter vermuteten Vermögens – leicht sei es nicht, es zu beziffern – doch wohl verbiete, von «Ersparnissen» zu sprechen. Wenn man die Vermeidung von Steuern nicht auch gleich als Ersparnis bezeichnen wolle, was sich einbürgere … widersinnigerweise, denn die Ausnützung gesetzlich eingeräumter Steuervorteile entspreche keineswegs dem Wortsinn der Ersparnis. «Wir haben uns daran gewöhnen müssen, daß die Begriffe falsch verwendet werden, obgleich diese Gewohnheit nicht ganz unbedenklich ist.»

Eigentlich hätte Elff sich auf solche zeitkritischen Betrachtungen gern eingelassen, aber ihm gefiel die Richtung nicht, die das Gespräch nun nahm. Die Entspannung, eben noch so wohltuend, wich wieder der Unruhe und gesteigerten Wachsamkeit. Wäre er ein Hund gewesen, er hätte sich aufgerichtet und die Ohren hochgestellt. Was wäre dafür zu geben, jetzt ein Hund zu sein. Würde es noch einmal gelingen, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben?

Daß Doktor Filter seine Möglichkeiten ausgeschöpft habe, halte er für wahrscheinlich – Elff wollte wieder ins Psychologische hinüber –, aber stets im Rahmen der Gesetze. Da sei er geradezu pedantisch gewesen, übervorsichtig, jeden ungewohnten Gedanken sofort durchkreuzend. Die Stürmer und Dränger – die Abteilung sei vorwiegend mit jüngeren Leuten besetzt – hätten ihn oft als Belastung empfunden. Er habe auch einen Preis dafür gezahlt: Seit Jahren sei er nicht mehr befördert worden, habe in einer Nische gelebt, man habe ihn dort auf die Pension warten lassen, ihn nicht mehr ernst genommen … Elff ließ Trauer durchblicken. In Firmen könne es so grausam zugehen, der Kommissar wisse da sicher Bescheid. Er schwang sich zum späten Protektor Doktor Filters auf, den er «menschlich», wie das gern hieß, sehr geschätzt habe.

Der Kommissar stutzte. Man sei sich also doch etwas nähergekommen?

Eine Devise des Dahingegangenen, sagte Elff, habe er immer bewundert, während die jungen Kollegen darüber bloß hätten höhnen können: «Ich will nur Geschäfte machen, die ich verstehe.» So einfach es klinge, heute sei das eine schier unfaßbare Provokation.

«Das hat er gesagt?» Der Kommissar zeigte zum ersten Mal die Andeutung eines Lächelns. «Wie er das wohl aufgefaßt haben wollte …»

Elff fühlte sich wieder sicher. Ob es nicht ein trauriges Zeichen sei, wenn man einem Vermögensverwalter Achtsamkeit, Zögern und das Bestehen auf Sicherheit zum Vorwurf mache?

Hierauf wollte der Kommissar nicht eingehen. Er wirkte wieder abwesend, war für Wohlfeiles vielleicht auch zu anspruchsvoll. Dennoch schien es, als er wieder zu sprechen begann, als wolle er noch ein wenig bei allgemeinen Besinnlichkeiten verweilen. «Der Tod jedes Menschen ist ein Rätsel. Jeder Mensch hinterläßt etwas Ungelöstes und nimmt den Schlüssel dazu mit ins Grab.»

Ein unlösbares Rätsel – das mußte nicht nur Ratlosigkeit bedeuten, ging es Elff durch den Kopf. Das war auch eine Verheißung.

Der Kommissar hatte in den Akten geblättert und einzelne Seiten daraus herausgelöst, die er nun eine nach der anderen in die Hand nahm; er ließ den Blick darübergleiten und legte sie dann wieder hin. Worauf sein Auge fiel, das blieb daran haften, so meinte Elff das zu beobachten – ja, die Zeichen verschmolzen geradezu physisch mit seinen Sinnen, wie Blattgrün das Sonnenlicht in sich aufnimmt. Er war einer der letzten aus jener vieltausendjährigen Dynastie, die von den Schreibern der ägyptischen Pharaonen abstammte, ein uraltes, dem Papier zugeordnetes Geschlecht, in Symbiose mit dem Papier wie einst die Reiter mit den Pferden. Auch diese Zeit ging ihrem Ende entgegen, denn wenngleich die elektronischen Nachrichtenträger den Verbrauch von Papier kaum vermindert hatten, so war seine Magie doch verloren: Das Außerordentliche, Erregend-Neue stand nicht mehr auf Papier. Was aufs Papier gelangte, war schon halb veraltet; Zahlen und Buchstaben verbanden sich nicht mehr mit Materie, sondern schwebten vor einer Fläche, flitzten und huschten darüber hinweg. Für den Kommissar waren die Zeichen auf dem Bildschirm zierliche Körperchen auf der Flucht, erst auf dem Papier schienen sie gefangen, wo er sie mit der Kennerschaft eines Sammlers von Käfern erforschen konnte. Und in der Versunkenheit eines solchen Kenners murmelte er beim Lesen vor sich hin.

«Es scheint, als sei Herr Doktor Filter auch außerhalb seiner Tätigkeit für die Bank geschäftlich aktiv gewesen. Er taucht als Teilhaber, Geschäftsführer, Anteilseigner verschiedener Gesellschaften auf, vielmehr taucht er eigentlich nicht auf – ich denke da an sein Diktum von den Geschäften, die er nur machen wolle, wenn er sie verstehe. Also, ich komme zu dem Ergebnis, daß er sehr viel verstanden hat. Er gibt uns harte Nüsse zu knacken. Sie sind doch gleichfalls im Gesellschaftsrecht beschlagen, nicht wahr?»

Elff bekannte, daß er in der Beratungsfirma, bei der er nach seiner Promotion eine Traineezeit zugebracht hatte, in Gesellschaftsrecht habe Erfahrungen sammeln dürfen. Das sei schließlich sogar fesselnd geworden – man müsse darin nur erst einmal die ästhetischen Prinzipien entdecken, die Architektur. Aber das war schon in weniger gleichmütigem Konversationston gesprochen; er fragte sich, ob in seiner Stimme nicht gar so etwas wie Eifer und Werbung gelegen habe, ein letzter Versuch, die dem Loch entgegenrollende Kugel unauffällig abzulenken.

Der Kommissar fand den Vergleich mit Architektur «zutreffend» – er wollte aber in Doktor Filters Anlagen weniger lichterfüllte Hallen als weitverzweigte Kellergewölbe sehen. «Ich habe darüber brüten müssen, um zu verstehen, wie die Alcam Banking Association mit der Vortex in Liechtenstein, der Interflam auf den Bahamas, der Mare Holding in Singapur und der Eclipse Limited auf den Kaimaninseln zusammenhängt. Das sind doch sämtlich nicht Beteiligungen Ihres Hauses?»

Elff zog es vor, verwirrt zu blicken, mit der stummen Bitte «Helfen Sie mir», aber der Kommissar hob nicht den Kopf. Er stand im Bann des Papiers. Seinen Augen wäre sonst nicht entgangen, daß jedes der Kunstwörter, die er da aneinandergereiht hatte, dem jungen Mann einen kleinen Stoß versetzte. Der fühlte sich auf eine abschüssige Strecke geraten, spiegelglatt. Das sanfte, beinahe flüsternde Sprechen und das Papierrascheln erzeugten einen Sog. Im Kopf des Kommissars ordneten sich die Figuren; der Anblick seines Nachdenkens, das sich schrittweise dem Verstehen näherte, lockte Elff zu ihm hinüber: Die Gedanken der beiden Männer wären gar nicht mehr zu trennen gewesen. Eine Zauberstimmung war entstanden, aus der es kein Ausbrechen gab, weil alles schon auf dem Tisch lag.

«Diese Konstruktion ist eine beträchtliche intellektuelle Leistung», aus den Worten des Kommissars sprach Bewunderung, «aber sie wurde nicht um ihrer selbst willen erbracht. Nach meiner bisherigen Einsicht, ich bin freilich noch nicht ans Ende gelangt, sind über die Konten dieser Firmen knapp dreizehn Millionen gewandert – nur wohin, das ist mir noch nicht klar. Zum Woher habe ich immerhin schon eine Theorie.»

Er sah dabei eigentümlich stumpf aus, in Meditation versunken. Dies war kein Verhör, und anscheinend erwartete er von Elff auch gar keine Hilfe, wozu auch? Es handelte sich um die Angelegenheiten eines Toten, die womöglich dunkle Seiten offenbaren würden. Was hatte der hoffnungsvolle, in der Bank schon hoch hinaufgelangte, souveräne junge Mann damit zu tun?

«Ich muß an der Sache noch etwas arbeiten.» Der Kommissar heftete die Blätter wieder in die Akte. Und dennoch, sollten sich Fragen ergeben, bei deren Beantwortung er vielleicht helfen könnte, dürfte man ihm dann noch einmal die kostbare Zeit stehlen?

Aber während der Kommissar ihm noch überaus höflich für den Besuch dankte – der Händedruck beim Abschied war fest, und in der sonst so verschlossenen Miene blitzte ein winziges Lächeln auf, war das Sympathie oder Ironie? –, da wußte Elff bereits, daß es sehr bald zu einem zweiten Treffen kommen und daß dieses Treffen ganz anders verlaufen würde. War es nicht, als ob der Ältere dem ihm an Erfahrung derart unterlegenen Jüngeren noch ein kleines Fenster offenlassen wollte? War die Entlassung in die Freiheit nur eine grausame Verzögerung oder vielmehr ein Angebot?

3

Im Fond des Taxis hatte er viel Zeit, das Gespräch Revue passieren zu lassen. Ihm half ein Gedächtnis, das, ohnehin gut, im Zustand der Alarmiertheit schon fast photographisch war. Sein Weglaufen vor den Reportern war von Panik diktiert gewesen, aber wenn er jetzt, in der erzwungenen Ruhe im Auto, darüber nachdachte, dann hatte er richtig gehandelt. Aus der Behörde war offenbar schon etwas herausgesickert, eigentlich unvorstellbar bei einem Mann wie dem Kommissar; in Fällen, die das Publikum interessierte, geschah so etwas immer häufiger. Daß die Bank nicht gut dastand, war bekannt. Nun kam der Selbstmord eines höheren Angestellten hinzu, und – wer weiß – vielleicht hatte der Kommissar die Befragung durch die wartenden Reporter gar als zweiten Teil seiner Untersuchung angesehen? Wie viele Leute hatten sich vor der Presse schon um Kopf und Kragen geredet!

Es war Freitag, früher Nachmittag. Noch war er frei. Sein Verschwinden würde wie ein Geständnis wirken, aber rückte ein solches Geständnis nicht ohnehin auf ihn zu? Einen Verdacht hatte der Kommissar schon gefaßt; in ein paar Tagen hätte er die Gewißheit. Warum den letzten Zug, der ihm auf dem Mühlebrett noch geblieben war, nicht tun – verschwinden?

Daß sie die belgische Grenze passierten, war nur auf einem Schild zu lesen, und doch war damit ein erster Schritt in eine neue Sicherheit getan. Er mußte damit rechnen, daß er beobachtet wurde, aber ein Haftbefehl war bisher nicht ergangen, und Belgien hätte davor auch einen gewissen Schutz geboten, eine Verlangsamung, einen kleinen Zeitgewinn, und mochte Zeitgewinn in seiner Lage nicht Entscheidendes bewirken? So war sein Denken immer noch auf Bewegung eingestellt: Die Rettung sollte aus der Bewegung kommen. Sobald er innehielt, konnte die Falle zuschnappen. Da erschien ihm schon das Stillsitzen im Fond des Taxis als gefährliche Passivität, obwohl der Taxifahrer schnell fuhr. Elff hatte ihm ein gutes Trinkgeld versprochen.

Gab es bei seiner forcierten Bewegung denn gar nichts anderes zu bedenken als die Flucht vor dem Zugriff des papierenen Kommissars? Er rannte davon und hatte dafür gute Gründe, aber er war nicht allein auf der Welt. In welche Lage geriet die Frau, die er vor drei Jahren geheiratet hatte nach langem Sichkennen, langem Sichumkreisen, auch Getrenntsein, bis ihr schließlich keine Argumente mehr gegen die Hochzeit einfielen? Denn sie war es gewesen, die sich schwer entschließen konnte. Er selber war früh schon in eine Verliebtheit geraten, die keine Bedenken mehr gelten ließ. Wenn Zyniker festgestellt haben wollen, eine Frau heirate stets den zweitbesten Mann, nachdem der eigentliche Kandidat unerreichbar geblieben, treulos gewesen oder davongegangen sei, dann stimmte das in ihrem Fall wahrscheinlich nicht … Soweit er sah, hatte es den vollkommenen, den ersehnten, restlos allen Ansprüchen genügenden Mann in ihrem Leben nicht gegeben. Und dennoch fand sich in ihrer Verbindung keine Selbstverständlichkeit; ohne das so auszusprechen, vermittelte sie ihm stets das Gefühl, sie habe ihn ad experimentum geheiratet – um etwas herauszubekommen, wovon er selber nichts wußte. Wer die beiden sah, dachte an eine Ehe, die zur Hogarth-Zeit «mariage à la mode» genannt worden wäre: der schon hoch hinaufgestiegene Jungbankmann und die elegante Immobilienmaklerin, eines jener Paare scheinbar ohne Vergangenheit und ohne überkommene Lasten, auf den Erfolg konzentriert, zu lässigem Genuß aber nicht unbegabt. Für den Beruf allein mußte man nicht so hübsch sein.

Doch die Vergangenheit kann man nicht abschütteln. Die eigene Kindheit ist schon Vergangenheit genug, da braucht man nicht in Jahrhunderten zu schürfen. Elff stammte aus der Thomas-Christian-Andreas-Generation, Namen, die zu einem sportlichen, modernen, mit nicht zuviel Virilität ausgestatteten Männertypus paßten, dem frischen, anständigen, etwas harmlosen, deswegen aber zuverlässigen Mann von betont bürgerlichem Habitus, bei dem auch die schönen Seiten des Lebens nicht zu kurz kommen. Was ließ zwischen 1960 und 1980 viele Eltern aus der akademischen Sphäre solche Söhne erhoffen? Jedenfalls kam Elff zu einem Namen, der in diese Reihe paßte, aus ihr aber auch schon wieder etwas herausfiel: Patrick – höchst selten dürfte der irische Heilige vor dem Zweiten Weltkrieg bei einem deutschen Knaben Pate gestanden haben. Der Name macht den Mann. Aber die Eltern hatten nicht vorhergesehen, wie gut sich «Patrick» im Umgang mit amerikanischen Geschäftsleuten bewähren würde, dazu in Verbindung mit einem Nachnamen, der Ausländern keine Schwierigkeiten bereitete.

Der Name der Frau hingegen klang exquisit in deutschen Ohren, ausgefallen selbst in Zeiten eines Allerweltskosmopolitismus, und war zugleich durch eine Familientradition gerechtfertigt: von der argentinischen Großmutter her. Pilar heißt Säule – ebenjenes zierliche Säulchen, das mit einem Gnadenbild der Jungfrau in Verbindung gebracht wird. Und ein solches feingeschwungenes Säulchen war die Frau tatsächlich geworden, schlank, nur einen halben Kopf kleiner als er, hart oder jedenfalls fest, wenn hart zu unfreundlich klingen sollte, und wie die Säule der Jungfrau nicht in eine Architektur eingegliedert, also nichts stützen müssend, zu nichts dienend, in nichts einbezogen.

Die argentinische Großmutter, die mit ihrer Tochter immer beim Spanischen geblieben war, hatte auch das Romanistikstudium der Enkelin angeregt, Elffs Nebenfach bei seinem Literaturstudium. In der Seminarbibliothek hatten sie sich kennengelernt, ein glücklicher Zufall, denn Pilar betrat sie nicht oft. Im Zeichen studentischer Egalität schienen sie, von außen betrachtet, wie füreinander bestimmt, und es sah tatsächlich so aus, als sei das einzige, was sie trennte, das Geld, das er nicht hatte und über das sie in schöner Fülle verfügte, schon als Studentin; würde sie dereinst die Erbschaft des noch mit fünfundsiebzig kerzengerade zu Pferde sitzenden Vaters antreten, käme noch viel mehr auf sie zu. Es heißt, eine solche Konstellation sei nur in Deutschland, dem Land, das eine Minna von Barnhelm unter seine Komödien zählt, ein Problem, aber die ungleichmäßige Verteilung der Glücksgüter drang niemals in die Gespräche des Paares ein. Sie schienen sich beide verpflichtet zu fühlen, nicht daran zu rühren. Bei ihnen war die bürgerliche Substanz noch so stark, daß das Geldhaben von eminenter Wichtigkeit für sie war, aber dennoch mit größtem Takt behandelt werden wollte, wie ein peinliches Leiden oder ein Verbrechen in der nächsten Verwandtschaft. Gegenüber jedermann hätten sie den Unterschied ihres Vermögensstandes als für ihr Verhältnis gänzlich bedeutungslos erklärt, obwohl er ihn nie vergaß, überzeugt, daß auch sie sich dessen immer bewußt war. Gehörte es nicht zu ihrem Wesen, allem, was er tat, mit leichter Ironie zu begegnen, einem freundlichen Spott, der nicht verletzen wollte, aber doch wohl meinte: Was immer er ins Werk setze, sei nicht gar so ernst zu nehmen?

Beide studierten sie ein Fach, das später kaum zu Reichtümern führen würde, sie, weil es nahelag, ihre Verbindung zu Argentinien zu stärken – mit Mutter und Großmutter hatte sie doch nur ein Kinderspanisch gesprochen, eine Familiensprache, Deutsch und Englisch durchmischt, da war eine Vertiefung sinnvoll –, er aus Leidenschaft, wie er sein lebhaftes Interesse etwas pathetisch nannte. Damals hatte er sich ein hochfahrendes Bild von sich selbst entworfen, eine Anmaßung, um die darunter lauernde Unsicherheit niederzuhalten: Leute, die auf Geld aus seien, verdienten Verachtung, es gebe eine Reihe von Berufen, die man – «ein Ehrenmann», hätte er beinahe altmodisch gesagt – keinesfalls ergreifen dürfe. Alles, was mit Verkaufen zu tun hatte, fiel darunter. Verkaufen war schon fast soviel wie Betrügen, und das Hin-und-her-Schieben von Waren fand er auch ohne kriminellen Aspekt unwürdig. Seine Eltern gaben ihm genug Geld für die Bücher und ein kleines Auto, doch er verschmähte auch Hilfsarbeiten für Studenten nicht, gab Nachhilfestunden und kellnerte sogar einmal ein Semester lang. In dieser Zeit kam sie ihn treu in dem Bierlokal besuchen und wartete, bis die Stühle auf den Tisch gestellt wurden, und auf dem Heimweg war sie gut gelaunt und erklärte ihm, wie komisch er aussehe, wenn er Gäste nach ihren Wünschen fragte, wenn er versuche, so professionell wie möglich zu wirken – «du läufst, als ob du den Laden mit den Füßen antreiben müßtest …»

Sie hatte da etwas gesehen: Es war sein Ehrgeiz, ein guter, ja ein besserer Kellner zu sein als die hauptberuflichen, er erhob die Sache zu einem Sport, der das Geldverdienen nebensächlich erscheinen ließ. Sie lauschte seinen asketischen, geldverachtenden Reden mit verhohlenem Vergnügen, denn er war dabei auch witzig, und wenn er sich erregte, gefiel er ihr besonders gut. Für beide war es unausgesprochen klar, daß sie, wenn sie zusammen waren, in dem ihm möglichen Rahmen blieben; nie hätte sie ihn verleitet, über seine Verhältnisse zu gehen, und zugleich hielt sie etwas davon ab, das Fehlende mit ihren eigenen Mitteln zu ergänzen. Was sie über ihr Zusammensein hinaus in der Welt ihrer Eltern in Landhäusern und südlichen Ferienresidenzen erlebte, geschah in Parenthese und blieb von dem, was nur sie beide betraf, strikt geschieden. Die Eltern waren denn auch lange im unklaren darüber, daß es da längst einen Freund der Tochter gab, der keine Konkurrenz zu fürchten hatte.

Das wußte der Student der Literaturwissenschaften übrigens selber nicht. Pilar war überaus zärtlich in den Liebesstunden, aber war sie wirklich verliebt? Es kam zwar vor, daß ihr in seinen Armen Tränen in die Augen traten – auch feinfühligere Männer kennen die Empfindung männlichen Stolzes beim Anblick derartiger Tränen –, doch sie durchkreuzte jede Anwandlung von Sentimentalität und Eitelkeit sehr schnell: Das seien Tränen wie beim Zwiebelschälen, «rein physiologisch!». Diese Kühle beeinträchtigte nicht ihre Beharrlichkeit. Irgendwann recht früh mußte sie den Entschluß gefaßt haben, bei ihm zu bleiben, eine Entscheidung, die sie ihm lange nicht mitteilte und die offenbar nichts mit Glück und Rausch zu tun hatte. Zu den Leuten, von denen geschrieben steht, «sie hätten sich nie verliebt, wenn sie nicht hätten von der Liebe reden hören», gehörte sie sicher nicht, denn sie übernahm keine Liebeskonventionen, Kinodialoge, sie spielte kein Liebestheater, wie es sich im Repertoire der aus zweiter Hand Liebenden findet.

Ihre Haltung blieb auch in der Ehe unverändert, für die sie im Elternhaus erheblichen Widerstand überwinden mußte, nachdem sie ihren eigenen besiegt hatte. Dabei war er damals schon bei der amerikanischen Beratungsfirma angestellt, ausgewählt nach einer strengen Prüfung unter vielen Mitbewerbern. Eine akademische Laufbahn – der Doktorvater hätte ihn gern als Assistenten behalten, nach weiteren fünf schmalen Jahren wäre eine Habilitation nicht ausgeschlossen gewesen – war plötzlich gar keine Versuchung mehr gewesen; wo war die Geldverachtung geblieben? Der Schwiegervater mochte Beratungsfirmen aus den Vereinigten Staaten vermutlich noch weniger als einen «mäßig hungernden Privatdozenten», wie er sich ausdrückte – es sei halt «nichts Richtiges» –, und das war schwer zu widerlegen, wenngleich schon das Anfangsgehalt die akademischen Dimensionen deutlich überstieg.

Hatten der überraschende Wechsel in eine Privatbank und der noch unwahrscheinlichere Sprung von dort in eine noch größere Privatbank dann nicht doch zu «etwas Richtigem» geführt? Der Schwiegervater grummelte jetzt leiser, ließ jedoch durchblicken, «der Junge hat das Geschäft nicht erlernt, hat letztlich keine Ahnung», er sei neugierig, wie lange das gutgehe. Davon erfuhr der aber nur aus spöttischen Bemerkungen seiner Frau: weil eben ihr Spott dem Alten galt.

Pilar dagegen hatte den Wechsel ihres Mannes von der Universität in den Kommerz mit spielerischer Verwunderung zur Kenntnis genommen und weder gelobt noch getadelt: Er sei ein freier Mensch, der nach Belieben handele und auf sie keine Rücksicht nehmen müsse. Auch sie hatte ja die Wissenschaft, kaum daß sie ihr nahe gekommen war, wieder verlassen: Auf den von zu Hause fließenden Subsidien wollte sie sich nicht ausruhen, und als sich die Möglichkeit auftat, für einen großen Immobilienmakler zu arbeiten, war sie mit Eifer dabei und wandte bald ebensoviel Zeit an ihren Erfolg wie ihr Mann an den seinen.

Das Verkaufen von Häusern und Wohnungen war wie geschaffen für sie, das entdeckte sie jetzt. Ihre ästhetischen Bedürfnisse hatten bis dahin über den eigenen Körper nicht hinausgereicht. Da wurde an Pflege von Haut und Haaren nichts versäumt, obwohl sie ihrem Mann morgens früh, wenn sie neben ihm mit Katzengähnen erwachte, am schönsten erschien. Zu ihrer gesunden Blässe und ihrem eher farblosen als blöndlichen Haar trug sie verwaschene Pastellfarben – Etuikleider aus Seidenrips, stumpf wie gebleichtes Löschpapier – und außer dem schmalen Ehering nichts aus der mit hübschen Sachen gefüllten Kassette der argentinischen Großmutter. So etwas trage man nicht mehr, Schmuck sei spießig … Sonst immer von lässiger Skepsis, war sie hier einmal apodiktisch.

Aber schon die Einrichtung des Schlafzimmers war ihr gleichgültig. «Am liebsten würde ich im Hotel wohnen», sagte sie, als es um die erste gemeinsame Wohnung ging. Das war leider ausgeschlossen. Patrick brauchte Platz für die inzwischen angehäuften Büchermengen, zum größten Teil in Kisten in verschiedenen Kellern gelagert – er käme in den nächsten Jahren zwar kaum zum Lesen, aber sehen wollte er die Bücher wenigstens –, und dann gab es noch das Klavier. Mehr als ein bißchen nächtliche Improvisation würde kaum mehr möglich sein, aber er wollte sich diese kleine Zuflucht nicht verbauen.

Als sie für den Makler zu arbeiten begann, fand sie zu ihrer Überraschung, daß die Umgebung, die Menschen sich schufen, eine Sprache war, in der sie oft genug etwas ausdrückten, was sie nicht ohne weiteres ausgesprochen hätten. Menschen erweiterten sich in die Zimmer hinein, in denen sie lebten. Sie lernte die soziologischen und psychologischen Aspekte der Wohnungen kennen; sie bekam einen Blick dafür, wo die Leute eigenen Vorstellungen folgten oder fremde übernahmen, wo sie bewußt Konventionen pflegten oder unbewußt in ihnen unbekannte Konventionen hineinglitten, ob sie Kulissen bauten oder mit der Auswahl ihrer Teppiche und Sessel ein Bekenntnis ablegen wollten. Es machte ihr Freude, ihre Entdeckungen zu schildern, und Patrick lauschte ihr verwundert. Im Bergwerk ihrer Talente war sie auf eine bis dahin unbekannte Mine gestoßen. Wie scharf ihr Skalpell war – ihr Urteil war nie willkürlich, sie brachte immer Gründe für ihre Analyse bei.

Nur, was sie bei anderen sah, das sah sie vermutlich auch bei ihm. Ihre Ironie, die vorher eine Lebenshaltung gewesen war, wurde nun mit handfesten Erkenntnissen unterfüttert. Aus dem Gestus der Überlegenheit entstand Überlegenheit. Die richtete sich nicht gegen ihn, und trotzdem war es ungemütlich in ihrer Gesellschaft. Weniger denn je meinte er bei ihr mit einem Generalpardon rechnen zu dürfen. Erkenntnis und Loyalität waren eben verschiedene Kategorien. Die geistige Kühle und die physische Wärme, die von ihr ausgingen, bildeten einen unauflösbaren Widerspruch.

Während er im Taxi nach Brüssel saß, würde sie ahnungslos mit den Vorbereitungen für das heutige Abendessen beginnen. Pilar hatte einen Tisch mit überwiegend flüchtigen Bekanntschaften zusammengestellt, alle würden zum ersten Mal im Haus sein. Eine Anwältin und eine Innenarchitektin hatte sie ihm genannt, die anderen kenne er ohnehin nicht. Sie arrangierte solche Essen ohne großen Aufwand, es gab viel guten Wein, die Gänge plante sie so, daß da nicht lange etwas vorbereitet werden mußte. Die einander unbekannten Gäste brachte sie schnell zusammen; wenn sie von ihren Makler-Erlebnissen erzählte, herrschte bald Gelächter. Besonders gut konnte sie die «beiseite» gesprochenen Dialoge der Ehepaare nachmachen, die sich in ihrer Gegenwart zunächst nur durch Blicke verständigten und alsbald begannen, verdeckte Kämpfe auszutragen. Jede Haussuche hatte eine Vorgeschichte; ihr besonderes Vergnügen war, die zu erraten. Die Gequältheit des Mannes, den verborgenen Eifer der Frau – das stellte sie vorzüglich dar auf der Bühne ihres Eßzimmers. Es gab Interessenten, die beständig die Stimme der Maklerin hören wollten; andere mußte man immer mal wieder allein lassen, um dann unerwartet hinzuzutreten und die Harpune abzuschießen. Sie hatte keine Bedenken, ihre Tricks zu verraten, sie warf ihre Erlebnisse den Gästen generös zur Unterhaltung vor. War sie so sicher, daß keiner, der an ihrem Tisch lachte, sich ihr würde entziehen können, sollte man sich doch einmal geschäftlich gegenüberstehen?

An diesem Abend würde dieses Programm ohne ihn ablaufen. Die ganze Zeit hatte er vermieden, an Pilar zu denken, aber das Verdrängen gelang ihm auch dann nicht lange, wenn er sich mit ganzer Kraft anderem zuwenden mußte. Es war schon so: Der Schwebezustand, in dem sie ihre Verbindung hielt, erlaubte ihm niemals, sich in seinen Gedanken von ihr zu entfernen. Den ganzen Tag fragte er sich, was sie zu seinen Entscheidungen sagen würde, aber wenn sie sich abends wiedersahen, verzichtete er darauf, davon zu erzählen – Erfolge waren selbstverständlich und darum nicht so wichtig. Wichtig war überhaupt nichts – oder besser: Wichtig war, das Wichtigfinden zu verachten. Und dabei war er davon überzeugt, daß es durchaus Wichtiges gab für Pilar, daß sie einen Kern hatte, wo nichts mehr leichtgenommen wurde, wo sie verwundbar und unversöhnlich war. Aber er wollte sie ja auch gar nicht verletzen, bedrängen, erschüttern; er wünschte nichts anderes, als ihre sanfte Kratzbürstigkeit zu beschützen.

Das Bild der heutigen Abendtafel indessen, das mit Kerzenflammen, Weinkaraffen und Blumen im mild erleuchteten Eßzimmer lebhaft vor seinen Augen stand, wischte alle Ungewißheiten weg: Nun war es ihm gelungen, mit einem Schlag das Leben mit Pilar zu beenden. Es hatte zu seinen geheimen Gedankenspielen gehört, im Augenblick eines Erfolges auf den Höhen der Menschheit oder wenigstens als Korken auf dem höchsten Wogenkamm, sich auszumalen, wie er durch eine einzige Bizarrerie alles wieder zerstören könnte, durch keine Bußfertigkeit oder Entschuldigung wiedergutzumachen: im vertrauten Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden, das Champagnerglas in der Hand, einer Auszeichnung vor vielen Zeugen, unversehens den Hosenlatz zu öffnen und der Frau dieses Mannes das Cocktailkleid naßzupinkeln, bis es ihr an den Schenkeln klebte. Ja, so etwas stand immerhin in seiner Gewalt: namenlose Verblüffung und Empörung und den Hinauswurf auszulösen. Auch wenn er nie dergleichen machen würde – zu wissen, welche Waffe man besaß, indiskutables Benehmen als Machtinstrument zu begreifen, wenn auch mit dem Sprengstoffgürtel des Selbstmordattentäters vergleichbar, das öffnete in der Phantasie ein Fenster der Freiheit, aus dem die Seele sich in ein heiteres Nichts hinausschwingen konnte.

Jetzt aber ging es nicht mehr um eine exzentrische, närrische Provokation, jetzt hatte er sich aus der bürgerlichen Gesellschaft auf viel gründlichere Weise ausgeschlossen. Wüßten die Gäste des heutigen Abends, was er getan hatte – und in wenigen Tagen würden sie es wissen –, dann wäre er für sie zum Unberührbaren geworden, auch wenn man eben noch bereit war, Salz und Brot miteinander zu teilen; die Magie solcher Gemeinsamkeit war sowieso passé.