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Im Nachlass einer alten Dame finden Müllmänner unter allerlei Gerümpel eine brisante Urkunde. Wenn sie echt ist, muss die Geschichte des kleinen fränkischen Dorfes Röthenbach neu geschrieben werden. Der Bürgermeister hegt keinerlei Zweifel, denn das Dokument datiert die erste geschichtliche Erwähnung um weitere 95 Jahre zurück und beschert seiner Gemeinde und vor allem ihm nur 5 Jahre nach der umjubelten 800-Jahrfeier ein weiteres Großereignis: das 900-jährige Jubiläum des Ortes. Dem Anlass angemessen soll ein Gemeindefest von noch nie dagewesener Großartigkeit stattfinden. Ein Theaterstück wird in Auftrag gegeben, das dem staunenden Publikum den in besagter Urkunde erwähnten Totschlag an dem Röthenbacher Bauern Hinz Laumer durch den Schankwirt Eberhard Beringer aus Heinerslohe anschaulich vor Augen führen soll. Ein Mittelaltermarkt, Gaukler, Minnesänger und Barden sollen das Publikum und mit ihm deren wohlgefüllte Geldbeutel anlocken. Aber die Vorfreude wird durch mehrere tödliche Unfälle getrübt. Ein Feuerwehrmann kommt infolge seines Wagemuts im Verlauf eines Brandeinsatzes ums Leben, ein weiterer Helfer der freiwilligen Feuerwehr erleidet beim Königsschießen im Festzelt eine tödliche Verletzung. Zufall? Ein Fluch? Ein Racheakt? Peter Kleinlein steckt seine Nase in das brisante Gemisch aus Rauch, Pulverdampf und Intrigen und bringt nicht nur seine Ehefrau Marga, sondern auch die Polizei gegen sich auf.
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Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Im Nachlass einer alten Dame finden Müllmänner unter allerlei Gerümpel eine brisante Urkunde. Wenn sie echt ist, muss die Geschichte des kleinen fränkischen Dorfes Röthenbach neu geschrieben werden. Der Bürgermeister hegt keinerlei Zweifel, denn das Dokument datiert die erste geschichtliche Erwähnung um weitere 95 Jahre zurück und beschert seiner Gemeinde und vor allem ihm nur 5 Jahre nach der umjubelten 800-Jahrfeier ein weiteres Großereignis: das 900-jährige Jubiläum des Ortes.
Dem Anlass angemessen soll ein Gemeindefest von noch nie dagewesener Großartigkeit stattfinden. Ein Theaterstück wird in Auftrag gegeben, das dem staunenden Publikum den in besagter Urkunde erwähnten Totschlag an dem Röthenbacher Bauern Hinz Laumer durch den Schankwirt Eberhard Beringer aus Heinerslohe anschaulich vor Augen führen soll. Ein Mittelaltermarkt, Gaukler, Minnesänger und Barden sollen das Publikum und mit ihm deren wohlgefüllte Geldbeutel anlocken.
Aber die Vorfreude wird durch mehrere tödliche Unfälle getrübt. Ein Feuerwehrmann kommt infolge seines Wagemuts im Verlauf eines Brandeinsatzes ums Leben, ein weiterer Helfer der freiwilligen Feuerwehr erleidet beim Königsschießen im Festzelt eine tödliche Verletzung. Zufall? Ein Fluch? Ein Racheakt?
Peter Kleinlein steckt seine Nase in das brisante Gemisch aus Rauch, Pulverdampf und Intrigen und bringt nicht nur seine Ehefrau Marga, sondern auch die Polizei gegen sich auf.
Inhaltsverzeichnis
Mords-Brand
Weitere Bücher aus der Rödnbach-Reihe:
Vorwort
Handelnde Personen:
Rödnbach
Ein Krankenbesuch
Ein Trauerfall
Feuerabend
Ein Mordsbrand
Die Sensation
Die Untersuchung
Leichte Zweifel
Hochwürden Stiegler macht Überstunden
Wenn ich nicht mehr weiter weiß
Susi Ziegler zweimal klingeln
Die Kollegen
Feuerwehrversammlung
Neues von Ronny
Gerüchteküche
Nüchtern betrachtet
M – G – M
Waffenstillstand
Festvorbereitungen
Wer ist Ronny Lippl ?
Ende der Probezeit
Feststimmung
Eine Jahrhundertaufführung
Eine denkwürdige Enthüllung
Sonntag - der Höhepunkt
Die Stunde der Ermittler
Hochnotpeinliche Verhöre
Ein Geständnis
Ein seltsamer Gast
Vermessungsarbeiten
Welch eine Schindlerei
Eine hundsgemeine Erpressung
Techniker unter sich
Nachgekartelt
Ende der Balsamicokrise
Anhänge
Glossar
Mords-Kerwa (Juli 2012)
Mords-Wut (Dezember 2012)
Mords-Urlaub (Mai 2013)
Mords-Schuss(August 2013)
Mords-Kerle (November 2013)
Mords-Krach (März 2014)
Erstfassung August 2014
Alle Rechte vorbehalten
Die folgende Geschichte ist durchaus nicht frei erfunden, jedenfalls nicht vollständig. Das kann sie auch nicht. Es gibt immer Erfahrungen, die ein Autor in seinem Leben gemacht hat, die auf die eine oder andere Weise in einen Roman einfließen. In die Sprech- und Handlungsweisen seiner handelnden Personen etwa. Einige der zahlreichen, unfreiwillig komischen Begebenheiten im Umfeld der fiktiven Mordgeschichte haben daher einen durchaus handfesten Hintergrund. Es handelt sich um Szenen, wie sie tagtäglich im fränkischen Alltag vorkommen. Wer kennt ihn nicht, den rundlichen, gemütlichen Typ, der oft nur so lange ausgeglichen erscheint, wie er in seiner eigenen kleinen Gedankenwelt leben darf, der aber auch heftig poltern kann, wenn er gestört wird oder den siebengescheiten Besserwisser, der alle, die zurückhaltend agieren für dumm und einfältig hält. Einige dieser realen Erfahrungen mit diesen kantigen Typen dienten dem Autor als Inspiration für die zugegebenermaßen hoffnungslos übertrieben komödiantische Ausmalung der einen oder anderen Sequenz, die sich Leser zu Recht im wahren Leben so nicht erwarten würde.
Die kriminellen Aspekte des Geschehens sind jedoch 100% reine Fiktion und haben niemals stattgefunden. Irgendwelche Ähnlichkeiten jeglicher Art mit wahren Begebenheiten und real lebenden Personen sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.
Als Quelle für die Namensgebung dienten alle einigermaßen fränkisch klingenden Namen, die dem Schreiberling während der Entstehung der Geschichte begegneten. Tatsächlich sind sie vornehmlich von Grabsteininschriften, Namensschildern von Busfahrern, Kaufhausmitarbeitern oder von Todesanzeigen in der örtlichen Tageszeitung entnommen, kurzum sie stammen allesamt direkt aus dem fränkischen Alltag.
Noch ein Wort zum fränkischen Dialekt. Er ist so vielfältig wie die Landschaft selbst. In jedem Ort wird er anders gesprochen, noch dazu wird die Aussprache oftmals von den äußeren Umständen nachhaltig beeinflusst. So drückt sich auch ein passionierter Dialektsprecher gelegentlich verständlicher aus, wenn er es mit vermeintlich gebildeten Menschen oder Personen zu tun hat, bei denen er nur geringe Kenntnisse seines eigenen Idioms voraussetzt. Bei Peter Kleinlein kann man das gut beobachten, wenn er mit „Norddeutschen“ oder mit Bürgern ausländischer Herkunft spricht. Bei Simon Bräunlein hängt die Tiefe seiner Dialektsprache oftmals vom Grad seiner Erregung ab, je ärgerlicher er ist, umso fränkischer wird er und umso weniger legt er Wert auf Verständlichkeit.
Wie man sehr schnell erkennen kann ist das Fränkische eine sehr weiche Sprache. Damit entspricht sie ganz der Seele der Einheimischen, die sich oft durch einen schier undurchdringlichen Mantel auszeichnet, der aber nur dazu dient, einen unendlich gutmütigen, samtweichen Kern zu schützen. Ein K kommt als G daher, man unterscheidet zwischen einem harten und einem weichen B, wobei das harte eigentlich ein P wäre. Ebenso hält er es mit den Buchstaben T und D. Den Namen Theodor schreibt man also mit einem harddn D.
Den „ou“-Laut im Wort Bou darf man sich übrigens sehr ähnlich dem englischen „ow“ in „I know“ vorstellen. Für viele Laute gibt es gar keine tauglichen Buchstaben. Als Beispiel mögen die berühmten „3 im Weckla“ dienen. Ein echter Franke würde es wohl am ehesten als „3 im Weggler oder Weggläh“ aussprechen. Daher gibt es auch in diesem Buch keine einheitliche Schreibweise für manche Begriffe. Vieles hängt eben auch von dem jeweiligen Sprecher ab.
Mehr zur Aussprache muss man eigentlich nicht wissen, denn die Rödnbacher gehören allesamt zu der überwiegenden Gruppe der Franken, die beim Balanceakt zwischen dem urwüchsigen Dialekt und dem Hochdeutschen einen Mittelweg bevorzugen. Sie sprechen also mehr oder weniger ein fernsehtaugliches Fränkisch, vergleichbar mit dem Ohnsorg-Platt, dem Millowitsch-Köllsch und dem Komödienstadl-Bayrisch. Es bleibt ihnen schon gar nichts anderes übrig, wenn sie von Außenstehenden verstanden werden wollen.
Peter Kleinlein
Rödnbacher, Hobbydetektiv
Marga Kleinlein
seine Ehefrau
Simon Bräunlein
Metzgermeister aus Rödnbach, Hersteller der 1A preisgekrönten Bratwurst
Gisela Bräunlein
Seine Ehefrau, das Gehirn des Familienbetriebes
Patrick Bräunlein
Sohn der beiden, mittlerweile Geselle
Lothar Schwarm
Friseurmeister aus Rödnbach, sehr sensibel, äußerst gepflegte Erscheinung
Maria Cäcilie Leimer
Kosmetikerin aus der Oberpfalz und Lebensgefährtin von Lothar Schwarm
Hinz Laumer
Historische Leiche
Eberhard Beringer
Schankwirt mit Hang zur Brutalität
Barbara Reinwald
Gemeindereferentin
Willibald Stiegler
Dorfpfarrer, den die vielen Todesfälle am Ende deprimieren
Helmut Holzapfel
Bürgermeister
Erika Siebenkäs
Teilzeit-Gemeindesekretärin
Erwin Schindler
Kriminalhauptkommissar
Heinz Havranek
Kriminalobermeister
Adele Heller
Krankenpflegerin, Engel der Kranken und Gebrechlichen von Röthenbach
Eleonore Lippl
Eine betagte Dame, deren Ende vorauszusehen ist
Ronald Lippl
Enkel und Erbe von Eleonore
Rudi, Bernd und, Lore Ziegler
Brandgeschädigte
Susanne Ziegler
Tochter von Bernd und Lore Ziegler
Udo Weinmann
Feuerwehrmann, Angriffstrupp, gest. in Dienst an der Dorfgemeinschaft
Harald Seyler
Feuerwehrmann, Melder
Dieter Groß
Feuerwehrmann, Maschinist
Berthold Schedl
Feuerwehrgruppenführer
Christian Meier
Noch ein Feuerwehrmann
Rachid Karaman Gerhard Loos
Müllwerker und Entdecker
Reinhold Schweigger
Schwager des Bürgermeisters und Verfasser mehrerer Theaterstücke
Philipp Wagner
Gemeinderat, Freund wohlklingender mit Fremdwörter
Hildegard Sommer
Schulfreundin von Peter, elende Petze
Alois Betz
Zeuge, der Mann mit dem Zucker
3 junge Männer und eine Frau im besten Alter
Ehemalige Kollegen von Udo Weinmann
Die Hundsweiber kennt in Röthenbach jeder. Meist treten sie als geschlossene Gruppe auf, selten sieht man eine allein. Alleine können sie auch gar nicht vorkommen, wie die etwas abfällige Bezeichnung der Röthenbacher Bürger für diese Damen bereits verrät, denn wo sie gehen und stehen haben sie immer ihren vierbeinigen Liebling dabei, wobei die Bandbreite vom tragbaren Chihuahua bis zum zentnerschweren Dobermann reicht, vom sündheidenteuren Rassehund bis hin zur ordinären Promenadenmischung. Die Namensvariationen der Vierbeiner spannen einen gewaltigen Bogen vom edlen Baldo vom Lüdenhain bis hin zum einfachen Schatzi, dem kleinen Liebling von Margarethe Beck, der allseits bekannten Beggn Gredl. Einen Stammbaum aber haben sie alle, wenngleich nur Baldo von Adel ist, die Stammbäume der anderen finden sich samt und sonders auf den Grünflächen der kleinen Gemeinde.
Sie treffen sich mehrmals täglich aus geschäftlichen Gründen, also wenn es Zeit für ihre Lieblinge ist, ihre angestammten Schattenspender und Grünstreifen neben dem Weg aufzusuchen. Notfalls auch spät am Abend. Heute ist es schon nach 23 Uhr, als die Beggn Gredl und drei ihrer Mitstreiterinnen durch die dunklen Gassen von Röthenbach ziehen und den neuesten Tratsch von vorne bis hinten und zurück durchkauen. Es ist schon etwas später geworden, denn bis vor kurzem lief noch der Rosamunde-Pilcher-Film im Zweiten, dem Programm, mit dem man angeblich besser sieht. Bevor die beiden hinreißend schönen Protagonisten sich im golden schimmernden Licht der untergehenden Sonne Cornwalls endlich das bis unmittelbar vor dem Ende von üblen Intrigen und jähen Schicksalsschlägen gegefährdete Ja-Wort geben hatten, war an einen Aufbruch nicht zu denken. Diesem Umstand war es auch geschuldet, dass so mancher Liebling seinen Stammbaum nicht unfallfrei erreichte. Routiniert wurden Schäufelchen und Tüten ausgepackt, die Unfallfolgen beseitigt, ohne dass die angeregte Unterhaltung auch nur die geringste Unterbrechung erfahren hätte.
„Ich hobbs ja glei gwussd, dass der Graf von Blissering-Dingsdou nedd ganz koscher iss. Dess hodd mer demm sein verschlagner Bligg ja glei angseeng, dass der dem jungen Mann blouß durch Beschiss sei Erbe vorendhaldn hodd. Mensch, war der dess villeichd ein gemeiner Schuffd. Abber drum schau ich die Bilcherfilme ja su gern, wall am End immer der Richdiche gwinnd. Na und sie erschd, wassd scho, die Barroness, wäi a Rauschgoldengl hodd dee ausgschaud mid ihre langer roudblondn Haar, wergli wahr. Denne zwaa hodd mers ja einfach gönner müssn, dass doch nu zsammkommer. Iss scho immer schee.“
„Ach, ich däd hald immer nu gern seeng, wies dann heiradn und die Feier und alles. So a Fürsdnhochzeid, mid anner weißn Kudschn und Pfer…“, steuerte eine weitere Dame bei.
„Gschmarri!“, unterbrach sie die Beggn Gredl resolut, „vielleichd a glei nu vier, fünf goldblonde Kinderlä im Madroosnanzuuch und Sommergleidlä mid frisch büglde Schleifler in die Haar. Irgndwann muss hald amaal Schluss sei. Den Resd kommer sich doch denkn!“
Sie waren noch mitten ins Gespräch vertieft, als ein Mann um die vierzig, etwas unsicher auf den Beinen schwankend, auf sie zu kam. Der Kerl sah ziemlich wild aus, doch so etwas wie Angst kannten die Frauen nicht. Notfalls hätten sie von ihrem Pfefferspray Gebrauch gemacht, das sie bereits vorsichtshalber in der Jackentasche mit sicherer Hand umschlossen hielten. Alles unter Kontrolle. Nur einer der Hunde war offenbar nicht informiert. Entweder hegte Gredls Schatzi generell eine Abneigung gegen große Männer oder er hatte aufgrund seiner angeborenen Instinkte eine potentielle Gefahr gewittert, die von der leicht schwankenden Gestalt ausging. Der kleine Hund fühlte sich jedenfalls ernsthaft bedroht und knurrte den Entgegenkommenden sogleich wütend an. Der erschrak und wollte zurückweichen, kam dabei aber beinahe aus dem Gleichgewicht.
„Verfluchter Köter! Verschwinde!“
Zeitgleich versetzte er Margarethe Becks Liebling einen heftigen Fußtritt, der den tapferen Verteidiger der Schutz- und Wehrlosen augenblicklich aus der Kampflinie entfernte. Danach wankte er, so schnell es sein erhöhter Alkoholspiegel zuließ, an den im ersten Moment völlig verdutzten Frauen vorbei und verschwand bald danach im Dunklen. Die vier Damen konnten nur noch konsterniert hinter ihm her blicken.
„Woss war ner dess für anner?“, erkundigte sich eine davon. „Den hobbi bei uns dou noch nie gseeng.“
„Dess iss mir worschd! Der hodd mein Schatzi dreedn. Abber ich hobb mer sei Gsichd genau gmergd. Den werri helfn!“, schimpfte die Gredl.
Das mit dem Helfen darf man nicht gar zu wörtlich nehmen. Im Gegenteil. Wenn der Franke sagt, dem werd ich helfn oder gar dem werd ich in die Schlabbn nei helfn, dann meint er damit, dass er dem so bedachten zur Not mit einer Mordsdrumm Schelln, einer Ohrfeige also, nachhelfen werde, sein Unrecht einzusehen.
„Der brauchd si bei mir nimmer bliggn lassn, sonst gibds woss! Abber wahrscheinli iss dess sowieso a Fremder, der im Adler über Nachd abgschdiegn iss, irchnd a Verdreeder odder a Monteur hald“ vermutete die Gredl, befürchtend, dass sie auf ihre Rache verzichten musste.
„Abber dou gäihds doch gar nedd zum Adler, eher wech dervo“, hakte die erste Sprecherin nach.
„Woss wass ich, vielleichd maand er, er mou sein vullgsuffner Kobf nu aweng in die frische Lufd haldn, bevor dass er ins Bedd gäihd. Herrschafd, dass dee Mannsbilder aa immer su saufn mäin! Woss ner dou gar su schäi droo iss?“
Margarethe Beck sprach aus langjähriger Erfahrung.
„Kumm Schatzi“, sagte sie kurz darauf an ihren leise winselnden Mischling gewandt, „gänger mer hamm, etz hosd ja scho brav dei Wisserla gmachd und dann bfleechd di die Mamma widder gsund!“
Die Gemeindeschwester ist rechtschaffen müde von einer schier endlos langen, nahezu völlig durchwachten Nacht, die sie mit einer Engelsgeduld am Krankenbett eines ihrer Patienten verbracht hat. Von einigen wenigen kurzen Phasen erschöpften Wegduselns abgesehen hatte sie kein Auge zugemacht. Ungeachtet der widrigen Umstände macht sie sich aber trotzdem pflichtbewusst auf ihre allmorgendliche Tour. Es hilft sowieso nichts, die Alten und Kranken warten bereits sehnsüchtig auf sie, auf die tägliche Tablettenration, die Insulinspritze, ein aufmunterndes Wort. Das alles hat Adele Heller im Gepäck. Auf sie ist Verlass. Immerhin kann sie seit ungefähr einem Monat ein nagelneues E-Bike ihr eigen nennen, was die Anstrengungen ein bisschen erträglicher macht.
Eben biegt sie in den schmalen, von üppig blühenden Hecken gesäumten Dahlienweg ein, wo ihre letzte Patientin für heute früh wohnt und wahrscheinlich schon ungeduldig auf sie wartet. Eleonore Lippl ist eigentlich eine ganz Liebe, sie kann aber nicht mehr gut laufen und ist deshalb auch ab und zu etwas unleidlich. Geduld erwächst den Menschen nicht automatisch mit zunehmendem Alter, auch nicht als wohlverdiente Kompensation für die sich unaufhaltsam ausbreitenden Gebrechen, die damit einhergehen. Das Treppensteigen ist seit einem häuslichen Unfall vor zirka vier Monaten kaum mehr möglich, weshalb sie seither auch die Nächte im Wohnzimmer ihres kleinen Einfamilienhauses zubringt, wie mit unsichtbaren Ketten an eines dieser zwar unheimlich praktischen, vielfach verstellbaren, letztendlich aber deprimierenden Krankhausbetten gefesselt. Auch bezüglich ihres Allgemeinzustands steht es nicht gerade zum Besten. Der Arzt hat ihre Verfassung wohl als relativ stabil eingestuft, konnte sich aber die Bemerkung nicht verbeißen, dass dies im gesegneten Alter von 89 Jahren keine Garantie für ein ewiges Leben bedeutet.
„Gell, Frau Lippl, sie verstehn mich scho richdich. Uns gehds für unser Alder schon noch ganz guud, abber überdreim derf mers nadürlich nimmer. Abber dess wissns ja selber. Schön vorsichdich, brav unsre Dableddn nehmer und wenn alles guud gehd, dann wermer vielleichd sogar noch Hundert. Alles iss möglich. Besser wärs nadürlich, sie häddn eine dauerhafde Pflege. Dess wär dess allerbesde.“
Warum Ärzte so gerne in der Wir-Form reden, auch wenn sie ausschließlich ihren Patienten meinen, das konnte bislang noch niemand ergründen und es wird wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben. Ob man ihnen dieses Verhaltensmuster schon während des Studiums beibringt? Als vertrauensbildende Maßnahme sozusagen? Die Aussage des Arztes „Alles ist möglich“ hingegen darf man getrost wortwörtlich nehmen, im positiven wie im negativen Sinn. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass jede noch so kleine Erkältung, die ein Junger nahezu unbemerkt wegstecken würde, bei bettlägerigen Menschen schnell in eine lebensbedrohlichen Krise münden kann. In ein Pflegeheim würde er sie gerne einweisen, meinte der Hausarzt, wo ihr aufgrund ständiger Kontrollen rund um die Uhr die beste Betreuung und höchstmögliche Sicherheit garantiert sein würde.
Ob die alte Frau Lippl das alles richtig verstanden hatte, kann niemand mit Sicherheit sagen. Es gibt bei ihr hoffnungsvolle Tage, an denen sie glockenhell im Kopf ist, aber auch andere an denen man alles mindestens dreimal sagen muss bis die verständige Miene der guten Eleonore wenigstens einigermaßen den Eindruck vermittelt, die Botschaft sei zumindest rudimentär angekommen. Ob sich nun ihre Aufnahmefähigkeit zum Zeitpunkt dieses ärztlichen Ratschlags gerade im oberen oder unteren Bereich auf der ausgedehnten Skala ihrer möglichen geistigen Zustände befand, das konnte niemand zuverlässig sagen. Auf jeden Fall kam die durchaus gut gemeinte Empfehlung nicht sehr gut an. Ganz gewiss nicht. Im Gegenteil, sie wurde sogar als ernste Bedrohung empfunden. Die Seniorin reagierte richtiggehend zornig und schlug mit beiden Fäusten heftig auf die Bettdecke. Wäre ihr das Aufstehen noch leichter gefallen, dann hätte sie zweifellos zornig mit dem Fuß aufgestampft wie ein unartiges Kind. Kontrolle rund um die Uhr! Das war genau das, was sie auf keinen Fall wollte. Den freien Willen abgeben, auf die Stufe eines unmündigen Kleinkinds reduziert werden. Niemals! Und sie wollte schon gar nicht ins Heim, nicht weg von ihrem Zuhause, nicht weg von ihrer gewohnten Umgebung und dem aufgrund der Umstände mittlerweile etwas ungepflegten, aber innig geliebten Garten. Und schon gar nicht fort von ihrem treuen Freund, dem munter vor sich hin zwitschernden türkisfarbenen Wellensittich Hansi, der während langer einsamer Tage ihr einziger Ansprechpartner ist.
Eine richtige kleine Quasselstrippe ist der quicklebendige Bursche. Seinen Namen und sogar die Adresse bringt er mehrmals am Tag zu Gehör, gerade so, als wollte er sich seinem futterverschmierten Ebenbild, das ihm aus einem von der Käfigdecke herabhängenden runden Spiegel entgegenblickt, immer wieder aufs Neue formvollendet vorstellen. Ein Eindruck, der durch sein eifriges Nicken in Richtung des vermeintlichen Spielkameraden sogar noch bekräftigt wird. Hansi Lippiiih, Da-i-enweg dreizeeehhn! Mit dem L hat er so seine Probleme. Das darf er auch, schließlich ist er kein vollwertiger Papagei, sondern lediglich ein viel kleiner unbedeutender Verwandter.
Adele Heller stellt das Fahrrad am Zaun ab und holt mit geübten Griffen ihre Utensilien aus der rechten Packtasche. Das Blutdruckmessgerät bringt sie immer mit, die Tabletten und die Spritzen lagern griffbereit im abschließbaren Fach des Badezimmerschranks der alten Dame. Seit die Patientin nicht mehr richtig Treppen steigen kann hat die Schwester einen eigenen Hausschlüssel. Das ist praktisch und erspart der Frau Lippl unnötige Schmerzen, die ihr jeder vermeidbare Schritt bereiten würde.
„Guten Morgen! Guten Morgen meine Liebe! Die Schwester Adele ist da!“, trällerte sie mit freundlicher Stimme und dem professionellem Singsang der typischen Krankenschwester in den altmodischen Hausflur hinein.
Adele Heller zeigt immer gute Laune, auch wenn sie wie heute am liebsten schwer wie ein Stein in ihr Bett fallen und endlich, wenigstens für ein paar Stunden, die Augen schließen würde. Beides gehört zu ihrem Beruf, die freundliche Grundeinstellung genauso wie die Dauermüdigkeit. Die alten Leute sind meist sehr dankbar für ein gutes Wort und Adele ist für viele der einzige Ansprechpartner den ganzen Tag über. Aber die alte Dame gibt keine Antwort.
„Na, sie wird doch nicht ...“
Bei der Schwester schleicht sich bereits die gar nicht so unbegründete Befürchtung ein, dass ihrer Schutzbefohlenen die Zeit zu lange geworden sein könnte. Dann krautert sie oft trotz ihrer Schmerzen irgendwo im Haus herum, in einer dieser gelegentlichen Anwandlungen, gemischt aus Ungeduld und Starrsinn, denen sie trotz eindringlicher Warnungen vor den Gefahren einer Selbstüberschätzung immer wieder nachgibt. Eine schlechte Angewohnheit, die der Patientin bisher noch jedes Mal eine darauf folgende, gefährliche Phase tagelanger Erschöpfung bescherte. Adele beeilt sich, durch den Flur in das angrenzende kombinierte Schlaf- und Wohnzimmer zu gelangen. Die Rollläden sind noch nicht einmal hochgezogen, was die Unruhe in ihr zusätzlich befeuert. Rasch zieht sie die Jalousien hoch, um ein bisschen Licht und durch Öffnen des Fensters zudem frische, gesunde Luft in das muffige Zimmer zu lassen. Aus der anfänglichen Unruhe wird rasch ein veritabler Schreck, einhergehend mit einer plötzlichen Atemnot, als sie Eleonore Lippl im Licht der hereinblinzelnden Morgensonne unbeweglich und mit starrem, nach oben gerichteten Blick auf ihrem Bett wie von einem Bestatter hindrapiert liegen sieht.
Die alte Dame braucht heute keine Tabletten mehr. Der leidige Blutdruck ist auch ohne diese Hilfsmittel drastisch gesunken und liegt aktuell bei Null, ist völlig zum Erliegen gekommen. Exitus. Der Tod muss plötzlich und ohne jegliche Ankündigung gekommen sein, denn sie verharrt auch jetzt noch in einem verschreckten, völlig überraschten Gesichtsausdruck, die Augen weit aufgerissen.
Adele Heller macht sich heftige Vorwürfe, weil sie heute so spät dran ist. Vielleicht hätte sie noch helfend eingreifen können, wenn sie zur normalen Stunde eingetroffen wäre. Mit zitternden Händen ruft sie den Hausarzt der Frau Lippl, den Dr. Eichberger an. Als der endlich eintrifft, kann aber nur mehr den Tod der alten Dame bescheinigen. Tod durch Herzversagen im fortgeschrittenen Alter. Die Jahre und die damit einhergehende Summe der Leiden haben ihren Tribut gefordert. Vielleicht kam auch ein finaler Asthmaanfall dazu, denn mit dem Schnaufen hatte die alte Dame zuletzt ebenfalls Probleme, weshalb sie immer ein rettendes Spray in Griffweite hatte. Und da lag es auch, mitten auf der geblümten Bettdecke. Es hatte nichts mehr geholfen. Der körperliche Verfall hat letztendlich über die wenigen verbliebenen Lebenskräfte obsiegt.
Schwester Adele vergießt ein paar Tränen, denn die Tote ist ihr, wie alle ihre regelmäßigen Patienten doch sehr ans Herz gewachsen. Sie liebt ihren Beruf und kommt zwangsläufig immer wieder mit solchen Situationen in Kontakt. Doch trotz aller Routine, an den Tod gewöhnt man sich nie.
Da die Verstorbene im Dorf selbst keine Angehörigen hatte, oblag es den Behörden, nach etwaigen Verwandten zu forschen, die der Bestattungspflicht unterliegen würden, das heißt, die für eine angemessene Beisetzung zu sorgen hätten. Der Hausarzt wusste von nichts dergleichen, jedoch die Schwester Adele berichtete von einem Enkel, den die alte Dame zu Lebzeiten gelegentlich erwähnt hatte und dem sie ihren gesamten Nachlass zu vermachen gedachte. Ein entsprechendes Testament läge wohlbehütet im Kleiderschrank zwischen zwei Lagen Betttüchern. Das, was so vollmundig Nachlass genannt wurde, bestand hauptsächlich aus dem kleinen Häuschen im Dahlienweg, dem gefiederten Lebensgefährten Hansi nebst Voliere, sowie einigen Altertümlichkeiten von eher zweifelhaftem Wert.
Frau Lippls Ehemann war zeitlebens ein Sammler alles Antikem und dem was er dafür hielt. Ein gut erhaltener, weil regelmäßig liebevoll polierter Paradehelm der Königlich-Bayerischen Ulanen, einige dazu passende Literkrüge, verziert mit allerlei militärischen Motiven und mit auf dem verzierten Zinndeckel thronenden Reiterfiguren, anscheinend vom ursprünglichen Besitzer anlässlich des Ausscheidens aus dem aktiven Dienst erworben, was aus der Aufschrift „Es lebe der Reservemann“ unschwer abgeleitet werden konnte. Vergilbte Gebetbücher aus der Zeit der Jahrhundertwende, der vorletzten wohlgemerkt und unzählige Sterbebildchen von den Gemeindemitgliedern, die vor Eleonore Lippl die Dorfgemeinschaft in Richtung Ewigkeit verlassen mussten und die sie noch auf deren letztem Weg begleitete hatte. Die Einrichtungsgegenstände, sowie die teilweise noch originalverpackt in den Schränken gelagerten, auf ihren ersten Einsatz harrenden Bettbezüge, die spitzenbesetzten Deckchen aller Größen und Farben würden wohl den direkten Weg in den Wertstoffhof des roten Kreuzes finden, sobald der potentielle Erbe ihrer ansichtig würde.
Doch zunächst musste er gefunden werden. Darum kümmerte sich die Teilzeitmitarbeiterin des Röthenbacher Bürgermeisters. Zu diesem Zweck suchte sie zusammen mit Adele Heller noch einmal das Sterbehaus auf, um in den Unterlagen nach dem erwähnten Testament und der Adresse des einzigen, soweit man wusste, noch lebenden Verwandten zu suchen.
Die beiden betraten den Sterbeort der alten Frau Lippl mit dem nötigen Respekt. Die unvermeidlichen Gespräche wurden leise, nahezu flüsternd geführt, so als könnte man die Ruhe des Leichnams stören oder die Seele der Verstorbenen bei deren Aufstieg in den Himmel behindern. Das wurde schon immer so gehalten. Doch verweilte eine Seele überhaupt in der Nähe der sterblichen Hülle, war sie vielleicht schon längst im Jenseits angekommen oder was ging unmittelbar nach dem Tod vor? Niemand weiß das und vielleicht ist auch die daraus resultierende Ungewissheit über das was danach kommt der Grund für dieses beklemmende Gefühl, das einem unweigerlich in der unmittelbaren Umgebung des Todes befällt.
Den toten Körper konnten sie schon allein deshalb nicht stören, weil die Verblichene noch am Todestag vom Gemeindearbeiter und einem Gehilfen abgeholt worden war. Vermutlich lag sie in diesem Moment friedlich in den Geschäftsräumen des Bestattungsinstituts Unvergessen in Erlenbach, um für die bevorstehende Beerdigung präpariert zu werden. Präpariert, welch ein schreckliches Wort, als ob man einen seltenen Vogel oder ein besonders gut erhaltenes Jagdobjekt, einen Marder oder etwa ein Wiesel ausstopfen und an die Wand einer Bauernstube hängen wollte.
Gleich beim Betreten des Wohnzimmers fiel Frau Siebenkäs, die nicht nur im Büro einen beachtlichen Hang zu Ordnung und Sauberkeit an den Tag legt, die dunkelblaue Plastiktüte auf, die völlig deplaziert auf einem Stapel alter Zeitungen und anderen Papierabfällen lag. Wahrscheinlich hatte es Frau Lippl mit der Mülltrennung nicht ganz so genau genommen, wie viele alte Leute, die das in ihrer Jugend nicht gelernt hatten. Oder sie war einfach doch schon mehr überfordert, als man allgemein gedacht hatte. Fleisch- und Wurstwaren Edelmann stand auf der Tüte. Aus Röthenbach war die nicht, hier gab es nur die über die Grenzen des Dorfes hinaus für ihre Spezialitäten bekannte Metzgerei Bräunlein, berühmt vor allem für die mehrfach preisgekrönten, 1A fränkischen Bratwürste. Zerknittert war sie, die Tasche. Wahrscheinlich stammte sie noch aus der Zeit, als die Frau Lippl regelmäßig nach Nürnberg gefahren war, um ein bisschen was vom Leben zu spüren, wie sie es selbst immer so treffend formuliert hatte. Ach ja, seufzte Adele Heller, das war nun auch vorbei. Alles vergeht. Aber die Tüte kam den Damen ganz gelegen. Die Krankenschwester räumte die überzähligen Tabletten, das Verbandsmaterial, die unbenutzten Spritzen aus dem Badezimmerschränkchen und wollte sie kurzerhand in die blaue Tüte stopfen, doch diese war gar nicht leer. Ein kleines, liebevoll besticktes Kissen steckte darin. Da hatte sie der alten Dame wohl Unrecht getan. Sie hatte anscheinend ihre Schätze fein säuberlich vor Staub und dem schädlichen Einfluss des starken Sonnenlichts geschützt. Und nun würde sich kein Mensch mehr dafür interessieren. Sie nahm das Kissen vorsichtig heraus, klopfte es sorgfältig zu Recht und setzte es auf das Wohnzimmersofa.
Das gesuchte Testament lag tatsächlich, genau wie Eleonore Lippl ihrer Pflegerin anvertraut hatte, mit gestochen scharfer Handschrift und mit dunkelblauer Tinte abgefasst und in einem braunen Umschlag steckend, zwischen zwei Lagen der erwähnten Bettwäsche. In der Küchenschublade fanden die beiden Frauen zudem einen Brief nebst Umschlag, der die Adresse des Gesuchten, ebenfalls eines Herrn Lippl, als Absender trug. Es ging die Beiden zwar nichts an, doch vor der Untugend der Neugierde sind auch Amtspersonen und aufopferungsvolle Engel im Dienste der Allgemeinheit und insbesondere der Kranken nicht gefeit. So erfuhren sie, dass der betreffende Mann vor einem Vierteljahr erst die liebe Großmutter um eine Finanzspritze in nicht erwähnter Höhe gebeten hatte, mit der Begründung, dass sie auf Grund ihres hohen Alters mit weltlichen Reichtümern nicht viel anfangen könne, er aber damit einem nicht näher bezeichneten, äußerst lukratives Vorhaben den entscheidenden Anschub geben könnte.
Ob sie dem Ansinnen nachgegeben hatte, wusste man nicht und man konnte es auch nicht erfahren, ohne den gesamten Haushalt auf den Kopf zu stellen, wovon man aus Gründen des angeborenen Anstands und der gebotenen Pietät schließlich doch absah.
„Scho ungewöhnlich, dass heidzudaach nu jemand Briefe schreibd. Abber wahrscheinli iss nedd anders ganger, wall sich die Frau Libbl, obwohl ich ihr dess ja immer widder angeradn hobb, einfach ka Dellefon zulegn hodd wolln“, meinte die Gemeindeschwester.
„Wohrscheinli wars rer zu deier“, steuerte Frau Siebenkäs, die Teilzeitgemeindesekretärin, eine naheliegende Vermutung bei.
„Möglich“, meinte ihre Mitstreiterin, „aber sie hodd aa zu mir immer gsachd: Woss solli denn mid an Dellefon? Mich rufd doch ka Mensch nedd an und ich kenn aa kann, mit dem ich dauernd über so einen Abbarad blaudern müsserd.“
Was auch immer der Grund für ihre Abneigung gegen das Telefonieren war, spielte nun, nach ihrem Tod ohnehin keine Rolle mehr. Und die Adresse des gesuchten Verwandten stand ja nun ebenfalls zur Verfügung.
„Schreiben brauchi dem abber nedd, dess dauerd ja vill zu lang. Bis dou hie muss die arme Frau doch scho längsd beerdichd werdn. Ich schau amal, ob ich zu derer Adress a Rufnummer ausfindich machen konn. Dann dellefonier in glei an, dasser so schnell wie möglich kummd.“
So wurde es dann auch gemacht und daher war es kein Wunder, dass bereits tags darauf im Laufe des Vormittags der vermeintliche Erbe auf dem Gemeindeamt vorstellig wurde. Er hatte Glück Frau Siebenkäs persönlich anzutreffen, denn die Größe der Gemeinde, beziehungsweise der Mangel an derselben, brachte es mit sich, dass das Büro nur stundenweise besetzt war. Ob es nun an seinem Pflichtbewusstsein lag oder eher andere Gründe vorlagen, jedenfalls hatte der trauernde Enkel keine unnötige Zeit verstreichen lassen.
Obwohl das Testament erst vom zuständigen Amtsgericht geprüft und anerkannt werden musste, damit in Folge dessen ein entsprechender Erbschein ausgestellt werden konnte, hatte Frau Siebenkäs keine Bedenken, dem Herrn Lippl, als der er sich zweifelsfrei ausweisen konnte, den Schlüssel zum Trauerhaus auszuhändigen, damit er sich wenigstens die Übernachtungskosten im Goldenen Adler ersparen konnte, welche seine aktuellen finanziellen Möglichkeiten über Gebühr auf die Probe stellen würden, wie er beschämt zugeben musste. Würde die Großmutter noch leben, so hätte er schließlich auch dort Quartier genommen. Bezüglich etwaiger, auf ihrem Weg ins himmlische Jenseits herumirrender Seelen oder anderer Beklemmung verursachender Umstände hatte der Mann keine Bedenken. Er schien eher der praktische Typ zu sein. Frau Siebnkäs‘ ebenso praktische Veranlagung machte es ihr leicht dieser überzeugenden Argumentation zu folgen.
Es ist wieder einmal Freitagabend. Eine gut gelaunte Schafkopfrunde blättert einen Trumpf nach dem anderen auf den massiven Stammtisch des Goldenen Adlers. Münzen werden hin- und hergeschoben, allerdings in überschaubarer Zahl. Um ein Vermögen geht es hier nicht, sondern ausschließlich ums Vergnügen. Peter Kleinlein und seine Freundegenießen ihren Feierabend. Die Freunde, das sind Simon Bräunlein, der Dorfmetzger, Lothar Schwarm, Inhaber des gleichnamigen Friseursalons sowie dessen Lebensgefährtin Maria Cäcilia Leimer, die Betreiberin des angeschlossen Schönheitsstudios. Der zweite Vorname Cäcilia kommt allerdings nur bei besonders offiziellen Anlässen in Gebrauch, wenn zum Beispiel eine Amtshandlung ansteht oder die Maria von einer solchen träumt, einer Hochzeit etwa, was aber momentan im wirklichen Leben kein Thema ist, jedenfalls nicht für den Lothar. Noch nicht. Oder er wird benutzt, wenn der Lothar ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden hat. So wie jetzt.
„Maria Cäcilia! Warum hosd nern nedd die Schellnsau gschmierd, wäi ich dem Beder sei Blaue gschdochn hobb? Nou hädd mer logger gwunner!“
„Riad doch koin solchn Schmarrn, Lothar. Zu den Zaidbunkt hobb i doch no goar niad wissen könna, dass mir zwoi zsammerspöhln.“
Das Ö in dem Wort zsammerspöhln, also zusammenspielen, das, so wie Maria selbst aus dem Oberpfälzischen stammt, muss auf eine ganz besondere Weise ausgesprochen werden. Richtig betont klingt es so, wie wenn der betreffende Laut ausschließlich dafür geschaffen wäre, um Ekel oder Abscheu zum Ausdruck zu bringen, etwa angesichts einer verdorbenen Speise, etwa einem Krug sauer gewordener Milch oder beim Einatmen des übelriechenden Inhalts einer seit mehreren Wochen nicht mehr ausgeleerten Biomülltonne bei 35 Grad im Schatten. Mit stark gerümpfter Nase und angespannten Halsmuskeln eben und irgendwo zwischen 30 Prozent Ü und 70 Prozent Ö. Je nach Herkunft innerhalb der Oberpfalz verschieben sich die Prozentanteile beider Buchstaben zudem beliebig.
Die Maria ist keineswegs eine Anfängerin in der hohen Kunst des Kartenspielens und kennt sich mit den zahllosen offiziellen und eher noch zahlreicheren inoffiziellen Regeln des Schafkopfspiels perfekt aus. Sie ist vor einigen Jahren aus dem idyllischen Schönkirch in der hintersten Oberpfalz oder Schöikiach, wie sie den Ort selber auszusprechen pflegt, zu ihrem Lebensgefährten Lothar gezogen, nachdem sich die beiden auf einer abenteuerlichen Rundreise durch Ägypten kennen- und lieben gelernt hatten. Und Schafkopf beherrscht man dort, wo sie herkommt, schon von Kindesbeinen an. Es gehört dortzulande quasi zur Grundausbildung, es rangiert in der Reihenfolge der wichtigsten Vorschulfächer noch weit vor dem Hochdeutschen.
Die ebenfalls anwesenden Ehefrauen von Peter und Simon, Marga und Gisela saßen etwas abseits in ein Gespräch vertieft bei einem Glas Wein. Die Kartelrunde hatte nun schon über eine Stunde ihr Vergnügen gehabt und es wurde daher Zeit für die obligatorische Essenspause. Zudem hatte die Fülle der Gesprächsthemen ein wenig nachgelassen, der Redefluss war im Moment sogar ziemlich ins Stocken geraten, so dass sich Giselas Magen schon seit einiger Zeit in Form eines unüberhörbaren Knurrens bemerkbar machen konnte.
„Hobb etz, Herrschafdn. Letzde Runde, dann bschdell mer woss zum Essn. Mir grachd scho ganz der Moong. Ich hobb seid heid in der Fräih nix mehr zum Essn ghabd. Vor lauder Gschäfd binni heid nedd amal zum Middoochessn kummer. Dess mou mer si erschd amaal durchn Kobf gäih lassn. Normaal iss dess fei nedd. Im wahrsdn Sinn des Wordes wäri ball inmiddn von an goudn Zendner Worschd und ann ganzn Berch Fleisch bei lebendichn Leib verhungerd. Kännd er eich dess vuurschdelln?“
Das konnte und wollte niemand am Tisch, sie selbst eingeschlossen. Angesichts Giselas properer Figur konnte man gut und gerne davon ausgehen, dass ihren vollen Backen selbst eine mehrwöchige Nulldiät keinen wirklich bedrohlichen Schaden zufügen könnte, sondern eher eine förderliche Wirkung haben würde. Alle vier waren sie prall und rund. Aber egal. Hunger oder zumindest Appetit hatten auch die anderen.
„Resi! Bringsd amal die Schbeisekardn?“
Die Resi ist eine flotte Bedienung, nicht nur dem Aussehen nach und so wurden sogleich die Schafkopfkarten bei Seite und die Konzentration auf die reichhaltige Speisekarte gelegt. Wobei man diese eigentlich gar nicht wirklich benötigt hätte, denn die Stammgäste kannten sie schließlich in- und auswendig. Aber irgendwie gehört sie zum Ritual.
Alle hatten bereits ihre Wünsche geäußert, als die Reihe an Peter kam. Der bestellte zum Erstaunen seiner Freunde ein einfaches, paniertes Schweineschnitzel.
„Na horch amaal Beder, weecher an Schnitzl brauchd mer doch nedd in die Wärdschafd gäih. Dess kommer doch derhamm aa hobn. Dou sucher mer scho woss raus, wossi nedd alle Daach gräich“, gab Simon seinen Kommentar, aber Peter hörte gar nicht richtig hin, denn er war bereits in einen intensiven Dialog mit der feschen Resi vertieft.
„Schnitzl. Mid Kardofflsalaad odder Bommes?“
„Naa, kanne Bommes nedd, ich bin froh, wenni widder amaal an anschdändichn Kardofflsalaad gräich.“
Angesichts Resis gerunzelter Stirn setzte er zu einer eingehenden Erklärung an.
„Wissns, derhamm gibdds seid einicher Zeid blous nu immer die so genannde Meddiderraane Kosd. Leichde Küche, verschdennerns Resi? Abnehmer sollerdi nämlich, maand mei Frau. Sie sachd zwar nix, abber ich mergs ja, dass nix gscheids mehr zum Essn gibbd. Dess ewiche Zucchinigelutsche, dess soll ja daadsächli gsund sei, Viddamine und so, abber in Fisch, äs Fleisch, alles blouß mehr nu dämbfd in an Gmäisbedd mid idalienische Gräuder? Ich wass hald nedd.“
Es gehörte eine ganze Menge Mut oder auch nur ene entsprechende Portion Frust dazu, dieses Urteil in so deutlicher Form und im Beisein der für die Ernährung im Hause Kleinlein zuständigen Ehefrau Marga zu äußern. Da schien sich doch tatsächlich zwischen den beiden sonst so patenten Eheleuten ein bisher unausgesprochenes Konfliktpotential aufgestaut zu haben. Maria wollte, noch bevor Marga kontern konnte, schlichtend eingreifen und versuchte die bedrohlich hohen Wogen zu glätten, noch bevor diese sich tatsächlich zu einem zerstörerischen Tsunami aufschaukeln konnten.