Mords-Krach - Günther Dümler - E-Book

Mords-Krach E-Book

Günther Dümler

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Beschreibung

Es weihnachtet sehr. Zumindest in und vor dem Hause Kleinlein. Die aufwändige Lichterdekoration funkelt und strahlt rechtzeitig zum ersten Advent, genauso wie die Goldfüllung des Backenzahns, den sich der Hausherr anlässlich der Eröffnungsfeier des festlich geschmückten Weihnachtshauses ausgebissen hat. Da ist guter Rat teuer. Doch nicht nur im Fall des Röthenbacher Hobbydetektivs. Auch im Haus des Zahnarztes, den Peter noch am späten Abend aufsuchen muss, herrscht eine angespannte Atmosphäre. Sohn Jan ist nach einem Streit um dessen Freundin, einem syrischen Flüchtlingsmädchen, ohne ein Wort aus dem Elternhaus verschwunden. Zunächst glauben die Eltern noch an eine Überreaktion, die sich hoffentlich bis zum Weihnachtsfest wieder einrenken wird. Doch dann wird ein Toter gefunden, der offenbar in Verbindung mit einem Freund des verschwundenen Sohnes stand, ein entlaufener Mörder treibt sich in den Röthenbacher Wälder herum und ein verdächtiger, arabisch aussehender Mann taucht unversehens auf. Die Dinge entwickeln sich in eine völlig andere Richtung Und so nimmt der sechste Fall für Hobbydetektiv Peter Kleinlein und seine Rödnbacher Hilfstruppen seinen Lauf. Zwischen Zahnarztstuhl und vorweihnachtlicher Röthenbacher Idylle nimmt Peter seine Ermittlungen auf und kommt zu überraschenden Schlüssen.

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Seitenzahl: 265

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Mords-Krach

Es weihnachtet sehr. Zumindest in und vor dem Hause Kleinlein. Die aufwändige Lichterdekoration funkelt und strahlt rechtzeitig zum ersten Advent, genauso wie die Goldfüllung des Backenzahns, den sich der Hausherr anlässlich der Eröffnungsfeier des festlich geschmückten Weihnachtshauses ausgebissen hat. Da ist guter Rat teuer. Doch nicht nur im Fall des Röthenbacher Hobbydetektivs.

Auch im Haus des Zahnarztes, den Peter noch am späten Abend aufsuchen muss, herrscht eine angespannte Atmosphäre. Sohn Jan ist nach einem Streit um dessen Freundin, einem syrischen Flüchtlingsmädchen, ohne ein Wort aus dem Elternhaus verschwunden. Zunächst glauben die Eltern noch an eine Überreaktion, die sich hoffentlich bis zum Weihnachtsfest wieder einrenken wird. Doch dann wird ein Toter gefunden, der offenbar in Verbindung mit einem Freund des verschwundenen Sohnes stand, ein entlaufener Mörder treibt sich in den Röthenbacher Wälder herum und ein verdächtiger, arabisch aussehender Mann taucht unversehens auf. Die Dinge entwickeln sich in eine völlig andere Richtung

Und so nimmt der sechste Fall für Hobbydetektiv Peter Kleinlein und seine Rödnbacher Hilfstruppen seinen Lauf. Zwischen Zahnarztstuhl und vorweihnachtlicher Röthenbacher Idylle nimmt Peter seine Ermittlungen auf und kommt zu überraschenden Schlüssen.

Inhaltsverzeichnis

Mords-Krach

Weitere Bücher aus der Rödnbach-Reihe

Vorwort

Handelnde Personen

Hinter Schloss und Riegel

Weihnachtliche Vorfreude

Beim Zahnarzt

Eine aufmerksame Nachbarin

Ein Blechschaden

Auf der Flucht

Die Herbergsuche

Weihnachtsmarkt mit Überraschung

Die Renovierung

Die frohe Botschaft

Auf der Suche nach den Ausreissern

Peter beißt auf Granit

Die Jagd auf Umweltsünder

Helfried Sommer ermittelt auf eigene Faust

Der Christbaumkauf

Neues vom Zahnarzt

Peters Streifzug

Die Beggn Gredl findet eine Leiche

Schlechte Nachrichten

Der Gemischtwarenladen Wittmann

Schindler auf dem Kokain-Trip

Die Suchaktion im Sommerhaus

Den Kleinleins geht ein Licht auf

Der Zahnarzt geht Peter auf den Nerv

Daddü - dadda

Heiligabend

Glossar

Weitere Bücher aus der Rödnbach-Reihe

Mords-Kerwa (Juli 2012)

Mords-Wut (Dezember 2012)

Mords-Urlaub (Mai 2013)

Mords-Schuss (August 2013)

Mords-Kerle (November 2013)

Erstfassung März 2014

Alle Rechte vorbehalten

Vorwort

Die folgende Geschichte ist durchaus nicht frei erfunden, jedenfalls nicht vollständig. Das kann sie auch nicht. Es gibt immer Erfahrungen, die ein Autor in seinem Leben gemacht hat, die auf die eine oder andere Weise in einen Roman einfließen. In die Sprech- und Handlungsweisen seiner handelnden Personen etwa. Einige der zahlreichen, unfreiwillig komischen Begebenheiten im Umfeld der fiktiven Mordgeschichte haben daher einen durchaus handfesten Hintergrund. Es handelt sich um Szenen, wie sie tagtäglich im fränkischen Alltag vorkommen. Wer kennt ihn nicht, den rundlichen, gemütlichen Typ, der oft nur so lange ausgeglichen erscheint, wie er in seiner eigenen kleinen Gedankenwelt leben darf, der aber auch heftig poltern kann, wenn er gestört wird oder den siebengescheiten Besserwisser, der alle, die zurückhaltend agieren für dumm und einfältig hält. Einige dieser realen Erfahrungen mit diesen kantigen Typen dienten dem Autor als Inspiration für die zugegebenermaßen hoffnungslos übertrieben komödiantische Ausmalung der einen oder anderen Sequenz, die sich Leser zu Recht im wahren Leben so nicht erwarten würde.

Die kriminellen Aspekte des Geschehens sind jedoch 100% reine Fiktion und haben niemals stattgefunden. Irgendwelche Ähnlichkeiten jeglicher Art mit wahren Begebenheiten und real lebenden Personen sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.

Als Quelle für die Namensgebung dienten alle einigermaßen fränkisch klingenden Namen, die dem Schreiberling während der Entstehung der Geschichte begegneten. Tatsächlich sind sie vornehmlich von Grabsteininschriften, Namensschildern von Busfahrern, Kaufhausmitarbeitern oder von Todesanzeigen in der örtlichen Tageszeitung entnommen, kurzum sie stammen allesamt direkt aus dem fränkischen Alltag.

Noch ein Wort zum fränkischen Dialekt. Er ist so vielfältig wie die Landschaft selbst. In jedem Ort wird er anders gesprochen, noch dazu wird die Aussprache oftmals von den äußeren Umständen nachhaltig beeinflusst. So drückt sich auch ein passionierter Dialektsprecher gelegentlich verständlicher aus, wenn er es mit vermeintlich gebildeten Menschen oder Personen zu tun hat, bei denen er nur geringe Kenntnisse seines eigenen Idioms voraussetzt. Bei Peter Kleinlein kann man das gut beobachten, wenn er mit „Norddeutschen“ oder mit Bürgern ausländischer Herkunft spricht. Bei Simon Bräunlein hängt die Tiefe seiner Dialektsprache oftmals vom Grad seiner Erregung ab, je ärgerlicher er ist, umso fränkischer wird er und umso weniger legt er Wert auf Verständlichkeit.

Wie man sehr schnell erkennen kann ist das Fränkische eine sehr weiche Sprache. Damit entspricht sie ganz der Seele der Einheimischen, die sich oft durch einen schier undurchdringlichen Mantel auszeichnet, der aber nur dazu dient, einen unendlich gutmütigen, samtweichen Kern zu schützen. Ein K kommt als G daher, man unterscheidet zwischen einem harten und einem weichen B, wobei das harte eigentlich ein P wäre. Ebenso hält er es mit den Buchstaben T und D. Den Namen Theodor schreibt man also mit einem harddn D.

Den „ou“-Laut im Wort Bou darf man sich übrigens sehr ähnlich dem englischen „ow“ in „I know“ vorstellen. Für viele Laute gibt es gar keine tauglichen Buchstaben. Als Beispiel mögen die berühmten „3 im Weckla“ dienen. Ein echter Franke würde es wohl am ehesten als „3 im Weggler oder Weggläh“ aussprechen. Daher gibt es auch in diesem Buch keine einheitliche Schreibweise für manche Begriffe. Vieles hängt eben auch von dem jeweiligen Sprecher ab.

Mehr zur Aussprache muss man eigentlich nicht wissen, denn die Rödnbacher gehören allesamt zu der überwiegenden Gruppe der Franken, die beim Balanceakt zwischen dem urwüchsigen Dialekt und dem Hochdeutschen einen Mittelweg bevorzugen. Sie sprechen also mehr oder weniger ein fernsehtaugliches Fränkisch, vergleichbar mit dem Ohnsorg-Platt, dem Millowitsch-Köllsch und dem Komödienstadl-Bayrisch. Es bleibt ihnen schon gar nichts anderes übrig, wenn sie von Außenstehenden verstanden werden wollen.

Handelnde Personen

Peter Kleinlein

Rödnbacher, Hobbydetektiv und Dekorateur

Marga Kleinlein

seine Ehefrau, ein wahrer Engel, nicht nur an Weihnachten

Simon Bräunlein

Metzgermeister aus Rödnbach, Hersteller der 1A preisgekrönten Bratwurst

Gisela Bräunlein

Seine Ehefrau, das Gehirn des Familienbetriebes

Patrick Bräunlein

Sohn der beiden, Lehrling

Lothar Schwarm

Friseurmeister aus Rödnbach, sehr sensibel, äußerst gepflegte Erscheinung

Maria Leimer

Besitzerin eines Kosmetik- und Nagelstudios und Lebensgefährtin von Lothar

Willibald Stiegler

Dorfpfarrer, gutmütig, aber nicht dumm

Erwin Schindler

Kriminalhauptkommissar

Heinz Havranek

Kriminalobermeister

Thomas Heyder

Zahnarzt, jähzornig und uneinsichtig

Sigrun Heyder

Seine Frau

Jan Heyder

Der vermisste Sohn der beiden

Ella Schwarzer

Nachbarin der Familie Heyder und

gute Beobachterin

Sabra al-RahmaniSabra=die glückliche,

Freundin von Jan und Tochter von Yusuf und Marjam

Yusuf und Marjam al-Rahmani

Eltern von Sabra, syrisch-christliches Flüchtlingspaar

Barbara Reinwald

Gemeindereferentin

Helfried Sommer

Waldläufer, das grüne Gewissen von Röthenbach

Hildegard Sommer

Schwägerin und Erzfeindin von Helfried

Felix Wittmann

Freund von Jan Heyder

Erna Wittmann

Beistzerin eines Tante-Emma-Ladens und Oma von Felix

Gottfried Seidl

Redakteur der Kirchenzeitung

Markus „Marek“ Powolny

„Geschäftsmann“ aus Eger

Gerhard Popp

Ein einsamer Wolf

Hinter Schloss und Riegel

Reiss ab vom Himmel Tor und Tür, reiss ab, wo Schloss und Riegel für!

(aus ‚Oh Heiland reiß die Himmel auf!“)

Eigentlich hätte er sich keine ungünstigere Jahreszeit für sein Vorhaben aussuchen können. Bald würde draußen Schnee liegen, es war kalt, zwar noch nicht so sehr wie zur selben Zeit in den letzten Jahren, aber ohne einen warmen Wintermantel und feste Stiefel würde er erbärmlich frieren. Es würde nicht einfach werden. Natürlich nicht. Das hatte er auch nicht erwartet.

Aber einfach war es für ihn schon seit fast drei Jahren nicht mehr, seit man ihn hierher gebracht und ihn von der Außenwelt abgetrennt, auf wenigen Quadratmetern wie ein gefährliches Tier in einem Zwinger hielt, sorgsam abgeschottet von jeglicher Form der Freiheit. Er bekam zu Essen und zu Trinken, hatte sogar einen kleinen Fernsehapparat für die schwierigen Momente, in denen die Einsamkeit zu groß wurde, aber er hatte keine Möglichkeit, seinen Neigungen nachzugehen, die Natur zu genießen, mit Freunden einen unterhaltsamen Abend zu verbringen, nichts von alledem, was sein Leben einst so lebenswert gemacht hatte. Einst! Es war gerade mal ein paar Jahre her und fühlte sich doch wie eine Ewigkeit an. Er war gänzlich in der Hand einer fremden Macht, die jeden seiner Schritte bestimmen konnte, von deren Wohlwollen selbst die winzigste Verbesserung seines Daseins abhing. Er war auf der Stufe des einsamen Wolfs im Nürnberger Tiergarten angelangt, den er einst fasziniert und betroffen zugleich beobachtet hatte, wie der schier endlos in seinem Käfig von links nach rechts und wieder zurück schnürte, immer auf dem gleichen schmalen, ausgetretenen Pfad, vorbei an den gaffenden Besuchern, den Blick gebrochen nach unten gerichtet, stundenlang. Immer die gleiche Schleife, eine flache Acht nach der anderen. Seiner wahren Natur beraubt. So wie er in diesem Augenblick.

Er musste hier raus. Musste wieder freie Luft atmen, seinen Tagesablauf selbst bestimmen, ins Leben zurückkehren. Er hatte sich einen perfekten Plan zurechtgelegt. In zahllosen langen Nächten durchkalkuliert, bis ins kleineste Detail durchdacht, alle Unwägbarkeiten durchgespielt und sich für jede mögliche Überraschung die geeignete Reaktion eingeprägt, unverrückbar eingebrannt. Es würde funktionieren. Es musste! Er musste nur noch etwas warten können bis die Umstände seinem Vorhaben entgegen kamen. Geduld! Eine Eigenschaft, die noch nie zu seinen Stärken gehört hatte. Aber er konnte es sich nicht aussuchen, er musste die Gelegenheit nutzen, wenn sie sich ihm bot. Bis dahin hieß es, aufmerksam sein und warten, auf die Chance lauern.

Weihnachtliche Vorfreude

Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen,wie glänzt er festlich lieb und mild

(Deutsches Weihnachtslied, 1871)

Die Sonne scheint mild, viel zu mild für Mitte November. Nur wenige winzige Wölkchen störten den Eindruck eines sonst makellos blauen Himmels. Die Temperaturen sind für die Jahreszeit viel zu hoch, geradezu angenehme acht Grad Celsius zeigt das Thermometer neben dem Küchenfenster der Kleinleins. Peter, der Hausherr, sitzt, die aufgeschlagene Zeitung vor sich, am Küchentisch und arbeitet sich mühsam durch jeden einzelnen Artikel, angefangen von den deprimierenden Nachrichten aus der hohen Politik, den ebenso erschreckenden Berichten aus der großen weiten Welt, über Kriege und Terror hin zu den lächerlich dekadenten Skandalen der Reichen und Schönen. Er verweilt etwas länger beim ausführlichen Sportteil mit den jüngsten Wasserstandsmeldungen aus dem Lager des 1.FC Nürnberg, die größtenteils, wie in letzter Zeit so oft, aus verzweifelten Durchhalteparolen bestehen. Er überfliegt die Seite mit den Familienanzeigen, die sowohl die Abschnitte betreffend Partnersuche, Geburten, Todesnachrichten, als auch die Eheschließungen friedlich in ein und derselben Rubrik vereint. Ja, sogar die wenigen noch vorhandenen Stellenangebote lässt er nicht aus, obwohl er als Rentner damit nichts mehr am Hut haben müsste. Selbst ein zufällig dazukommender, neutraler Beobachter würde sofort erkennen: Dem Mann ist stinklangweilig.

Die letzten Arbeiten im Garten sind seit einiger Zeit abgeschlossen, die empfindlichen Pflanzen bereits in den Keller verfrachtet, die Rosen fein säuberlich abgedeckt, das Laub zusammengerecht und entfernt. An dieser Front gibt es für längere Zeit nichts mehr zu tun. Selbst das in liebevoller Kleinarbeit eigenhändig gebastelte, geräumige Vogelhäuschen ist schon aufgehängt, dieses Jahr an einer Stelle, wo die Nachstellungen der feisten Nachbarskatze keinen Erfolg mehr versprechen, jedenfalls nicht ohne eine zirkusreife Luftakrobatiknummer zu riskieren. In den letzten Jahren hatten auch die Eichhörnchen den Vögeln das ausgelegte Futter streitig gemacht und oft stundenlang die Verpflegungsstation blockiert, was Peter Anlass gab, seine Kreativität im Zuge eines groß angelegten Rettungsplanes einzusetzen. Um dieser Zweckentfremdung ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben, hatte Peter schließlich in einer halsbrecherischen Aktion ein langes, aber reichlich dünnes Seil an einem weit ausladenden Ast des uralten Apfelbaumes befestigt und an dessen Ende in etwa eineinhalb Metern Höhe, in der Luft schwebend, das hölzerne Futterhäuschen aufgehängt. Wer hinein will, muss entweder fliegen oder einen halsbrecherischen Versuch unternehmen, an der dünnen Schnur herunter zu klettern. Peter war sehr zufrieden mit sich und seiner Leistung. Damit sollten seine gefiederten Lieblinge vor dem gierigen Kater der Seibolds, seiner Nachbarn zu Rechten, sicher sein. Was die Eichkätzchen betraf, hatte er noch so seine Zweifel. Man musste abwarten, welches Ausmaß an Risikobereitschaft der unvermeidliche Hunger während der kalten Jahreszeit bei diesen niedlichen, aber durchsetzungsfähigen Kletterkünstlern hervor bringen würde.

Während Peter in Gedanken versunken vor sich hin sinnierte, sortierte seine Ehefrau Marga anscheinend die Küchenschublade mit den diversen Backzutaten wieder einmal neu. Wer sie näher kennt, der weiß, dass Ordnung eine der tragenden Säulen ihres Haushalts ist, Ordnung und Sauberkeit.

„Woss machsd nern dou, Marga? Findsd woss nedd?”, erkundigte sich der gelangweilte Ehemann mitfühlend, nicht weil er es wirklich wissen wollte, sondern lediglich um den gefährlichen Verdacht von Desinteresse an den Dingen des Haushalts zu vermeiden.

„Woss werrin scho soung? Schau amal auf dein Kalender, na wassd woss lous is. Mir homm heid scho den fümfzehndn November und ich hobb nu kann aanzichn Lebkoung baggn, vom Stolln gar nedd zu redn.“

Der so aufgeklärte Zeitungsleser blickte kurz von seiner ohnehin nur mäßig spannenden Lektüre auf und brummte: „Sinn doch nu fasd sechs Wochn bis Weihnachtn, dou brauchsd doch nedd glei in Banik verfalln.“

Das hätte er besser nicht sagen sollen, schon in seinem eigenen Interesse, denn nun setzte Marga zu einer von rekordverdächtig hoch gezogenen Augenbrauen und beängstigend heftigem Augenrollen begleiteten Rede an.

„Dei Rouh mächerd ich amal haben. Wergli wahr! A gscheider Stolln brauchd einfach so seine fümf bis sechs Wochn, dasser richdi mürb werd und aa wenn du scheinds nix zum dou hosd, ich schau hald, wossi nu alles kaufn muss, wenni morgn mitn Blätzlerbaggn anfanger will.“

Und als ob das kleine Rededuell sie auf eine weitere Idee gebracht hätte, fügte sie eilig hinzu: „Und fallsd ers nedd selber scho gmergd hosd, in nedd amal zwaa Wochn werd der Christkindlersmarkd eröffnet, dann hommer nämlich scho den erschdn Advend.“

Das Folgende hätte sie gar nicht hinzufügen müssen. Peter wusste auch so, was nun unweigerlich folgen musste.

„Und am erschdn Advend, dou hängd unser gesamde Weihnachdsbeleuchdung, im Haus und außerhalb. Wennsd du etz nedd bald in die Gäng kummsd, dann mach is hald heier selber, des schaffi dann aa no, wenns nedd andersch gäihd. Suwoss muss mer etzerdler machen, wo äs Wedder nu schäi iss, wenns amal regnd odder schneid brauchsd nimmer naus!“

Die Wetterlage im Hause Kleinlein schien, ganz im Gegensatz zum Prachtwetter draußen, eindeutig ins Negative umzuschlagen. Minusgrade machten sich breit. Natürlich dachte Marga nicht im Traum daran, selbst auf die mittlerweile mehr als haushohe Edeltanne im Vorgarten hinauf zu klettern. Diese Drohung war rein rhetorisch, verfehlte aber trotzdem ihre Wirkung nicht. Peter war schlagartig klar geworden, dass die stille Zeit, wie man die Wochen vor Weihnachten auch gerne bezeichnete, zumindest für ihn, nun endgültig der Vergangenheit angehören würde. Er legte resignierend die Zeitung beiseite und erhob sich, mangels dafür empfänglichen Publikums allerdings völlig unnötig, unter Mitleid heischendem Ächzen und Stöhnen von der Küchenbank. Das Kreuz tat ihm jetzt schon weh, das konnte ja heiter werden.

Man muss dazu wissen, dass das Kleinlein‘sche Anwesen anlässlich des bevorstehenden Weihnachtsfests alljährlich eine vollkommene Verwandlung erfährt, hin zu einer funkelnden Pracht, gegen die Käthe Wohlfahrts Weihnachtsland zuweilen etwas schlicht erscheint. Innen wie außen wird dekomäßig aufgerüstet, wobei Peter für die umfangreichen Außenarbeiten zuständig ist. Kein Baum oder Strauch im gepflegten Vorgarten kommt ungeschoren davon. Jeder einzelne Zweig wird mit elektrischen Lichtern versehen. Bunte Lämpchen sind bei Peter allerdings streng verpönt, denn wie er gleich zu Beginn des Kleinlein’schen Doppelbeschlusses (Aufrüstung innen und außen) klargestellt hatte, handelt es sich bei Weihnachten um ein besinnliches Fest. Die Beleuchtung soll daher dezent sein und lediglich in den langen Nächten die ansonsten oft so erdrückende Dunkelheit aufhellen, halt ein bisschen Leben in die trostlose Finsternis bringen. In allen Farben wie wild flackernde Lichterketten eignen sich nach Ansicht der Kleinleins allenfalls für die Fahrgeschäfte auf der Rödnbacher Kerwä. Und die findet ausschließlich im Mai statt. Trotzdem gibt es genug Röthenbacher Mitbürger, die über den Aufwand der Familie Kleinlein verständnislos den Kopf schütteln. Zugegeben, die Anzahl der Lämpchen ist gewaltig und führte im ersten Jahr dazu, dass ein besorgter Nachbar erschrocken die freiwillige Feuerwehr alarmiert hätte, als er, ahnungslos von der Arbeit zurückkehrend, das beleuchtete Haus irrtümlich für in Brand geraten hielt. Seither nennt der eine oder andere Rödnbacher das Kleinlein’sche Eigenheim schon einmal hinter vorgehaltener Hand „Das brennende Haus“. Doch Peter und Marga stört das nicht, ihnen gefällt es und auf eine nicht so ernst gemeinte Frozzelei seitens seines Freundes und Dorfmetzgers Simon Bräunlein hatte Peter schlagfertig geantwortet:

„Wenigsdns im Dezember is unser Häusler absolud einbruchsicher. Dou draud si ka Einbrecher auf wenicher wäi zwanzg Meder näher kummer, mir homm die ideale Alarmanlaach!“

Dies alles ist notwendig zu wissen, um einigermaßen zu verstehen, warum Peter geschlagene zwei Wochen braucht, bis alles an Ort und Stelle und fachmännisch verkabelt ist. Glücklicherweise misst er gute Einsneunzig. Das erspart es dem Geplagten wegen jedes kleinen Handgriffs eigens eine Leiter hinauf- und wieder herunter zu steigen. Es reicht aber auch so.

Am Freitag vor dem ersten Advent findet alljährlich, genau wie auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt, die feierliche Eröffnung statt. Nur mit dem Unterschied, dass sich die Marga nicht in ein Engelsgewand mit langer blonder Perücke und goldener Krone zwängen muss. Und ihr Prolog richtet sich auch nicht an die „Herrn und Frau’n, die Ihr einst Kinder wart, die Kleinen, am Beginn der Lebensfahrt“, sondern an den, zu einem zünftigen Umtrunk mit Glühwein, Plätzchen, Lebkuchen und gegrillten Bratwürsten (natürlich ausschließlich Bräunlein’sche Spitzenqualität) vollzählig versammelten engeren Freundeskreis, mit anderen Worten: die Bräunleins und die Schwarms. Und ihre Worte werden wie immer lauten: „No rei mit eich, Ihr hobbd beschdimmd an gscheidn Hunger und an Dorschd. Ich hobb nadürli aweng a Gleinichkeid vorbereided!“

Bis es so weit ist wird er jetzt jeden Abend todmüde in sein Bett sinken und von streikenden elektrischen Birnchen, Schaltplänen, heillos verknoteten Lichterketten und in einander verkeilten Doppelsteckern träumen. Aber es hilft ja nichts. Befehl ist Befehl.

Zwei Wochen später, Freitag, der 28. November

Es ist so weit. Endlich! Drei in mattem Gelb leuchtende Rentiere weiden friedlich im Kleinlein’schen Vorgarten, der Nikolaus auf seinem Schlitten thront, mit einer elektrischen Laterne winkend und fröhlich lachend auf dem Vordach über der Haustüre und die mittlerweile zwölf Lichterketten, teilweise eingearbeitet in einen Strang aus künstlichem Tannenreisig mit eingeflochtenen rotbackigen Plastikäpfeln, vergoldeten Tannenzapfen und gleichfarbigen Zimtstangen, sind am Türgebälk und rund um die Fenster angebracht. Es werden jedes Jahr mehr. Immer raffiniertere Technik wird überall in den Supermärkten angeboten, funkelnde Eiszapfen für die Dachrinne, überdimensionale Kerzen, deren Lichter genauso echt flackern wie die Flammen einer Wachskerze in einem leisen Luftzug. Von jeder Einkaufstour in die Kreisstadt hat Marga einen weiteren dieser wunderbaren Gegenstände mitgebracht und da die alten noch immer perfekt funktionieren wird es halt immer mehr, was Peters vollen Einsatz herausfordert. Jede fünfte Zaunlatte ziert eine übergestülpte rot-weiße Zipfelmütze und die zahlreichen vielzackigen Sterne funkeln LED-beleuchtet in der hereinbrechenden Dämmerung. Die mittlerweile viel zu groß gewordene, aber immer noch absolut ebenmäßig gewachsene Edeltanne vor dem Küchenfenster strahlt von hunderten Lichtern beleuchtet schöner als je zuvor. Glücklicherweise hat Peter, obwohl man das Gefahrenpotential in sieben Metern Höhe auf einer schwankenden Leiter keinesfalls unterschätzen darf, auch diesen Teil der Deko-Orgie ohne Beinbruch oder sonstige Widrigkeiten hinter sich gebracht, mit Ausnahme vielleicht von beachtlichen Verschleißerscheinungen an seinem Nervenkostüm. Nun aber, da alles vorbei ist, beginnt sich auch sein seelischer Zustand angesichts der vorweihnachtlichen Pracht und dem bevorstehenden Anlass angemessen, rapide zu verbessern. Gleich werden die Gäste eintreffen.

Der Kamin ist geheizt und die Temperaturen im Wohnzimmer kann man nicht anders als wohlig warm bezeichnen. Peter fühlt sich ausnehmend behaglich und zufrieden. Vorfreude stellt sich ein. Er steht, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, am Küchenfenster und blickt zufrieden lächelnd auf sein Werk hinaus. Rechtzeitig zur Eröffnungsfeier hat sich der erste Wintereinbruch angemeldet. Dicke weiße Flocken fallen sanft, wie in Zeitlupe vom nächtlichen Himmel und verstärken den friedlichen Eindruck auf perfekte Weise. Ein kugelrunder, völlig eingeschneiter Weihnachtsmann biegt eben um die Ecke und kommt geradewegs auf das Haus zu. Er lacht über das ganze Gesicht, genau wie seine zahlreichen Ebenbilder in den Kaufhäusern der nahen Großstadt und scheint prächtiger Laune zu sein. Dahinter folgen, im Gegensatz zu seinen künstlichen Pendants, die Gisela Bräunlein, seine Ehegattin und beste Fleischereifachverkäuferin von ganz Rödnbach, sowie Lothar Schwarm, der Dorffigaro zusammen mit seiner Lebensgefährtin Maria.

Peter wartet gar nicht erst bis die Freunde klingeln, sondern reißt die Haustür sofort sperrangelweit auf und ruft den Neuankömmlingen entgegen.

„Ja horch amal, ihr seid ja kombledd eigschneid und aufbaggd seider widder wäi die heilichn drei Könich. Mir homm doch gsachd, ihr solld nix mitbringer!“

„Genau!“, antwortete der Weihnachtsmann, der sich bei näherer Betrachtung als Simon entpuppt, „genauso wenich wäi die Marga sich dran häld, dass heier amal kann Aufriss machd. Ich riech äs Essn ja scho bis auf die Strass naus!“

Die Freunde wurden eilig hereingebeten und von den nassen Klamotten befreit.

„Dou geht no schnell rei. Im Wohnzimmer brennt der Kamin, dou kennd er eich glei widder aweng aufwärmer. Die Marga is a glei dou, dee schlupfd blouß schnell nu in ihr neiesde Errungenschafd vom Silbernagl.“

Silbernagel, so hieß das exklusive Bekleidungshaus in der nahen Kreisstadt. Für die Gäsde blouß des Besde!

Es dauerte auch wirklich nur noch eine Viertelstunde, bis sich auch die Hausfrau zu der munteren Runde gesellte. Nachdem alle, vornehmlich natürlich die Damen, das neueste Prachtstück aus Margas Kleiderkollektion ausführlich gewürdigt hatten begann die erste Runde des entgegen aller Vereinbarungen natürlich wieder viel zu üppig geratenen Imbisses. Die aufwändige Tischdekoration musste zu diesem Zweck kurzerhand mehrfach hin- und hergeschoben werden, bis genügend Platz zum Essen frei geschaufelt war. Es gab zunächst Bratwürste aus dem Hause Bräunlein mit Kraut oder wahlweise Senf. Wer wollte konnte auch Kren, also Meerrettich dazu genießen. Das Brot hatte die Marga extra für den Nachmittag bestellt, damit es noch eine richtig krachende Kruste aufwies.

„Also, dann Brossd, liebe Freunde!“, rief Peter und hob seinen gefüllten Bierkrug in Richtung der Gäste. „Auf an schäiner Ohmd alle miternander und auf a friedliche Vorweihnachdszeid!“

Sobald der Höflichkeit Genüge getan war, machten sich alle ohne weitere Verzögerungen über die aufgetischten Spezialitäten her. Die Gespräche kamen vorübergehend völlig zu erliegen. Jeder war mit sich selbst und den wie immer köstlichen Erzeugnissen des Hauses Bräunlein voll auf beschäftigt. Danach gab es einen kräftigen Schnaps für die Männer und Maria, die nicht nur die Leidenschaft für das Schafkopfspiel mit den Herren der Schöpfung teilte, sondern auch einem gepflegten Edelbrand nicht abgeneigt war, während Marga und Gisela sich lieber ein Gläschen des ihm Hause Kleinlein niemals ausgehenden Nusslikörs genehmigten. Die Figur spielte heute keine Rolle. Die Reue kam frühestens morgen früh, nach dem obligatorischen Gang auf die Waage wieder aus ihrem Versteck gekrochen. Jetzt mussten erst einmal die frisch gebackenen Lebkuchen aus Margas Weihnachtsbäckerei versucht werden.

„Mensch, doll! Sua logga und wüazich, besser als wäi von Bäcka. Reschpekt Marga, des mou ma da loua, ainwandfrai! Des Rezept mousd ma noucha unbedingd mit hoim gehm. Oba woarscheinlich is rechd kompliziert, oda?“, fragte die vollauf begeisterte Maria, unverkennbar eine Oberpfälzerin, die Gastgeberin.

„Naa, überhaubds nedd, des ganze Geheimnis iss, dass der Grunddeich aus in Wasser aufgweichde Bambercher Hörnler besteht. Dess werd mit die ganzn Gwürze vermengd, auf die Obladdn aufgestrichen und backn. Ferti!“

„Dess iss ja dess erschde woss ich hör, dass in an Lebbkoung Kardoffln neikummer“, mischte sich Simon ein, obwohl er nicht gerade als ein ausgewiesener Experte in Punkto Kochen und Backen galt, eher schon als veritabler Vertilger der Köstlichkeiten.

„Wäi kummsdn auf Kardoffln, Bambercher Hörnler sinn zwor auch a Kardofflsordn, abber normalerweis hulld mer bei uns in Rödnbach die Bambercher immer nu beim Bägger odder ghärrsd du aa zu dene, dee middlerweile Croasoh soong, wäi die Breissn und die Franzosn?“, belehrte Marga den verdutzen Metzgermeister. „Also hobb, schenierd eich nedd, langd zou. Dess muss alles gessn werrn!“

Wieder hörte man eine kleine Weile nur noch leise, verzückte Mampfgeräusche bis ein spitzer Schrei die Tafelrunde aufschreckte.

„Kreizdunnerwedder, woss iss nern dess?“, entfuhr es Peter. „Allmächd, ich glaab, ich hobb mer an den Lebbkoung an von meine Baggnzähn ausbissn. Aah, na des derf doch nedd wahr sei, ich hobb doch nu nedd amal a aanzichs Drümmler derwischd und etz konni glei gornix mehr essn. Auh, naa, äsu a Gschmarri, dess gibbds doch nedd!“, schimpfte er noch immer, während er mit der rechten Hand einen Fremdkörper aus seiner schmerzhaft verzogenen Backe fischte, einen halben Backenzahn zusammen mit der noch daran haftenden Goldfüllung.

„Na du bisd villeichd a goldicher Kerl“, lästerte sein Freund Simon in einem Anflug von schwarzem Humor. Aber es hagelte auch sofort Mitleidsbekundungen und ausgezeichnete Ratschläge.

„Du mousd unbedingt dein Mund mit Chlorhexadingsdou ausschbüln, naja, wassd scho, dee rosa Brüh zum Desinfiziern, und dann däädi aweng a Nelkn nei, des beruichd in Nerv“, schlug Lothar vor, dessen Großvater neben seiner Friseurtätigkeit immerhin auch noch als hochgeschätzter Dorfbader fungiert hatte und der deshalb in derartig schwierigen Gesundheitsfragen quasi ex professo, also von Berufs wegen als Experte prädestiniert war.

„Morgn früh gemmer glei zum Zahnarzt, dess kommer nedd bis Mondaach äso lassn. Des doud doch beschdimmd gscheid wäih. Allmächd Beder, warum hossdn aa nedd besser Obachd gehm?“ Und nach einer, dem ersten Schreck geschuldeten Pause bemühte sie sich zu erklären: „Ich hobb doch exdra aufbassd wäi a Heftlersmacher, dass ganz beschdimmd ka noch su glanns Restlä von anner Nussschaln in mein Lebbkoungdeich neikummer iss“, bemühte sich Marga redlich um ihren sichtlich mitgenommenen Ehemann und um Wiederherstellung ihres tadellosen Rufs als Bäckerin.

„Bis Mondaach kämmer dou nedd wardn, ich brauch heid nu an Doggder. Der Nerv lichd scheinds völlich frei. Ich könnd schreier, wenni ner blouß mit der Zunger hiekumm. An an Schlaf iss dou sowieso nedd zu denkn.“

Und um die Schwere der Verletzung auszutesten und den endgültigen Beweis für seine Aussage zu erbringen, pirschte der Gepeinigte sich vorsichtig mit seiner Zungenspitze an den klaffenden Krater heran um augenblicklich einen markerschütternden Schrei auszustoßen.

„Aah, aah, auauauh“.

Es war offensichtlich, dass es so nicht weitergehen konnte. Peter bot ein mitleiderregendes Bild. Als der normalerweise baumlange Mann ins sich zusammengesunken wie ein kleines Häufchen Elend da saß, war allen Anwesenden sofort klar, dass umgehend etwas geschehen musste. Ein Besuch beim zahnärztlichen Notdienst war unumgänglich, denn es war Freitagabend und da hatten die normalen Zahnarztpraxen schon längst geschlossen, so auch die von Peters Zahnarzt seines Vertrauens. Marga war auch schon längst in die Küche geeilt, um in der Zeitung die Adresse des in dankenswerter Weise zu Verfügung stehenden Notdienstes herauszusuchen.

„Doktor Thomas Heyder, Zahnarzt, Erlenbach! Goddseidank, wenigsdns braung mer nedd bis in die Stadt nei fahrn. Na, so ein Deader abber aa, wo mer sich doch alle auf an lusdichn Abnd gfreud homm. Und etz suwoss Bläids!“

Beim Zahnarzt

Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.

(Ostpreußisches Kirchenlied aus dem 17. Jahrhundert)

Auch in der Praxis leuchtete und funkelte es gewaltig. Allerdings erblickte Peter nicht den Stern von Bethlehem, so gern er es auch getan hätte, sondern in das gleißende Licht des Scheinwerfers der schräg über dem Folterstuhl des Zahnarztes angebracht war. Die friedvolle vorweihnachtliche Stimmung wich schlagartig einer undefinierbaren, latent vorhandenen Angst vor dem Schrecklichen, das nun unweigerlich folgen musste. Natürlich hatte Peter keine Angst vor dem Arzt selbst oder vor den mit der Behandlung verbundenen Schmerzen. Die Zeiten waren schließlich lange vorbei, wo man nur dann eine betäubende Spritze bekam, wenn es der behandelnde Arzt als unvermeidlich ansah, weil er Löcher bohren musste, die voraussichtlich die Ausmaße eines städtischen Abwasserkanals annehmen würden oder man sich als lächerliches Weichei zu erkennen gab, was im Grunde genommen fast noch mehr Mut erforderte, als die Tortur still zu ertragen. Trotzdem schlummert tief im Inneren der meisten Patienten eine Art Urangst vor der eigenen Machtlosigkeit und dem bedingungslosen Ausgeliefertsein an den Mann mit dem schrill quietschenden, bedrohlich wirkenden Bohrer.

Als ob er einen eingehenden Blick in Peters hinterstes Seelenkämmerchen geworfen hätte, bemühte sich der Zahnarzt, die Situation möglichst entspannt zu gestalten.

“Macht hoch die Tür, die To-hor macht weit!“, flötete er in Anlehnung an das wohl bekannteste Adventslied mit einem vergeblichen Anflug von Humor vor sich hin. „Sie sollen den Mund aufmachen meine ich, ja, noch ein bisschen weiter. So ist es gut. Also, was haben wir denn da schönes?“

Warum Ärzte grundsätzlich in der Mehrzahl sprechen, wenn sie beruhigend wirken wollen, war Peter schon immer ein Rätsel. Wir hatten gar nichts. Er alleine hatte ein klaffendes Loch in seinem ansonsten tadellosen Gebiss, der einstmals prächtige Backenzahn bot einen Anblick wie eine in Folge Jahrhunderte langer Erosion ins Meer gestürzte Klippe. Nur dass es zusätzlich entsetzlich schmerzte.

„Aha, wie haben wir denn das geschafft? Wollten wir die Walnüsse mit dem Gebiss knacken?“

Auch der nächste Versuch des Dentisten die Lage mit einem flotten Spruch zu entspannen, verpuffte wirkungslos. Sobald er dies erkannte, begann er sich ohne weitere Worte konzentriert an seine Arbeit zu machen. Der Nerv musste heraus, um die Schmerzen zum Stillstand zu bringen. Danach erst könnte man mit dem Wiederaufbau des geschädigten Zahns beginnen. Aber das würde der Herr … .

„Kleinlein.“

Genau, der Herr Kleinlein würde das mit seinem angestammten Zahnarzt in Angriff nehmen. Das hätte ja noch Zeit bis nächste Woche. Erst mussten einmal die Schmerzen bekämpft und deren Ursache beseitigt werden. Alles andere war im Moment nicht so wichtig. Als die Spritze ihre Wirkung voll entfaltet und der Bohrer völlig schmerzfrei sein Werk vollbracht hatte, spürte Peter wie sich allmählich seine zuvor krampfhaft angespannten Muskeln zu entspannen begannen.

„Einen kleinen Moment bitte, Herr Kleinlein. Ich bin sofort wieder da. Sie dürfen inzwischen kurz ausspülen und den Mund dürfen sie auch einstweilen schließen.“

Peter konnte auf dem verchromten Rand des Scheinwerfers über ihm die Ehefrau des Arztes erkennen, die unter der Eingangstür zum Behandlungszimmer stehend, heftig mit dem rechten Arm winkte und ihrem Ehemann bedeutete, sofort zu ihr zu kommen.

„Woss ner so wichdiches gibbd“, fragte er sich, „abber es iss scheinds überall des gleiche. Wenn die Frau winkd, hodd der Mann zu kommer, egal woss er grad selber vorhat“ und die schon besiegt erschienene Angst drängte sich ob der Verzögerung wieder ein wenig in den Vordergrund. Wie in einem Spiegel konnte er erkennen, dass die Arztgattin einen Zettel in der Hand hielt und dabei beschwörend auf ihren Mann einsprach. Verstehen konnte er nichts, dazu war der Tonfall einfach zu leise. Es musste etwas Unvorhergesehenes passiert sein und es stand offensichtlich in diesem ominösen Brief.

„Wo ner auf amal der Brief herkummd?“, fragte sich Peter, „um die Zeid am Abnd kommd doch ka Briefträger nimmer. Komisch, wergli komisch.“

Als der Zahnarzt wieder zurückkam um seine unterbrochene Arbeit erneut aufzunehmen, erschien er um Jahre gealtert, der vorher so ruhige und entspannte, ja geradezu fröhliche Mann hatte sich in wenigen Minuten in ein verunsichertes, zittriges Wrack verwandelt. Die Nachricht, die die beiden erhalten hatten musste äußerst unangenehm sein. Vielleicht ein Drohbrief? Das war zumindest der erste Eindruck, der sich in Peters Gehirn breit machte. Bekamen Zahnärzte so etwas aus Rache für eine missglückte Wurzelbehandlung oder eine vorzeitig unter der Last des vorweihnachtlichen Kauverkehrs zusammengebrochene Brücke? Wohl kaum. Außerdem sah so allenfalls ein Mensch aus, der zumindestens im Moment keinen Ausweg mehr wusste. Kreidebleich, verunsichert! Es musste etwas sein, womit die beiden niemals gerechnet hätten.

„Tut mir Leid, Herr Kleinlein, ich befürchte, ich kann die Behandlung nicht zu Ende führen. Mir ist überhaupt nicht gut.“

Und nach einer kurzen Pause in der er heftig schnaufte und mit zitternden Händen und einem Papiertaschentuch seine schweißnasse Stirn zu trocknen versuchte, fuhr er mit unsicherer Stimme fort.

„Der Nerv ist ja jetzt entfernt. Ich mache ihnen das Loch noch sauber zu, dann können sie sicher sein, dass keine Schmerzen mehr auftreten. Eigentlich wollte ich die Kanten noch etwas glätten, aber … aber ich kann einfach nicht mehr.“

Er rührte abwesend die Füllmasse an, drückte sie mit einem Spezialwerkzeug in die klaffende Zahnruine und ließ sich endlich schwer auf seinen Hocker fallen und begann heftig zu schluchzen. „Oh mein Gott, es wird ihm doch nicht ….“

Weiter kam er nicht. Seine Frau war inzwischen dazugekommen und hatte einen Arm um ihn gelegt, während sie die freie Hand auf seinen Mund legte.

„Psst. Das ist eine Privatangelegenheit, das interessiert den Herrn Kleinlein bestimmt nicht“und zu Peter gewandt sagte sie: „Sie müssen jetzt leider gehen. Es ist ja soweit alles fertig. Meinem Mann geht es nicht gut. Er braucht jetzt dringend Ruhe. Bitte.“