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Buch 1 in der Serie - Verliebte Partner Deputy US Marshal Miro Jones hat den Ruf, auch unter Beschuss ruhig zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren. Diese Eigenschaften kommen ihm in der Zusammenarbeit mit seinem Partner Ian Doyle, einem Elitesoldaten, sehr zu Gute, denn Ian ist der Typ Mann, der in einem leeren Raum einen Streit vom Zaun brechen kann. In den vergangenen drei Jahren in ihrem Job auf Leben und Tod sind aus Fremden erst Kollegen, dann loyale Teamkameraden und schließlich beste Freunde geworden. Miro hat zu dem Mann, der ihm den Rücken freihält, blindes Vertrauen entwickelt … und einiges mehr. Als Marshal und Soldat wird von Ian erwartet, dass er die Führung übernimmt. Aber die Stärke und Disziplin, die ihn im Einsatz zum Erfolg und zur Erfüllung seiner Mission tragen, versagen überall sonst. Ian hat sich immer gegen jede Art der Bindung gewehrt, aber kein Zuhause zu haben – und mehr noch: niemanden, zu dem er nach Hause kommen kann – frisst ihn innerlich langsam auf. Im Lauf der Zeit hat er, wenn auch widerstrebend, eingesehen, dass es ohne seinen Partner an seiner Seite einfach nicht geht. Jetzt muss Miro ihn nur noch überzeugen, dass Gefühlsbande keine Fesseln sind …
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Von Mary Calmes
Marshals: Buch Eins
Deputy US Marshal Miro Jones hat den Ruf, auch unter Beschuss ruhig zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren. Diese Eigenschaften kommen ihm in der Zusammenarbeit mit seinem Partner Ian Doyle, einem Elitesoldaten, sehr zu Gute, denn Ian ist der Typ Mann, der in einem leeren Raum einen Streit vom Zaun brechen kann. In den vergangenen drei Jahren in ihrem Job auf Leben und Tod sind aus Fremden erst Kollegen, dann loyale Teamkameraden und schließlich beste Freunde geworden. Miro hat zu dem Mann, der ihm den Rücken freihält, blindes Vertrauen entwickelt … und einiges mehr.
Als Marshal und Soldat wird von Ian erwartet, dass er die Führung übernimmt. Aber die Stärke und Disziplin, die ihn im Einsatz zum Erfolg und zur Erfüllung seiner Mission tragen, versagen überall sonst. Ian hat sich immer gegen jede Art der Bindung gewehrt, aber kein Zuhause zu haben – und mehr noch: niemanden, zu dem er nach Hause kommen kann – frisst ihn innerlich langsam auf. Im Lauf der Zeit hat er, wenn auch widerstrebend, eingesehen, dass es ohne seinen Partner an seiner Seite einfach nicht geht. Jetzt muss Miro ihn nur noch überzeugen, dass Gefühlsbande keine Fesseln sind …
Inhalt
Zusammenfassung
Widmung
Danksagung
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Copyright
Für Lynn.
Nichts passiert ohne dich.
Lisa, danke fürs Lesen und für die vielen Antworten
und dass du der Flut der Sorge Einhalt geboten hast.
Cardeno, danke, dass du dich um mich gekümmert hast,
dass du bis spät in die Nacht mit mir aufgeblieben bist,
danke für deine endlose Unterstützung.
Jessie, danke, dass du mein heller Stern bist.
RENNEN.
All unsere Interaktionen mit Tatverdächtigen endeten auf diese Art. Ich sagte zu ihm: Hey, lass uns auf Verstärkung warten oder auf einen Haftbefehl. Ich argumentierte, dass wir keinen hinreichenden Verdacht hatten. Ja, manchmal ging ich sogar so weit, zu betonen, dass wir nicht bewaffnet waren, weil wir nicht im Dienst waren! Nicht, dass er jemals auf mich hörte. Die Verfolgungsjagd begann immer nur Sekunden, nachdem ich das letzte Wort ausgesprochen hatte. Die Tatsache, dass er innehielt und mir erst zuhörte, bevor er losrannte, erstaunte die meisten Menschen, die uns kannten.
„Bitte“, flehte ich dann. „Nur dieses eine Mal.“
Und bekam als Antwort darauf das flüchtige Nicken oder das Schulterzucken oder das Lächeln, das eine Million Lachfältchen um seine blassblauen Augen herum entstehen ließ, bevor er mit nahezu atemberaubender Geschwindigkeit lossprintete. Ihm beim Laufen zuzusehen war eine wahre Freude. Ich wünschte nur, ich würde ihm nicht immer mitten hinein in den Kugelhagel oder die rasenden Autos oder die fliegenden Fäuste folgen. Seit ich sein Partner geworden war, hatte sich die Anzahl der Narben auf meinem Körper verdoppelt.
Ich sah es bereits als Gewinn an, wenn ich Ian Doyle dazu bringen konnte, eine kugelsichere Weste anzulegen, bevor er eine Tür eintrat oder sich kopfüber ins Unbekannte stürzte. Ich sah die Blicke, die die anderen Marshals uns zuwarfen, wenn wir mit blutigen Tatverdächtigen, flüchtigen Verbrechern oder gesicherten Zeugen zurückkamen, und im Lauf der Jahre war ihr Respekt für Ian dem Mitgefühl für mich gewichen.
Damals, als ich ihm als Partner zugeteilt worden war, hatten die anderen Marshals unmutig reagiert. Warum wurde der Neue – ich – dem ehemaligen Soldaten der Sondereinsatzkräfte Green Berets als Partner zugeteilt? Welchen Sinn machte das denn? Ich glaube, sie dachten, dass ich ungerecht bevorzugt worden war, und dass ihm als Partner zugeteilt zu werden, das große Los war. Ich war der neuste Marshal im Team, ganz unten in der Hackordnung, wieso hatte ich Captain America verdient?
Was sie alle übersahen, war, dass Ian nicht wie die meisten von uns von der Polizei kam. Er war Militär und hatte keine Ahnung von polizeilichen Verfahrensweisen oder dem Einhalten der Buchstaben des Gesetzes. Als der neueste Marshal im Team war ich derjenige, der diese Buchstaben am besten kannte, und so hatte der Supervisory Deputy, mein Vorgesetzter, mich ihm zugeteilt. Es machte in der Tat Sinn.
Was war ich doch für ein Glückspilz.
Doyle war ein Albtraum. Und obwohl auch ich nicht gerade ein Tugendengel war, wirkte ich doch im Vergleich zu meinem „erst schießen, dann fragen”-Partner besonnen und vernünftig.
Nach den ersten sechs Monaten hörten die Blicke der anderen auf, neidisch zu sein, und wurden mitleidig. Heute, drei Jahre später, brachten mir die Marshals in unserer Chicagoer Dienststelle Eisbeutel, reichten mir was sie so an Pillen in ihren Schreibtischschubladen hatten und gaben mir sogar hin und wieder einen Rat. Es war immer derselbe.
„Um Himmels willen, Jones, sprich mit dem Chef über ihn!“
Der Chef, Supervisory Deputy Sam Kage, hatte mich erst neulich in sein Büro zitiert und mich geradeheraus gefragt, ob an den Gerüchten, die ihm zu Ohren gekommen waren, etwas Wahres dran wäre. Wollte ich einem anderen als Partner zugeteilt werden? Der verständnislose Blick, den ich ihm daraufhin zugeworfen hatte, hatte hoffentlich meine Verwirrung ausreichend kommuniziert. Folglich war es ganz allein meine Schuld, dass ich um zehn Uhr an jenem kalten Dienstagmorgen Mitte Januar durch den matschigen Schnee die hundertsiebenundvierzig Blocks lange Fifth Street in Oak Lawn hinunter rannte.
Meine Arme pumpten wie Kolben vor und zurück, die Glock 20 trug ich in einer Hand. Ich sah, wie Ian eine Geste nach links machte, also änderte ich meinen Kurs und sprang über eine umgeworfene Mülltonne und in die Gasse dahinter. Eigentlich hätte ich derjenige draußen auf der Straße sein sollen – mein Partner war sehr viel besser darin, über Hindernisse zu springen und wie ein Ninja die Wände hinauf zu laufen. Aber obwohl ich fünf Jahre jünger war als er mit seinen sechsunddreißig, war er mit seinen vierundachtzig Kilo bei knapp einem Meter neunzig Körpergröße in sehr viel besserer Verfassung als ich. Wo er ganz schlanke, wie gemeißelte Muskeln hatte, mit einem Traum von einem Waschbrettbauch und Oberarmen, bei denen es die Frauen in den Fingern juckte, sie anzufassen, war ich mit meinen eins achtzig massiger gebaut, mit dicken Muskeln und breiten Schultern, mehr Bulle als Panther. Ians Bewegungen waren geschmeidig und fließend – ich dagegen war voller Kanten, mit eher abgehackten, ruckartigen Bewegungen. Wir waren so verschieden, wie zwei Menschen es nur sein konnten, aber viele Leute sagten, dass wir, wenn wir zusammen waren, eine sehr ähnliche, provozierende Körperhaltung hatten, eine Art unverwechselbar arrogantes Gehabe. Aber das konnte ich mir nicht vorstellen, das hätte ich doch gewusst. Wenn ich stolz wie ein Pfau oder eitel wie ein Gockel neben meinem Partner einherstolziert wäre, das hätte ich gewusst. Keine Chance, dass ich herumstolzierte, ohne das zu merken.
Im selben Augenblick, als ich aus der mit Müll übersäten Gasse herausrannte, krachte ein hundert Kilo schwerer Güterzug von einem Mann in mich hinein und ließ mich hart zu Boden gehen.
„Oh!“, hörte ich meinen Partner rufen, als meine Wirbelsäule zerbarst und jedes Sauerstoffatom aus meinem Körper herausgepresst wurde. „Gut geblockt, M!“
Der flüchtige Verbrecher versuchte, sich von mir hochzuwuchten, aber Ian war bereits da und riss ihn seitlich von mir weg, stieß ihn neben mir auf den Bürgersteig und setzte ihm einen Stiefel aufs Schlüsselbein. Ich hätte ihm gesagt, er solle es nicht übertreiben – ich nahm es im Laufe eines normalen Tages mehrmals auf mich, ihn vor jeder Art Ordnungswidrigkeit zu warnen – aber ich hatte keine Luft, keine Stimme, nichts. Alles, was ich tun konnte, war, auf dem kalten, klammen Zement zu liegen und mich zu fragen, wie viele meiner Rippen wohl gebrochen waren.
„Willst du mal aufstehen?“, fragte Ian spöttisch und rollte Eddie Madrid auf den Bauch, drehte ihm die Arme auf den Rücken und legte ihm rasch die Handschellen an. Dann kam er zu mir und hockte sich neben mich. „Oder ruhst du dich eine Runde aus?“
Ich konnte lediglich zu ihm hochschauen und registrieren, dass er missgelaunt dreinsah. Wie immer. Dieser mürrische Ausdruck hatte sich tief in seine Gesichtszüge eingegraben, und selbst wenn er lächelte, glätteten sich die Falten über und zwischen seinen Augenbrauen nie ganz. Er war ständig, wenn auch vielleicht nur ein bisschen, angespannt.
„Wenn ich nicht wüsste, wie hart im Nehmen du bist, würde ich anfangen, mir Sorgen zu machen“, sagte er schroff.
Die Tatsache, dass weder ich noch Eddie uns rührten, hätte ihm ein Licht aufgehen lassen sollen.
„M?“
Ich versuchte, mich zu bewegen, und Schmerz schoss heiß durch mein linkes Handgelenk. Das Interessante war, dass in dem Augenblick, in dem ich zusammenzuckte, seine Augen dunkel wurden vor Sorge.
„Hast du dir das Handgelenk gebrochen?“
Als ob ich dafür verantwortlich wäre, dass meine Knochen einfach so durchbrachen. „Ich habe mir nichts gebrochen“, ächzte ich, als endlich ein bisschen Luft in meine Lungen drang, gerade genug, dass ich mit heiserer, krächzender Stimme sprechen konnte. „Aber ich glaube, dein Freund da drüben hat das.“
„Vielleicht sollten wir dich besser ins Krankenhaus bringen.“
„Ich gehe allein“, murrte ich. „Du kümmerst dich um Madrid.“
Er öffnete den Mund, um zu widersprechen.
„Tu einfach, was ich dir sage“, befahl ich, wütend darüber, dass ich lädiert war. Wieder einmal. „Ich rufe dich an, wenn ich nicht rechtzeitig fertig bin, um Stubbs vom Gefängnis abzuholen.“
Seine Miene wurde noch finsterer, als er meine unverletzte Hand nahm und mich auf die Füße zog. Ich wollte um ihn herumgehen, da beugte er sich zu mir, und seine rauen Bartstoppeln kratzten über mein Ohr. Bei der Empfindung zuckte ich unwillkürlich zusammen.
„Ich komme mit dir“, sagte er mit heiserer Stimme. „Sei kein Esel.”
Ich betrachtete ihn eindringlich, sein Gesicht, das ich so gut kannte wie mein eigenes – oder vielleicht besser, nachdem ich es drei Jahre lang angesehen hatte, entweder von vorn oder im Profil, während er fuhr. Sein Blick, den er zu Boden gerichtet hatte, hob sich plötzlich, begegnete meinem, und die Intensität in seinen Augen überraschte mich. Er war vollkommen konzentriert: Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf mich gerichtet.
„Entschuldige.“
Ich war baff, und das musste sich auf meinem Gesicht abgezeichnet haben, denn sofort zogen sich seine Brauen zusammen, und sein Blick wurde absolut finster. „Heilige Scheiße“, zog ich ihn auf. „Für die Schneeschmelze ist es aber noch ein wenig früh.“
„Du bist ein Arsch“, brauste er auf und wandte sich ab.
Ich packte seine Schulter und riss ihn zurück, ballte meine Faust in dem Stoff des kurzen Trenchcoats, den er trug, und trat näher an ihn heran. „Nein, ich bin glücklich – total glücklich, ehrlich gesagt. Komm schon. Entspann dich.”
Er knurrte mich an.
„Fahr mich in die Notaufnahme.“ Ich hielt mich an ihm fest und schmunzelte.
Sein Grollen brachte mich zum Lächeln, und als ich seine Schulter drückte, sah ich, wie zufrieden er wirkte. „Lass uns gehen.“
Er hievte Madrid hoch, was beachtlich war angesichts der Tatsache, dass unser Flüchtiger fast dreißig Kilo schwerer war als er, stieß ihn gegen das Auto, öffnete die Tür zur Rückbank und schubste ihn hinein. Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden, dann wandte er sich mir wieder zu und trat nah an mich heran, so nahe, dass ich die Wärme spüren konnte, die von ihm ausstrahlte.
„Du solltest nie in Frage stellen, dass ich mit dir gehe. Dazu sind Partner schließlich da.“
„Ja, schon, aber –“
„Sag okay.“
Er verlangte nie etwas von mir. Normalerweise tyrannisierte, neckte oder stichelte er – aber besorgt war er nie. Es war eigenartig. „Ja, okay.“
Er nickte kurz und ging um den 1969er Cadillac deVille herum, den wir derzeit fuhren. Wir bekamen das, was bei Drogenrazzien und dergleichen sichergestellt wurde. Unser letztes Fahrzeug war ein 2000er Ford Mustang gewesen, nach dem ich ganz verrückt gewesen war – sowohl danach, ihn zu fahren, was selten genug vorkam, als auch danach, in ihm gefahren zu werden. Es war ein trauriger Tag gewesen, als er das Opfer eines Kugelhagels aus einem Maschinengewehr geworden war. Die Granate, die durchs Fenster geworfen worden war, hatte ihm dann den Rest gegeben. Bis zu dem Zeitpunkt hatte Ian darauf beharrt, dass der Wagen zu reparieren war.
Der Pornoschlitten, den wir derzeit fuhren, mit Weißwandreifen und Lack in grün-metallic, war zugegeben ein bisschen viel für den US Marshals Service. Aber wir sollten inkognito unterwegs sein, und wenn wir mit dem Schlitten durch die übelsten Gegenden Chicagos glitten, ernteten wir nicht mal einen zweiten Blick.
„Steig ein“, bellte er.
„Jawohl, Sir.”
Und wie üblich gab er sofort Vollgas. Vergiss langsames sich Einreihen in den Verkehr: Ian fuhr immer, als hätte er gerade eine Bank überfallen, und ich hatte gelernt, mich anzuschnallen und gut festzuhalten.
„Was zum Teufel“, schrie Eddie Madrid von der Rückbank, nachdem er nach vorn und dann wieder zurück gegen die Rückenlehne geschleudert worden war. „Jemand muss mich anschnallen.“
Ich fing an zu lachen, als ich mich meinem Partner zuwandte, der über die übrigen Verkehrsteilnehmer auf der Straße fluchte. „Selbst unser Gefangener fürchtet um sein Leben.“
„Scheiß auf ihn“, knurrte er und nahm die Kurve, als wäre er ein Stunt-Fahrer, der sich bereit machte, aus dem fahrenden Wagen zu springen.
Eddie knallte gegen das Halbfenster auf der Beifahrerseite der Limousine. „Himmelherrgott, Mann!“
Ich stützte mich lediglich mit den Füßen an der Karosserie ab und hoffte, dass ich es heil bis ins Krankenhaus schaffen würde.
„LASS MICH das noch mal klarstellen”, sagte Ian an jenem Nachmittag, während er James „den Schlitzer“ Pellegrino zu unserem Wagen führte. „Du hast ein gebrochenes Handgelenk, aber worüber du dich aufregst sind deine Schuhe?“
Normalerweise gipsten Ärzte gebrochene Knochen erst nach ein paar Tagen ein, wenn die Schwellung zurückgegangen war. Aber weil ich nicht vorhatte, am Schreibtisch zu hocken, bis der Knochen wieder ganz war, und weil es ein glatter Bruch war, hatte der Arzt in der Notaufnahme eine Ausnahme gemacht. Er hatte mich darauf hingewiesen, dass ich gegebenenfalls zurückkommen und einen neuen Gips bekommen müsste, sollte der jetzige zu locker werden. Mir war das gleich. Hauptsache war, ich konnte Ian zurück an die Front und zum nächsten Einsatz folgen.
„Ja“, klagte ich und musterte den Gipsverband um mein Handgelenk und dann, viel wichtiger, meine nun verkratzten John Varvatos Stiefel mit Zehenhaube. Pellegrino hatte einen Blick auf mich geworfen, als er aus dem Keller heraufgekommen war, und war geflüchtet. Wir waren einem anonymen Hinweis gefolgt und hatten ihn im Haus seines Cousins in La Grange gefunden. Um zu verhindern, dass er die Hintertür erreichte, hatte ich mich mit einem Hechtsprung auf ihn geworfen. Es hatte darin geendet, dass wir über nackten Betonboden rollten, als Ian um das Haus geflogen gekommen war und sich auf den Kerl gestürzt hatte. „Letzte Woche waren sie noch neu.“
„Und jetzt wären sie so oder so hinüber gewesen“, kommentierte Ian. „Bei dem Schnee.“
Ich sah zu ihm auf. „Deshalb wollte ich ja auch mit Brent nach Miami ziehen. Schnee wäre dort nur eine unschöne Erinnerung gewesen.“
Er schnaubte ein Lachen. „Der Typ war's so was von nicht wert, um seinetwillen umzuziehen.“
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Und außerdem“, sagte er schroff, „hättest du mich eh nicht verlassen.“
„Ich würde dich sofort stehenlassen, Kumpel. Mach dir da keine Illusionen.“
„Ja, klar“, spottete er.
Anscheinend wusste er es besser, als einer so faustdicken Lüge Glauben zu schenken.
„Wollt ihr zwei, dass ich euch allein lasse?“, sagte Pellegrino verächtlich.
Ian stieß ihn gegen das Auto, und Pellegrino schrie auf, war er doch mit der Brust aufgeprallt – derselben Stelle, die vor noch nicht allzu langer Zeit in direkten und schwungvollen Kontakt mit einem rohen Ziegelstein gekommen war.
„Halt den Mund.“
„Das ist Polizeigewalt.“
„Zum Glück sind wir nicht die Polizei“, erinnerte Ian ihn und verpasste ihm einen Schlag auf den Hinterkopf, bevor sein blassblauer Blick wieder auf mir landete. „Und warum ziehst du überhaupt deine guten Sachen zur Arbeit an? Das hab ich noch nie verstanden.“
„Weil“, erwiderte ich mit einer Geste auf ihn, „Dockers und ein Hemd und eine hässliche Krawatte nicht das sind, worin ich jeden Tag gesehen werden möchte.“
„Schön und gut, aber auf die Art und Weise machst du dir eine Menge Sachen kaputt, worüber du dann meckerst.“
„Wanderstiefel sind nicht gerade Haut Couture.“
„Ja, aber deine John-wasauchimmer Stiefel sind schon hinüber, und meine sind noch gut.“
„Aber sie sehen scheiße aus“, informierte ich ihn.
„Aber sie tun’s noch“, stichelte er, und der verwegene Schwung seiner Lippen ließ etwas in meinem Bauch Purzelbäume schlagen.
Das war schlecht. Ganz, ganz schlecht. Ian Doyle war mein einhundert Prozent heterosexueller bester Freund und Partner. Ich hatte nicht einmal ansatzweise das Recht zu bemerken, wie sein Kurzmantel sich um seine Schultern legte oder wie die Sehnen in seinen Unterarmen hervortraten oder wie er mich berührte, wenn er mit mir sprach, neben mir saß oder auch nur in meine Nähe kam. Wie er immer in meine Distanzzone eindrang, so als hätte ich keine, so als wäre das etwas, das er nicht einmal wahrnahm. Von daher war es wirklich nicht korrekt von mir, diese Dinge zu bemerken. Aber so zu tun, als täte ich das nicht, brachte mich langsam um. Das war der wahre Grund, warum ich um einen Partnerwechsel hätte bitten sollen: Ich träumte davon, mit meinem gegenwärtigen ins Bett zu gehen.
„Keine bissige Bemerkung darauf?”
Ich räusperte mich. „Nein.”
Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Wie kommt’s?“
„Du hast nicht ganz unrecht, nehme ich an. Ich sollte zur Arbeit keine Schuhe anziehen, die nicht robust genug sind.“
„Ich kann dir ein neues Paar besorgen“, warf der Schlitzer schnell ein, bevor Ian antworten konnte. „Bitte.“
Ian schlug ihn erneut auf den Hinterkopf, öffnete die Autotür, schob meinen Sitz nach vorne und stieß Pellegrino hinein.
„Du bist so ein Arschloch, Doyle!“, brüllte Pellegrino, bevor Ian die Tür zuknallte.
„Pass auf, dass er keine blauen Flecken bekommt“, warnte ich ihn, wie ich das immer tat.
„Warum?“
Ich stöhnte.
„Und damit eines klar ist“, schnaubte Ian und drehte sich zu mir um. „Du betrittst ein Gebäude nicht alleine. Was haben wir nach der Sache mit Felix Ledesma dazu gesagt?“
Ich nuschelte etwas in mich hinein, denn mein iPhone hatte sich gemeldet und ich las gerade die SMS.
„Miro!“
„Ich höre dich.“
„Sieh mich an.“
Mein Kopf fuhr hoch. „Ja, schön, okay, halt den Mund.“
„Nein, nicht schön. Nicht okay. Jedes verdammte Mal, wenn du dein Hemd ausziehst und ich die Narbe direkt über deinem Herzen sehe –“
„Ich weiß“, besänftigte ich ihn und lehnte mich an ihn, stieß ihn mit einer Schulter an.
Er knurrte.
„Oh“, sagte ich, als ich einen Blick auf die Zeit erhaschte. „Du solltest mich und den Schlitzer abliefern, damit du rechtzeitig zu deinem Date mit Emma kommst.“
Die Art, wie sein ganzes Gesicht starr und ausdruckslos wurde, war kein gutes Zeichen, aber es lag mir fern, ihm zu sagen, dass seine Freundin zwar wundervoll, aber nicht die Richtige für ihn war. Es wäre sehr viel leichter gewesen, wenn sie eine Giftspritze gewesen wäre und ich sie gehasst hätte. Aber die Wahrheit war, dass sie gewissermaßen perfekt war. Nur eben nicht für ihn.
„Und was machst du?“
„Wann?“ Ich war verwirrt. „Ich werde unseren Gefangenen abfertigen, damit du ein Mal pünktlich sein kannst.“
Er sah unbehaglich aus. „Und was dann?“
„Oh, ich treffe mich heute Abend mit ein paar Jungs vom Fitnessstudio zum Billard spielen.“
Sein Gesicht leuchtete auf.
„Nichts da.“ Ich gluckste. „Böser Junge. Deine Freundin will nicht mit einem Haufen Fremder Billard spielen.
Sein stechender Blick war geradezu lächerlich heiß. „Woher weißt du das?“
„Das ist kein Date, Ian.“
„Na, du solltest auch nicht gehen.“
Ich fragte mich flüchtig, ob er wusste, wie launisch er klang. „Ich habe mir das linke Handgelenk gebrochen, nicht das rechte. Ich kann ein Queue problemlos halten.“
„Du solltest nach Hause gehen und dich ins Bett legen“, sagte Ian mit finsterem Blick, während er um das Auto herum zur Fahrerseite ging.
„Nein, Mann, ich muss durch den Schmerz hindurcharbeiten“, frotzelte ich, bevor ich einstieg.
„Wovon redest du?“, fragte er gereizt, nachdem er die Tür zugeknallt und sich zu mir gewandt hatte. „Du hast dir das verfluchte Handgelenk gebrochen.“
„Aber ist das nicht dein Mantra oder Credo oder so? Der Kodex der Green Berets? Vergiss den Schmerz?“
„Billard spielen ist nicht arbeiten. Du musst es nicht tun.“
Ein Räuspern von der Rückbank. „Jungs, wisst ihr, ihr könntet mich auch einfach hierlassen“, schlug der Schlitzer heiter vor. „Dann muss auch niemand Papierkram erledigen, und vielleicht könntet ihr auf ein Doppeldate gehen.“
Ian drehte sich auf seinem Sitz um. „Ich hab eine bessere Idee. Warum hältst du nicht deine verdammte Klappe, bevor ich aus diesem Auto aussteige, dir die Handschellen abnehme und dich laufen lassen, damit ich dich abknallen kann.“
„Vielleicht triffst du ja daneben.“
Ian schnaubte verächtlich.
„Ich würd‘ mich drauf einlassen. Was habt ihr überhaupt für ‘ne Waffe, neun Millimeter?”
„Noch einmal, wir sind keine Bullen. Wir sind Marshals“, erklärte Ian. „Schon mal von einer Kaliber 40 angeschossen worden?“
Ich konnte mein Schmunzeln darüber, wie kleinlaut der Schlitzer plötzlich war, nicht unterdrücken.
„Vielleicht bleib ich auch einfach hier.“
„Und hältst die Klappe“, bellte Ian.
„Ja, okay.“
Er drehte sich um und umfasste das Lenkrad, und ich realisierte, wie angespannt er war.
„Auf Menschen schießen ist keine feine Art”, betonte ich scherzhaft und piekte Ians Oberarm.
Ich bekam einen verächtlichen Laut zur Antwort, aber im Handumdrehen schien er besser gelaunt, und die Anspannung war verschwunden.
„Setz die Karre in Gang. Ich muss den Kerl hier so schnell wie möglich hinter Gitter bringen, weil ich mich wirklich dringend umziehen muss.“
„Zumindest die Schuhe, hm?“, stichelte Ian, und die Art, wie er den Kopf schief legte und mit den Augenbrauen wackelte, konnte einen wirklich aggressiv machen.
Ich tat mein Bestes, ihn zu ignorieren.
GRANGER’S WAR ein schon etwas älteres Pub in der Innenstadt in der Nähe von The Loop. Ian hatte mich zuerst dorthin geschleppt, aber im Lauf der Zeit war es mir ans Herz gewachsen. Es gab gutes billiges Bier und erstklassige Hotdogs, und die ziemlich planlos wirkende Raumaufteilung und die überall verteilten Tische ließen den Innenraum größer wirken, als er tatsächlich war. Ian und ich belegten für gewöhnlich einen der Tische zwischen den Billardtischen und den Dartscheiben, von wo aus wir sowohl das Spiel, das auf dem Fernseher über der Bar lief, als auch die Tür sehen konnten. Ein Auge auf die Tür zu haben, war eine eingefleischte Angewohnheit aller, die im Rechtsvollzugsdienst arbeiteten, und man konnte sie nicht einfach abstellen.
Aus diesem Grund war ich auch nicht sehr angetan zu sehen, dass der Tisch, um den sich meine Kumpels aus dem Fitnessstudio drängten, im hinteren Teil des Raums gelegen war. Aber nach einem kurzen Abstecher an die Bar, wo ich mir ein Indian Pale Ale bestellte, drängte ich mich trotzdem durch die Menge zu ihnen durch.
„Miro, da bist du ja“, grüßte mich Eric Graff, mein sporadischer Racquettballpartner und ehemaliger Fickfreund, als ich sie erreichte.
Die anderen Männer und Frauen freuten sich ebenfalls, mich zu sehen, alle bis auf Erics neuen Freund Kyle, der, so vermutete ich, nicht sehr begeistert davon war, dass Eric seinen Arm um meine Schultern geschlungen hatte. Ich war versucht, ihm zu sagen, dass er sich da keine Sorgen machen müsse – ich holte mir nie einen Nachschlag, es sei denn, ich war alkoholbedingt unzurechnungsfähig oder es hatte im Bett ein Feuerwerk gegeben. Keines davon war bei Eric der Fall gewesen.
Nachdem ich flüchtig seinen Arm getätschelt hatte, machte ich mich von ihm los und bewegte mich durch die Gruppe, bis ich Thad Horton erreichte, der mehr war als ein Bekannter, aber auch noch nicht wirklich ein Freund.
„Hi“, grüßte ich den hübschen Mann, mit dem ich schon oft gemeinsam meine Bahnen im Schwimmbecken gezogen hatte. Er war ein sonnenbankgebräunter, durchgestylter junger Schnuckel mit gezupften Augenbrauen, der immer ein Lächeln und ein freundliches Wort auf den Lippen hatte.
„Miro“, quietschte er förmlich, als er mich sah, was die Aufmerksamkeit des Gorillas erregte, der neben ihm stand.
„Baby?“, fragte er und warf Thad einen prüfenden Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete. „Wer bist du denn?“
„Nur ein Freund aus dem Fitnessstudio“, sagte ich schnell. „Du musst Matt sein. Thad redet ständig von dir.“
Er nahm meine Hand, sichtbar erleichtert, und schüttelte sie fest. „Matt Ruben.“
„Freut mich.“
„Oh, bist du der FBI Agent?“
„Marshal“, korrigierte ich ihn. Über seine Schulter hinweg sah ich, wie Thad das Gesicht verzog und mit den Lippen das Wort „Entschuldige“ formte.
Schnelles Kopfschütteln, um ihm zu sagen, dass es kein Problem war.
„Ja, richtig, Marshal“, fuhr Matt fort. „Thad war schwer beeindruckt.”
„Es klingt sehr viel glamouröser, als es tatsächlich ist.“
„Wage ich zu bezweifeln“, sagte Matt freundlich. „Willst du das Break machen? Wir fangen gerade ein neues Spiel an.“
„Ja, gerne.“
Es war ein netter Abend, und die Leute waren okay, aber ich beschloss dennoch zu gehen, sobald das Spiel zu Ende war. Mir war langweilig, was bei mir normal war, es sei denn, ich war mit Ian oder mit meinen Mädels zusammen. Zwanglose Zusammenkünfte dieser Art waren einfach nicht mein Ding. Als ein paar Minuten später mein Handy klingelte, lehnte ich mich an die unverputzte Ziegelwand und hob ab.
„Du bist auf einem Date“, bemerkte ich.
„Wir sind mit einer ganzen Gruppe von Leuten hier. Es gibt Dim Sum.“
Ich prustete vor Lachen. Dim Sum würde Ian niemals satt machen. Er liebte chinesisches Essen ebenso sehr wie ich, aber große Portionen von Nudeln, Huhn und Schwein, keine netten kleinen Häppchen in Dampfkörbchen.
„Fick dich, komm vorbei.“
„Vorbeikommen? Du bist auf einem Date. Sie möchte, dass du ihre Freunde besser kennenlernst.”
„Mir egal. Ich hab Lust auf Bälle schlagen.“
Wann immer ihm langweilig war, wollte er zu den Batting Cages und dort mit einem Baseballschläger Bälle in ein Netz pfeffern. „Bis März geschlossen, Kumpel“, erinnerte ich ihn. „Es ist minus sieben Grad draußen. Plus Schnee.“
„Was ist mit Bowling?“
„Was soll damit sein?“ Ich grinste.
Schweigen.
Gott, wie erbärmlich war ich denn, dass ich tatsächlich mit dem Gedanken spielte? „Wo seid ihr?“
Mein Hunger nach Ian Doyles Gesellschaft war stetig gewachsen, war von einer Art beiläufiger Wertschätzung und Freundschaft zu einem heftigen Verlangen nach dem Mann selbst geworden, das wie ein kalter, scharfkantiger Stein in meiner Magengrube lag. Nicht, dass das irgendjemand wusste, und selbst das Objekt meiner Begierde würde niemals zu sehen bekommen, wie ausgehungert ich nach seiner Berührung auf meiner Haut war, nach seinem Geruch auf meinen Laken, seinem Atem in meinem Ohr. Ich verbarg meine Sehnsucht gut.
„Bei Torque in River North.“
„Das ist kein chinesisches Restaurant.“
„Als ob ich das nicht selbst wüsste.“
„Wieso dann –“
„Ich hab dir doch gesagt, es ist bescheuert.“
„Bist du auch ganz sicher, dass es in Ordnung ist?“
„Ja, bin ich, komm einfach.“
„In Ordnung“, murmelte ich und drückte mich von der Wand ab. „Gib mir etwa –“
„Warte, wo bist du?“
„Ich bin im Granger’s.“
„Oh, dann komme ich stattdessen einfach da hin.“
„Ian, Kumpel, du bist auf einem Date“, wiederholte ich nachdrücklich. „Du kannst dich nicht einfach abseilen.“
„Ich sag ihnen einfach –“
„Bleib, wo du bist. Ich bin schon unterwegs.“
Ein Schnaufen, dann war er weg.
Ich verabschiedete mich unter vielen Entschuldigungen von meiner Gruppe, trank rasch mein Bier aus und reichte mein Queue weiter. Auf dem Weg zur Tür musste ich mich an einer Frau vorbeidrängen, und sie drehte sich zu mir um.
„Jill“, sagte ich und setzte ein Lächeln auf.
„Miro.“ Sie strahlte mich an, hielt dann aber inne. „Oh, ist Ian auch hier?”
Die Art, wie sie das Gesicht verzog, so als könne sie sich nichts Schlimmeres vorstellen, als meinem Partner zu begegnen, war ziemlich traurig. „Nein, ist er nicht. Ehrlich gesagt bin ich gerade auf dem Weg, mich mit ihm zu treffen.“
„Gut“, seufzte sie, offensichtlich erleichtert, und dann erkannte sie ebenso offensichtlich, was sie da gerade gesagt hatte. „Oh, nein, ich meinte nicht –“
„Schon in Ordnung.“
Sie stieß heftig den Atem aus. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass er dein Partner ist, aber ganz ehrlich, das einzig Positive an ihm ist seine Freundschaft mit dir.”
Ich lachte leise. „Meinst du nicht, dass du da ein bisschen brutal bist?“
„Nein, das meine ich ganz bestimmt nicht. Du solltest eine öffentliche Durchsage machen lassen, Miro: Auch wenn Ian Doyle verdammt gut aussieht, lass die Finger von ihm, denn mit ihm eine Beziehung zu haben ist enttäuschend und frustrierend, da er ganz eindeutig auf eine andere wartet.“
Ich nickte beschwichtigend und schob mich weiter. „Ich sehe, du hast das Ganze gründlich durchdacht.“
„Ich habe einen Monat meines Lebens verschwendet in dem Glauben, dass es schick wäre und Spaß machen würde, einen US Marshal zu haben“, sagte sie mit einem Schulterzucken. „Ich bin vielleicht ein Idiot, aber er ist derjenige, der irreführende Werbung betreibt.“
„Also, ich bin der Meinung –“
„Und er ist grottig im Bett.“
Das war mein Stichwort, die Flucht zu ergreifen. Schade nur, dass das nicht ging. Die Menge um mich herum war zu dicht, als dass ich hätte wegrennen können. Also setzte ich ein Lächeln auf und begann nachdrücklicher, mich in Richtung Eingang zu schieben. Jill fasste schnell nach meiner Hand und drückte sie fest, um mich wissen zu lassen, dass zwischen uns beiden alles in Ordnung war. Dann machte ich mich los, und die Menge verschluckte sie.
Draußen vor der Tür trat ich an den Bordstein, um ein Taxi heranzuwinken, und mein Handy klingelte.
„Was?“
„Wir sind auf dem Weg zur Velvet Lounge. Komm da hin.“
Ich lachte ins Handy. „Ian, Kumpel, ich bin definitiv nicht richtig angezogen für die Velvet Lounge.“
„Ich auch nicht.“
„Du trägst einen Anzug oder nicht?“
„Nein. Warum?“
Guter Gott. „Lass mich mit Emma sprechen.“
Es folgten einige gedämpfte Geräusche und dann: „Miro?“
„Hi, Em“, sagte ich leise. „Ihr wollt in die Velvet Lounge?“
„Ja, genau, direkt nachdem wir bei Ian vorbeigefahren sind, damit er sich umziehen kann.“
Ich räusperte mich vorsichtig. „Em?“
„Ja?“
„War die Velvet Lounge eine kurzfristige Gruppenentscheidung?“
„Naja, schon. Ich mache ein bisschen PR Arbeit für den Eigentümer, weißt du, und er hat gerade angerufen und mir gesagt, dass er mich für heute Abend auf die Gästeliste gesetzt hat. Wie cool ist das denn?“
„Supercool“, stimmte ich matt zu. „Aber wäre es vielleicht in Ordnung, wenn ich mir Ian borge? Meine Pläne haben sich gerade in Luft aufgelöst, und ich weiß nicht, ob er es dir gesagt hat, dass ich mir heute das Handgelenk gebrochen habe, aber –“
„Nein, er – oh, das tut mir so leid“, sagte sie mitfühlend. „Aber, oh mein Gott, ja. Bitte. Kann ich ihn dir bitte, bitte aufs Auge drücken?“ Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden. „Es ist furchtbar, er langweilt sich zu Tode und zieht alle anderen mit runter.“
Ich war mir sicher, das tat er. Ian litt niemals stumm. „Ja, bitte. Gib ihn mir wieder.”
„Ich schulde dir einen ganz großen Gefallen. Danke.“
Wenn sie nur wüsste, wie dauerhaft ich ihn ihr abnehmen wollte. „Kein Problem.“
Wieder die gedämpften Geräusche eines Handys, das weitergereicht wurde. „Hi?“
„Ich hole uns Sandwiches bei Bruno & Meade. Komm vorbei, bring Chickie mit, und nach dem Essen gehen wir eine Runde mit ihm laufen, okay?“
„Ja?“ Er klang so hoffnungsvoll.
„Ja, komm. Deine Frau hat gesagt, du darfst zu mir spielen kommen.“
„Ich brauch verflucht noch mal keine Erlaubnis“, sagte er, augenblicklich defensiv.
„Ja, aber du wolltest auch ihre Gefühle nicht verletzen, was sehr lieb von dir war“, beschwichtigte ich ihn. „Aber für sie ist das in Ordnung, sie freut sich auf einen tollen Abend, und du ziehst alle Hipster mit runter.“
„Als ob mich das einen Scheiß –“
„Würdest du lieber mit ihnen gehen?“
Keine Antwort.
„I?“
„Wir sehen uns zu Hause.“
„Nein, bei mir, nicht bei dir.“
„Hab ich doch gesagt.“
Hatte er nicht gesagt, es sei denn … aber solche Gedanken waren müßig. „Okay.“
„Ja, dann, okay, in Ordnung.“
Was seine Version von „Danke und es tut mir leid, dass ich mich wie ein Arsch benommen habe“ war. Er konnte froh sein, dass ich Ian sprach. „Vergiss nicht, das Schaufeldings mitzubringen, ich werde die Kacke deines Hundes nämlich nicht mit der Hand aufheben.“
Er lachte, als ich auflegte.
ALS ICH zu Hause ankam, waren die Fenster meines kleinen Greystones erleuchtet, von daher wusste ich, dass Ian schon da war. Ich versuchte wirklich, keinen Gefallen an dem Gedanken zu finden, dass er da sein würde, wenn ich durch die Tür kam, denn etwas haben zu wollen, das man nicht haben kann, ist die beste Art, um verbittert zu werden. Ich war gern Ians Partner; wir passten perfekt zusammen, unsere Stärken ergänzten sich nahtlos, und ich wollte nicht, dass sich an dieser Partnerschaft etwas änderte. Also unterdrückte ich gnadenlos den Salto, den mein Magen bei seinem Anblick in meiner Küche machte, an meine Anrichte gelehnt, ein Glas Wasser in der Hand.
„Komm einfach rein, fühl dich wie zu Hause“, grummelte ich.
Um die Sofaecke herum erschien Ians Kreatur. Mit seiner locker fünfundvierzig Kilo puren Muskelmasse wirkte Chickie mit seinem langen, schwarz-weißen Fell noch größer, als er es ohnehin schon war. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Rasse er war, und Ian auch nicht. Meine Vermutung war ja Wolf.
„Was machst denn du in meinem Haus?“, fragte ich den Hund, der schnurstracks auf mich zuhielt, seine feuchte Nase in meine Hand schob und vor lauter Freude, auch mit dabei zu sein, wild um mich herumtanzte.
„Danke, M“, sagte Ian, der sein Glas leer getrunken hatte und es beiseitestellte. „Du bist der Einzige, den er nicht in Angst und Schrecken versetzt.“
„Das liegt daran, dass ich genau weiß, dass er nur so aussieht, als würde er Menschen fressen“, sagte ich und kraulte Chickie hinter den Ohren und unterm Kinn, während er sich vor Freude hin und her wand. Als ich zu Ian in die Küche ging, sprang er aufgeregt um mich herum. „Vielleicht sollten wir jetzt mit ihm laufen gehen, bevor wir essen. Er sieht mir ziemlich überdreht aus.“
„Ja, ist vermutlich keine schlechte Idee“, stimmte er zu.
„Gib mir fünf Minuten zum Umziehen“, sagte ich und stellte den Sack mit dem Hundefutter vor Ian ab. Er trug Jogginghose und ein Kapuzensweatshirt, und ich brauchte eine ähnliche Montur. „Tu das in den Kühlschrank und schau mal nach, ob ich Biergläser im Gefrierfach habe.“
„Was ist verkehrt daran, aus der Flasche zu trinken, Prinzessin?“ Er grinste mich an.
„Saftsack.“
Er begann zu pfeifen, als ich die Treppe zur Empore hochlief, wo sich mein Bett, mein Kleiderschrank und das Bad befanden. Es war keine komplette zweite Etage, eine Tatsache, die mir sehr gut gefiel.
Nachdem ich schnell in eine Jogginghose mit dem Aufdruck „US Marshals“ entlang der Hosennaht geschlüpft war, ging ich wieder hinunter und zur Haustür.
„Warum hast du die an?“
Ich konnte ihm nicht ganz folgen. „Was?“
„Die offizielle Jogginghose.“
„Ich verstehe die Frage nicht. Wir tragen sie immer, wenn wir trainieren.“
„Ja, genau, also warum zum Teufel ziehst du sie auch an, wenn du nicht im Dienst bist?“
„Es ist eine Jogginghose, Ian. Wen um alles in der Welt interessiert das schon?“
„Sie ist wichtigtuerisch.“
Meine Brauen hoben sich unwillkürlich. „Wichtigtuerisch?“
Er zeigte mir den Mittelfinger, legte Chickie die Leine an und stakste zur Tür.
„Sie ist wichtigtuerisch“, wiederholte ich.
„Die Leute werden wissen wollen, ob du ein echter Marshal bist, und was ist, wenn sie sich mit dir anlegen?“
„Ja, du hast recht, der Hund wird auch niemanden abschrecken.“
Wieder wurde mir ein Mittelfinger präsentiert, dann traten wir alle drei durch die Haustür. Ich schloss sie hinter mir ab und sprang von der obersten Stufe der kleinen Treppe, die zur Tür führte, hinunter auf den Gehweg.
„Eins, zwei, drei – los!“, schrie ich und rannte los, raste wie ein Wahnsinniger den Bürgersteig entlang und über die Straße, ohne mich auch nur umzusehen, in dem sicheren Bewusstsein, dass in dieser Gegend von Lincoln Park das Einzige, was mich anzufahren drohte, der Schneepflug war.
Es war dunkel, aber die Straßenlaternen waren erleuchtet, und der Himmel war von einem wunderschönen, tiefdunklen Blau mit indigofarbenen Tupfen, das schon bald von Sternen übersät sein würde – selbst wenn ich sie dank der Lichtverschmutzung vermutlich nicht sehen würde. Ich mochte diese Zeit des Abends, wenn sich die Leute zum Abendessen niederließen und ich flüchtige Blicke durch die Fenster auf sie erhaschen konnte, während ich auf meiner normalen Abendrunde vorbeijoggte. Gerade allerdings verschwammen mir die Häuser vor den Augen, als ich auf den Park zu rannte, mit Ian und Chickie dicht auf den Fersen.
„Miro!“
Ich blieb nicht stehen, und ich hörte Ian hinter mir fluchen, bevor Chickie plötzlich neben mir hergaloppierte. Ian hatte ihn von der Leine gelassen.
Ich schwenkte abrupt nach rechts und rannte an einem der Pfosten vorbei, der dafür sorgte, dass keine Autos auf die gekiesten Wege zwischen dem Feld, wo Kinder Fußball spielten, und dem Spielplatz mit seinen Schaukeln und dem Klettergerüst fahren konnten. Chickie holte mich schnell wieder ein, und als ich den Weg hinunter zum Joggingpfad einschlug, war Ian plötzlich da, packte das Rückenteil meiner Jacke und hielt mich fest.
Ich wurde lachend langsamer, und er zerrte so ruckartig an mir, dass wir zusammenstießen, seine Brust an meinen Rücken. Wir waren beide noch in Bewegung, und er verlor das Gleichgewicht, als wir zusammenprallten, und wäre gefallen, wenn er nicht einen Arm um meine Schultern geschlungen hätte, um sich auf den Beinen zu halten.
Sein heißer Atem und die Lippen, die aus Versehen meinen Nacken streiften, sandten einen Schauer durch meinen Körper, den ich nicht unterdrücken konnte.
„Warum bist du weggerannt?“, fragte er. Er hielt mich immer noch mit einer Hand an der Jacke fest, und sein anderer Arm rutschte von meiner Schulter, sodass er quer über meiner Brust lag, und die freie Hand ballte sich in der Jacke zu einer Faust, direkt über meinem Herzen.
„Um Chickie ein bisschen Spaß zu bieten“, sagte ich. Ich spürte, wie mein Herz raste, und war mir nur zu bewusst, dass es absolut gar nichts mit dem Sprint zu tun hatte, den ich gerade hingelegt hatte.
„Ja, aber du hast dich vorher nicht aufgewärmt“, sagte Ian, öffnete die Faust und drückte für einen Moment seine flache Hand auf mein Herz, dann trat er zurück.
Kaum war er weg, wurde mir eiskalt. „Stimmt“, sagte ich rasch und klopfte Chickie, der sich an meine Seite drängte. „Lass uns langsam zurücklaufen, das Blut in Schwung bringen. So wird uns auch wieder warm.“
Ian willigte ein, und wir joggten nebeneinander den Pfad entlang. Chickie stürmte vorneweg, dann kam er zurückgaloppiert, um sicherzustellen, dass Ian noch dort war, wo er sein sollte.
Wir liefen eine große Runde, kamen aber wieder vor meiner Haustür an, bevor wir uns in Eiszapfen verwandelt hatten. Da ich nicht gesehen hatte, dass Chickie sein Häufchen gemacht hatte, sagte ich zu Ian, dass er noch eine Runde mit ihm um den Block drehen sollte.
„Aber ich hab Hunger“, maulte er.
„Tja, was soll ich dir sagen? Dein Hund hat kein Häufchen gemacht, und das muss er.“
Ian fuhr herum und sah seinen Hund an. „Chickie!“, brüllte er.
Chickie warf einen Blick auf sein Herrchen und hockte sich gleich dort auf dem Grasbüschel neben der Bordsteinkante hin. Bei Ians angeekeltem und gleichzeitig erleichtertem Gesichtsausdruck bekam ich einen Lachanfall.
„Dein Hund kackt auf Kommando!“
„Das ist nicht witzig.“
Ich bekam keine Luft mehr, so zum Brüllen komisch war es.
Ian zückte einen Plastikbeutel aus der Hosentasche, und Chickie raste an ihm vorbei und die Stufen hinauf, direkt in mich hinein, und leckte mir die Lachtränen vom Gesicht. Er schien sehr zufrieden mit sich selbst.
„Dämliche Töle“, murmelte Ian, während ich mich nicht mehr einbekam vor Lachen. „Dämlicher Partner.“
Der Mann war wahrlich geschlagen mit uns beiden.
IAN ZOG sein Kapuzensweatshirt aus und eine meiner Strickjacken an, bevor er in die Küche kam und mir dabei zusah, wie ich unsere Sandwiches belegte. Ich hatte die Sachen bei Bruno & Meade geholt, meinem Lieblingsdeli, der keine fertig abgepackten Sandwiches verkaufte. Das mochte ich so bei ihnen: Sie gaben einem alles, was man auf sein Sandwich haben wollte, in Plastikbeuteln oder kleinen Plastikdosen verpackt, aber das Brot bekam man separat, sodass es nicht hart wurde – oder weich, je nachdem, welche Sorte man bestellte.
„Du weißt schon, dass das der Gipfel der Faulheit ist, oder?“, kommentierte Ian, während er sich Essiggurkenscheiben in den Mund schob. „Ich meine, ernsthaft, du kannst den ganzen Kram auch normal im Supermarkt kaufen und es selbst machen.“
„Ach ja? Die Aioli Mayonnaise, die Chorizosalami und den Ossau, den du so magst? Wirklich?“, fragte ich und schob ihm einen Teller hin. „Du meinst, ich kann das beim nächsten Supermarkt um die Ecke kaufen?“
Er sah mich finster an.
„Oder das täglich frisch gebackene Sauerteigbrot?“
Er brummte etwas in sich hinein.
„Ich habe auch deinen Lieblingsgouda geholt und eingelegte Oliven.“
„Redest du immer noch?“
„Wieso? Ja.“ Ich grinste. „Tue ich.“
„Halt die Klappe“, grollte er, holte sich eine Flasche seines Lieblingsbiers – Three Floyds Gumballhead, ich hatte immer einen Vorrat da – aus dem Kühlschrank und marschierte zur Tür zum Wohnzimmer.
„Und Roma Tomaten, die magst du am liebsten, also habe ich extra danach –“
„Ja, ja, schon verstanden, du bist ein verfluchter Heiliger und ich ein undankbarer Esel.“
Ich lachte gackernd, während er sich aufs Sofa fallen ließ und den Fernseher anstellte. Footballgeräusche erfüllten den Raum. Einen Augenblick später drehte er sich um und sah mich an.
„Was ist? Brauchst du eine Serviette?“
„Nein, ich habe eine – du streitest nicht mit mir?“
„Wieso sollte ich das?“
„Blödmann“, grummelte er und wandte sich wieder dem Spiel zu.
Als ich fertig war, gesellte ich mich zu ihm aufs Sofa. Wie immer setzte ich mich direkt neben ihn, und er klaute sich ein paar Chips von meinem Teller. „Hol dir deine eigenen“, sagte ich und verpasste seiner Hand einen Klaps.
Er stieß mich hart mit einer Schulter an, und ich ließ beinahe meinen Teller fallen.
„Was sollte das denn?“
„Sei nicht albern“, erwiderte er, stupste mein Knie sanft mit seinem an und ließ dann sein Bein dort, wo es war, eng an meines gedrückt. „Seit wann esse ich denn nicht von deinem Teller mit?“
Er hatte recht. Ich würde Ian tun lassen, was immer er wollte, wann immer er wollte. Ich war sein – genau wie meine Kartoffelchips.
IAN GING gegen ein Uhr morgens, nachdem er versprochen hatte, mich um sieben zum Frühstück abzuholen. Als er um viertel nach sieben immer noch nicht aufgekreuzt war, rief ich ihn an, aber der Anruf ging direkt zur Mailbox durch. Da ich nicht zu spät kommen wollte und den Zug nicht mehr erwischen würde, entschloss ich mich, mit meinem Truck zu fahren. Ich fuhr den Toyota Tacoma so selten, dass ich schon mehrfach darüber nachgedacht hatte, ihn zu verkaufen. Aber zwangsläufig brauchte gerade in dem Moment, in dem ich ernsthaft darüber nachdachte, jemand Hilfe beim Umziehen. Und heute auf dem Weg zur Arbeit war ich froh, dass ich ihn noch hatte.
Ich hatte etwa die Hälfte des Weges hinter mich gelegt, als Ian mich anrief.
„Wo zum Teufel steckst du?“, fuhr ich ihn an, gereizt und hungrig und zu allem Überfluss auch noch ohne Kaffee.
„Könnte ich dich auch fragen.“
„Ich bin am Verhungern, du Depp. Du hattest mir Frühstück versprochen.“
„Liest du auch mal deine SMS?“
„Ich habe keine SMS von dir bekommen.“
„Doch, du – oh, Scheiße.“
„Oh Scheiße was?“
„Ich hab dir eine Mail geschickt statt einer SMS. Verdammt.“
„Sag mir einfach, wo du bist.“
„Oh Mist, Kage ruft auf der anderen Leitung an. Bleib einen Moment dran.“
„Ian –“
„Warte“, bellte er, dann Schweigen.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich hätte hinfahren sollen, aber nicht zu wissen, wo Ian war, würde mich binnen Kurzem wahnsinnig machen. Das Wissen, dass ich ebenfalls dort hätte sein sollen, wo auch immer er war, um ihm den Rücken frei zu halten, würde meine sorgsam errichtete Fassade in Windeseile in Luft auflösen. Ich musste ihn finden.
Plötzlich ertönte das Freizeichen in meinem Ohr und sofort erhielt ich einen Anruf von einer Nummer, die nicht in meinem Telefonbuch gespeichert war. Besorgt, dass das vielleicht mein Vorgesetzter war, begann ich, nach dem Ohrhörer für mein Handy zu suchen. Es klingelte fünf Mal, bevor ich die Suche aufgab und dran ging.
„Jones.“
„Was ist die Regel?“, grollte die tiefe, raue Stimme meines Vorgesetzten, Supervisory Deputy US Marshal Sam Kage.
„Beim dritten Klingeln antworten“, erwiderte ich automatisch.
„Und was ist dann Ihre Entschuldigung?“
„Ich habe mit Ian gesprochen.“
„Nein, ich habe mit Doyle gesprochen. Nächster Versuch.“
„Nun, ich habe vor Ihnen mit ihm gesprochen.“
„Warum sind Sie nicht bei ihm?“
„Das ist wirklich eine gute Frage.“
„Wie bitte?“
Scheiße.
„Ich frage Sie erneut: Warum sind Sie nicht an Ihr Telefon gegangen?“
Ihn in irgendeiner Sache anzulügen, sei sie nichtig oder wichtig, war ein großer Fehler. „Ich kann meinen Ohrhörer nicht finden.“
„Wie bitte?“
Doppelt Scheiße.
„Wo haben Sie ihn?“, knurrte Kage.
„Er muss hier irgendwo sein.“
„Da Sie nicht über den Ohrhörer telefonieren, darf ich wohl annehmen, dass Sie Ihr Telefon in der Hand halten.“
Kein Kaffee und Kage am frühen Morgen. Scheißleben. „Jawohl, Sir.“
„Fahren Sie auf die Seite und finden Sie Ihren Ohrhörer, Jones.“
Dem Verfahren musste genüge getan werden. Nachdem ich kurz vor der Auffahrt auf die Autobahn auf dem Seitenstreifen angehalten hatte, barg ich den Ohrhörer von ganz unten im Handschuhfach, setzte ihn ein, schloss mein Handy an und sagte Kage, er könne loslegen.
„Wie bitte?“, fragte er gereizt.
Es war, als hätte ich Benzin ins Feuer gegossen. Während ich mit der Stirn gegen das Lenkrad schlug, betete ich, dass er mir einfach sagen würde, was er mir zu sagen hatte.
„Ich will, dass Sie raus nach Washington Park fahren und dort von den Detectives vom Sittendezernat Kemen Bentley übernehmen. Er ist Staatszeuge im Prozess gegen Taylor Ledesma, seinen ehemaligen Geliebten, ist aber aus der Schutzhaft geflohen. Bei einer der aktuellen Großrazzien von Sitte, FBI und Staatspolizei gegen die Prostitution von Minderjährigen haben sie ihn in einem der Hotels aufgefunden und festgenommen. Ich will, dass Sie und Doyle ihn zurückbringen.“
„Jawohl, Sir.“
„Doyle ist bereits vor Ort.“
„Roger.“
„Sorgen Sie dafür, dass er Sie ab heute anruft oder per SMS verständigt.“ Wie es seine Art war, legte er ohne ein weiteres Wort auf.
Ich rief Ian an.
„Scheiße.“
„Das war lustig“, sagte ich mit dick aufgetragenem Sarkasmus.
„Ich hab Mist gebaut.“
„Ja, hast du.“
„Ich war müde.“
„Er ruft dich nur an, weil Doyle in seinem Telefonbuch vor Jones kommt.“
„Weiß ich auch.“
„Benutz dein Handy richtig.“
„Scheiße. Ja, schön, in Ordnung. Werde ich tun.”
Ich fühlte mich besser. „Okay.“
„Und ich hatte keine Zeit fürs Frühstück“, beschwerte er sich. „Nicht mal für Kaffee.“
„Wessen Schuld ist das?“
„Hör auf zu meckern.“
„Ich meckere nicht, ich sage es nur. Und ich hasse es, nicht zu wissen, wo du bist. Das ist genau so, wie wenn du in den Einsatz gehst, und … aber das weißt du.“
„Tue ich“, sagte er mit belegter Stimme.
„Ja, also“, begann ich und bemerkte dabei, wie jämmerlich ich klang. „Wenn du verschwindest, während du hier bist – das ist scheiße, Ian.“
Schweres Seufzen von ihm. „Kommt nicht wieder vor.“
„Ich bin dein Partner. Ich sollte immer wissen, wo du bist.“
„Ja.“
„Okay.“ Ich lächelte in mein Handy. „Also, was Essen angeht. Wir holen uns was, wenn wir den Zeugen in Gewahrsam genommen haben, okay?“
„Du wirst also nicht den ganzen Tag über motzig sein?“
„Na und wenn schon? Du sitzt ja nicht mit mir im Auto.“
„Was? Nichts da. Wenn wir zur Dienststelle zurückkommen, bleibt dein Auto stehen.”
„Vielleicht will ich aber heute selber fahren.“
„Nein.“ Er mochte es nicht, wenn ich im Auto telefonierte, nicht einmal mit Ohrhörer, weil er fand, ich sei kein guter Fahrer. Er regte sich immer fürchterlich auf, wenn ich auch nur ein klein wenig durch irgendetwas abgelenkt war.
„Du kannst nicht einfach nein sagen, Ian. Dein Wort ist nicht Gesetz.“
„Ist es nicht?“ Jetzt zog er mich auf.
„Lern fliegen.“
Er kicherte. „Was hältst du von Pizza heute Abend? Da hab ich jetzt richtig Lust drauf.“
„Wir haben noch nicht mal gefrühstückt.“
„Ja, aber du weißt doch, ich plane gerne im Voraus.“
Ich wusste das. „Vielleicht möchte Emma mit dir ausgehen.“
„Aber nicht Deep dish“, sagte er und ignorierte mich unbekümmert. „Ich will die Klassische mit dünnem Boden.“
„Niemand in Chicago isst die so.“
„Ich schon.“
„Du zählst nicht.“
„Ich zähle wohl.“
Ja, das tat er. Er zählte mehr als alle anderen.
„Ich bin dein Partner, du musst dich um mich kümmern.“
Die Worte, die aus seinem Mund kamen, ohne dass er hörte, was er da sagte? Sie waren bemerkenswert.
„Bier oder Wein?“, fragte ich in dem Versuch, an meinem Ende die Normalität wieder herzustellen.
„Oh, Mann“, meckerte er. „Wein? Zu Pizza?“
So viel Verachtung in seiner Stimme. „Na schön, ich habe verstanden. Bier.“
„Wo bist du jetzt?“
„Ich sollte in zwanzig Minuten da sein. Wenn vor mir nicht der morgendliche Berufsverkehr läge.“
„Okay“, seufzte er. „Dann geh ich mit den Jungs von der Sitte rein.“
Ich prustete vor Lachen.
„Mann, wie alt bist du eigentlich?“
„Kein Kaffee“, erinnerte ich ihn.
„Richtig“, stimmte er beinahe traurig zu.
„Was klingst du auf einmal so komisch?“
„Nur so.“
„Nichts nur so“, sagte ich mit Überzeugung, denn ich kannte ihn zu gut, hatte jede Nuance seiner Stimme kategorisiert und mir ins Gedächtnis eingeprägt. Er konnte nichts vor mir verstecken. „Was ist los?“
„Es ist zu spät, um dein Schicksal zu überdenken, M. Du hast mich jetzt am Hals.“
„Wo kommt das denn auf einmal her?“
„Ach nur, du weißt schon … Ich bin kein sehr umgänglicher Mensch.“
„Oh, mein Freund, das weiß ich sehr wohl.“
„Halt den Mund.“
„Und ich würde nicht mal im Traum daran denken, mir einen neuen Partner zuzulegen.“
„Okay“, sagte er mit rauer Stimme, dann legte er auf.
Die Fahrt hätte vielleicht fünfundzwanzig Minuten dauern sollen, aber ich fuhr durch den morgendlichen Berufsverkehr auf der I-90 East nach Washington Park. Ich konnte von Glück sagen, wenn ich vor Weihnachten dort ankommen würde.
Als ich endlich am Ort der Razzia angekommen war, hatte ich die Nase von meinem Auto gründlich voll. Froh, meine Beine strecken zu können, stieg ich aus meinem Truck aus und ging um ihn herum zu dem deVille und öffnete dessen Kofferraum. Da er unser Dienstfahrzeug war, hatten wir beide Schlüssel für ihn. Ich zog meine Jacke und meinen Blazer aus, legte meine kugelsichere Weste an und beäugte dann die leichte, wasserabweisende Einsatzjacke. Die Verfahrensvorschrift sagte, dass ich sie anlegen musste, aber es war saukalt, und mein Parka mit dem Schriftzug „US Marshal“ auf dem Rücken war zu Hause. Andererseits war es gut möglich, dass ich zumindest angeschossen wurde, weil keiner wusste, wer ich war. Und ich konnte mir lebhaft vorstellen, was Kage dazu zu sagen haben würde, und viel mehr noch, was er mit mir machen und wie meine neue Jobbezeichnung lauten würde. Man legte sich nicht unbedacht mit ihm an.
Nachdem ich wieder in Blazer und Jacke geschlüpft war, zog ich die Einsatzjacke darüber, dann nahm ich meine Dienstmarke von der Kette, an der ich sie getragen hatte, ab und klemmte sie an meinen Gürtel.
„Miro!“
Ich hob den Kopf und entdeckte Ian; er trug ein langärmeliges Shirt mit der Aufschrift „US Marshal“ auf den Armen, seine Weste, khakifarbene Cargohosen und eine Baseballmütze.
„Ganz leger heute, Marshal“, neckte ich ihn, als ich näherkam.
Er zuckte die Schultern. „Ja, ja, wir hätten’s beide sein sollen, aber da ich den Patzer gemacht hab, nehme ich an, dass ich heute den größten Teil erledigen darf.“
„Ooh, du armes Ding du.“
„Sag ich ja.“
„Na, zumindest sollte ich heute sauber bleiben“, scherzte ich, als ich an seine Seite trat. Aber nicht zu nahe, denn ich sehnte mich danach, ihn zu berühren, und so blieb ich bewusst auf Distanz.
Aber dann trat er mit einer seiner üblichen schnellen, fließenden Bewegungen direkt in meine Distanzzone. „Du hast gesagt, du wärst nicht sauer.“
„Bin ich auch nicht“, sagte ich mit belegter Stimme.
„Dann verhalte dich auch so.“
„Okay“, sagte ich im selben Moment, in dem ein Mann durch die Eingangstüren platzte und über den Parkplatz raste.
Es geschah so schnell. Ich sah die Männer, die ihn verfolgten, erkannte selbst auf die Entfernung die Buchstaben „FBI“ auf ihren Einsatzjacken und rannte los, sprintete zwischen den Autos hindurch, um den Mann abzufangen, von dem ich vermutete, dass er ein flüchtiger Tatverdächtiger war. Ich schlug einen großen Bogen, umging die anderen Verfolger und kam rechts von ihm aus. Ich warf mich ihm in den Weg und erwischte ihn an der Schulter, und wir gingen zusammen zu Boden, rollten und rutschten über Schnee und Schotter, bis ein Auto uns bremste.
Bereits völlig außer Atem blieb mir komplett die Luft weg, als der Mann sich auf meiner Brust hochdrückte und versuchte, auf allen Vieren davonzukrabbeln.
„Keine Bewegung, Arschloch“, brüllte Ian, der auf uns zurannte, seine Glock auf den Kopf des Mannes gerichtet. „Verdammt noch mal, keine Bewegung!“
Ich rang nach Luft, als der Mann überrannt wurde, sie ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt stießen und nach Waffen absuchten. Als ich mein Handgelenk hob, um nachzusehen, ob der Gips noch heil war, ließ ein stechender Schmerz mich wissen, dass ich es mit dem Angreifen und zu Boden werfen langsam angehen sollte, bis ich wieder einhundert Prozent hergestellt war.
„Die Hände hoch“, schrie einer der Agenten, als er um das Heck des Toyota Camrys herumgeeilt kam, gegen den wir gerollt waren, die Waffe auf mich gerichtet.
„Einen Scheiß sagst du!“, schrie Ian und packte den Mann, hob ihn von den Füßen und warf ihn über den Kofferraum, einen Arm gegen seine Kehle gepresst. „Das ist verdammt noch mal ein US Marshal, auf den du deine verdammte Waffe da richtest!“
Viel Bewegung um mich herum, dann wurde ich auf die Füße gezogen, während vier State Trooper Ian von dem Agenten wegzogen und ihn zurückdrängten, bis er seine Waffe einsteckte.
„Wie wär's mit einem Dankeschön dafür, dass er euren Verdächtigen eingefangen hat“, knurrte Ian.
Ich zwängte mich durch die Menge, packte seine Weste und stieß ihn rückwärts, bis wir aus dem Pulk heraus waren und allein neben dem Getümmel standen.
„Hey“, sagte ich leise, die Hände an beiden Seiten seiner Weste. Ohne mein Dazutun glitten sie hinunter zu seinen Hüften.
„Fickt euch!“, schrie er sie an. „Man zieht seine Waffe erst, wenn man weiß, worauf zum Teufel man schießen soll!“
Er war in Rage, und es war nur der Tatsache zu verdanken, dass ich beim Bankdrücken mehr stemmen konnte als er – ich hatte mehr Muskeln, er war größer –, dass ich ihn zurückhalten konnte.
„Hey“, sagte ich erneut.
Sein Blick flackerte zur Seite und begegnete meinem.
„Danke für die Rückendeckung.“
„Immer“, grollte er. „Weißt du doch.“
Wusste ich auch.
„Du blutest.“
Ich zuckte die Schultern. „Jedes Mal, weißt du doch.“
„Ist dein Handgelenk okay?“, fragte er und griff danach, drehte den Gips in seinen Händen und sah selbst nach, bevor ich eine Antwort formulieren konnte.
„Alles in Ordnung.“
„Lass den verdammten Scheiß“, sagte er böse und ließ mich los, anscheinend zufrieden mit dem Zustand des Gipsverbands. „Warte gefälligst auf mich.“
„Das werde ich.“
„Miro!“
„Versprochen“, erwiderte ich mit einem leisen Lachen. „Reg dich nicht unnötig auf.“
Es war immer ein wenig seltsam, mit anderen zusammen zu ermitteln, aber da das FBI die Leitung des Einsatzes innehatte, war es nicht so schlimm, als wenn wir es mit der Chicagoer Polizei oder den State Troopern zu tun gehabt hätten. In den Fällen gab es nur zu oft eine Menge Gerangel und Posieren, und ich war schon mehr als einmal versucht gewesen, ihnen allen zuzurufen, sie sollten die Hosen runterlassen und ich würde mit dem Lineal kommen und den Gewinner verkünden. Unglaublich albern.
Der Spezialagent, der das Einsatzkommando innehatte, entschuldigte sich bei mir dafür, dass einer seiner Männer die Waffe auf mich gerichtet hatte, und dann wartete er darauf, dass Ian dasselbe tat.
„Was?“, fragte mein Partner gereizt.
Er schüttelte den Kopf und führte uns in das Hotelzimmer, wo unser entflohener Zeuge mit gelangweiltem Gesichtsausdruck auf dem Waschtisch saß, die Füße ins Becken gestellt.
„Mr Bentley“, grüßte ich ihn.
„Herzchen, du weißt schon, dass du blutest?“
Ich zuckte die Schultern und betrat vor Ian den Raum. „Wo bist du gewesen, Kemen?“
