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»Would you say yes? If you had one chance in your life, take it and never think twice. You’ll never will know, what would be the best. Would you say yes?« Maxine ist siebzehn Jahre alt, Schülerin. Sie führt ein ganz normales Teenager-Leben. Doch ihre Familie ist ein wenig anders. Statt die Ferien auf dem Reiterhof zu verbringen, steht sie hinter Bassboxen auf Metal-Konzerten und schaut ihrem Vater dabei zu, wie er die Menge zum Toben bringt. Ihr wird schnell klar: Das will sie auch! Sie will ein Rockstar werden, genau wie Jaakko Salmela. Der Flyer einer Casting-Show kommt ihr gerade recht und sie bewirbt sich, obwohl sie genau weiß, was ihr Vater von einer Karriere dieser Art hält. Seine Vorschläge dauern ihr viel zu lange. Schneller als sie denken kann befindet sich die talentierte junge Frau in einer Casting-Maschinerie. Und als ihr dann auch noch ein Dutzend geheimnisvoller Pillen aus Jaakkos Taschen entgegenfallen, verliert die schillernde Welt der Musik ganz schnell ihren Glanz. Dies ist der zweite Teil der Sing to me – Reihe. Der Roman ist in sich abgeschlossen. Für ein umfassendes Leseerlebnis empfiehlt es sich allerdings, die Bücher in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Band 1: Sing to me: Wicked Love Band 2: Sing to me: Wildchild Band 3: Sing to me: Sad but true
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Sing to me – Wildchild
Roman
Von Danara DeVries
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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1. Auflage, 2019
©Danara DeVries – alle Rechte vorbehalten.
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06869 Coswig (Anhalt)
Email: [email protected]
Cover: Coverup - Buchcoverdesign - Bianca Holzmann (www.cover-up-books.de) unter Verwendung der Bilder ©Shutterstock.
Korrektorat: Hunter Lektorat
Lektorat Buchstabenpuzzle B. Karwatt, www.buchstabenpuzzle.de
Bildmaterial: Adobe Stockphotos, ©Matthias Enter
Verwendete Schriftarten: Linux Libertine O, Times New Roman, Raustila (TT), Trajan 3 Pro, Arial
-- Alle Rechte vorbehalten! --
Would you say yes?
If you had one chance in your life,
take it and never think twice.
You’ll never will know,
if it would be the best.
Would you say yes?
Bisher erschienen:
Teil 1
Sing to me: Wicked Love
Teil 2
Sing to me: Wildchild
Teil 3
Sing to me: Sad but true
Gespannte Erwartungshaltung liegt in der Luft und erzeugt eine erstickende Atmosphäre. Sie raubt mir den Atem, lässt den Puls rasen. Mein Herz hämmert aufgeregt.
Ich bin kurz davor, die Flucht zu ergreifen. Wie ein Reh, das in die Scheinwerfer eines näherkommenden Autos glotzt, stehe ich im Rampenlicht. Es ist genau das, was ich wollte. Die Hitze. Diese elektrisierende Atmosphäre – wie die Ruhe vor dem Sturm.
Jeder der hier Anwesenden weiß, dass etwas passieren wird: Wird sie singen oder wird sie die Nerven verlieren?
Viele vor mir konnten dem Druck nicht standhalten. Aber ich kann es schaffen – rede ich mir zumindest ein.
Erst vor Kurzem habe ich herausgefunden, dass dies hier das Leben ist, das ich will. Instinktiv habe ich es aber schon immer gewusst. Und jetzt ist es soweit. Ich wollte singen und ich werde singen.
Meine Mundwinkel biegen sich zu einem Lächeln und ich schließe die Augen. Statt unter den erwartungsvollen Blicken nachzugeben, sauge ich sie in mir auf und lasse mich von ihnen tragen.
Ich greife nach der Stange des Mikrofons und atme tief durch. Los, das hier ist nicht anders als in der Aula vor meinen Mitschülern ein Liedchen zu trällern.
Mein Blick schweift zur Seite. Jaakko lächelt mir zu und zeigt mir einen nach oben gereckten Daumen. Schmerzlich lächle ich und vermisse Papa. Jaakko ist hier, aber er ist nicht Dennis. Bei meinem ersten öffentlichen Auftritt war Jaakko dabei, hat mich begleitet und mir mit seiner Erfahrung Selbstvertrauen geschenkt. Und heute ist er wieder hier. Wie schön wäre es gewesen, wenn auch Papa – mein Ziehvater Dennis – mich gesehen hätte. Er wäre bestimmt stolz gewesen.
Heute stehe ich allein und muss auf ihn verzichten … weil das Schicksal ihn mir genommen und dafür einen anderen an seine Stelle gesetzt hat. Jaakko Salmela, den Rockstar.
Ich straffe die Schultern und blinzle in die blendende Helligkeit. Ich kann nichts erkennen. Nur das Flutlicht. Vielleicht ist es gut so. Niemand, der Grimassen zieht, wenn ich einen Ton nicht treffe.
Nein, ich werde nicht versagen. Ich werde es ihnen zeigen. Die Bühne ist mein Leben! Dafür wurde ich geboren.
Alle Zweifel, alle Bedenken sind mit einem Mal wie weggeblasen, als die ersten Riffs von ›The Best‹ ertönen. Eintausend erwartungsvolle Blicke, doch ich konzentriere mich nur auf die drei Jury-Mitglieder, die über die Richtung meiner Karriere entscheiden werden. Versage ich in aller Öffentlichkeit – denn das hier ist eine Live-Show – wird die ganze Welt es erfahren und mein Bühnenleben ist zu Ende, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Aber wenn ich das hier hinkriege …
Als mein Einsatz kommt, lasse ich meine Stimme hell und klar erklingen und erinnere mich an den Augenblick, als ich mich für ein Leben im Rampenlicht entschied. Nicht etwa der Auftritt, als ich zur Abschlussfeier der 12. Klasse gesungen habe, nein. Der Moment kam viel später und drehte sich wie immer um Jaakko Salmela …
[Zwölf Monate zuvor]
»Max!«, ruft meine Schwester über den Lärm hinweg und zieht mich aufgeregt hinter sich her. »Beeil dich! Sie sind gleich dran!«
Lachend lasse ich mich von ihr mitziehen. Malin stürmt die scheppernde Metalltreppe hinter dem Bühnenaufgang hinauf, vorbei an der Security. Die drei muskelbepackten Sicherheitsleute stehen am oberen Ende der Treppe und mustern sie kritisch. »Wir gehören zu Moonstuck«, rufe ich ihnen zu, während ich meine Schwester festhalte und mein grünes Armband hochhalte. Malin gibt ein mauliges Geräusch von sich, doch wir müssen uns zumindest kurz ausweisen, eh wir den Backstage-Bereich betreten dürfen.
»Familie?«, fragt einer der Kerle und schiebt seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze. »Salmela?«
Ich grinse verschämt und denke an meine Haare. In der Regel brauche ich auf solchen Konzerten nicht einmal das grüne Armband, dass mich als ›VIP‹ ausweist. Es reicht meine Haarfarbe! Verlegen weiche ich den Blicken der Security aus und lasse mich von Malin mitziehen.
Meiner kleinen Schwester passiert so etwas nicht. Wir haben unterschiedliche Väter. Meine – unsere – Familie ist anders; ein wenig kompliziert, verstörend kompliziert. Während mein leiblicher Vater sich gerade auf das anstehende Konzert seiner Band vorbereitet, ist Malins Vater vor zwei Jahren gestorben. Seitdem dürfen wir statt einem langweiligen Kleinstadt-Leben ab und zu den Showrummel genießen. Den Lärm der Fans und die harten Gitarrenriffs der Band, die vor Moonstuck aufspielt, höre ich praktisch nicht mehr. Ich war schon so oft hinter einer Bühne, dass ich die Geräusche kaum noch wahrnehme.
***
»Ich hasse Festivals«, knurrt Jaakko zur Begrüßung, als wir ihn und Mom erreichen. Er fasst seine langen blonden Haare zusammen, hebt sie an und dreht sich einmal im Kreis, damit der Tontechniker ihm beim Umschnallen seiner Bassgitarre behilflich sein kann.
»Hey, Mädels!«, begrüßt uns der Techniker und befestigt ein kleines Kästchen an Jaakkos Oberschenkel, in das er eine Menge Cinchstecker steckt, die an Jaakkos Bein hinauf bis zum Gürtel führen.
»Der Dreck, die vielen Leute, keine gescheite Security, nirgendwo eine Klimaanlage und Sauerstoff ist in einem Umkreis von einhundert Metern ein Fremdwort!«, mault Jaakko und verzieht wehleidig das Gesicht. »Und dann diese Hektik! Eine Band nach der anderen; wie am Fließband …«
»Und keine Zeit, herumzutrödeln, ne? Einfach mal 'ne halbe Stunde später auf der Bühne sein – wen juckt das schon?« Mom taucht neben ihm auf, stellt sich auf die Zehenspitzen und gibt ihm einen Kuss auf die Nase.
Jaakko schnaubt verächtlich. Das hat Moonstuck auf ihren eigenen Konzerten öfters mal drauf, sodass die Verspätung fast schon zum Markenzeichen wird. Dreißig Minuten sind gar nichts. Dafür wird ihr Programm aber auch nicht blind heruntergespult. Sie geben zwei Stunden Vollgas inklusive einer saftigen Zugabe.
»Nur noch heute Abend. Ab morgen haben wir vierzehn Tage nur für uns«, tröstet ihn meine Mutter.
Mom erlaubt uns nicht oft, bei Jaakkos Gigs dabei zu sein, doch da wir morgen in aller Frühe nach Italien wollen und es das Abschluss-Konzert des Festivals ist, dürfen wir dabei sein.
Es sind Herbstferien. Meine letzten richtigen Ferien, bevor der Lernstress nächstes Jahr losgeht. In ein paar Monaten mache ich Abitur und dann … ja, was dann? Eigentlich sollte ich zu Hause sitzen und lernen, aber Mom meinte, dass ich das genauso gut in Italien am Strand machen kann.
Wir brauchen dringend Urlaub, allen voran Jaakko. Er wirkt extrem genervt. Die letzten Monate waren anstrengend und wir haben ihn praktisch seit dem Jahreswechsel nicht mehr gesehen. Welttournee wegen des neuen Albums: Die Jungs und Merja – die Sängerin von Moonstuck – waren die Wintermonate in Südamerika unterwegs. Im Frühjahr haben sie das Release des neuen Albums vorbereitet und über den Sommer treten sie auf Festivals auf und im Herbst wird durch Europa getourt. Die Herbstferien sind bis Ende des Jahres unsere einzige gemeinsame Zeit.
In den vergangenen zwei Jahren ist Moonstuck die Erfolgsleiter stetig nach oben geklettert, was nicht zuletzt Jaakkos medialer Präsenz und seinen guten Sprachkenntnissen zu verdanken ist. Merja ist zwar stets dabei, wenn Moonstuck die Werbetrommel rührt, aber sie spricht nur wenig Deutsch und verständigt sich hauptsächlich in Englisch. Dazu schlug das neue Album ›Heaven’s Fall‹ ein wie eine Bombe, was dazu führte, dass die Band sogar Headliner eines Festivals in Polen wurde: Metal Mania hat in der Regel knapp fünfzigtausend Besucher, aber als Hauptakt aufzutreten ist durchaus etwas Besonderes und bedeutet zusätzlichen Stress für die Band und alle Beteiligten.
Mom wirkt besorgt. Überhaupt scheint sie parallel zu Moonstucks Erfolg bekümmerter zu werden. Ich glaube, sie befürchtet, der zunehmende Ruhm der Band könnte sich negativ auf Jaakkos Alkoholsucht auswirken. Er ist zwar seit Jahren trocken, doch der Stress könnte dazu führen, dass er rückfällig wird. Ständig ist sie bekümmert.
So auch jetzt. Sie betrachtet ihn eindringlich, die Sorgen stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Doch als er den Kopf schüttelt und ihr mit einem Lächeln versichert, dass er alles im Griff hat, erwidert sie seinen Blick und nickt. Es wirkt aufgesetzt und dient womöglich nur dazu, sich selbst etwas vorzumachen.
Ihre Augen huschen zu mir. Mit einem Lächeln versuche ich, sie zu beruhigen. Das tue ich immer, wenn sie nervös ist. Sie hat schon mehrmals angemerkt, dass er sich zu viel zumutet. Deshalb auch der Urlaub. »Ihr solltet kürzertreten«, merkt Mom an.
Jaakko atmet tief durch. »Kein Problem, ich schaffe das schon.« Er beugt sich vor und drückt ihr einen Kuss auf den Mund.
Mom rollt mit den Augen. »Urlaub, morgen. Dann ist erst einmal Schluss mit dem Stress.«
»Yes, Ma’am!« Er salutiert vor ihr und schlägt die Hacken seiner schweren Bikerstiefel zusammen, allerdings ohne dabei die Haare loszulassen. Der Techniker beschwert sich murrend über die Störung. »Tschuldigung, ich halte ja schon still!«
»Wäre besser so, ich muss Jesse auch noch verkabeln.« Nur wenige Sekunden später erhebt Chips sich. »Soweit fertig. Ich hole nur noch schnell deinen Bass.«
Jaakko lässt die Haare sinken und atmet noch einmal tief durch. Gleich geht es los. Mein Magen zieht sich vor Aufregung zusammen und ich tripple unruhig hin und her. Meine Nerven kribbeln. Doch nicht bei Jaakko. Er wirkt völlig entspannt, schnappt sich Malin und wirbelt sie herum. Sie lacht und quiekt und zappelt so lange, bis Chips mit zusammengepressten Zähnen droht, Jaakkos Gitarre, die er inzwischen aus der gepolsterten Transportkiste geholt hat, fallenzulassen.
Jaakko rollt mit den Augen, gibt aber nach. Doch bevor er den Bass entgegennimmt, umarmt er erst meine Mom und dann mich. »Drückt mir die Daumen«, murmelt er. »Wird schon schiefgehen.«
Ich schnaube belustigt. Gar nichts wird schiefgehen. Er fühlt sich dort draußen zu Hause, die Bühne und die Musik sind sein Leben und sobald er vor die Menge tritt, vergisst er alles um sich herum. Doch die Familie – wir – bedeuten ihm genauso viel, wie sich in den letzten Jahren herauskristallisiert hat. Und der Spagat zwischen seiner Karriere und uns ist eine ständige Herausforderung.
»Fünf Minuten, dann seid ihr dran.« Chips nickt uns zu und verschwindet, um Jesse beim Anlegen seiner Technik behilflich zu sein.
Die Vorgruppe hat gute Arbeit geleistet. Die Menge tobt und fiebert Moonstuck entgegen. Jaakko geht nervös auf und ab und hat fast einen Trampelpfad in den Boden getreten. Jetzt, kurz bevor es losgeht, ist er doch ein bisschen aufgeregt. »Ihr müsst nicht hier herumstehen«, wirft er bei der nächsten Kehrtwende ein und deutet auf einen Vorbau seitlich der Bühne, von wo aus man einen guten Blick auf die spielende Band hat. »Ihr könnt dort oben in der VIP-Lounge stehen und von dort aus alles beobachten und die Stimmung aufsaugen.«
Mom will schon losziehen, aber ich halte sie zurück. »Nein, hier unten ist es viel besser«, widerspreche ich und linse am Vorhang vorbei auf die Bühne, wo die Vorgruppe gerade ihre letzte Zugabe gibt. Es ist schon laut, aber nicht so laut, dass man sich nicht unterhalten könnte. Immerhin stehen wir hinter den Lautsprechern, die den Klang in Richtung Publikum abgeben. »Hier spürt man es viel besser als dort oben.«
Jaakko grinst. »Geil, was?«
»Absolut.« Ich gestehe mir selbst ein, dass ich schon ein wenig neidisch bin. Ich will auch auf der Bühne stehen und zu einer Zugabe nach der anderen aufgefordert werden.
Jesse erscheint von links, die Lead-Gitarre baumelt salopp an seiner Schulter. »Bereit?«, fragt er an Jaakko gewandt. Dieser holt tief Luft, schnappt sich seinen Bass und stellt sich direkt hinter den Vorhang. Er wird als Erster die Bühne betreten.
Der Eröffnungssong beginnt mit einem Bass-Solo, bevor Matti die Melodie mit dem Schlagzeug aufnimmt. Daraufhin folgen die anderen Bandmitglieder. Jesse steigt mit seiner Lead-Gitarre ein und Tenho untermalt die Gitarrenriffs mit melodischen Keyboardklängen. Erst wenn der Song richtig in Gang ist und die Menge jubelt, betritt Merja die Bühne. So baut sich Stück für Stück der Eröffnungssong auf.
Ich schaue am Schlagzeug vorbei, wo ich die dunkelhaarige Merja sehe, die bereits ihr Mikro in der Hand hält und die Jungs beobachtet. Gespannt wartet sie auf ihren Einsatz. Heute trägt sie eine eng anliegende schwarze Korsage, einen weiten Rock, der über den Knien gerafft ist und dazu dunkle Netzstrümpfe. Hammer Outfit!
Merja bemerkt meinen Blick und winkt mir zu. Wir verstehen uns ganz gut. Manchmal singen wir zusammen, wovon unsere beiderseitigen Sprachkenntnisse profitieren. Sie lernt etwas Deutsch und ich versuche, mein Englisch aufzubessern.
Mom stellt sich neben mich und deutet auf Jaakko, der jetzt den Vorhang beiseiteschiebt und mit weit ausgebreiteten Armen die Bühne betritt. Die Menge grölt.
Die angespannte und zeitgleich euphorische Stimmung der Band ist nun deutlich spürbar. Sie geht auf alle Helfer und Mitarbeiter über. Ein Konzert hinter der Bühne anzusehen, ist etwas ganz Besonderes. Man sieht die Band nur von hinten, in meinem Fall Jaakko und Tenho, der am Keyboard steht und mit eingängigen Melodien einheizt. Wenn ich mich etwas vorbeuge, kann ich Merja sehen. Sie singt aus Leibeskräften, winkt dem Publikum zu und übernimmt die Ankündigungen.
Bei ihr sieht es so einfach aus, und doch kann ich erahnen, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Ich habe es ja selbst erlebt; doch vor einem kleinen Publikum zu singen ist etwas völlig anderes. Achtzig oder achtzigtausend machen einen gewaltigen Unterschied. Ich kann mir die Nervosität und das Lampenfieber nicht einmal ansatzweise vorstellen. Ich will zwar auch irgendwann auf einer so großen Bühne singen, doch ich habe keine Ahnung, ob ich die Nervenstärke aufbringe, da rauszugehen.
Jaakko scheint uns oder das, was hinter der Bühne passiert, gar nicht wahrzunehmen. Seine Augen sind geschlossen, und er lächelt selig, so als sei dies der einzige Ort auf der ganzen Welt, wo er sich wohlfühlt. Vorhin hat er behauptet, Festivals zu hassen, aber das sieht man ihm nicht an. Keine Spur mehr von seiner schlechten Laune, nur die Musik scheint zu zählen.
Meine Gedanken tragen mich zurück zu dem Moment vor dem Schulauftritt vor zwei Jahren. Ich erinnere mich an das Lampenfieber, wie ich damals mit mir gerungen habe. An die Versagensängste, davor, mich lächerlich zu machen. Doch als ich mich endlich überwinden konnte, war meine Angst wie weggeblasen und es blieb nur diese … Euphorie. Genau das Gefühl sehe ich jetzt bei Jaakko. Ich will es auch wieder fühlen. Ich möchte dort draußen stehen, die Menge unterhalten, singen, lachen und von der aufgeheizten Stimmung davongetragen werden.
Ja. Genau das will ich.
»Sag mal, wie bist du eigentlich zur Musik gekommen?« Die fixe Idee vom gestrigen Abend gärt unablässig in mir. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Und wenn ich jemals genau wie Jaakko auf der Bühne stehen will, dann muss ich wissen, wie er angefangen hat. Das bisschen Klavierunterricht, den ich als Kind hatte, und die Übungsstunden, die Jaakko mir an der Gitarre gibt, reichen bestimmt nicht aus. Ich befürchte, dass er meine Pläne nicht gutheißen wird, aber ich muss ihn fragen, wie er angefangen hat.
Jaakko ist weit in den Beifahrersitz gerutscht, hat die Beine auf dem Armaturenbrett abgelegt und gibt vor zu schlafen. Diese Frage ist nicht mein erster Versuch. Beim Frühstück hat er mir bereitwillig geantwortet, aber langsam wirkt er genervt. »Das weißt du doch«, mault er. »Mein Dad hat Gitarre gespielt und deshalb hab ich auch angefangen.«
»Wie alt warst du da?«
Jaakko seufzt und schielt zu Mom. Sie steuert unseren alten Ford über die Autobahn Richtung Süden und eigentlich hat sie mich gebeten, mit Malin Dongle zu spielen. Aber meine Schwester braucht schon ewig für den nächsten Zug, daher nutze ich die Pause für meine ›Nachforschungen‹.
»Zwölf«, antwortet Jaakko und zieht sich das Basecap tief in die Stirn.
»Und was hast du dann gemacht? Ich meine, hattest du in der Schule Unterricht, oder …?«
»Max!« Er dreht sich ruckartig im Sitz um und sieht mich finster an. »Was soll diese Fragerei?«
Erschrocken fahre ich zusammen und senke schuldbewusst den Kopf. »Na ja«, murmele ich und lege die Karten beiseite. »Mir hat das Singen damals in der Aula ziemlich Spaß gemacht und ich dachte, dass ich vielleicht so etwas ausprobieren könnte … nach dem Abi.« Fakt ist, wenn ich mein Abitur in der Tasche habe, muss ich entscheiden, was aus mir werden soll. Bisher habe ich nicht die geringste Idee. Das gestrige Konzert war mein erstes Mal hinter der Bühne und nicht im VIP-Bereich. So stelle ich mir meine Zukunft vor. Musik könnte meine Zukunft sein. Zumindest fühlt es sich so an. Das Singen liegt mir im Blut.
Jaakko seufzt. »Nein.« Er sieht nicht einmal zu Mom, er verneint einfach. Doch dann scheint er sich zu besinnen und sieht sie doch an.
Sie wirft einen Blick in den Rückspiegel. »Das ist keine gute Idee, Max.«
»Aber wieso nicht? Ich kann singen, das wisst ihr doch! Und was ich noch erlernen muss, kann Jaakko mir beibringen?« Ich deute auf meinen Vater, doch er schüttelt den Kopf.
»Kann ich nicht. Also singen schon, aber zum Singen gehört viel mehr, als ab und zu mal eine gerade Note herauszubringen. Atemtechniken, Stimmmodulationen, Körpergefühl, und vieles mehr. Das kann ich dir nicht beibringen. Ich bin kein Gesangslehrer. Und das lernt man nicht nebenbei. Deine Stimme ist gut, ja, aber wenn du wirklich professionell singen willst, brauchst du eine intensive und langjährige Gesangsausbildung, um dein Potenzial auszuschöpfen.«
»Ich will auf der Bühne stehen«, fordere ich vehement. Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, fällt mir auf, dass ich wie meine kleine Schwester klinge. Fehlt nur, dass ich bockig mit dem Fuß aufstampfe. »Und ich kann singen«, füge ich zu allem Überfluss hinzu.
Jaakko lacht. »Oh ja, das kannst du. Zu Hause im Wohnzimmer vielleicht. Aber es ist etwas ganz anderes, vor achtzigtausend Augenpaaren zu stehen und ein Liedchen zu trällern. Etwas völlig anderes.«
Bei ihm hat es gestern Abend so ungezwungen ausgesehen. Wie er den Auftritt der Band mit seinem Solo einleitete. »Du hast selbst gesagt, dass ich ganz gut singen kann.«
Jaakko atmet tief durch. »Ja, deine Stimme hat Potenzial, aber dich erwartet harte Arbeit, wenn du so wie Merja singen willst. Was sie leistet, erfordert eine knallharte Ausbildung. Deine Stimme kann ohne eine entsprechende Ausformung der Belastung nicht standhalten. Selbst ich habe eine längere Gesangsausbildung hinter mir und ich bin nicht der Lead-Sänger.«
Das hat gesessen. Geschockt halte ich für eine Weile den Mund. »Und wenn das meine Berufung ist? Singen? Auf der Bühne stehen? Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich nach dem Abi machen möchte. Könnte ich nicht …?«, fahre ich fort.
Jaakko sieht zu Mom. Da sie sich auf das Fahren konzentrieren muss, hat sie sich nicht an dem Gespräch beteiligt. Doch als er sie ansieht, tauschen die beiden einen vielsagenden Blick aus. Es wirkt, als würden sie still miteinander kommunizieren. Das tun sie immer, als könnte der eine die Gedanken des anderen lesen. Ich finde es zum Kotzen und fühle mich ausgeschlossen.
»Nein«, sagt Mom. Es klingt endgültig. Bevor wir überhaupt richtig darüber sprechen, fällt sie die Entscheidung. Das ist unfair.
»Aber warum denn nicht? Was muss ich dafür studieren, Jaakko? Gesang? Musik?«
»Max«, setzt er verständnisvoll an. »Das ist kein Leben für dich. Das Business frisst die Menschen auf, es zerstört nur …« Er braucht seinen Satz gar nicht zu beenden. Ich weiß, was er sagen will. Sieh deine Mutter und mich an, was es mit uns gemacht hat!
Das tue ich, ich kenne die Geschichte, was ihm und meiner Mom widerfahren ist. Er war nicht stark genug, den Belastungen der ständigen Auftritte standzuhalten, und hat sich in den Alkohol geflüchtet. Mom hat ihn damals mir zuliebe verlassen. Dass wir jetzt hier zusammen in einem Auto sitzen, ist meinem Papa – Malins leiblichen Vater – zu verdanken. Kurz vor seinem Tod hat er dafür gesorgt, dass Jaakko und Mom wieder zueinanderfinden. Aber auch nur, weil Jaakko endlich seine Abhängigkeit in den Griff bekommen hat: geläutert, abstinent – und mit beiden Beinen fest im Leben.
»Aber du hast es geschafft, oder?« Im nächsten Augenblick bereue ich meine Worte schon wieder. Jaakko hat verdammt viel durchgemacht, um heute hier zu sein.
Er lacht trocken auf. »Das ist jetzt nicht dein Ernst!«
Schweigend lehne ich mich zurück und brüte vor mich hin. Nach einer Weile fängt Malin an zu quengeln, dass ich wieder mit ihr Dongle spielen soll. Das nervt tierisch. Also schlucke ich meinen Ärger hinunter und mache teilnahmslos mit. »Und wenn ich irgendetwas in Richtung Musik studiere und nebenbei Gesangsunterricht nehme?«
»Max!«, ermahnt mich Mom warnend. »Ich möchte wirklich nicht, dass du ins Musikgeschäft gehst. Es gibt so viele andere Dinge, die du studieren könntest …«
»Aber ich will nichts anderes. Ich will singen und ich will auf einer Bühne stehen …« Und dann spiele ich eine Karte aus, die absolut unfair ist. Ich schließe die Augen, weil sie vor Frustration brennen. »Ich brauche eure Zustimmung nicht.« Ich bin siebzehn. Seit vergangenem November.
Statt einer saftigen Erwiderung sinkt Jaakko tiefer in den Sitz. »Scheiße, bin ich alt.« Sein flapsiger Kommentar hebt die Stimmung. Statt mich mit frostigem Schweigen zu strafen, weil ich darauf hinweise, dass ich ihre Erlaubnis nicht brauche, machen sie Scherze! Ja, wir sind absolut nicht normal.
Mom lacht schallend los. »Ja, du bist alt. Hast dich aber gut gehalten und bist nicht gänzlich unbrauchbar!« Mom kichert mädchenhaft, während Jaakko sie empört anstarrt.
»Mom!«, mache ich und bin unglaublich froh, dass meine Eltern anders reagieren, als ich erwartet habe. Ich kann ein Grinsen allerdings nicht unterdrücken. Ich will nichts über das Sexleben meiner Eltern erfahren, absolut nichts. Und Malin ist auch noch da. Zum Glück ist sie zu klein, um die Anspielungen zu verstehen.
»Ach komm, Max, stell dich nicht so an!« Jaakko dreht sich im Sitz um und grinst mich unverschämt an. »Du bist schließlich schon achtzehn!«
Ich atme tief durch und starre ihn finster an. »Danke, dass du mich daran erinnerst … Dad!«
Jaakko schnaubt verächtlich und dreht sich wieder in Fahrtrichtung. »Ich habe einen Namen, den du benutzen kannst!« Er hasst es, ›Dad‹ genannt zu werden. Ich liebe es, allein deshalb, weil es ihn an unsere Verbindung erinnert. Trotzdem tue ich es sehr selten. Was das betrifft, bin ich immer noch sehr zwiegespalten. Ich sehe sowohl meinen verstorbenen Papa, der mich aufgezogen hat als auch Jaakko als meinen Vater an. Es ist total verworren. Kann man zwei Väter haben? Irgendwie schon. Als hätten sie sich abgeklatscht. Noch vor zwei Jahren konnte ich nicht an Papa denken, ohne mit den Tränen zu kämpfen. Sein Tod tut immer noch schrecklich weh, aber es ist, als wäre der Verlustschmerz zu einem liebgewonnenen Freund geworden. Er ist bei mir und erinnert mich an ihn.
Bei Jaakko ist es anders. Er ist da und er gibt sich Mühe. Aber in eine richtige Vaterrolle könnte er niemals schlüpfen. Das passt nicht zu ihm. Er ist eben nicht Papa. Er ist Jaakko und das ist gut so.
Wir schieben uns noch ein paar bissige – aber liebevolle – Sticheleien zu, bevor ich wieder auf das eigentliche Thema zurückkomme. Ich habe das dringende Bedürfnis, dieses Gespräch zu Ende zu führen. Im Auto, wo keiner der beiden vor einer Diskussion davonlaufen kann: »Musikwissenschaften wäre eine Möglichkeit.«
Ein genervtes Stöhnen kommt vom Beifahrersitz.
»Wie wäre es mit Betriebswirtschaft?«, versucht Mom vage.
»Langweilig«, widerspreche ich, verkneife mir aber ein Augenrollen. Immerhin macht sie Vorschläge. »Wo kann ich denn Musikwissenschaften studieren? Berlin? Da wohnt doch Tante Helga, oder?« Helga ist Moms Tante und lebt in Potsdam. »Ich wäre dort nicht allein.«
»Helga ist 72, sie kann sich unmöglich um dich kümmern.«
»Keine Ahnung«, mault Jaakko. »Jedenfalls müsstest du ausziehen und das finde ich nicht gut. Ich möchte nicht, dass Cat alleine mit Malin bleibt.«
»Bitte was?« Mom scheint vergessen zu haben, dass sie am Steuer sitzt und wendet sich in einer Neunzig-Grad-Drehung Jaakko zu. »Ich kann mich ja wohl alleine um Malin kümmern!«
»Ja, kannst du. Aber es wäre besser, wenn Max bei euch wohnt …« Jaakkos Worte werden immer leiser, während er ihrem Blick ausweicht. »Du weißt doch …«
Ich weiß, worauf er hinauswill. Mom ist psychisch ein wenig labil. War sie schon immer. Sie neigt zu Panikattacken. Sie hat Papas Tod bis heute nicht verwunden und so häufig von Jaakko getrennt zu sein macht ihr zu schaffen. Es ist kompliziert. Und es war ein langer Weg, bis sie wieder den Anforderungen des Alltags als zweifache Mutter gewachsen war. Papa hat ihr so viel abgenommen, dass sie lange brauchte, um sich zum Beispiel darüber klarzuwerden, welche Zahnpasta sie kaufen soll oder wo er immer so günstig getankt hat. Sie war ein paar Wochen in einer Klinik, hat Medikamente bekommen und im Augenblick geht sie einmal im Monat zu einem Psychologen zur Gesprächstherapie. Seit einem Jahr nimmt sie nicht einmal mehr die Medikamente.
Mittlerweile erkenne ich meine Mom kaum wieder. Sie hat zu einer Lebensfreude gefunden, die ich so noch nie an ihr gesehen habe. Ich finde, sie schlägt sich prima. Und Jaakko sollte das genauso sehen. Außerdem hat er ja kaum Gelegenheit, sich ein Bild von ihrer Entwicklung zu machen, da er ja eh nie Zuhause ist. Papa hatte das so nicht gewollt, aber auch ihm muss klargewesen sein, dass so jemand wie Jaakko nicht permanent Zuhause sein kann. Sein Job nimmt einen zu großen Teil seiner Zeit in Anspruch und niemand käme auf die Idee, ihm das verbieten zu wollen. Von daher finde ich es unfair, dass er mir die Musik abspenstig machen will. Meint er etwa, ich verzichte auf diesen Traum, nur damit jemand da ist, um sich um Mom zu kümmern? Obwohl sie diese Hilfe nicht einmal mehr braucht?
Umso dankbarer bin ich für Moms Schützenhilfe: »Nein, weiß ich nicht! Du kannst nicht von Max verlangen, dass sie auf mich aufpasst. Ich bin erwachsen und ich komme sehr gut alleine zurecht!«, blafft sie Jaakko an. »Also du willst Musikwissenschaften studieren, Max?« Unsere Blicke begegnen sich im Rückspiegel. Natürlich weiß ich, dass sie das nur tut, um Jaakko zu bestrafen.
Trotzdem grinse ich bis über beide Ohren. Ihre Motive sind mir im Augenblick egal. »Ja, irgendetwas, womit ich auf der Bühne stehen kann. ›Gesang‹ wäre auch nicht schlecht. Oder vielleicht sollte ich meine Fähigkeiten an der Gitarre ausbauen.« Vor zwei Jahren hat Jaakko angefangen, mir das Spielen beizubringen. Wir üben, wann immer er Zuhause ist. Wenn ich singen will, kann ich mich jetzt damit selbst begleiten.
»Wir sollten uns informieren, sobald wir wieder zu Hause sind, dann können wir schauen, wie es mit dem angeforderten Numerus clausus aussieht oder ob du Wartesemester hast. Immerhin warst du mal ganz gut im Klavierspiel und deine Tanzerfahrung im Verein ist bestimmt hilfreich.« Mom hat recht. Wenn meine Noten zu schlecht sind, muss ich Wartesemester in Kauf nehmen und ich glaube, gehört zu haben, dass es für ein Studium in diese Richtung Aufnahmeprüfungen gibt.
»Klassischer Gesang«, brummt Jaakko vom Beifahrersitz. »Wenn du wirklich auf die Bühne willst, musst du das studieren. Kann man in Heidelberg. Merja war dort, die Ausbildung ist hervorragend. ›Musical‹ wäre auch eine Option. Immerhin warst du ganz gut bei diesem Rumgehopse.«
»Dad!«, fahre ich ihn genervt an. »Ich war nur deshalb nicht bei den Meisterschaften, weil ich mir den Knöchel verstaucht habe. Ich war also nicht nur ›ganz gut‹! Im Übrigen kannst du das gar nicht wissen, weil du ja nicht dabei warst.« Ich will ihm eigentlich nicht vorhalten, dass er meine Kindheit versäumt hat. »Es ist jedenfalls nicht so, dass ich nicht Nichts kann.«
Mom schielt zu ihm hinüber. »Max hat deine Gene nicht erst seit zwei Jahren«, hüstelt sie. »Musik war schon immer ihr Ding. Sie hat mit Ballett angefangen und mit zwölf in einem Tanzverein getanzt. Rock ’n’ Roll war ihre Paradedisziplin. Damals war sie noch nicht so groß.«
»Aha«, entgegnet er und dreht sich im Beifahrersitz herum. »Na, was kann die junge Dame denn?«
Malin antwortet an meiner Stelle. »Tanzen! Sie war mal beim Ballett und dann hatte sie keinen Bock mehr, weil sie fand, in dem Kleidchen zu dick auszusehen.«
»Stimmt gar nicht!«, maule ich meine Schwester an. »Ich fand nur, dass das im Allgemeinen doof ist. Balett war auf Dauer total uncool und ich wollte lieber was mit mehr Bums machen!«
Jaakko grinst. »Bums, so so.«
»Ja, guck mich nicht so an. Mit mehr …« Mir fehlen die Worte, aber Mom hilft mir aus.
»Es war ihr nicht laut genug.«
»Ja, statt zum Ballett bin ich zum Rock ’n’ Roll.«
»Die Kostüme sind auch viel cooler gewesen«, kräht Malin.
»Und du meinst, mit ein bisschen Tanzen und ein paar Griffen auf der Gitarre kommst du an eine Universität, wo du Gesang und Tanz studieren kannst?«
»Dad, ich habe nicht nur ein bisschen getanzt. Ich war in der Juniorenklasse und wollte eigentlich zur Meisterschaft.« Ich verstumme und Mom fährt an meiner Stelle fort.
»Max hat sich das Fußgelenk verletzt, als sie angefangen haben, akrobatische Elemente auf dem Trampolin einzustudieren. Falsch aufgekommen. Da war erst einmal Schluss«, sie sieht mich mit Bedauern im Rückspiegel an, »danach wollte sie nicht wieder einsteigen. Die Meisterschaften waren gelaufen und …«
»Ich wollte mich auf die Schule konzentrieren.« Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme belegt klingt. Wir – mein Partner und ich – hatten so viel Zeit und Übung in unsere Choreo gesteckt, dass der Verlust der Teilnahme tiefe Wunden hinterlassen hat. Aber Justin hat nicht deswegen den Kontakt zu mir abgebrochen, er ist stinksauer gewesen, dass ich nicht weitermachen wollte. Die Angst, dass ich erneut versagen könnte, saß zu tief. Trampolinsprünge sind das Eine, doch um auf der Tanzfläche Saltos zu vollführen, muss man einander vertrauen. Und ich habe ihm nicht zugetraut, dass er mich auffängt.
Jaakko verzieht das Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. »Das habe ich nicht gewusst.«
Ich verkneife mir den Hinweis, dass er so Vieles noch nicht weiß. Mom sieht mich vielsagend durch den Rückspiegel an. Sie scheint mich beschwören zu wollen, nicht zusätzliches Salz in die Wunde zu streuen. »Macht nichts. Du wirst alles erfahren, was du verpasst hast.«
Jaakko nickt, lächelt verunsichert. »Und, hast du noch weitere geheime Hobbys, von denen ich nichts weiß? Wenn du ein Instrument gelernt hättest, wäre das nicht schlecht. Nur die paar Gitarrengriffe reichen nicht.«
Mom räuspert sich, und ich rolle mit den Augen. »Ja, okay, ist ja gut!«, maule ich.
»Als sie klein war, habe ich sie zur musikalischen Früherziehung geschleift. Ich fand das ganz sinnvoll, um ihre … ähm … Talente zu entdecken.«
Jaakko hüstelt verlegen. »Ah, ja …«
»Drei Jahre Klavierunterricht«, maule ich. Ich habe es gehasst! Aber nicht das Spielen, eher die Lehrkraft. Frau Turner war eine Plage, sie wollte aus jedem Schüler einen Star-Pianisten machen und hat unglaublich viel gefordert, mehr als ich damals leisten konnte. Sie hat mir die Liebe zur Musik für ein paar Jahre verdorben, sodass ich nur noch zum Ballett gegangen bin. Erst seitdem Jaakko da ist, kann ich mich wieder für Instrumente erwärmen.
»Dass du Notenlesen kannst, hab ich gemerkt. Nun gut, wenn du dich wirklich diesem harten Aufnahmeprozess stellen willst, sollten wir den Gitarrenunterricht vertiefen und deine Kenntnisse am Klavier auffrischen. Bei drei Jahren Unterricht muss ja was hängengeblieben sein.«
»Heißt das, du hilfst mir?«
Jaakko holt tief Luft. »Sieh es als kleine Wiedergutmachung, dass ich so lange nicht da war.«
»Oh, Dad!«, jubele ich und will ihm am liebsten um den Hals fallen. Ich umarme ihn von hinten und räuspere mich. »Jaakko!«
»Ja, ja«, grummelt er unzufrieden. »Aber ich warne dich. Das heißt noch lange nicht, dass du überhaupt auf die Bühne kommst. Du musst auf jeden Fall wieder tanzen und täglich Klavier und Gitarre üben. Wenn du es genau wissen willst …«
»Ja, ich will alles wissen!«
»Musiktheorie, Songtexting und anderer Scheiß kommt in so einem Studium auf dich zu. Eventuell könntest du dich einer Band anschließen. Auf der Uni suchen sie immer hübsche Mädels, die den Background geben.«
»Jaakko!«, pflaumt meine Mutter. »Max wird nicht wegen ihres Aussehens in einer Band aufgenommen, sondern wegen ihrer Fähigkeiten …«
Jaakko zuckt mit den Schultern. »Doch, genau darauf kommt es an. Max ist ziemlich hübsch. Schlank, groß, blond. Das ist genau das Beuteschema. Singen und Tanzerfahrung sind nur das Tüpfelchen auf dem I.«
Mom schüttelt den Kopf. »Sie ist siebzehn.«
»Eben, siebzehn. Ich will damit nur andeuten, worauf du dich de facto einlässt, Max«, wendet er sich an mich. Sein Tonfall lässt mich frösteln, denn er beschreibt deutlich, was ich die ganze Zeit zu ignorieren versuche.
Die Musikindustrie reduziert die meisten Talente auf ihr Aussehen und die Leistungsfähigkeit. Selten, dass eine kurvige Sängerin Erfolg hat.
Zum Glück bin ich durch den Rock ’n’ Roll fit gewesen. Bloß nicht zu schwer werden, sonst hätten Saltos und Hebefiguren nicht mehr funktioniert. Und seit sich mein Knöchel wieder erholt hat, laufe ich recht viel. Ich war schon immer sportlich, liebe es, mich zu verausgaben. Und seit Dennis’ Tod brauche ich das Laufen umso mehr. Irgendwie musste ich in den letzten zwei Jahren ja mit unserer komplizierten Familiensituation umgehen und bin täglich Laufen gegangen, um den aufgestauten Frust loszuwerden, nachdenken zu können und mich so zu verausgaben, dass ich abends so müde war, um mir den Schlaf nicht von nächtlichen Grübelattacken stehlen zu lassen. Das hat mir immerhin geholfen, mit Papas Tod und Jaakkos Auftauchen umzugehen – und als Dreingabe eine tolle Figur beschert. Das Laufen hat mir zu mehr Disziplin verholfen. Ich habe gelernt, dass man sich anstrengen muss, wenn man etwas erreichen will.
»Du musst hart an dir arbeiten und klein anfangen. Für abgehobenes Tussi-Gehabe ist kein Platz«, fügt Jaakko lässig hinzu.
»Ich kann an mir arbeiten. Wenn es mir weiterhilft, werde ich auch im Background singen.«
»Weißt du überhaupt, was du willst?«
Trotzig schiebe ich das Kinn vor. »Singen. Und wenn mir mein Aussehen dabei hilft, dann ist das doch nur förderlich, oder?« Ich weiß, wie ich klinge: Abgehoben und tussihaft, genauso, wie ich nicht klingen will. Aber es stimmt doch, oder? Ich sehe nicht schlecht aus, kann ein Instrument spielen – okay, zwei, wenn ich mich richtig reinhänge, und ich kann tanzen. Wenn ich mir nicht wieder den Knöchel verstauche und mir dann nicht wieder einrede, eine Versagerin zu sein, sodass ich mir selbst im Weg stehe.
Ich finde, die Chancen stehen nicht allzu schlecht. Doch ich weiß auch, dass Jaakko recht hat. Ich darf mich nicht auf mein Äußeres verlassen.
Jaakko verdreht die Augen. »Ich fasse es nicht … deine Tochter!«, wendet er sich an Mom. Sie lacht und tätschelt liebevoll sein Knie.
»Oh nein, das ist definitiv deine Tochter!«
[4 Monate später]
Die Klausuren stehen kurz bevor und ich bin am Rande der Verzweiflung. Ich bekomme kaum Schlaf, weil meine Gedanken nur um den Schulstoff kreisen. Jedes Mal, wenn ich ein Lehrbuch aufschlage, tanzen die Zahlen und Buchstaben vor meinen Augen Polka. Ich fürchte, mir wächst der ganze Abistress über den Kopf! Es gibt so viel zu lernen und wir haben so wenig Zeit.
Eve, meine beste Freundin, und ich verabreden uns praktisch jeden Nachmittag zum gemeinsamen Pauken. Doch statt die Nase in die Bücher zu stecken, surfen wir in sämtlichen sozialen Netzwerken. Wir stalken Lehrer und Mitschüler oder vertrödeln Zeit auf diversen Kanälen.
Als uns nichts mehr einfällt, womit wir die Zeit noch vertrödeln könnten, kommt Eve eine Idee: »Sind eigentlich schon Aufnahmen von eurem Polen-Trip aufgetaucht?«, fragt sie und tippt die einschlägigen Suchbegriffe ins Suchfeld. »Vielleicht bist du ja auf dem Video zu sehen?«
Oh, Gott! Bitte nicht das Polen-Konzert! Da schaue ich mir doch lieber die Kurvendiskussion an. Ich versuche, lässig abzuwinken, und deute auf die Aufgaben, die wir ursprünglich durcharbeiten wollten. Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt, mich selbst oder jemanden, der mir nahesteht, im Fernsehen anzusehen. »Mathe-Abi?«, versuche ich, Eve abzulenken, entwende ihr das Handy, werfe es hinter mich und schiebe ihr die Abituraufgaben aus dem letzten Jahr unter die Nase. »Wir müssen das heute durchgehen, wenn wir vorbereitet sein wollen. Also los jetzt!«
Eve rollt mit den Augen. »Aber ich hab ihn doch so lange nicht gesehen und überhaupt, ich find das total cool, jemanden auf Youtube zu stalken, den man persönlich kennt. Das ist doch voll krass!«
Finde ich aber nicht. Jemanden im Fernsehen zu sehen, den man kennt, ist … seltsam. »Ja, das ist voll krass!«, äffe ich sie nach. »Du kannst gern zum Essen bleiben. Jaakko sollte heute Abend hier sein, Mom bringt Pizza mit und ich teile auch mit dir!« Das ist mir tausendmal lieber, als ihn im Fernsehen anzusehen. Er war seit einigen Wochen nicht zu Hause. Ich vermisse ihn und seine neuerdings schlechte Laune schrecklich. Mom meint, er sei nur etwas überarbeitet. Das kann ich mir vorstellen. Wir alle fiebern dem Ende der Tour entgegen.
Eve fällt mir lachend um den Hals. »Du bist die Allerbeste! Ich liebe Jaakkos Tour-Tratsch.« Ja, ich auch. Trotzdem hat seine Präsenz immer noch einen faden Beigeschmack. Natürlich freue ich mich darauf, wenn die ganze Familie am Tisch sitzt, doch dann fällt mir jedes Mal auf, dass jemand fehlt. Sobald Jaakko zurück ist, wird mir klar, dass Papa eben nicht mehr da ist. Als hätten sie sich abgeklatscht.
Wie kann etwas so widersprüchlich sein? Ich schlucke den dicken Kloß in meinem Hals herunter und breite die Aufgaben vor uns aus. Wenn ich noch länger darüber nachdenke, reißen die alten Wunden wieder auf. Dann doch lieber Mathe.
»Und jetzt Kurvendiskussion. Quadratische Gleichungen sollten wir hinkriegen. Das ist total easy. Bis zum Abendessen schaffen wir den ersten Teil und belohnen uns dafür mit Tour-Tratsch, okay?« Um meine Note mache ich mir ehrlich gesagt keine Sorgen, aber Eve hat es nicht so mit den Naturwissenschaften. Ich helfe ihr bei den Kurvendiskussionen und sie paukt im Gegenzug mit mir Vokabeln. Mein Englisch ist – gelinde gesagt – unterirdisch. Wenn wir uns beide vernünftig vorbereiten, können wir die Prüfungen schaffen.
»Okay, versprochen.«
»Gut, soll ich das Gleichungssystem mal aufschreiben und wir machen die erste Ableitung gemeinsam?«
Eve nickt und beginnt mit der Rechnung. Wir arbeiten einige Minuten konzentriert … so lange, bis ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wird und die Haustür geräuschvoll aufschwingt. Besser gesagt, derjenige, der die Tür öffnet, flucht lautstark, während die Tür keinen Mucks von sich gibt: »H!« Rückwärts schiebt sich der schwer beladene Jaakko in den Flur. Links und rechts trägt er zwei bis zum Zerreißen gefüllte Sporttaschen und unter seinem Arm klemmt eine braune Papiertüte. Seine Akustik-Gitarre, ohne die er nie verreist, hängt ihm quer über den Rücken. »Hei, tytöt!«, ruft er, was ›hey Mädels‹ bedeutet, und gibt der Haustür einen kräftigen Tritt, damit sie wieder zuschwingt.
Die Rückenlehne der Couch verdeckt ihn zur Hälfte. Eve springt auf, um ihm zur Hilfe zu eilen, doch er lächelt nur und winkt ab. »Tut so, als wäre ich gar nicht da.« Die Taschen fallen achtlos zu Boden. Die abgenutzte Lederjacke und die Papiertüte folgen an Ort und Stelle. Ächzend schlurft er zum freien Dreisitzer und und lässt sich rückwärts draufplumpsen.
»Hey, Jaakko!«, begrüße ich ihn und deute auf seine dreckigen Boots. »Brauchst du Hilfe?«
Jaakko öffnet träge ein Auge, mustert seine Schuhe und schüttelt den Kopf. »Nee, lass mich einfach hier liegen«, grunzt er und schiebt sich den Arm über die Augen. »Ich mach das später …«
»Wann seid ihr gelandet?« Moonstucks letzter Gig war in Schweden, auf irgendeinem Frühlingsfestival. Ich habe sie nicht alle im Kopf, ich beschränke mich derzeit auf die für mich wichtige Information: Wann Jaakko wieder zu Hause ist. Mein Kopf ist voll mit Schulstoff, da kann ich mir nicht alle Tourdaten merken.
»Drei Uhr morgens«, murmelt er.
Ich schaue auf die Uhr. Mittlerweile ist es früher Abend und vom Flughafen sind es maximal zwei Stunden. »Was hat so lange gedauert?«
»Gepäckabfertigung. Der Zoll meinte, jede Kiste auseinandernehmen zu müssen. Haben ewig gebraucht.« Jaakkos Stimme driftet weg und er scheint sofort einzuschlafen.
Ich muss lächeln. Wenn ich etwas in den vergangenen Jahren gelernt habe, dann dass er in jeder Situation schlafen kann. Egal wo, egal wie, selbst auf dem Flughafen quer über drei Sitze liegend. Ich wette, die Autofahrt hat er auch verschlafen. Von daher dürfte er nicht so müde sein … Vielleicht setzt ihm der Stress doch mehr zu, als er zugeben möchte?
»Schläft er?«, fragt Eve nach ein paar Minuten.
»Jep.« Seine Hose steht sicherlich vor Dreck. Mom wird ihn dafür vierteilen, sich so auf unserer Couch eingenistet zu haben … Ich korrigiere mich in Gedanken: Nein, wird sie nicht. Sie wird vollkommen vergessen haben, das die Couch neu und seine Sachen hinüber sind. Für sie zählt nur, dass er überhaupt hier ist. Ich weiß nicht, ob ich die Richtung, die ihre Beziehung einschlägt, gut für sie ist. Jaakko ist quasi nie da und Mom fängt wieder an, sich hängenzulassen. Ich sehe doch, wie schlecht es ihr geht, wenn er unterwegs ist. Ich habe sie darauf angesprochen und sie sagt: Sie reißt sich zusammen, damit er sich auf seine Karriere konzentrieren kann. Sie hat Angst um ihn und seine Gesundheit. Der Stress bereitet auch mir Bauchschmerzen. Die Pausen zwischen den Gigs sind zu kurz. Diesmal hat er nur ein paar Tage bis zum nächsten Trip. Ich glaube, seine Bandkollegen stecken den Stress wegen des Alters besser weg und er versucht krampfhaft mitzuhalten.
Doch bevor ich noch tiefer in unfruchtbare Grübeleien versinke, dreht sich der Wohnungsschlüssel ein zweites Mal um und Mom schiebt sich, ähnlich schwer beladen wie Jaakko, in den Flur. Sie balanciert zwei Familienpizzen hinein und biegt galant in die Küche ab. Höchstwahrscheinlich, um ihre dampfende Fracht auf dem Esstisch abzuladen.
»Ist er schon da?«, ruft sie und kommt wieder in den Flur. Ihr Blick fällt auf die zwei dreckigen Reisetaschen und ihre Gesichtszüge erhellen sich: Als wären ihre Sorgen durch den Anblick der Schmutzwäsche wie weggefegt, als hätte jemand die Rollos in ihrem Gesicht hochgezogen und strahlendes Licht flutet ihr Antlitz. Ihre Augen huschen zu uns. »Wo?«, fragt sie leise.
Ich kann nicht anders, als ihr Strahlen zu erwidern, und nicke Richtung Dreisitzer, dessen Rückenlehne ihr die Sicht auf Jaakko vorenthält. Obwohl sie eigentlich seine dreckigen Stiefel, die über die Armlehne hinausragen, sehen müsste.
Wie auf Kommando wandert Moms Blick zu seinen Füßen. Ich erwarte eine Strafpredigt, doch statt Jaakko zusammenzustauchen, hockt sie sich hin und zieht ihm die Schuhe aus. Er schreckt hoch und blinzelt sie verschlafen an. »Hei kultaseni«, begrüßt er sie auf Finnisch. Er hat uns ein paar Vokabeln beigebracht, sodass ich weiß, dass das ein Kosename in seiner Muttersprache ist.
Lächelnd bringt Mom die Stiefel in den Hausflur und kommt zur Couch zurück. Sie beugt sich über ihn und küsst ihn, kopfüber wie in Spiderman. Boah, wie ekelhaft!
Jaakko greift nach ihr und zieht sie schwungvoll über die Lehne. Trotz der Erschöpfung hat er dafür offensichtlich genug Kraft. Mom quietscht auf und landet zielsicher in seinen Armen, ohne sich von ihm zu lösen.
»Hab dich vermisst«, murmelt er, zieht sie fester an sich und döst zufrieden weiter.
Mom lächelt selig und lässt ihre Hände über sein verschwitztes T-Shirt wandern. »Vielleicht solltest du mich loslassen, damit ich mich ums Essen kümmern kann«, schlägt sie vor. »Außerdem sitzen Max und Eve hier, und sie beobachten uns.«
»Tun wir gar nicht«, wehrt Eve ab. »Wir machen Mathe!«
Jaakko lacht leise. »Mir völlig egal.« Er beugt sich zu Mom, vergräbt seine Hand in ihrem Haar, zieht sie an sich und beglückt sie mit einem hingebungsvollen Kuss.
Ich bin diese Knutscherei, wenn Jaakko daheim ist, schon gewohnt, aber Eve quellen fast die Augen heraus. Vor allem, als er Mom auf sich zieht. »Boah! Müsst ihr das hier machen? Ihr seid echt nicht normal!«, maule ich, raffe hastig die Mathesachen zusammen und drücke sie Eve, die sich mittlerweile auch auf die Beine gekämpft hat, in die Hand. »Komm, wir gehen in mein Zimmer und lassen die Turteltauben allein.« Ich greife ihre Hand und ziehe sie an meinen knutschenden Eltern vorbei. »Vielleicht solltet ihr lieber oben weitermachen. Oma bringt nachher Malin. Bestimmt wollt ihr nicht von den beiden erwischt werden.«
Mom löst sich von Jaakko und erhebt sich. »Mist, du hast recht.« Sie klopft ihm auf die Schulter und ich bilde mir ein, wie ein paar Staubwolken aufstieben. »Und du solltest duschen oder dich zumindest umziehen.«
Jaakko stöhnt auf und lässt den Kopf wieder auf die Lehne sinken. »Ich kann auch einfach hier liegenbleiben.«
»Dann kriegst du aber keine Pizza.«
»Komm«, schiebe ich Eve weiter. »Wir gehen hoch. Sagt Bescheid, wenn ihr Hilfe braucht.«
»Hilfe wobei?« Jaakkos Müdigkeit scheint wie weggeblasen und er funkelt Mom amüsiert an.
»Boah, Jaakko! Du bist unmöglich.«
»Ich weiß«, flötet er und nickt Richtung Treppe. Für mich das unmissverständliche Zeichen, dass er sich mit Mom austoben will.
Egal, ich bin nicht dafür zuständig, den beiden Benehmen beizubringen. Von meiner Oma erwischt zu werden, wird sie schon aufscheuchen. Doch eine letzte Bemerkung muss ich loswerden, bevor ich mich mit Eve wieder den Abituraufgaben widme: »Schön, dass du zu Hause bist.«
»Find ich auch, Kleine. Find ich auch.«
***
Eve geht nach dem Abendessen direkt nach Hause. An Mathe war dank Jaakkos Heimkehr nicht mehr zu denken. Eve verzieht sich dann doch. Sie kommt sich wohl wie ein Eindringling in das glückliche Familienidyll vor.
Da Jaakko nur ein paar Tage bleibt, will Mom die Wäsche möglichst schnell erledigen und direkt damit anfangen, als Oma wieder gegangen ist. Sie lässt mir die Wahl: Malin oder Küche aufräumen. Keine Frage, ich liebe meine Schwester, aber manchmal wünsche ich mir, sie würde etwas weniger quengeln. Also entscheide ich mich für die Küche. Bevor Mom sich mit der Wäsche beschäftigen will, geht sie mit ihr in Malins Zimmer und liest ihr etwas vor.
Endlich kehrt Ruhe ein. Jaakko hat sich ins Badezimmer zurückgezogen. Seinem Bericht zufolge ist er seit mehr als sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. Sie sind direkt nach dem Konzert aufgebrochen, um so viel Zeit wie möglich bei ihren Familien verbringen zu können. Die ungeplante Zollkontrolle hat in Heathrow für Verspätung gesorgt, sodass die Band mit einer anderen Maschine fliegen musste. Jetzt scheint Jaakko nur noch froh, hier zu sein.
In der Küche genieße ich die Ruhe, während ich die Spülmaschine einräume und die Reste des Abendessens im Kühlschrank verstaue. Kein Kindergeschrei, kein Geplauder, nur Stille.
Irgendwann taucht Mom auf und weist mich darauf hin. »Kannst du bitte noch die Tupperdosen aus Jaakkos Taschen in die Spülmaschine packen? Da sind bestimmt einige Leichen drin.« Beladen mit einem Wäschekorb voll Schmutzwäsche verschwindet sie im Keller.
Angeekelt verziehe ich das Gesicht. »Echt jetzt?«, maule ich. »Du warst mit deinen Gedanken schon wieder sonstwo und deswegen muss ich jetzt noch mal hoch?«
Mom lächelt. »Danke, Schatz!«
Ich rolle mit den Augen und hechte die Treppen hinauf. Jaakko hat seine Taschen im Dachgeschoss abgeladen, dort, wo Mom und er schlafen. Da hat er sein Reich aufgeschlagen, inklusive einer kleinen Ecke, die er als Mini-Studio eingerichtet hat. Dort stehen Mischpult, mehrere PCs, Instrumente und … sein Bett. Normalerweise mache ich einen großen Bogen um das Dachgeschoss, ich habe nämlich keine Lust auf ein außer Kontrolle geratenes Kopfkino. Natürlich ist mir klar, was die beiden da oben tun, ich bin schließlich kein Kind mehr.
Das ›alte‹ Schlafzimmer im ersten Stock ist ungenutzt. Weder Mom noch ich haben diesen Raum in den letzten zwei Jahren betreten. Irgendwann werden wir dazu in der Lage sein, doch es ist noch zu früh. Der Raum riecht förmlich nach Papa. Die Wände zieren geliebte Kunstwerke und technische Zeichnungen seiner Projekte. Die Schränke beinhalten seine Kleidung, seine Anzüge, sein Leben. Mom hat alles, was Papa gehört, in diesem Raum eingeschlossen. Manchmal glaube ich, hat sie sogar die Erinnerung an ihn dort vergraben. Sie spricht selten über ihn und wenn, dann nur knapp.
Jaakko ist da anders gestrickt, er kann Stunden über Papa plaudern. Die beiden haben sich hinter unserem Rücken getroffen und so einiges geplant. Jaakko wusste vor Mama und mir von Papas schwerer Erkrankung. Stillschweigend hat Jaakko seine Pläne mitgemacht, hat sich auf ein wie zufällig erscheinendes Wiedersehen mit Mama eingelassen und ist nach Papas Tod hier eingezogen – auf dessen ausdrücklichen Wunsch. Das klingt verrückt, aber Papa wusste von Mamas Gefühle für Jaakko. Als Kind habe ich immer geglaubt, meine Eltern – das heißt, Dennis und meine Mutter – seien das perfekte Paar. Sie haben wie ein gut geöltes Uhrwerk funktioniert und einander geliebt, doch Mamas Herz hat immer einem anderen gehört. So richtig bewusst ist mir das erst in den letzten beiden Jahren geworden.
Natürlich vermisse ich Papa. Ich liebe Jaakko auf eine seltsame Art. Nicht so, wie ich Papa liebe – geliebt habe. Er ist für mich eher ein Vertrauter, ein guter Freund – und das, obwohl ich weiß, dass er mein leiblicher Vater ist. Woher sollte ich sonst meine Liebe zur Musik haben. Zum Tanz, zum Klavierspiel. Ich habe so viel als Kind – auch auf Drängen meiner Mutter – ausprobiert. Inzwischen ist mir klar, von wem ich diese Leidenschaft geerbt habe. Dennis war kein bisschen musikalisch und Mom ist eine grauenhafte Sängerin.
Ohne es zu merken, bleibe ich vor dem alten Schlafzimmer stehen. Ich starre auf die verschlossene Tür, während mir die Gedanken durch den Kopf surfen. Manchmal überfällt mich die Erinnerung an Papa und dann ertappe ich mich dabei, wie ich hier stehe.
Aber nicht jetzt, ich habe zu tun. Hastig reiße ich mich los und laufe die Treppen nach oben, wo ich nach den verräterischen Dosen suche.