Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise - Peter Handke - E-Book

Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Und spätestens hier, kurz nach der Überquerung der Grenze zur »Republika Srpska« von Bosnien, hörten wir drei Männer im Auto auf, unsere serbische Wintergeschichte frühsommerlich zu wiederholen; hörten überhaupt auf, die Personen einer bereits geschehenen und aufgeschriebenen Geschichte zu sein; und spätestens nach dem folgenden Abend, der Nacht und dem folgenden Tag in Višegrad schien es dann nötig, oder nützlich, zu unserer Wintergeschichte diesen Nachtrag oder Zusatz zu machen.

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Seitenzahl: 66

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Peter Handke

Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise

Suhrkamp Verlag

»Zu bedenken: ob es erlaubt sei, die Geschichte, im Speziellen die seiner eigenen Zeit, zu schreiben und zu lesen«

Überschrift des 1. Kapitels der Mémoiresdes Duc de Saint-Simon, 1675-1755

»Es war im Sommer, und die Morgenstunde war schön, und die Bäume waren grün, und die Wiesen waren bedeckt mit Gras und Blumen«

Das mittelalterliche Epos von Lancelot und Ginover

Zu meiner Erzählung von einer winterlichen Reise durch das Serbien am Ende des Jahres 1995 ist jetzt, gut sechs Monate danach, vielleicht ein Nachtrag nötig.

Im späten Frühling traf ich mich in Belgrad mit meinen serbischen Freunden, dem Sprachlehrer und Übersetzer Žarko sowie dem Maler, Autofahrer und Lebenskünstler Zlatko, zu einer Art Wiederholung unserer ersten Fahrt durch das Land, mit der erhofften Variante, von der westserbischen Grenzstadt Bajina Bašta hinüber nach Višegrad in die inzwischen so genannte »Republika Srpska« von Bosnien zu gelangen, der Brücke dort über die Drina und Ivo Andrić' wegen, und einfach nur so.

Ein Anlaß zu der neuerlichen Reise — aber eben nur ein Anlaß — war die Übersetzung meiner Erzählung ins Serbische; das Buch auf den Weg gebracht, wollte ich mit den beiden Serbenleuten unverzüglich im Auto zur Stadt Belgrad hinaus und das Weite suchen; wie schon beim ersten Mal kam ich nach Serbien vordringlich als ein Tourist, ein einzelner, aus eigenem, was auch »auf eigene Rechnung« hieß, hatte noch weniger als beim ersten Mal vor, von unserem Unterwegssein etwas aufzuschreiben, und machte mir dann auch noch weniger Notizen, nämlich keine einzige.

Große Schwüle bei der Yugoslav-Air-Transport-Landung in der Belgrader Flüsse-Ebene, und das Gras um das Flugfeld so hoch, ohne Blumensprenkel, als sei es schon Sommer, der Frühling längst vorbei. Die Tankstellen an den Zentralstraßen wieder offen wie von altersher, keine Kanisteranbieter mehr an den Rändern. Dafür mitten in der Stadt streikende Arbeiter, wenn auch nicht gerade massenweise, aus staatlichen Betrieben, ihre ausstehenden Löhne verlangend vor dem Machtgebäude der jugoslawischen Bundesregierung, hinter den hohen Scheiben dort manchmal ein Politiker- oder eher Politikersekretärsgesicht.

Festgehalten sei hier von den paar Belgrader Tagen jedoch sonst nur das Fröschegeknarze an der, nach Aufhebung des Embargos, wieder von Frachtschiffkarawanen durchzogenen Donau draußen in der Vorstadt Zemun, ein Knarzen und Schnarren, welches beim ersten Donnerschlag eines Hitzegewitters umsprang in ein wildes Geschrei und Gebrüll, bei dem folgenden Schlag aber verstummte und Donner für Donner dann gleichsam stumm und stummer wurde; und danach noch das Pokalendspiel, Fußball, zwischen Roter Stern und Partisan Belgrad draußen an einem anderen Stadtrand, nah an Titos Mausoleum: Gigantisches Zuschauergetümmel — die Zuschauer insgesamt als ein Gigant — himmelan im Oval um die beiden rein serbischen Stadtmannschaften, so als ginge es da noch wie einst um ein großjugoslawisches Finale, zwischen, sagen wir, Crvena Zvezda Beograd und Dinamo Zagreb, oder Partizan Beograd und Hajduk Split, oder, na ja, Olimpija Ljubljana; mit der Zutat einer Serie von Dichtrauchbomben, giftgrünen, schwefelgelben, blaulichtblauen jetzt hinter dem Roter-Stern-Tor, jetzt hinter dem Partisanen-Tor, Schwaden, welche über die Parteigänger hinaus auch die Spieler unten auf dem Rasen zunebelten, so daß von dem Match über große Zwischenzeiten kein einziger Spielzug sichtbar wurde, nichts als durch den Qualm hetzende Trikotträger, und so das Augenmerk fast einzig auf die Zuschauer gerichtet: eine Überaktivität und Aufgeregtheit dort auf sämtlichen Sitz- und Stehplätzen, als sollte damit, hier im kleinen Serbien, eine frühere, die gesamte dinarische Landstrecke von Rijeka bis Mazedonien umfassende Bedeutung zurückbeschworen werden, fast hysterisch zu nennen, hätte nicht in den Augenwinkeln selbst des wie außer sich geratenen Partisan- oder Rotstern-Fans zugleich eine Art von Ironie mitgeschwungen: man mußte nur hinschauen, und schon blinzelte oder zwinkerte, nein, schimmerte sie zurück.

Aufbruch endlich aus der überhitzten, wohl stärker noch als vor Krieg und Embargo von Autos durchrumpelten Hauptstadt, westwärts zu den bosnischen Bergen, ausgestattet mit einem lakonischen Begleitschreiben der Serbischen Republik dort, das wir abgeholt hatten in einem vom Boulevard aus zunächst offenen, dann mehr und mehr labyrinthisch werdenden Büro- oder Kleinfirmen-Gebäude der Belgrader Innenstadt — labyrinthhaft auch durch die etagenauf gesteigerte Schadhaftigkeit oder eher Behelfsmäßigkeit der Räume —, die Vertretung, oder was auch immer, der Republika Srpska da eingemietet wie in eine der vielen dem Anschein nach eher kümmerlichen, auf Aufträge wartenden Handelsniederlassungen. Nach wiederholt falschem Türöffnen endlich in dem für uns zuständigen Zimmer, doch auch dort weder das erwartete Porträt des Radovan K. oder Ratko M. an den Wänden, vielmehr nur ein Naturbild, eine typisch steile bosnische Viehweide, wie eine Lichtung waldumstanden, von Bildrand zu Bildrand ein Karrenweg, verschwindend in hüfthohem Gras, und davor an zwei recht leeren Schreibtischen jetzt zwei sommerlich gekleidete Frauen, von jener für ganz Jugoslawien eigentümlichen Eleganz — Stolz ohne Attitüde, Stolz aus Aufmerksamkeit, oder aus Geistesgegenwart —, zugleich uns drei anblickend mit einem ländlichen (nicht etwa bäuerlichen!) Vertrauen, das geradezu verlegen machte: Ja, sie sahen in uns einmal welche, die nicht von vorneherein als Feinde oder Übelwollende in ihr verfemtes Land strebten; deren Reiseziel oder Hinter- und Hauptgedanke es jedenfalls nicht war, weitere Worte und Sätze zuzuhäufeln zu der Sage von ihrem Volke als einem von Vergewaltigern, Schlächtern und uneuropäischen Barbaren — und so: »Sretan put! Glückliche Fahrt!«

Zunächst dann freilich, kaum aus Belgrad heraus und in der »typisch serbischen« Ebene wieder Richtung Dicker Berg (dahinter Drina … dahinter Bosnien …), genau wie zuvor bei der Winterfahrt das Verirren, und genau an derselben Stelle, und so von neuem der Umweg, auf Landstraßen mit Schlaglöchern so klein — und schlecht zu sehen — wie tief, daß es eine Hindernisfahrt wurde, kurviger noch als die vielen Kurven, wie seinerzeit im Novemberschnee. Erst vor der Bergfußstadt Valjevo zurückgefunden auf die richtige, die Schnellstraße, und diese schon vor der Stadteinfahrt dicht gesäumt mit Spalierstehenden, warum aber sie alle in Uniform, Polizisten?, wobei uns endlich einfiel: Es war doch der Tag, da der deutsche Außenminister dem »Restjugoslawien« seinen Anerkennungsbesuch abstattete und dabei wohl gerade auf seinem Weg zurück von Podgorica/Montenegro nach Belgrad/Serbien war. Wir verpaßten die Begegnung, indem wir von der großen Durchzugsstraße, gleich in der Stadt Valjevo, wieder wie im Winter, abbogen auf die Nebenstrecke, hinauf und hinauf über den jetzt nicht verschneiten und frühdunklen, sondern hellübergrünten Debelo Brdo, den Dickberg, von dem aber auch heute wieder die Kühle ins Auto strich (freilich nur aus den Bachschluchten) und auch heute während fast des ganzen langen Aufstiegs Flockenschwärme gegen die Frontscheiben stupsten — nur eben nicht von Schnee, sondern das zerstobene Blütengewölle von den bach- wie straßensäumenden Pappeln, der Luftraum bis hoch hinauf davon durchschwirrt, die Fahrbahnränder davon weiß aufgebauscht und aufgedünt bis über die halbe Strecke hinauf, von wo ab — bei fast nur noch Kiefern- und Fichtenwuchs — das Gestöber endlich abflaute.

Rast auf einer der Paß- und zugleich Almhöhen. Und an der Stelle der noch europaüblichen Rinder weideten hier die balkanischen, nein, die serbischen Schweine, weideten?, nein, fraßen — eher klein, gebirgsklein, und fast weiß, wie die allüberall zwischen den Grasmatten aufragenden, durchschlagenden dinarischen Kalksteinriffe. Und dort auf dem Ruheplatz, in der Einöde, bei den Winzigschweinen auch der junge Bursche, der am Rand der Weide sein gerade ausgepacktes Handtelefon ausprobierte, spürbar das erste solche Neuding auf dem gesamten Dicken Berge, und dann von allerseiten, wie aus den Fels- und Scheunenritzen andere Burschen zum Beäugen auftauchend, jeder ein Verlorener Sohn, aber noch lange vor der Heimkehr, und auch unbekümmert darum.