Sontheim-Thriller-Sammelband: Der Schmerzkünstler, Der Schmerzfänger, Der Schmerzflüsterer - Frank Esser - E-Book
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Sontheim-Thriller-Sammelband: Der Schmerzkünstler, Der Schmerzfänger, Der Schmerzflüsterer E-Book

Frank Esser

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Beschreibung

*** DIE DREI HOCHSPANNUNGS-THRILLER DER LUKAS-SONTHEIM-REIHE IN EINEM SAMMELBAND***

Band 1: Der Schmerzkünstler

Nach einem tragischen Verkehrsunfall verlor Lukas Sontheim seine Frau und Tochter. In seiner Trauer begann er zu trinken und wurde schließlich acht Monate später aus dem Polizeidienst entlassen.

Eigentlich möchte Lukas Sontheim nach seinem sonntäglichen Besuch bei seinen Eltern nur nach Hause fahren, als plötzlich eine spärlich bekleidete Frau auf die Fahrbahn läuft. Während er der Unbekannten zu Hilfe eilt, macht er eine furchtbare Entdeckung: Das Gesicht der jungen Frau ist auf grausame Weise entstellt worden. Genau wie bei seinem letzten großen Fall …

Der Thriller ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel Boshaft.

Band 2: Der Schmerzfänger

Ein virtueller Friedhof. Ein Countdown, der einen Tod ankündigt.

Orkus nennt sich der kaltblütige Mörder, der den Tod seiner Opfer im Darknet ankündigt und diese vor laufender Kamera hinrichtet. Die Zuschauer vor den Bildschirmen glauben nicht an die Echtheit der Bilder, niemand informiert die Polizei. Doch schon bald werden die Leichen der Darsteller aus den Videos gefunden. Als Andreas Lichtenstein, ein ehemaliger Hacker, von der Seite erfährt, stellt dieser mit Erschrecken fest, dass auch sein Name auf einem der virtuellen Grabsteine steht …

Der Thriller ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem TitelDas Orkus-Tribunal.

Band 3: Der Schmerzflüsterer

Wie perfide kann ein Serienmörder sein?

Der Kölner Verlagschef Sven Bochert wird tot aufgefunden. Alle Umstände deuten darauf hin, dass er sich selbst gerichtet hat. Schusswinkel und Schmauchspuren an der rechten Hand sind ein eindeutiges Indiz dafür. Jedoch wurde keine Waffe und auch kein Blut am Tatort gefunden. Zudem scheint es eine Gemeinsamkeit mit einem zurückliegenden älteren Fall aus …

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Der Schmerzkünstler
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
Epilog
Der Schmerzfänger
Prolog
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
81. Kapitel
Epilog
Der Schmerzflüsterer
Prolog
82. Kapitel
83. Kapitel
84. Kapitel
85. Kapitel
86. Kapitel
87. Kapitel
88. Kapitel
89. Kapitel
90. Kapitel
91. Kapitel
92. Kapitel
93. Kapitel
94. Kapitel
95. Kapitel
96. Kapitel
97. Kapitel
98. Kapitel
99. Kapitel
100. Kapitel
101. Kapitel
102. Kapitel
103. Kapitel
104. Kapitel
105. Kapitel
106. Kapitel
107. Kapitel
108. Kapitel
109. Kapitel
110. Kapitel
111. Kapitel
112. Kapitel
113. Kapitel
114. Kapitel
115. Kapitel
116. Kapitel
117. Kapitel
118. Kapitel
119. Kapitel
120. Kapitel
121. Kapitel
122. Kapitel
123. Kapitel
124. Kapitel
125. Kapitel
126. Kapitel
Epilog

Frank Esser

 

Sontheim-Thriller-Sammelband

 

Der Autor:

 

Frank Esser, Jahrgang 1974, absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung zum Industriekaufmann und arbeitet seitdem in der Musikbranche. Er lebt in der Nähe von Aachen. Seine Liebe zu Krimis inspirierte ihn, seinen ersten Regionalkrimi zu schreiben, der in der Kaiserstadt spielt und 2017 veröffentlicht wurde. Mittlerweile veröffentlichte er neben seiner Aachen-Krimi-Reihe weitere Thriller und Krimis. Seit neuestem darf er sich stolzes Mitglied der Empire-Verlag-Familie nennen.

Frank Esser

 

Sontheim-Thriller-Sammelband

 

 

 

 

Thriller

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die

Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

August © 2022 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Christine Weber - https://www.textimo.de/

Korrektorat: Marion Kaster / Heidemarie Rabe/ Peter Wolf

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

http://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 124573637, Adobe Stock ID 40555969, Adobe Stock ID 132848439 und freepik.com

 

Frank Esser

 

Der Schmerzkünstler

 

Ein Lukas-Sontheim-Thriller

 

 

 

 

Band 1

Über das Buch:

 

Nach einem tragischen Verkehrsunfall verlor Lukas Sontheim seine Frau und Tochter. In seiner Trauer begann er zu trinken und wurde schließlich acht Monate später aus dem Polizeidienst entlassen.

 

Eigentlich möchte Lukas Sontheim nach seinem sonntäglichen Besuch bei seinen Eltern nur nach Hause fahren, als plötzlich eine spärlich bekleidete Frau auf die Fahrbahn läuft. Während er der Unbekannten zu Hilfe eilt, macht er eine furchtbare Entdeckung: Das Gesicht der jungen Frau ist auf grausame Weise entstellt worden. Genau wie bei seinem letzten großen Fall vor sechs Jahren. Noch bevor Lukas etwas unternehmen kann, wird er von hinten niedergeschlagen. Als er wieder zu sich kommt, ist die Frau verschwunden.

 

Hat er sich die Frau nur eingebildet? Seine ehemaligen Kollegen auf dem Polizeirevier wollen ihm nicht so recht glauben, denn den damaligen Serienkiller, Georg Laumann, hatte Lukas selbst geschnappt. Laumann erhängte sich noch vor Prozessbeginn in seiner Zelle. Was, wenn es einen Nachahmungstäter gibt? Oder ist Laumann am Ende sogar unschuldig gewesen? Lukas Sontheim beschließt, selbst zu ermitteln, jedoch ohne zu wissen, dass der Serienmörder die Frau als Botschaft an Sontheim geschickt und das Spiel gerade erst begonnen hat.

Boshaft; voller Neigung, Böses zu tun

(Quelle: Duden)

 

 

 

 

Prolog

 

Sonntag, 20. Mai 2018, 22:46 Uhr

 

Plötzlich und unerwartet war die Person aus der Dunkelheit heraus auf die Straße getreten. Gerade in dem Moment, als Lukas Sontheim beschleunigen wollte. Er riss geistesgegenwärtig das Steuer seines alten Mazdas herum und konnte der offenbar lebensmüden Person eben noch ausweichen. Glücklicherweise verlor er bei diesem Ausweichmanöver nicht die Kontrolle über den Wagen. Er ging voll auf die Bremse und nach knapp fünfundzwanzig Metern brachte er den Mazda zum Stehen. Er atmete einmal tief durch und warf einen Blick in den Rückspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass er sich das nicht alles nur eingebildet hatte. Aber tatsächlich! Seine Sinne hatten ihm keinen Streich gespielt. Im schwachen Schein der Rücklichter erkannte er die schemenhaften Umrisse einer Person, die mitten auf der Fahrbahn stand. Kein weiteres Auto war weit und breit auf der Brühler Landstraße in Meschenich zu sehen. Von daher drohte erst einmal keine Gefahr durch andere Autofahrer. Weder für ihn selbst noch für das offenbar lebensmüde Subjekt, das ihm gerade vors Auto gelaufen war. Sontheim löste den Verschluss des Sicherheitsgurtes, öffnete die Fahrertür und stieg aus.

»Hallo«, rief er, als er auf die Person zuging. »Geht es Ihnen gut?« Doch er erhielt keine Antwort. Er fingerte sein Handy aus der Tasche der Jeansjacke, entsperrte das Display und startete die App für die Taschenlampenfunktion. Jetzt hatte er wenigstens etwas Licht in dieser nahezu undurchdringlichen Dunkelheit. Noch einmal rief er, aber er erhielt immer noch keine Antwort. Als sich Sontheim der Person weiter näherte, erkannte er, dass es sich um eine Frau handelte. Und es hatte den Anschein, dass sie lediglich einen Slip und einen BH trug. Er lief schneller, und noch ehe er die Unbekannte erreicht hatte, brach sie vor seinen Augen auf offener Straße zusammen. Die letzten fünf, sechs Meter rannte er jetzt. Er hoffte inständig, dass er sie nicht doch angefahren und dabei verletzt hatte. Obwohl er nichts dergleichen bemerkt hatte. Die Tatsache, dass die Unbekannte nahezu unbekleidet um diese Uhrzeit in der Nähe von Meschenich auf einer Landstraße unterwegs war, blendete er in diesem Moment erst einmal völlig aus. Jetzt ging es ihm nur darum, der Frau zu helfen. Er beugte sich zu der offenbar verletzten Fremden hinunter und leuchtete ihr mit der Taschenlampe seines Smartphones ins Gesicht. Beim Anblick der jungen Frau, die er auf nicht älter als zwanzig Jahre schätzte, wich er vor Schreck ein Stück zurück. Der Mund des Mädchens war zugenäht, und obwohl sie ganz offensichtlich ohnmächtig war, starrten ihn die scheinbar leblosen Augen hilfesuchend an. Sie hatte keine Augenlider mehr! Die Tatsache war an sich schon schlimm genug. Noch schlimmer war allerdings, dass er so etwas nicht zum ersten Mal sah. Ganz im Gegenteil. Er hatte das bereits mehr als einmal gesehen. Viel öfter, als ihm lieb war. In einem früheren Leben. In einer anderen Zeit. Als ein Serienmörder, bekannt als der Schlächter, in Köln fünf junge Studentinnen entführt, gefoltert und schließlich ermordet hatte. Als er noch mit damals achtunddreißig Jahren der jüngste Hauptkommissar bei der Mordkommission in Köln gewesen war. Als er noch der glückliche Ehemann und Vater gewesen war, bevor sein ganz persönlicher Albtraum begonnen hatte. Doch auch, wenn ihn gerade die Gefühle zu übermannen drohten und er nach einer plausiblen Erklärung für das eigentlich Unmögliche suchen wollte, musste er all dies im Moment ausblenden. Die Frau, die reglos vor seinen Füßen lag, brauchte jetzt dringend Hilfe. Sie musste auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus. Er hatte gerade seinen linken Arm unter die Knie des Mädchens geschoben und mit dem rechten Arm unter den Oberkörper gefasst, um die Unbekannte zu seinem Auto zu tragen, als ihn ein heftiger Schlag am Hinterkopf traf und er bewusstlos zusammenbrach.

1. Kapitel

 

Als Sontheim wieder zu sich kam, hatte er einen fürchterlichen Brummschädel. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, bevor er niedergeschlagen wurde, war, dass er diese junge Frau mit dem zugenähten Mund und den entfernten Augenlidern in ein Krankenhaus bringen wollte. Oder hatte er sich die Verstümmelungen nur eingebildet? War die Begegnung mit der Frau nicht real gewesen? Doch, das war sie ganz bestimmt. Da war er sich ganz sicher. Er hatte zwar keine plausible Erklärung für das, was er gesehen hatte. Aber die Tatsache, dass er niedergeschlagen wurde, als er dem unglückseligen Geschöpf helfen wollte, war ihm Beweis genug. Es war auch ganz bestimmt kein Zufall, dass ausgerechnet er der Frau auf diese seltsame Art und Weise begegnet war. Allzu lange war er offensichtlich nicht bewusstlos gewesen. Es war immer noch kein anderes Auto zu sehen. Oder hatte ein möglicher Helfer ihn einfach liegenlassen? Denkbar war es. In einer Zeit, wo sich jeder selbst der Nächste war. Er rappelte sich langsam auf, von leichtem Schwindel und leichter Übelkeit begleitet, klaubte sein Handy von der Straße und ging zurück zu seinem Mazda. Er hatte bei dem Schlag auf den Hinterkopf ganz bestimmt eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, vermutete Sontheim, als er ins Auto stieg. Aber das war jetzt zweitrangig. Er startete den Wagen, um zum nächstgelegenen Polizeirevier zu fahren und eine Anzeige zu erstatten. Auf dem Weg dorthin dachte er an Georg Laumann, einen ehemaligen Hausmeister der Universität in Köln. Seinen Entführungsopfern den Mund zuzunähen, die Augenlider zu entfernen und noch eine ganze Menge anderer abscheulicher Dinge anzutun, war das Markenzeichen des sogenannten Schlächters von Köln gewesen. Es war sein letzter großer Fall als Ermittler der Mordkommission. Damals vor sechs Jahren. Kurz bevor er den Täter überführen konnte, war sein Leben komplett aus den Fugen geraten. Seine Frau Nina und seine fünfjährige Tochter Linda waren bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie waren mit Ninas Kia von der Straße abgekommen, frontal gegen einen Baum geprallt und sofort tot. Eine kriminaltechnische Untersuchung von Ninas Wagen hatte damals ergeben, dass noch ein zweites Fahrzeug in den Unfall verwickelt gewesen sein musste. Aber der Fahrer oder die Fahrerin konnte nie ermittelt werden, was seine Wut über den Verlust seiner Familie bis ins Unermessliche hatte steigern lassen. Schon kurze Zeit nach dem Unfall hatte er Trost im Alkohol gesucht und auch gefunden. Den Schlächter hatte er mit seinem damaligen Partner, Jürgen Brenner, zwar überführt. Aber zu diesem Zeitpunkt war er schon des Öfteren angetrunken oder stockbesoffen zum Dienst erschienen, was sein langjähriger Partner und Freund lange Zeit geduldet und sogar gedeckt hatte. Aber der Alkoholkonsum war immer schlimmer geworden. Er war unzuverlässig geworden und hatte sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit den Kollegen angelegt. Jede Form des Hilfsangebotes hatte er damals kategorisch abgelehnt. Schließlich wurde er acht Monate nach dem Tod seiner Frau und seiner Tochter aus dem Polizeidienst entlassen. Zu diesem Zeitpunkt war Laumann bereits drei Monate tot gewesen. Erhängt in seiner Zelle. Kurz bevor ihm der Prozess gemacht werden sollte, und genau dieser Umstand machte Sontheim jetzt zu schaffen. Was hatte es mit der misshandelten Frau auf sich? War dies das Werk eines Nachahmungstäters? Oder hatten sie sich damals geirrt und Laumann war nicht der Täter gewesen? Was im Grunde so gut wie unmöglich war, denn die Beweislast war erdrückend gewesen. Irrtum ausgeschlossen! Oder etwa doch nicht? Und noch ein Gedanke beschäftigte ihn. Warum war gerade ihm die Frau vor das Auto gelaufen? Der Gedanke, dass ein neuer Schlächter sein Unwesen trieb und ihn persönlich herausforderte, jagte ihm eine Heidenangst ein. Einige Schweißperlen entstanden auf der Stirn. Er hatte gerade erst sein Leben wieder in den Griff bekommen und war seit knapp einem Jahr trocken. Und schon befand er sich, wie es den Anschein hatte, mitten in einem neuen Albtraum!

2. Kapitel

 

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend, das nichts mit der Übelkeit zu tun hatte, die nach dem Schlag auf seinen Hinterkopf aufgetreten war, betrat Sontheim das Polizeirevier in Hürth. Die große Uhr im Empfangsbereich des Präsidiums zeigte dreiundzwanzig Uhr siebzehn, als der Beamte am Tresen Notiz von ihm nahm. Der übergewichtige Mann mit dem talgigen Gesicht war den blauen Dienstgradabzeichen auf den Schulterklappen seines Hemdes nach Polizeiobermeister. Sein Alter konnte er nur schlecht einschätzen, Sontheim glaubte aber, dass er nicht älter als fünfunddreißig Jahre alt war. Der Atem des Mannes roch unangenehm nach einer Mischung aus Knoblauch und Zwiebeln, als er ihn ansprach.

»Mein Name ist Lukas Sontheim. Ich möchte die Entführung und körperliche Misshandlung einer jungen Frau anzeigen.« Der Beamte starrte den spätabendlichen Besucher mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund an, erwiderte aber zunächst nichts. »Mann, ich habe nicht ewig Zeit und die verschleppte Frau erst recht nicht. Was ist jetzt, wollen Sie sich anhören, was ich zu sagen habe oder mich weiterhin blöd anglotzen?«, meinte Sontheim genervt.

»Am besten kommen Sie einmal um die Theke herum und nehmen dort auf dem Besucherstuhl vor meinem Schreibtisch Platz. Dann können wir uns in Ruhe über Ihre Anzeige unterhalten. Roland, übernimmst du bitte den Empfang, während ich mich mit Herrn Sontheim unterhalte«, bat der Beamte den Kollegen, der sich gerade an der Kaffeemaschine zu schaffen machte.

Sontheim folgte der Aufforderung und nahm auf dem Stuhl Platz. Dem Namensschild zufolge, das auf dem Schreibtisch stand, hieß der Beamte, der seine Anzeige aufnehmen wollte, Bernd Schmidtke.

»Also, dann erzählen Sie mir bitte einmal der Reihe nach, was genau passiert ist und was Sie mit der Geschichte zu tun haben«, begann der Polizeiobermeister, nachdem er umständlich auf seinem Schreibtischstuhl Platz genommen hatte. »Und ich hoffe in unser beiderseitigem Interesse, dass das hier nicht nur ein blöder Scherz von Ihnen ist und Sie meine Zeit verschwenden. Ansonsten habe ich unten im Keller eine schöne Ausnüchterungszelle für Sie.«

Wichtigtuer, dachte Sontheim, beherrschte sich aber, den Gedanken laut auszusprechen. Dann begann er damit, Schmidtke von der unheimlichen Begegnung und dem anschließenden Überfall auf seine eigene Person auf der Brühler Landstraße zu erzählen.

»Ich fasse das noch einmal kurz zusammen«, begann Schmidtke, nachdem Sontheim zu Ende erzählt und der Polizeiobermeister das Protokoll getippt hatte. »Gegen zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig haben Sie das Haus Ihrer Eltern in der Südstraße in Meschenich verlassen, um nach Hause zu fahren. Kurz hinter dem Ortsausgangsschild ist dann plötzlich diese junge Frau auf die Straße gelaufen, der Sie gerade noch mit Ihrem Wagen ausweichen konnten. Als Sie nach der Unbekannten sehen wollten, haben Sie festgestellt, dass ihr der Mund zugenäht war und ihr die Augenlider fehlten. Dann wurden Sie von hinten niedergeschlagen und als Sie aufwachten, war die junge Frau verschwunden. Zeugen für diesen Vorfall gibt es keine. Ist das soweit korrekt?«

»Genau so war es«, erwiderte der Ex-Polizist.

»Hm.«

»Was soll dieses Hm bedeuten?«

»Sie haben nicht zufällig heute Abend schon etwas getrunken, Herr Hauptkommissar Sontheim a. D.?«

»Aha, jetzt verstehe ich. Sie haben einen Backgroundcheck zu meinen persönlichen Daten gemacht und festgestellt, dass wir einmal Kollegen waren und ich wegen diverser alkoholbedingter Dienstvergehen entlassen wurde.«

»Haben Sie nun Alkohol getrunken oder nicht?«, wiederholte Schmidtke, ohne darauf einzugehen. Dabei blickte er Sontheim nicht einmal an. Stattdessen verharrte sein Blick auf dem Monitor. Sontheim vermutete, dass der Beamte damit beschäftigt war, weiterhin seine Akte zu studieren.

»Nein, das habe ich nicht.« Er war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Einerseits konnte er das Misstrauen des Polizeiobermeisters durchaus nachvollziehen. Andererseits ging es hier um das Leben einer jungen Frau, und er befürchtete, nicht ernst genommen zu werden.

»Also hat sich alles genau so zugetragen, wie Sie mir das geschildert haben?«

»Sonst wäre ich kaum hier, Herr Polizeiobermeister.«

»In Ihrer Akte steht, dass Ihr letzter großer Fall die Ermittlung gegen den sogenannten Schlächter war, der rein zufällig seine Opfer auf dieselbe Art und Weise verstümmelt hat, wie Sie das eben geschildert haben. Komischer Zufall, oder?«, meinte Schmidtke, der Sontheim mittlerweile mit seinen Schweinsaugen taxierte.

»Hören Sie, Herr Schmidtke. Ich weiß selber, wie absurd sich das alles anhört. Und wenn ich an Ihrer Stelle wäre, hätte ich ganz bestimmt ähnliche Bedenken, diese Geschichte zu glauben! Aber da draußen ist irgendwo eine junge Frau, die sich in der Gewalt eines Wahnsinnigen befindet und dringend Hilfe braucht. Tun Sie doch einfach so, als ob Sie nie von meiner Vorgeschichte gehört hätten und schenken Sie meinen Worten Glauben. Versprechen Sie mir einfach, dass Sie alles Menschenmögliche tun werden, um das Leben dieses Mädchens zu retten. Egal, was Sie persönlich von mir halten. Ich habe jedenfalls meine Pflicht erfüllt und bin hierhergekommen. Die Wunde an meinem Hinterkopf haben Sie auch gesehen. Die werde ich mir wohl kaum selber zugefügt haben. Zur Not können Sie auch noch einen Alkoholtest bei mir durchführen. Aber tun Sie bitte Ihre Pflicht und sorgen dafür, dass man der Sache nachgeht!« Die letzten Worte hatte Sontheim regelrecht geschrien und verlieh damit seiner Verzweiflung mehr Ausdruck. Dabei waren kleine Speicheltropfen in Schmidtkes Richtung geflogen. Aber das war ihm jetzt auch egal. Ohne eine Antwort des Polizeiobermeisters abzuwarten, unterschrieb er das ausgedruckte Protokoll der Anzeige, das vor ihm gelegen hatte, nahm die Jeansjacke von der Stuhllehne und stürmte aus dem Präsidium. Er hoffte inständig, dass sein Appell bei Schmidtke angekommen war und er die Anzeige ernst nahm.

 

Das Spiel hatte endlich begonnen. Sein Eröffnungsschachzug war ihm perfekt gelungen. Er wusste, dass sein Gegner den Köder geschluckt hatte. Jetzt war es Zeit dafür, den nächsten Schritt vorzubereiten. Und das war der Teil, der ihm eine besonders große Vorfreude bereitete und Lukas Sontheim später Kopfschmerzen bereiten würde. Davon war er überzeugt. Er ging die verdreckte Treppe in dem heruntergekommenen Gebäude hinunter, das seit zwanzig Jahren leer stand, steckte den Schlüssel in das Vorhängeschloss, drehte ihn einmal, und nachdem er das Schloss entfernt hatte, öffnete er die Tür.

»Hallo Sabrina«, sagte er, als er den ehemaligen Umkleideraum neben der alten Fertigungshalle betrat, in der vor zwei Jahrzehnten noch diverse Kunststoffartikel im Spritzgussverfahren hergestellt worden waren. Er ging auf das Bett zu, auf dem er die Studentin festgebunden hatte. Antworten konnte sie ihm natürlich nicht. Er hatte ihr den Mund zugenäht. Das war Sabrinas erste Schmerzlektion gewesen, die sie bei vollem Bewusstsein erlebt hatte. Wobei es sich dabei nicht um den ersten Akt ihres Martyriums gehandelt hatte. Seine Lektionen begannen stets mit dem Entfernen der Augenlider, das er durchführte, wenn die Mädchen noch von dem Betäubungsmittel im Tiefschlaf lagen. Er liebte den Augenblick, wenn die Frauen wach und sich ihrer Situation bewusst wurden. Menschen neigten leider dazu, die Augen zu schließen, wenn sie sich in ausweglosen Situationen befanden. Eine Reaktion, für die er ohnehin kein Verständnis hatte. Als ob man dadurch dem Schicksal entfliehen konnte. Indem er den Frauen ihre Augenlider nahm, beraubte er sie selbst dieser Möglichkeit. Die Studentin starrte ihn panikerfüllt an. Er wusste nicht, ob sie ihn mittlerweile erkannt hatte. Das war ihm allerdings auch egal. Sie würde den Raum ohnehin nicht lebend verlassen. Die einundzwanzigjährige Kunststudentin hatte ihre Rolle perfekt gespielt. Sabrina hatte ihm tatsächlich geglaubt, dass er sie am Leben lassen würde, wenn sie Lukas Sontheim in die Falle lockt. Sie war so naiv. Als sie realisiert hatte, dass er sie nicht freilassen würde und sie stattdessen wieder in den Folterkeller einsperrte, war sämtlicher Lebensmut aus ihr gewichen. Er hatte es förmlich spüren können. Und jetzt war es Zeit, Sabrina Offergeld weiter in die Welt des Schmerzes einzuführen. Mit der behandschuhten linken Hand strich er über ihre entblößten Brüste. Es sah fast aus wie eine zärtliche Geste. Die junge Frau starrte ihn angewidert an. Durch ihren zugenähten Mund drangen undefinierbare Laute. Für ihren Peiniger klang es wie Musik in den Ohren. Er griff mit der rechten Hand nach dem Brustreißer, der auf dem Edelstahltablett auf dem Servierwagen lag. Er hatte ihn gut sichtbar für die Studentin gleich neben dem Bett platziert. Auf dem Tablett lagen noch andere Utensilien, die er für seine Arbeit benötigte. Die grobe Nadel zum Zunähen des Mundes, ein Skalpell, ein Brandeisen, diverse Zangen. Es war ihm wichtig, dass seine Opfer immer wussten, was auf sie zukam. Das steigerte das Angstgefühl der Frauen ins Unermessliche, und das bereitete ihm große Freude. Er setzte das mittelalterliche Folterinstrument, das im Großen und Ganzen nichts anderes war als eine zangenähnliche Konstruktion mit spitzem Ende, an der linken Brust an. Sabrina Offergeld zerrte wild an ihren Fesseln, aber es half nichts. Ihr Peiniger drückte das Ende des Brustreißers fest zusammen und er wusste, dass in diesem Moment den Körper der Studentin ein Schmerztsunami durchflutete. Sie versuchte zu schreien, wie er an ihrem Gesichtsausdruck erkannte. Aber mehr als ein lautes Quietschen drang nicht an seine Ohren. Dann erhöhte er den Druck, drehte das Werkzeug einmal und zog gleichzeitig mit einem einzigen Ruck daran. Mit dieser geschmeidigen Bewegung entfernte er die Brustwarze und das darumliegende Gewebe der Brust. Er genoss den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck der Gefangenen in vollen Zügen. Die Augen des Mädchens starrten ihn schmerzerfüllt und gleichzeitig um Gnade flehend an. Doch das ließ ihn kalt. Er kannte keine Gnade.

»Das war sicherlich jetzt sehr schmerzhaft für dich, liebe Sabrina. Aber die Verletzung ist keinesfalls tödlich. Da kann ich dich beruhigen. Und glücklicherweise hast du ja noch eine zweite sehr schöne Brust. Allerdings ist das Glück nur auf meiner Seite. Ich hoffe, du bist bereit«, sagte er mit einem diabolischen Grinsen und setzte den Brustreißer ein weiteres Mal an. Diesmal an Sabrina Offergelds rechter Brust.

3. Kapitel

 

Montag, 21. Mai 2018

 

Nach einer unruhigen Nacht, in der Sontheim mehrfach von Albträumen geplagt aufgewacht war, stand er gegen halb sieben in der Früh auf, um sich startbereit für die allmorgendliche Joggingrunde zu machen. Er verspürte zu seiner Erleichterung nur noch leichte Kopfschmerzen. Von Schwindel oder Übelkeit keine Spur mehr. Offensichtlich hatte er doch keine leichte Gehirnerschütterung bei dem Angriff davongetragen, so wie er das zunächst befürchtet hatte. Zu irgendwas musste sein Dickschädel ja gut sein, dachte er und lächelte. Jedenfalls sprach nichts gegen die tägliche Laufeinheit, die er vor dem Frühstück absolvierte. Das Laufen war mittlerweile neben seinen regelmäßigen Besuchen bei den Anonymen Alkoholikern wichtiger Bestandteil seines neuen Lebens geworden. Fünf Jahre lang hatte der Alkohol die wichtigste Rolle in seinem Alltag gespielt. Er hatte durch den schrecklichen Unfall nicht nur Nina und Linda verloren. Sondern auch seinen Beruf, den er voller Leidenschaft ausgeübt hatte, und den Großteil der Freunde aus früheren Zeiten. Allmählich knüpfte er wieder soziale Kontakte. Vor allem aber achtete er inzwischen akribisch auf seinen Körper. Rein äußerlich sah man ihm nicht an, dass er sich über Jahre hinweg in jeder Beziehung hatte gehen lassen. Mit einem Gardemaß von einem Meter fünfundachtzig war sein Körper bis in die letzte Faser seiner Muskeln austrainiert und wohl proportioniert. Die ehemals zotteligen, schulterlangen braunen Haare waren einer modernen Kurzhaarfrisur gewichen, die, wie er zugeben musste, auch wesentlich besser zu seinen weichen Gesichtszügen passte. Und auch in seinem Kleiderschrank hatte er kräftig ausgemistet. Er trug zwar immer noch sportlich legere Klamotten, aber im Gegensatz zu den knapp sechzig Monaten, die er in trister Vernebelung verbracht hatte, legte er jetzt Wert darauf, die Kleidung auch regelmäßig zu wechseln. Er hatte das Einfamilienhaus, in dem er mit seinen beiden Liebsten gewohnt hatte, verkauft und lebte seither von den Verkaufserlösen in einer kleinen Mietwohnung in Köln Kalk. Allerdings entwickelte sich der Kontostand bedrohlich gegen Null. Er würde sich schon bald nach einer neuen Arbeitsstelle umsehen müssen. Aber das konnte er noch ein paar Wochen aufschieben. Er schnürte seine Laufschuhe zu, nahm den Haustürschlüssel mit dem Halsband vom Schlüsselhaken und machte sich auf den Weg durch das Treppenhaus hinunter zur Haustür. Noch bevor die Tür ins Schloss gefallen war, startete er die Musik des MP3-Players – heute begleitete ihn AC/DC auf der Laufrunde. Doch schon nach kurzer Zeit drehten sich seine Gedanken wieder um die Ereignisse des letzten Abends. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, nicht daran zu denken. Er hoffte inständig, dass dieser selbstgefällige Schmidtke die Anzeige ernst genommen hatte. Er hatte sogar kurz darüber nachgedacht, seinen alten Partner und ehemaligen Freund Jürgen Brenner anzurufen. Der arbeitete zwar mittlerweile in der verbotenen Stadt, wie die Kölner Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt Düsseldorf nannten. Aber vielleicht hätte er auf die Kölner Kollegen einwirken können. Letztlich hatte er sich aber doch dagegen entschieden. Nicht zuletzt, weil ihm der Mut fehlte, Brenner nach allem, was damals zwischen ihnen vorgefallen war, einfach anzurufen. Obwohl Brenner ihm bis zum bitteren Ende beruflich den Rücken freigehalten hatte und ihm ein echter Freund in der schwierigen Zeit nach dem Tod von Frau und Tochter war, hatte er sich wie das letzte Arschloch verhalten. Eine typisch menschliche Attitude, diejenigen zu verletzen, die einem am meisten am Herzen liegen. Irgendwann hatte es dann auch Brenner aufgegeben und den Kontakt zu ihm abgebrochen. Sontheim fand es unpassend, sich in dieser Situation bei seinem alten Partner zu melden. Wobei das grundsätzlich auch noch auf seiner Agenda stand. Er musste sich unbedingt bei Brenner für sein Verhalten entschuldigen. Aber alles zu seiner Zeit, dachte Sontheim, als er durch den kleinen Stadtgarten vorbei an der Statue des nackten Kindes mit den beiden Schildkröten unter dem rechten und linken Arm lief. Doch irgendwie wurde er das schlechte Gewissen, Brenner bisher nicht angerufen zu haben, auf seiner Laufrunde nicht los. Immerhin ging es um das Leben einer jungen Frau. Aber mehr als die Polizei zu informieren, konnte er ohnehin nicht tun. Jedenfalls redete er sich das ein, wohl eher, um sich selbst zu beruhigen. Als Sontheim die Stepprathstraße erreichte, raste ein roter Audi A1 an ihm vorbei. Dasselbe Modell, das auch Georg Laumann, der Schlächter von Köln, damals gefahren hatte. Ob er nun wollte oder nicht, er wurde immer wieder an die Ermittlungen vor sechs Jahren erinnert. Eine Stunde, nachdem er aufgebrochen war, betrat er die Wohnung. Insgeheim hatte er gehofft, dass er dort von der Polizei erwartet wurde, um ihn noch einmal zu dem Überfall zu befragen. Oder er zumindest eine Nachricht vorfand, dass die Bullen mit ihm sprechen wollte. Dann hätte er wenigstens gewusst, dass man seiner Anzeige die erforderliche Aufmerksamkeit schenkte. Aber weder hatte ihn jemand erwartet, noch hatte er eine Nachricht vorgefunden. Dementsprechend enttäuscht war er. Gegen Mittag war er selbst kurz davor gewesen, bei der Polizei anzurufen, um nachzufragen, ob die Ermittlungen aufgenommen wurden und möglicherweise sogar schon Ergebnisse vorlagen. Aber letztlich hatte er doch davon abgesehen. Im Verlauf des weiteren Tages war es ihm dann tatsächlich doch noch gelungen, den Gedanken an die junge Frau in den Hintergrund zu drängen.

4. Kapitel

 

Dienstag, 22. Mai 2018

 

Der zweite Tag nach dem Überfall begann wie der Morgen zuvor. Eine Stunde joggen, anschließend eine heiße Dusche und ein ausgedehntes Frühstück. Sontheim hatte sich gerade den letzten Löffel seines Müslis in den Mund geschoben, als er durch eine Nachricht im Lokalteil des Radios aufgeschreckt wurde. Fast hätte er den Bericht sogar überhört, da er das Radio nur ganz leise im Hintergrund laufen ließ. Aber als er das Wort Frauenleiche aufschnappte, war er sofort zu dem Gerät geeilt, um es lauter zu stellen.

»Wie die Polizei mitteilte, wurde der Leichnam der jungen Frau in den frühen Morgenstunden von einem Mitarbeiter eines Baumarktes in einem Gebüsch im Gewerbegebiet Köln-Pesch gefunden. Weder die Identität der Frau noch die Todesumstände konnten bisher geklärt werden. Brüssel, die Außenminister …« Sontheim schaltete das Gerät aus und ließ die Worte der Nachrichtensprecherin noch einmal Revue passieren. Er wusste, wie die Frau gestorben war. Und was noch viel schlimmer für ihn war, sie könnte möglicherweise noch leben, wenn er etwas aufmerksamer gewesen wäre und den Angreifer bemerkt hätte. Ansonsten passte alles zu der Vorgehensweise des Schlächters. Er hatte sich seiner Entführungsopfer innerhalb der ersten achtundvierzig Stunden nach ihrer Entführung entledigt. Und der Fundort der Leichen hatte sich entweder in einem Gewerbegebiet im Großraum von Köln befunden oder an abgelegenen Orten, wohin sich allenfalls Spaziergänger verirrten. Das konnte kein Zufall sein. Und knapp zwei Stunden später sollten sich seine Befürchtungen als richtig herausstellen.

5. Kapitel

 

Als es klingelte und Sontheim die Wohnungstür öffnete, traute er zunächst seinen Augen nicht.

»Jürgen?« Sein ehemaliger Partner hatte sich seit ihrem letzten Kontakt vor knapp drei Jahren kaum verändert. Der Vierundvierzigjährige mit der Halbglatze und der drahtigen Figur eines Dreißigjährigen trug immer noch Anzug und Krawatte im Dienst. Und von seinem Horst-Schimanski-Gedächtnis-Schnauzer hatte er sich auch noch nicht getrennt.

»Ja, Jürgen. Und das ist mein Kollege David Jerat. Mordkommission Köln. Aber das hast du dir ja wahrscheinlich schon gedacht.«

Jerat war das genaue Gegenteil von Brenner. Etwa eins siebzig groß, volles blondes und nach hinten gegeltes Haar, durchtrainiert. Ein Kraftpaket. Kantiges Gesicht. Höchstens Mitte dreißig, schätzte Sontheim und in Jerats Blick lag pure Entschlossenheit.

»Ja, nein. Klar habe ich damit gerechnet, dass die Polizei früher oder später bei mir auftaucht. Aber mit dir habe ich ganz bestimmt nicht gerechnet. Ich dachte, du arbeitest jetzt in Düsseldorf.«

»Das habe ich vier Jahre lang. Aber ich hatte Sehnsucht nach unserem Dom und dem FC. Außerdem wollte ich wieder auf die richtige Seite des Rheins wechseln. Aber wir sind nicht hier, um ein wenig Small Talk zu führen, Lukas. Können wir reinkommen?«

Sontheim ließ die beiden Ermittler eintreten und führte sie ins Wohnzimmer. Sie nahmen auf der Couch Platz, während er sich in Ermangelung einer weiteren Sitzgelegenheit einen Stuhl aus der Küche holte.

»Gut siehst du aus, wenn ich das mal so sagen darf«, meinte Brenner, als Sontheim sich ebenfalls hingesetzt hatte.

»Danke, es geht mir auch gut. Ich bin seit knapp elf Monaten trocken und bekomme mein Leben wieder Stück für Stück in den Griff!«

»Freut mich zu hören. Wir sind hier, um mit dir über das …«

»… tote Mädchen zu sprechen«, schnitt Sontheim seinem Ex-Partner das Wort ab.

»Du hast es also schon in den Nachrichten gehört?«

»Habe ich. Sei ehrlich zu mir. Wann hast du von meiner Anzeige gehört? Bevor oder nachdem die Leiche gefunden wurde?«

»Ich will dir gar nicht erst etwas vormachen, Lukas. Wir sind erst vor knapp einer Stunde darauf aufmerksam gemacht worden. Offensichtlich hat sich, nachdem die Meldung vom Leichenfund die Runde gemacht hatte, jemand an deinen Besuch erinnert und uns informiert.«

»Leider zu spät, wie man sieht. Vielleicht könnte das Mädchen noch leben, wenn mich dieser Schmidtke ernst genommen hätte«, erwiderte Sontheim verbittert.

»Das ist reine Spekulation zu diesem Zeitpunkt. Wir wissen weder, wann sie gestorben ist, noch ob es sich bei dem Opfer überhaupt um die Frau handelt, die du glaubst in der besagten Nacht gesehen zu haben. Deshalb sind wir ja auch jetzt hier. Wir möchten dich bitten, uns in die Gerichtsmedizin zu begleiten, um die Tote zu identifizieren.«

»Die ich glaube, gesehen zu haben? Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, Jürgen?« Sontheim war keineswegs der ironische Unterton in Brenners Stimme entgangen. »Ich habe mir das nicht eingebildet. Genauso wenig wie den Schlag auf meinen Hinterkopf! Von daher werde ich euch selbstverständlich begleiten.«

»Danke. Niemand will dir absprechen, dass du vor zwei Nächten dieser Frau begegnet bist. Du musst aber zugeben, dass die Geschichte auf den ersten Blick abstrus klingt. Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass ausgerechnet dir diese Frau vor dein Auto gelaufen ist. Dennoch gebe ich dir recht. Schmidtke hätte die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfen. Und sollte sich herausstellen, dass es sich bei der Toten um die Frau handelt, die du gesehen hast, werde ich ihn mir persönlich vorknöpfen.«

»Wie viele Frauenleichen mit zugenähten Mündern werden in Köln eigentlich so im Jahr gefunden?«, meinte Sontheim sarkastisch.

»Können wir dann jetzt los?«, blieb Brenner locker. Jerat hingegen war offensichtlich verärgert und wollte etwas erwidern, wie Sontheim mit Genugtuung festgestellt hatte. Aber eine beschwichtigende Geste des Hauptkommissars bremste Jerat gleich wieder aus.

»Ich ziehe mir nur schnell noch Schuhe an. Dann können wir los.«

Fünf Minuten später befand sich das Trio auf dem Weg zum gerichtsmedizinischen Institut der Universität Köln. Jerat steuerte den Dienstwagen, einen funkelnagelneuen BMW, wie Sontheim anhand des niedrigen Kilometerstandes von der Rückbank aus erkannte.

»Darf ich eine Frage stellen?«, meinte der ehemalige Ermittler nach ein paar Minuten, in denen sich die Männer angeschwiegen hatten.

»Nur zu«, erwiderte Brenner.

»Ich weiß, dass eurem Opfer die Augenlider entfernt wurden und der Mund zugenäht wurde. Sonst wärt ihr gar nicht erst auf direktem Weg zu mir gekommen und hättet gefragt, ob ich das Opfer identifizieren kann. Wurden ihr außerdem die Fingernägel und Brustwarzen entfernt?«

»Du weißt, dass wir aus ermittlungstechnischen Gründen nicht mit dir darüber reden dürfen.«

»Und du vergisst, dass ich selbst mal bei der Truppe war. Insofern werte ich deine ausweichende Antwort einmal als Ja. Demnach wurden ihr darüber hinaus noch mehrere Zehen amputiert und sie wurde gebrandmarkt?« Brenner antwortete nicht. Er blickte weiterhin stur geradeaus. »Also, ja. So etwas habe ich schon befürchtet. Ich zermartere mir seit zwei Tagen das Hirn, wie das möglich ist. Haben wir mit Laumann damals den falschen Täter geschnappt? War er nur ein Bauernopfer des wahren Täters? Obwohl das eigentlich nicht möglich ist, oder siehst du das anders?« Weder Brenner noch Jerat gingen auf Sontheims Fragen ein. »Rede mit mir, Jürgen! Was geht da vor? Ist das ein Nachahmungstäter oder haben wir damals Scheiße gebaut?«

»Ich würde dir sehr gerne die passenden Antworten darauf geben. Aber das kann ich nicht. Wir wissen selbst nicht, mit wem wir es zu tun haben. Und das ist die Wahrheit!«

»Konntet ihr die Identität der Frau inzwischen klären?« »Das konnten wir. Es handelt sich um eine einundzwanzigjährige Kunststudentin.«

»Deren Namen ihr mir aus ermittlungstechnischen Gründen natürlich jetzt nicht nennen werdet. Obwohl es nur eine Frage der Zeit ist, bis er in den Medien auftaucht.«

Doch Brenner reagierte gar nicht erst auf diese Bemerkung. Und auch die restliche Zeit der insgesamt knapp zwanzigminütigen Fahrt verbrachten die drei Männer schweigend. Erst als sie das Gebäude des rechtsmedizinischen Instituts der Uniklinik betraten, sprach Brenner wieder mit Sontheim und erklärte ihm das folgende Prozedere. Als ob er das nicht kannte, dachte Sontheim währenddessen, verkniff sich aber einen bissigen Kommentar dazu. Als sich die Fahrstuhltür zu den Fluren mit den Obduktionssälen und Kühlkammern im Untergeschoss des Gebäudes öffnete, stieg Sontheim sofort der beißende Geruch von Desinfektionsmitteln, Blut und diversen anderen Gerüchen, die der Tod mit sich brachte, in die Nase. Er hatte die Besuche in der Rechtsmedizin schon zu seiner Zeit als Ermittler der Mordkommission gehasst. Und insgeheim hatte er gehofft, diese Erfahrung nie mehr machen zu müssen. Aber in diesem Fall ging kein Weg daran vorbei.

»Warte bitte hier«, meinte Brenner an Sontheim gewandt, als sie vor der Schiebetür mit der Aufschrift Obduktionssaal 2 angekommen waren. Während sein Ex-Partner und Jerat den hinter der Tür liegenden Raum betraten, wartete er geduldig auf dem Flur. Etwa zwei Minuten später öffnete sich die Tür wieder und Jerat trat heraus.

»Doktor Fahrenhorst hat bereits mit der Obduktion begonnen. Trotzdem dürfen wir Sie kurz dazuholen, da die Identifizierung des Opfers nicht warten kann. Aber keine Angst. Bis auf das Gesicht ist nichts zu erkennen. Allerdings muss ich Sie vorwarnen. Es riecht nicht gerade angenehm da drin.«

»Keine Angst, Jerat. Wie Sie wissen, war ich selbst einmal bei der Mordkommission. Habe sie sogar geleitet. Das wirft mich schon nicht um.«

»Nun denn. Dann folgen Sie mir bitte«, erwiderte der muskulöse Oberkommissar und schob die Tür zum Obduktionsbereich auf, wartete, bis Sontheim eingetreten war, und schloss sie wieder. Sontheim hatte den Geruch oder besser gesagt Gestank, der ihm jetzt beim Betreten entgegenschlug und um ein x-Faches intensiver war als auf dem Flur, erheblich unterschätzt. Er hatte Mühe, sich nicht übergeben zu müssen. Er konnte förmlich spüren, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Aus den Augenwinkeln heraus konnte er erkennen, dass Jerat nicht entgangen war, wie er auf den Verwesungsgeruch reagierte. Der Ermittler grinste und hatte sichtlich Spaß.

»Meine Güte, du bist ja weiß wie die Wand. Durch den Mund atmen«, erinnerte ihn Brenner, dem ebenfalls aufgefallen war, dass sein Ex-Kollege mit der Situation schwer zu kämpfen hatte.

Diesen Rat hatte ihm damals schon sein Ausbilder erteilt, als er das erste Mal an einer Obduktion teilnehmen musste. Er atmete zwei-, dreimal tief durch den Mund und tatsächlich wurde es ein wenig besser. Jetzt erst war er in der Lage, einen genauen Blick Richtung Obduktionstisch zu werfen. Um ihn herum standen neben Brenner und Jerat noch eine attraktive Frau mit langen blonden Haaren und ein Mann. Doktor Fahrenhorst und seine Assistentin, wie er vermutete.

»Darf ich dir Frau Doktor Fahrenhorst und ihren Assistenten, Patrick Lentzen, vorstellen«, meinte Brenner. Sontheim war froh, dass er nicht vorgeprescht war und Lentzen mit »Schön, Sie kennenzulernen, Herr Doktor«, angesprochen hatte.

»Guten Morgen zusammen«, begrüßte er die beiden stattdessen, was sie jeweils mit einem kurzen Nicken erwiderten. »Dann wollen wir mal keine Zeit verlieren und das Ganze hier hinter uns bringen, damit wir unsere Arbeit fortsetzen können«, ergriff nun Doktor Fahrenhorst, deren rechter Nasenflügel ein dezentes Piercing zierte, das Wort. »Treten Sie bitte an den Tisch«, forderte sie Sontheim auf.

Er trat zwei Schritte näher an das Kopfende des Sektionstisches, sodass er das gut ausgeleuchtete Gesicht der ermordeten Frau sehen konnte. Obwohl er sie nur im schwachen Schein seiner Taschenlampe gesehen hatte, erkannte er sie sofort wieder. Hatte er noch vor nicht einmal sechsunddreißig Stunden in die flehenden Augen einer jungen Frau geschaut, so war ihr Blick jetzt tot und ausdruckslos. Wie er das bereits zu Protokoll gegeben hatte, fehlten ihr die Augenlider. Der einzige Unterschied zu ihrer ersten Begegnung war, dass ihr die Nähte, mit denen der Mund zugenäht gewesen war, mittlerweile entfernt worden waren. Von Doktor Fahrenhorst, wie er vermutete. Aber das war längst nicht alles, was ihm aufgefallen war. Ein Laken bedeckte zwar den Großteil des Leichnams der jungen Frau, aber dennoch hatte er bemerkt, dass oberhalb des Brustbeins größere Wundbereiche zu erkennen waren. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass ihr diese Verletzungen durch einen Brustreißer zugefügt worden waren. Außerdem lugte die rechte Hand des Opfers unter dem grünen Tuch hervor. Ihr fehlten sämtliche Fingernägel. Genau diese Art von Verstümmelungen hatte der Schlächter seinen Opfern damals auch zugefügt.

»Sie ist es«, sagte er schließlich.

»Bist du dir sicher? Es war dunkel und du hast sie nur kurz gesehen, bevor du niedergeschlagen wurdest. Nimm dir ruhig Zeit, bevor du dich vorschnell festlegst«, meinte Brenner.

»Das ist die Frau, die ich fast überfahren hätte. Wie ich dir schon einmal gesagt habe, dürfte es auch nicht allzu viele Frauen in Köln geben, denen Derartiges angetan wurde«, erwiderte Sontheim in Anspielung auf den zugenähten Mund und die entfernten Augenlider. »Es besteht kein Zweifel!«, fuhr er fort und verließ daraufhin, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, den Obduktionssaal. Auf dem Flur atmete er erst einmal tief durch. Auch wenn er darauf vorbereitet war, hatte ihm die Identifizierung des Opfers arg zugesetzt. Kurze Zeit später tauchten auch schon Brenner und Jerat hinter ihm auf.

»Ich muss dich bitten, mit niemandem über das, was du gesehen hast, zu sprechen«, erklärte sein Ex-Partner unnötigerweise.

»Das ist mir klar, Jürgen. Könntest du bitte aufhören, mich wie einen Idioten zu behandeln. Wir haben schließlich jahrelang zusammengearbeitet. Und es ist nicht gerade so, dass ich mir alle Gehirnzellen weggesoffen habe und du mir deshalb bei jeder Gelegenheit das kleine Einmaleins der Polizeiarbeit erklären musst.«

»Sorry, so war es nicht gemeint. Das ist reine Angewohnheit. Und danke, dass du uns begleitet hast, um sie zu identifizieren.«

»Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich sie hätte retten können.«

»Das kann ich mir vorstellen, geht mir nicht anders. Aber weder du noch wir hatten meiner Meinung nach eine realistische Chance, das Mädchen zu retten. Wer auch immer dahintersteckt, hatte das exakt so geplant!«

Sontheim starrte Brenner ungläubig an. Auch Jerat warf seinem Kollegen einen fragenden Blick zu.

»Was meinst du damit«, fragte Sontheim, obwohl er die Antwort darauf bereits kannte. Schließlich hatte er sich seit dem Vorfall selbst mit dem Gedanken rumgeschlagen. »Glaubst du ernsthaft, dass es nur ein Zufall war, dass die Frau, die bei Frau Doktor Fahrenhorst auf dem Tisch liegt, ausgerechnet vor dein Auto gelaufen ist? Vor den Wagen des Mannes, der federführend für die Verhaftung des Schlächters verantwortlich war. Es liegt doch auf der Hand, dass der Mörder des Mädchens das genauso geplant hat. Du solltest ihr begegnen. Deswegen ist sie auch an der von dir beschriebenen Stelle auf die Straße getreten. Natürlich nicht ganz freiwillig, wie du dir denken kannst. Da hat ihr Entführer schon nachgeholfen. Du warst gerade mal so schnell, dass du eine realistische Chance hattest, der Frau rechtzeitig auszuweichen. Dass du diese Strecke jeden Sonntagabend fast zur selben Zeit fährst, war nicht sonderlich schwer herauszufinden. Das hat mich gerade einmal einen Anruf bei deinen Eltern gekostet. Und sage jetzt nicht, dass du nicht auch schon darüber nachgedacht hast. Du glaubst nicht an Zufälle. Und ich tue das auch nicht.«

Sontheim wusste, dass Brenner recht hatte. Er selbst hatte das ja auch schon vermutet. Neben der Tatsache, dass der Täter den Vorfall eigens für ihn inszeniert hatte, sprach sein Ex-Partner indirekt noch einen anderen wichtigen Punkt an, der sicherlich Grund für seine schlaflosen Nächte gewesen war. Der Täter kannte seine Gewohnheiten und das konnte nur bedeuten, dass er ihn über einen längeren Zeitraum beobachtet haben musste. Und dieser Gedanke ließ ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen.

6. Kapitel

 

Nachdem Brenner und Jerat ihn zu Hause abgesetzt hatten, legte Sontheim erst einmal Master of Puppets von Metallica auf den Plattenteller und drehte seine Stereoanlage auf. Bei lauter Musik konnte er immer noch am besten nachdenken. Wenn Brenners Theorie zutraf, und daran hatte er aufgrund seiner eigenen Schlussfolgerungen nicht den geringsten Zweifel, dann hatte der Täter ihn persönlich herausgefordert. Allerdings war ihm nicht klar, warum er das getan hatte? Der Killer musste doch gewusst haben, dass er nicht mehr bei der Polizei arbeitete, wenn er ihn zuvor beobachtet hatte. Oder war gerade das der Reiz für ihn? Hatte er deshalb die Aufmerksamkeit so gezielt auf Sontheim gelenkt, um ihn mit diesem ebenso raffinierten wie perfiden Plan mit in die Geschichte einzubeziehen? Weil er wollte, dass die beiden Ermittler, die damals Laumann überführen konnten, wieder mit von der Partie waren? Demnach wusste der Unbekannte auch, dass Brenner wieder in Köln arbeitete. Eins hatte der Mörder der jungen Frau auf jeden Fall schon einmal erreicht. Er konnte die Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Nicht so lange die ihm zugedachte Rolle bei diesem Spiel unklar war. Aber ob er nun wollte oder nicht, die Ereignisse der letzten beiden Tage hatten ganz offensichtlich wieder ein Feuer in ihm entfacht, von dem er dachte, dass es längst erloschen war. Und er wusste nicht, ob er sich über diese Erkenntnis freuen oder sie hassen sollte?! Jedenfalls war er nicht bereit, das Feld ausschließlich der Polizei beziehungsweise seinem alten Weggefährten Brenner zu überlassen. Bliebe noch die Frage zu klären, ob hier ein Nachahmungstäter am Werk war oder ob sie mit Georg Laumann damals tatsächlich einen Unschuldigen verhaftet hatten? Wenn Letzteres der Fall gewesen sein sollte, warum hatte der wahre Täter dann sechs Jahre gewartet, bis er wieder zuschlug? Sontheim holte einen Collegeblock aus der Schublade des Wohnzimmerschranks, der eigentlich längst auf den Sperrmüll gehört hätte, alt und marode wie er mittlerweile war. Er machte ein paar Notizen, eine Marotte, die er schon zu alten Ermittlerzeiten gehabt hatte. Bei jeder Gelegenheit hatte er damals Informationen aller Art in sein kleines Notizbuch geschrieben, das er immer mit sich geführt hatte. Als er damit fertig war und noch eine Kleinigkeit gegessen hatte, fasste er den Entschluss, noch einmal zur Brühler Landstraße zu fahren, um sich an dem Ort, wo er dem späteren Mordopfer begegnet war, ganz in Ruhe bei Tageslicht umzusehen. Vielleicht entdeckte er etwas, was für die Ermittlungen der Polizei relevant war. Oder für seine eigenen. Als er das Ziel erreichte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass ein Team der Spurensicherung der Kölner Polizei in ihren weißen Schutzanzügen damit beschäftigt war, den Bereich großräumig zu untersuchen. Einerseits war er darüber verärgert, dass die Weißmänner seine Pläne durchkreuzten. Andererseits war Sontheim froh, dass die Polizei seine Hinweise inzwischen ernst nahm und der Sache nachging. Er passierte den Bereich, den die KTU untersuchte, und fuhr erst einmal zu seinen Eltern, die in der Nähe wohnten. Sie würden sich ganz bestimmt über einen spontanen Besuch ihres Sohnes freuen, überlegte Sontheim. Nach eineinhalb Stunden, in denen er immer wieder nervös auf die Armbanduhr geschaut hatte, beendete er den Besuch bei seinen Eltern und wagte einen neuen Versuch, sich den Ort des Überfalls anzusehen. Er fuhr Richtung Ortsausgang zu der Stelle, wo er vor über vierzig Stunden der jungen Frau, die jetzt im Leichenschauhaus lag, begegnet war. Schon von Weitem erkannte er, dass das Team der SpuSi die Arbeit beendet hatte. Er stoppte seinen Mazda etwa an der Stelle, wo die Unbekannte an jenem Abend so plötzlich auf die Straße gelaufen war, und schaltete die Warnblinkanlage ein. Dann stieg er aus seinem Wagen und steuerte geradewegs auf das angrenzende Feld zu. An dem plattgetretenen Gras am Feldrand erkannte Sontheim, dass die Beamten der KTU auch hier nach Spuren gesucht hatten. Er fragte sich, ob ihre Suche von Erfolg gekrönt gewesen war? Unabhängig davon konnte es nicht schaden, sich hier noch einmal umzuschauen, dachte Sontheim. Nach einer Viertelstunde brach er das Unterfangen allerdings unverrichteter Dinge wieder ab und fuhr zurück nach Hause. Bis zu den frühen Abendstunden brachte er eine Liste mit möglichen Verdächtigen zu Papier. Es handelte sich um Personen, die sie im Zuge der Ermittlungen vor sechs Jahren vernommen hatten, bis sie Laumann letztlich als Täter überführen konnten. Oder sollte er mutmaßlichen Mörder sagen? Obwohl die Beweise damals eindeutig für die Schuld des Hausmeisters gesprochen hatten, waren ihm seit der unheimlichen Begegnung am Sonntagabend Zweifel gekommen. Als er den Namen, die er notiert hatte, weitere Informationen wie Zeugen, Alibis und mögliche Motive zuordnen wollte, musste er sich schließlich eingestehen, dass seine Gedächtnislücken deutlich größer waren, als er gedacht hatte. Und das war ganz sicherlich nicht nur eine Folge seines massiven Alkoholkonsums. Die Ermittlungen lagen einfach schon zu lange zurück. Aber er wusste, wer ihm helfen konnte, diese Lücken zu schließen. Er hatte zwar seit seiner Entlassung aus dem Polizeidienst keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Aber Sontheim war davon überzeugt, dass der Mann ihm trotzdem helfen würde. Ein Blick ins Internet verriet ihm, dass er immer noch in der Sporergasse wohnte. Er zog sich Schuhe und Jacke an und machte sich auf den Weg in die Kölner Innenstadt. Er hoffte, dass Ali zu Hause war!

7. Kapitel

 

Andreas Lichtenstein, den Sontheim immer nur Ali nannte, war zu seinen aktiven Zeiten in der Hackerszene als OneZero bekannt. Das Computergenie war wenig begeistert, als der Ex-Ermittler so unvermittelt bei ihm auftauchte. Er musste dem Mann gut zureden, bis er ihn endlich in die Wohnung ließ.

»Jacke, Handy, Pistole und alle sonstigen tragbaren Gegenstände bitte in die Stahlkassette da vorne legen und abschließen. Die Innentasche deiner Hose nach außen stülpen«, meinte Lichtenstein, als Sontheim die Wohnung betrat. »Immer noch so paranoid wie früher, Ali? Obwohl du mittlerweile die Seiten gewechselt hast und einer von den Guten bist?«, erwiderte Sontheim, während er damit begann, alles in die Kassette zu legen. Er kannte das Prozedere noch von früher. Das Verstauen der Gegenstände sollte unter anderem verhindern, dass man heimlich Tonmitschnitte der Gespräche, die in seinen vier Wänden geführt wurden, machte. Lichtenstein hatte sich in den knapp sechs Jahren seit ihrem letzten Aufeinandertreffen kaum verändert, wie Sontheim feststellen konnte. Sportliche Figur, schulterlanges blondes Haar, Ohrring im linken Ohrläppchen, gut aussehend. Er entsprach eher dem Typ Surferboy. Rein äußerlich war er schon ein kompletter Gegenentwurf des klassischen Computer-Nerds, den man klischeemäßig im Kopf hatte. Außerdem verbrachte er seine Zeit nicht ausschließlich vor dem Rechner, wie die braun gebrannte Haut verriet, und er litt auch nicht an Sozialphobie, wie man das Computer-Genies ja gerne nachsagte. Die leicht paranoiden Züge, die er an den Tag legte, hatte er offenbar immer noch nicht ablegen können – er war chronisch misstrauisch, wenn es um staatliche Institutionen und deren Mitarbeiter ging. Sein Pseudonym OneZero aus alten Hackerzeiten hatte Lichtenstein in Anlehnung an den Binärcode ausgewählt. Dieser bildete vereinfacht gesagt die Grundlage für die Verarbeitung digitaler Informationen und wurde durch die Zahlen null und eins dargestellt. Lichtensteins Ruf in der Szene damals war legendär gewesen. Jahrelang war er unerkannt geblieben und hatte die Strafbehörden das eine oder andere Mal an der Nase herumgeführt. Bis ein anonymer Hinweis auf seine Spur geführt hatte. Statt ihn hinter Gitter zu bringen, hatte man ihm einen Deal angeboten, und er war darauf eingegangen. Von diesem Zeitpunkt an hatte die Polizei bei Bedarf OneZeros Dienste in Anspruch genommen, wann immer die gesetzlichen Rahmenbedingungen unorthodoxe Ermittlungsmethoden erforderten. Inoffiziell natürlich. Gleichzeitig war dem Hacker untersagt worden, seine Fähigkeiten gesetzeswidrig einzusetzen. Stattdessen hatte Lichtenstein sein Wissen anderweitig angewendet und sich als Berater für Unternehmen selbstständig gemacht, um deren Sicherheitslücken aufzudecken und vor Angriffen von außen zu schützen. Das hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass diese Tätigkeit nicht nur gut bezahlt wurde, sondern er sich außerdem aussuchen konnte, wann er arbeitete und in welchem Umfang.

»Ich nenne es vorsichtig. Außerdem kennst du die Regeln. Warum sollten die sich geändert haben, nur weil du nach so langer Zeit hier bei mir auftauchst. Wenn es dir nicht passt, nimm deinen Kram und geh wieder!«

»Schon gut, reg dich wieder ab.« Sontheim hob beschwichtigend die Hände.

»Was verschafft mir die Ehre? Wir haben uns mindestens fünf Jahre nicht mehr gesehen«, meinte Lichtenstein, nachdem sie im Wohnzimmer Platz genommen hatten.

»Es sind fast sechs Jahre, um es genau zu sagen. Und so wie ich dich kenne, wusstest du das ganz genau. Wahrscheinlich erinnerst du dich sogar noch an das Datum meines letzten Besuchs. Dass ich ein Alkoholproblem hatte und bei der Polizei rausgeflogen bin, weißt du sicherlich auch.«

»Erwischt«, erwiderte Lichtenstein grinsend, wobei er seine strahlend weißen Zähne zeigte. »Also, was treibt dich zu mir?«

»Ich brauche deine Hilfe. Hast du von der Frauenleiche gehört, die heute Morgen im Gewerbegebiet Pesch gefunden wurde?«

»Ja, davon hab ich im Internet gelesen. Böse Sache.« »Böse und mysteriös. Ich habe diese Frau vor zwei Tagen fast überfahren. Ich konnte ihr gerade noch ausweichen. Als ich ihr helfen wollte, wurde ich niedergeschlagen.« »Autsch!«

»Im wahrsten Sinne des Wortes. Das war leider aber noch nicht alles. Ihr Mund war zugenäht und ihr waren die Augenlider entfernt worden.«

»Du meinst wie damals beim Schlächter? Ich hoffe, du verarschst mich gerade nur!«

»Ich wünschte, es wäre so. Ich glaube kaum, dass dieser Beinaheunfall ein Zufall war. Und Brenner glaubt das auch nicht.«

»Moment, nicht so schnell. Was hat Brenner damit zu tun?« »Du wusstest nicht, dass er wieder in Köln ist?«

»Nein, das ist mir neu. Ich weiß nur, dass er damals nach Düsseldorf gegangen ist. Und abgesehen davon arbeite ich seit knapp drei Jahren nicht mehr für deinen Ex-Verein. Seit der neue Polizeipräsident im Amt ist, werden meine Dienste nicht mehr benötigt. Ist mir auch nicht ganz unrecht, wenn ich ehrlich sein darf. Bist du denn mittlerweile wieder im Dienst und arbeitest mit deinem ehemaligen Partner zusammen?«

»Negativ. Ich bin nach wie vor Privatier. Und wenn Brenner wüsste, was ich vorhabe und dass ich dich mit einbeziehe, weil ich deine Hilfe brauche, wäre er wahrscheinlich ziemlich angepisst. Was ich dir jetzt erzähle, bleibt bitte unter uns, Ali. Habe ich dein Wort?«

»Du wärst kaum zu mir gekommen, wenn du mir nicht vertrauen würdest.«

»Also gut. Mund und Augen waren nicht die einzigen Gemeinsamkeiten mit den Morden von damals. Ich vermute, dass das Mädchen auf exakt dieselbe Art und Weise gefoltert und umgebracht wurde wie die fünf Frauen vor sechs Jahren. Auch wenn Brenner das nicht bestätigen wollte. Ich habe es an seiner Reaktion gemerkt, als ich ihn drauf angesprochen habe.«

»Ein Nachahmungstäter?«

»Entweder das oder Laumann war damals doch nicht der Täter und der wahre Schlächter treibt wieder sein Unwesen. Aber egal welche Theorie zutrifft. Der Mörder wollte, dass ich persönlich involviert bin.«

»Aber du bist kein Bulle mehr. Warum überlässt du das nicht einfach Brenner und seinen Kollegen?«

»Hast du mir gerade nicht zugehört? Ich bin der ermordeten Frau kurz vor ihrem Tod begegnet. Und es war alles andere als eine zufällige Begegnung. Wie könnte ich jetzt einfach so tun, als ob nichts geschehen wäre und mich die ganze Sache nichts anginge?«

»Ich verstehe. Und was willst du jetzt von mir?«

»Ich brauche Zugang zu den alten Ermittlungsakten.«

»Warum fragst du nicht Brenner?« »Scherzkeks! Hilfst du mir?«

»Das ist illegal.«

»Red keinen Scheiß. In Wahrheit hättest du doch deine wahre Freude daran, dein Können mal wieder unter Beweis zu stellen und den Bullen ein Schnippchen zu schlagen. Oder täusche ich mich da?«

Lichtenstein dachte nach. Aber er brauchte nicht lange, bis er anfing zu lächeln.

»Du kennst mich wirklich gut, Lukas Sontheim. Sag mir, was du genau brauchst, und ich werd es dir besorgen.«

»Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Ali. Und das nach all den Jahren! Danke.«

 

Fast zeitgleich weidete sich Sabrina Offergelds Mörder an der Berichterstattung des heutigen Tages. Jede Minute der schmerzerfüllten Folterung bis hin zu ihrem letzten Atemzug hatte er in vollen Zügen genossen. Und die Kunststudentin würde nicht das letzte Schmuckstück seiner Sammlung bleiben. Er hatte sich schon längst ein neues Objekt seiner Begierde ausgesucht.

8. Kapitel

 

Mittwoch, 23. Mai 2018

 

Noch vor Mitternacht hatte Lichtenstein Sontheim einen USB-Stick mit den Ermittlungsakten im Fall Georg Laumann zugespielt. Sein Glück war, dass heutzutage sämtliche Berichte im Computer erfasst wurden und somit für IT-Spezialisten wie Ali leicht zugänglich waren. Als Bonus hatte der Hacker ihm noch die aktuellen Ermittlungsergebnisse inklusive Obduktionsbericht des Opfers, das er am Vormittag im Leichenschauhaus identifiziert hatte, frei Haus geliefert. Die Frau hieß Sabrina Offergeld. Wie Sontheim bereits vermutet hatte, wies ihr Leichnam laut rechtsmedizinischer Untersuchung sämtliche Verletzungen auf, die der Schlächter den fünf jungen Frauen sechs Jahre zuvor ebenfalls zugefügt hatte. Zu guter Letzt wurde die Kunststudentin mit einem dünnen Draht zu Tode gewürgt. Sehr schmerzvoll für das Opfer und eine weitere Parallele zu den von Laumann begangenen Morden. Der Tod muss der jungen Studentin nach der vorangegangenen Tortur fast wie eine Erlösung vorgekommen sein, dachte Sontheim, als er den Obduktionsbericht zu Ende gelesen hatte. Das war schon bei der Mordserie damals die einhellige Meinung der Mitglieder der Sonderkommission gewesen. Im Anschluss hatte er sich den alten Ermittlungsakten gewidmet. Bis zwei Uhr in der Nacht hatte Sontheim damit verbracht, seine Tabelle mit Informationen zu damaligen Tatverdächtigen und Zeugen zu vervollständigen. Ohne dass ihn das irgendwie weitergebracht hatte, wie er zugeben musste. Dann war er erschöpft ins Bett gegangen. Der neue Morgen begann mit der üblichen Routine. Joggen, duschen und frühstücken. Dann setzte er sich wieder an den Computer. Zunächst beschäftigte er sich mit dem Abschlussbericht im Fall Laumann. Er selbst hatte ihn damals verfasst. Aber auch nachdem er ihn zum dritten Mal durchgelesen hatte, konnte er keinen Hinweis darauf finden, dass der Hausmeister möglicherweise nicht für die Morde verantwortlich gewesen sein könnte. Die Beweislast war erdrückend gewesen. Angefangen mit der simplen Tatsache, dass er alle fünf Mordopfer persönlich gekannt hatte. Zwar hatte das auch auf andere Personen, die an der Uni gearbeitet hatten, zugetroffen, aber er war letztlich der einzige Tatverdächtige gewesen, der für keinen der fünf Morde ein brauchbares Alibi hatte vorweisen können. Außerdem waren auf dem Beifahrersitz seines Wagens Haare des zweiten und vierten Opfers gefunden worden. Laumann hatte es damit begründet, dass er die beiden Studentinnen einmal nach Hause gefahren habe. Auch für diese Darstellung hatten sich keine Zeugen finden lassen. Das letzte Glied einer langen Indizienkette war schließlich ein Foto, das sie bei einer Hausdurchsuchung in Laumanns Wohnung hatten sicherstellen können. Es hatte sie nach intensiven Recherchen – Laumann hatte sich zu keinem Zeitpunkt der Untersuchungen kooperativ gezeigt und bei den Ermittlungen geholfen – zu einem leer stehenden Fabrikgebäude in Köln-Deutz geführt. Das Gebäude hatte sich als der Ort herausgestellt, an dem die fünf Frauen festgehalten, gefoltert und schließlich getötet wurden. Sontheim war davon überzeugt, dass sich Brenner inzwischen ebenfalls die alten Ermittlungsakten vorgenommen hatte, um nach möglichen Hinweisen zu suchen, die sie damals unter Umständen übersehen hatten und die Laumann im Nachhinein hätten entlasten können. Wobei der letzte Punkt ohnehin keine Rolle mehr spielte, da sich der Hausmeister noch vor Prozessbeginn das Leben genommen hatte. Sontheim war ebenso davon überzeugt, dass sein alter Partner zum gleichen Ergebnis kommen würde wie er. Es war nahezu ausgeschlossen, dass Georg Laumann unschuldig war. Das wiederum bedeutete, dass Sabrina Offergeld tatsächlich von einem Nachahmungstäter ermordet wurde, der über erstaunlich gutes Täterwissen verfügte, wie er Fahrenhorsts Obduktionsbericht entnehmen konnte. Und genau das machte Sontheim stutzig. Sie hatten damals aus ermittlungstechnischen Gründen keine Details über das Ausmaß der Folterungen bekannt gegeben. Und soweit er wusste, waren diese Einzelheiten auch nie bis zur Presse vorgedrungen. Ansonsten hätten sich die Medien wie die Geier darauf gestürzt. Eine reißerische Story ließ sich kein Zeitungsfritze durch die Lappen gehen. Die Frage war also, woher Sabrina Offergelds Mörder die Details kannte, um die Studentin nach exakt demselben Muster zu töten, wie Laumann es getan hatte? Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr kristallisierte sich ein anderer Gedanke heraus. Neben der Theorie, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelte, bestand die vage Möglichkeit, dass Laumann trotz aller Beweise, die gegen ihn sprachen, doch nicht der Schlächter von Köln war. Musste er damals nur als Sündenbock für den wahren Täter herhalten? War es möglich, dass dem Serienkiller sämtliches Beweismaterial untergeschoben worden war? Aber warum hatte er dann nie abgestritten, der Mörder der Frauen gewesen zu sein? Sein Selbstmord war wie ein nachträgliches Schuldeingeständnis aufgefasst worden, obwohl er sich nie zu den Taten bekannt hatte. Diese Möglichkeit machte die ganze Angelegenheit noch komplizierter. Aber sollte er sich nicht völlig auf dem Holzweg befinden, bedeutete das eben auch, dass der wahre Täter nie gefasst worden war. Demnach befand sich der Schlächter immer noch auf freiem Fuß und hatte wieder mit dem Morden begonnen. Sontheim lief bei diesem Gedanken ein eiskalter Schauer über den Rücken.

9. Kapitel

 

Lukas war sich darüber im Klaren, dass er das Geheimnis um die Schlächter-Mordkopie nicht lüften konnte, wenn er nur auf dem Sofa saß und alte Ermittlungsakten wälzte. Er musste auf die Straße, Untersuchungen anstellen wie früher, als er tatsächlich noch ein Ermittler war. Am liebsten hätte Sontheim mit den Recherchen im Umfeld von Sabrina Offergeld begonnen. Aber weil er befürchtete, dabei Brenner und seinen Leuten über den Weg zu laufen, sah er davon erst mal ab. Stattdessen wollte er sich zunächst auf Laumann konzentrieren. Unter Umständen war das auch der erfolgversprechendere Weg, wenn er ernsthaft in Erwägung zog, dass sie mit dem Hausmeister damals den falschen Täter verhaftet hatten. Deshalb führte ihn sein erster Weg nach Longerich. Dort wohnte der mittlerweile im Ruhestand lebende Psychologe Doktor Paul Winkler. Er hatte sich nach der Verhaftung vor sechs Jahren eingehend mit Laumann beschäftigt und im Auftrag der Staatsanwaltschaft ein psychologisches Gutachten erstellt. Der Befund war eindeutig gewesen. Nach Auffassung des Experten hatte der Schlächter von Köln an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung gelitten. Ein Krankheitsbild, bei dem die betroffene Person ständig soziale Normen missachtet, eigene Ziele rücksichtslos durchsetzt und zudem zu aggressivem und gewalttätigem Verhalten neigt.

Nach einer halben Stunde hatte Sontheim sein Ziel erreicht. So zielstrebig er seit seinem Entschluss, selbst in diesem Mordfall zu recherchieren, vorgegangen war, so unsicher war er jetzt, als er den Mazda gegenüber von Winklers Villa abstellte und ausstieg. Als er die Straße überquerte, krampfte sich sein Magen vor lauter Nervosität zusammen. »Da musst du jetzt durch, Lukas!«, motivierte er sich selbst. Der Vorgarten des stattlichen Baus sah aus wie damals, soweit er das in Erinnerung hatte. Gepflegt und minimalistisch bepflanzt. Als er klingelte, fragte er sich insgeheim, was er da eigentlich gerade machte. Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde. Der Hausherr höchstpersönlich stand vor ihm. Das Haar war mittlerweile ergraut. Das kantige Gesicht mit der Narbe über dem rechten Auge zeigte den ersten Anflug kleinerer Falten. Aber ansonsten hatte er sich kaum verändert.

»Ja, bitte?«

Es war offensichtlich, dass Winkler ihn nicht erkannt hatte.

»Herr Doktor Winkler, mein Name ist Lukas Sontheim. Wir haben uns vor sechs Jahren kennengelernt, als Sie das Gutachten im Fall Georg Laumann erstellt haben. Erinnern Sie sich an mich?«

Der Psychologe setzte die Brille, die an einer Kette um seinen Hals baumelte, auf und beäugte den Mann, der da vor ihm stand.

»Ach, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe. Sie waren der Chef-Ermittler, der Laumann verhaftet hat.«

»Das stimmt.«

»Und was möchte die Polizei von mir? Noch dazu die Mordkommission?«