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Kaum haben sich Sibille, ihre Tochter Tuuli und ihr Stiefvater Peter, der sich neuerdings Piet nennt, auf Langeoog eingelebt, tauchen die ersten Probleme auf. Sibille braucht einen Job, Tuulis Lust auf die neue Schule hält sich in Grenzen und Piets Verwandlung in einen verantwortungsbewussten Mann ist kaum auszuhalten.
Und dann ist da noch Rune, Tuulis Vater und der Mensch, den Sibille niemals wieder in ihrem Leben hatte sehen wollen, doch der wie selbstverständlich die Beziehung von damals aufleben lässt. Und natürlich Morten, den Sibille nicht so einfach vergessen kann.
Das alles tritt jedoch in den Hintergrund, als Tuulis erste große Liebe zu scheitern droht und sie plötzlich verschwunden scheint. Können Sibille und Rune ihrer Tochter helfen, obwohl sie Teil des Unglücks sind? Und warum verhält sich Piet plötzlich so eigenartig und treibt damit alle in den Wahnsinn?
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Bisherige Veröffentlichungen:
Nordseeglück-Trilogie:
Insel wider Willen: Teil 1
Träume sind wie Wellen: Teil 2
Liebe dank Turbulenzen: Teil 3
Ostseetraum-Reihe:
Tanz auf den Wellen: Teil 1
Frag nach der Liebe: Teil 2
Schau mit dem Herzen: Teil 3
Ostseeliebe-Reihe:
Kaffeeduft und Meeresluft: Teil 1
Sanddornpunsch und Herzenswunsch: Teil 2
Himbeerschaum und Dünentraum: Teil 3
Sehnsuchts-Trilogie:
Immer wieder im Juni: Teil 1
Manchmal ist das Glück ganz nah: Teil 2
Endlich schwingt die Liebe mit: Teil 3
Fernwehromane:
Zum Glück Ostseestrand: Ferien Küste Kuckucksmänner
Zum Glück Neuseeland: Kiwi gesucht
Zum Glück Costa Rica: Herzchaos im Gepäck
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Glückliche Zeiten
Die Entdeckung
Mieses Schicksal
Keine Chance
Irgendwie weiter
Alle Tage wieder
Die Zeit heilt keine Wunden
Nichts wie weg
Einer dieser Tage
Epilog
Danksagung
Impressum
Nordseeglück 2
Träume sind wie Wellen
Frida Luise Sommerkorn
Glücklich ließ sich Sibille auf der Bank vor ihrem Haus nieder. Zwei große Hagebuttensträucher schenkten ihr gnädigen Schatten. Gierig trank sie in großen Schlucken das Glas Wasser leer, das sie sich schon vor einiger Zeit eingegossen hatte, aber sie war nicht zum Trinken gekommen. Seit ein paar Tagen versuchte sie sich daran, den Vorgarten vor ihrem Haus, das sie geerbt hatte, in Ordnung zu bringen.
Sibille legte den Kopf in den Nacken und schaute den ziehenden Wolken zu. Obwohl sie nun schon einige Wochen hier auf Langeoog wohnten, konnte sie noch immer nicht glauben, dass dies nun wieder ihr Zuhause war. Manchmal fühlte sie sich wie damals, als sie noch unbeschwerte Zeiten hier verbracht hatte. Leider wurde ihr bei solchen Gedanken immer wieder schnell bewusst, dass es nie mehr wie damals werden konnte, denn Oma Greta war nicht mehr da.
Ein Schatten huschte vorbei. Sie blickte auf und schaute direkt in Mortens blaue Augen. Da stand er, gerade vom Fahrrad gesprungen, und schaute sie mit leicht schief gelegtem Kopf an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Morten mit seiner sonoren Stimme.
Sibille nickte lächelnd, blieb aber sitzen. Zu gerne wäre sie zu ihm getreten und hätte sich mit ihm unterhalten oder ihn auf ein Bier in den Garten eingeladen, aber sie wusste, dass er ablehnen würde. Seit damals hatte er sich zurückgezogen. Und sie konnte es ihm nicht verübeln.
„Ich habe nur eine Pause gemacht“, sagte sie. „Aber danke, dass du nachfragst.“
Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, dann nickte Morten und schob das Fahrrad ein Gartentor weiter. Dort wohnte er mit Herbert, seinem Großvater.
Sibille seufzte. Noch vor ein paar Wochen hatte sie ihr Herz ganz langsam öffnen können. Für Morten. Sie hatten zusammen in seiner Tischlerwerkstatt gearbeitet, waren sich zaghaft näher gekommen und seine Küsse fühlte sie noch immer auf ihren Lippen. Aber dann hatte ihr das Schicksal einen anderen Weg gewiesen. Jedenfalls kam es ihr so vor. Oder warum hatte es ausgerechnet, als es ihr richtig gut ging und sie den Entschluss gefasst hatte, mit ihrer Tochter Tuuli und ihrem Stiefvater Peter auf der Insel zu bleiben, Tuulis Vater wieder in ihr Leben treten lassen? Schließlich hatte sie es sechzehn Jahre lang geschafft, ihn aus ihren Gedanken und Gefühlen zu verbannen. Aber nun war er wieder da. Und nicht nur das. Er hatte ihr verziehen, dass sie ihm nie von ihrer gemeinsamen Tochter erzählt hatte. Er hatte Tuuli sofort kennenlernen wollen und sie in sein Herz geschlossen. Und als ob das noch nicht genug wäre, wünschte sich Rune nichts sehnlicher als eine zweite Chance mit ihr. Zu dritt, als Familie. Und ja, er war damals ihre große Liebe gewesen. Sie hatten beide Fehler gemacht, die sie nicht ungeschehen machen konnten, die sie aber vergessen würden, sobald sie wieder vereint wären. So Runes Worte.
Wenn nur diese Zerrissenheit nicht wäre! Sibille war froh, dass Rune schon nach ein paar Tagen nach ihrem Wiedersehen wieder auf See musste. Er hatte sich damals für die Hochseefischerei entschieden und den Beruf liebte er auch heute noch. Nur war er dann einfach abgehauen, gerade als sie ihm von der Schwangerschaft hatte erzählen wollen, und heute hoffte er auf eine Zukunft mit ihr, auch wenn er oft monatelang unterwegs sein würde. War es nicht das, was sie sich seit ihrer Trennung gewünscht hatte? Insgeheim und nicht einmal, ohne es sich selbst einzugestehen. Die Frage, warum es sich dann jetzt nicht einfach nur wundervoll anfühlte, brauchte sie sich nicht zu stellen. Der Mann, der ganz zaghaft an ihr Herz geklopft hatte, war gerade im Nachbargarten verschwunden. Und natürlich waren die Gefühle für Morten noch immer da.
Sibille schüttelte unwillig den Kopf. Noch blieb ihr genug Zeit, schließlich würde Rune erst in ein paar Wochen wieder hier erscheinen. Und bis dahin würde sie ihr Gefühlschaos schon geordnet bekommen. Oder am besten erstmal gar nicht mehr daran denken.
Sie schob sich von der Bank hoch, streckte ihren Rücken durch und widmete sich wieder Oma Gretas Stauden, die sie noch zu retten hoffte.
Nach zwei weiteren Stunden ließ sie sich erschöpft ins Gras sinken. Stolz betrachtete sie ihr Werk. So gefiel ihr der Vorgarten schon besser. Und sicher hätte nun auch Oma Greta ihre Freude daran gehabt. Alles vergilbte Gras und die vertrockneten Pflanzen waren verschwunden. Stattdessen zeigten sich wieder ein paar Wildrosen, deren Blüten endlich zur Geltung kamen, und jede Menge Strandflieder, der auch Meerlavendel genannt wurde. Wehmütig dachte sie an ihren Garten in Mainz, wo sie bislang gewohnt hatten, zurück. Durch das milde Klima blühte dort eigentlich alles üppig, was ihr Gärtnerherz höher schlagen ließ. Lavendel, Rosen und auch Kräuter überwinterten, wie Rosmarin und Thymian. Die würde sie hier wohl besser in Töpfen ziehen und versuchen, sie im Keller durch die kalte Jahreszeit zu bringen.
Sibille schaute auf die Uhr. Bald Zeit fürs Abendessen. Sie sammelte ihre Gartengeräte ein und lief um das Haus herum, um alles im Schuppen, der im Garten hinter dem Haus stand, zu verstauen. Danach holte sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank und gönnte sich noch ein paar Minuten der Ruhe. Sicher würde Tuuli bald vom Surfen kommen. Und dann hatte sie meistens einen Bärenhunger. Was ja verständlich war, denn sie verbrachte mittlerweile jeden Tag mit ihrem Freund Simon am Strand. Simon war Tuulis Surflehrer gewesen und hatte sie quasi vor dem Langeweiletod gerettet. Damals wusste Sibille noch nicht, dass sie sich so bald dafür entscheiden würde, auf Langeoog zu bleiben. Sie hatte die Beerdigung ihrer Großmutter hinter sich bringen und das Haus verkaufen wollen, um dann so schnell wie möglich die Insel wieder zu verlassen. Aber dann kam alles anders. Auch Tuuli hatte anfangs nur wieder nach Mainz zu ihren Freunden gewollt. Erst ein Surfkurs und besonders Simon, der nur ein Jahr älter als sie war, hatten ihre Meinung schlagartig geändert. Seitdem konnte sie es kaum noch nachvollziehen, dass ihr bisheriges Leben aus shoppen und mit Freunden abhängen bestand. So Tuulis Worte. Sibille schmunzelte. Shoppen war hier auf der Insel nur bedingt möglich und ansonsten fand sie, dass Tuuli nun eben mit Freunden am Strand abhing, statt sich in der Stadt zu treffen. Aber sie freute sich sehr, dass ihre Tochter so schnell Anschluss gefunden hatte.
Auch ihr Stiefvater Peter, der sich neuerdings Piet nannte und vehement darauf bestand, auch von ihnen so gerufen zu werden, hatte sich von Anfang an in die Insel verliebt. Und in eine Frau. Dorothea war die Besitzerin des kleinen Buchladens in der Nähe des Wasserturms. Kennengelernt hatten die beiden sich beim Dünensingen, das immer dienstags stattfand. Und schon ein paar Tage später war Piet viel unterwegs gewesen, ohne Sibille zu erzählen, wie er sich denn die Zeit auf Langeoog vertrieb. Das hatte sie mit ihrer Freundin Sonja, die damals ein paar Tage zu Besuch war, herausgefunden. Mittlerweile waren die beiden ein unzertrennliches Paar. Piet erledigte Reparaturarbeiten, die schon lange liegen geblieben waren, oder sortierte Bücher in Regale, nicht immer zu Dorotheas Zufriedenheit. Aber ihr Laden war in der Hauptsaison oft so voll, dass die Leute sich kaum aneinander vorbeidrängeln konnten. Und dann natürlich auch Bücher nicht mehr ordentlich einsortierten. Und da Dorothea die Kasse bediente, nahm sich Piet der liegengebliebenen Lektüre an.
Oft kam Dorothea mit zum Abendessen, konnte aber nie lange bleiben, da sie auf dem Festland wohnte. Um 20 Uhr fuhr die letzte Bahn zum Langeooger Hafen. Die musste sie erreichen. Sehr zu Piets Leidwesen, der sie immer wieder einlud, bei ihnen zu übernachten. Aber Dorothea dankte jedes Mal mit einem Lächeln und verschwand. Sehr geheimnisvoll. Sibille freute sich für Piet, der seit dem Tod ihrer Mutter vor ein paar Jahren trotzdem ein Familienmitglied geblieben war. Nicht zuletzt war er der einzige Opa für Tuuli.
Sibille räkelte sich. Wenn sie sich jetzt nicht bald aufraffte, würden alle eintrudeln und sie hätte nichts für das Abendessen vorbereitet.
Als sie aufstand und sich die leere Flasche Bier schnappte, entdeckte sie aus dem Augenwinkel Herbert, Mortens Großvater, der seine üppige Blumenpracht goss. Lächelnd winkte sie ihm zu und wollte gerade etwas über den Zaun rufen, als Morten zur Terrassentür hinaustrat. Sofort hielt sie die Luft an und schloss ihren Mund wieder. Herbert lächelte und nickte ihr zu. Aber sie wusste, dass er ihre Entscheidung nicht verstehen konnte. Sie war ihm unendlich dankbar dafür, dass er nach Oma Gretas Tod für sie da gewesen war und sie unterstützt hatte, wo es nur ging. Und es tat ihr im Herzen weh, dass Herbert so darunter litt, dass sie sich nicht für Morten entschieden hatte. Wobei, hatte sie sich denn entschieden? War es nicht Morten selbst gewesen, der sich zurückgezogen hatte? Was sie natürlich nachvollziehen konnte. Aber vielleicht hätte sie sich gefreut, wenn er mehr um ihre zarte Liebe gekämpft hätte. Oder befürchtete er, dass er keine Chance haben würde?
Genervt stürmte Sibille in die Küche und riss die Kühlschranktür auf. Diese vielen Gedanken machten sie noch wahnsinnig. Sie musste jetzt was tun, um sich abzulenken. Also holte sie Krabben und Eier heraus und stellte die Sahne bereit. Jetzt brauchte sie noch Kräuter. Gerade als sie überlegte, wie sie ungesehen zu ihrem Kräuterbeet gelangen konnte, stürmte Tuuli zur Terrassentür herein.
„Riesenhunger, Mama! Was gibt’s heute?“, sprudelte sie sofort los.
„Wenn du Petersilie und Dill aus dem Garten holst, mache ich Krabbenrührei. Und dazu gibt’s unser selbstgebackenes Brot von gestern“, antwortete Sibille erleichtert.
Tuuli schaute sie skeptisch an. „Und wenn ich die Kräuter nicht hole? Was gibt es dann?“
Sibille wusste, dass Tuuli nicht der größte Fan von ihrer eigenen Leibspeise war, aber meistens aß sie trotzdem mit. „Dann musst du dir selbst etwas machen“, antwortete sie lächelnd.
Wie so oft, trudelte jetzt auch Piet kurz nach Tuuli ein.
„Kannst du Petersilie und Dill holen?“, fragte Tuuli schnell, bevor Piet in Haus treten konnte.
„Ähm, euch auch einen schönen Abend“, sagte er grinsend. Dabei schüttelte er leicht den Kopf. Nach einem Blick auf die Zutaten, die auf der Arbeitsplatte lagen, hellte sich sein Gesicht noch weiter auf. „Hm, Krabbenrührei! Bin gleich wieder da.“
Tuuli seufzte. „Okay, ich gebe mich geschlagen. Aber morgen machst du mal wieder Nudeln, ja?“
Sie fläzte sich auf die Eckbank in der Küche und streckte die Beine lang unter den Tisch aus.
„Na klar, Chefin“, antwortete Sibille. „Ich fürchte nur, dass wir dafür erstmal einkaufen gehen müssen.“
„Du hast doch alle Zeit der Welt“, gab Tuuli müde von sich. Sie gähnte herzhaft. „Du arbeitest doch nicht.“
„Du auch nicht“, antwortete Sibille, gereizter, als es klingen sollte.
„Ich habe noch eine Woche Ferien. Da steht mir Freizeit zu.“ Mittlerweile hatte Tuuli die Augen geschlossen.
Als Piet Sibille die Kräuter gab und sich für eine kurze Dusche verabschiedete, schien Tuuli schon eingeschlafen zu sein.
Im Grunde hatte ihre Tochter ja recht. Sie hatte sich noch nicht so richtig entscheiden können, was sie jetzt auf der Insel machen sollte. Nach ihrer Ausbildung zur Theaterschneiderin war sofort Tuuli unterwegs gewesen und danach hatte sie Jobs angenommen, die zu einer alleinerziehenden Mutter passten. Am Ende war sie in Mainz bei einem netten Pärchen gelandet, das eine Änderungsschneiderei betrieben hatte. Aber eigentlich waren ihr diese ganzen Arbeiten zu langweilig. Sie wollte gestalten und kreativ arbeiten. Natürlich mit den Händen, aber eben auch mit interessanten Werkstoffen. Zum Beispiel Holz. Als sie vor ein paar Wochen gemeinsam mit Morten an ihrem Regal gebaut hatte, das jetzt in der Stube stand, hatte sie sich wohl und lebendig gefühlt. Sibille schluckte. Schon wieder tauchte Morten in ihren Gedanken auf. Und noch immer wusste sie weder, wie es in Liebesdingen bei ihr weitergehen konnte, noch wie sie ihre Familie ernähren würde. Sie holte tief Luft. Jetzt wollte sie erst einmal das Essen genießen, morgen konnte sie immer noch darüber nachdenken.
„Simon?“, flüsterte Tuuli.
Sie lagen eng aneinander geschmiegt im Sand und genossen die Trägheit des Nachmittags. Die Surfkurse waren für heute abgeschlossen und nun konnten sie den Rest des Tages tun und lassen, was sie wollten. So hatten sie auch schon die letzten Wochen gemeinsam verbracht. Die Tage gehörten ihnen, nur abends trennten sie sich. Außer an den Wochenenden, da saßen sie meistens gemeinsam mit Freunden am Strand und klönten bis in die Morgenstunden. Tuuli wäre schon das eine oder andere Mal gerne mit Simon allein gewesen und hätte auch die Nacht mit ihm verbringen wollen, aber die Freunde hatten immer irgendwelche Ideen, bei denen Simon nicht fehlen durfte. Außerdem hatte ihre Mutter etwas dagegen. Ständig lag sie Tuuli in den Ohren, dass sie unbedingt einen Termin beim Gynäkologen machen müsste, bevor ... Ja ja, sie wusste das auch. Aber es war ihr peinlich. Bisher war sie um so einen Termin herumgekommen. Aber nun stand er an, noch diese Woche. Und das war sicher auch gut so.
„Mhm, was is?“, murmelte Simon zurück, ohne die Augen zu öffnen oder sich zu bewegen.
Tuuli hob leicht den Kopf und küsste ihn in die Halsbeuge. Ein Lächeln huschte über Simons Gesicht.
„Ich glaube, ich war noch nie so glücklich wie jetzt. Noch nie in meinem ganzen Leben“, flüsterte Tuuli.
Simon drückte sie zärtlich an sich. „Ich glaube, ich auch nicht.“
Nun öffnete er doch die Augen und drehte sich ihr zu. Er stützte den Kopf in seine Hand und strich Tuuli mit der anderen Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Was meinst du? Wollen wir heute mal alleine etwas unternehmen? Wir könnten aufs Festland fahren und ins Kino gehen oder uns ein Eis holen und am Strand entlang laufen. Oder wir nehmen die Fahrräder und fahren zum Ostende.“
Wenn Simon sie so anlächelte, konnte sie ihm fast nicht widerstehen. Im ersten Moment hatte es Tuuli heiß durchflutet. Endlich wollte er mit ihr alleine sein. Aber als dann seine Vorschläge kamen, machte sich doch eine leichte Enttäuschung breit. Ob er sie nicht attraktiv genug fand, um ihr näher kommen zu wollen?
Jetzt begann Simon zu lachen und kniff ihr in die Seite. Dann rollte er sich leicht auf sie und küsste sie leidenschaftlich.
„Hast du wirklich gedacht, dass das meine Vorschläge für unseren gemeinsamen Abend sind?“, fragte er mit blitzenden Augen. „Solche Ausflüge würde ich mit meiner Oma oder einer Cousine machen.“
„Du bist unmöglich“, sagte Tuuli und schob Simon halbherzig von sich. Gott sei Dank hatte sie noch nicht darauf geantwortet, denn sie hatte ihm ja wirklich geglaubt. „Welche tollen Ideen hast du denn dann?“, fragte sie atemlos, denn Simon hatte sich wieder auf sie gerollt.
„Hm“, begann er und verzog genüsslich das Gesicht. „Lass dich überraschen! Ich hole dich heute Abend um acht ab. Meinst du, deine Mutter lässt dich gehen?“
Wieder fiel Tuuli der Arzttermin noch in dieser Woche ein. Und sie konnte sich vorstellen, dass ihre Mutter wenig begeistert sein würde, wenn sie von ihrem Treffen erfuhr. Andererseits musste sie ja nicht unbedingt erzählen, dass sie sich mit Simon allein traf. Schließlich war sie mit den anderen in der Gruppe schon oft bis in die Nacht am Strand gewesen. „Klar, das wird schon klappen“, sagte sie schnell und schlang ihre Arme um Simons Hals.
„Hey, wie sieht’s aus mit euch Turteltäubchen? Lust auf ein Volleyballmatch?“, rief Alwin, ein Schlaks von fast zwei Metern, und warf Simon den Ball zu.
Simon rettete Tuuli vor einem Treffer, indem er den Ball weg boxte. Er hob den Daumen in Alwins Richtung und schaute Tuuli noch einmal tief in die Augen. „Also dann, heute Abend, ja?“
Tuuli nickte lächelnd. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten wild durcheinander.
Mit einem Ruck stand Simon auf und zog Tuuli mit nach oben. „Aber jetzt ziehen wir die Luschen erstmal beim Volleyball ab“, rief er so laut, dass Alwin ihn hören konnte.
Der nickte gönnerhaft und zeigte ihm dann grinsend einen Vogel.
***
Mit schmerzverzerrtem Gesicht drückte Piet seinen Rücken durch. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen und nahm einen tiefen Schluck aus der Bierflasche, die ihm Dorothea vor einigen Minuten gebracht hatte. Es war schon nach 18 Uhr und noch immer hörte er das dumpfe Stimmengewirr der Kunden in Dorotheas Buchladen. Eigentlich machte sie nie pünktlich Feierabend, was er verstehen konnte. Wer wollte schon die zahlende Kundschaft aus dem Laden jagen. Andererseits stand ja groß und breit an der Eingangstür, wie die Öffnungszeiten waren. Nur schien das die Urlauber nicht zu interessieren. Die einen schlenderten vor dem Essen noch einmal durch den Ort, die anderen kamen gerade vom Strand. Aber alle wollten nur noch mal schnell nach einer neuen Lektüre Ausschau halten.
„Piet, kannst du mal kurz, bitte?“, rief Dorothea, die nur flüchtig den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte und schon wieder verschwunden war.
Piet blies die Backen auf. Eigentlich hatte er genug für heute. So viel wie in den letzten Wochen hatte er schon lange nicht mehr gearbeitet. Die kurzen Jobs in Mainz hatte er immer wieder mit längeren Pausen unterbrechen können. Aber für Dorothea würde er alles machen, auch wenn der Rücken eigentlich nicht mehr wollte. Seitdem er diese Frau gesehen hatte, war es um ihn geschehen. Und das in seinem Alter. Er hatte eigentlich mit dem Thema Liebe abgeschlossen und sich darauf eingerichtet, ein gemütliches Leben zu führen. Klar wusste er, dass Sibille das schon immer genervt hatte, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Und schließlich hatte er sich ja auch um Tuuli gekümmert und durch seine Jobs ab und an Geld nach Hause gebracht.
Bei Dorothea war das anders. Das hier war ihr Laden, dafür tat sie alles. Für ihr Geschäft, die Kunden und vor allem die Bücher. Wie oft hatte sie ihm von einer Neuentdeckung erzählt! Was heißt erzählt, geschwärmt hatte sie immer. Und sie konnte Geschichten so nacherzählen, dass er sich fühlte, als sei er dabei gewesen. Oder wenigstens, als habe er das Buch selbst gelesen. Das war nicht nur unglaublich beeindruckend, es bildete auch noch. Es kam sogar dazu, dass er sich Bücher von ihr empfehlen ließ und sie auch las. Das wiederum führte dazu, dass sie sich stundenlang darüber austauschen konnten. Faszinierend, was man aus einem Buch machen konnte. Nicht nur einfach lesen, sondern es auch empfinden, verstehen, diskutieren.
Schnell nahm er noch einen Schluck aus der Flasche und begab sich in den Verkaufsraum. Dorothea stand mit einem Herrn an einem der raumhohen Bücherregale und unterhielt sich angeregt.
Als sie Piet entdeckte, lächelte sie ihn dankbar an. Oh Gott, wie ihn diese Frau verzückte. Sie wirkte zierlich, fast zerbrechlich, und war doch unglaublich stark. Ihre Augen leuchteten in einem undefinierbaren Graublau wie das Meer. Dazu die kurzen, fast weißen Haare, die wild von ihrem Kopf abstanden, und die bodenlangen farbenfrohen Kleider, die sie bevorzugt trug und die doch nicht hippiemäßig wirkten.
„Piet, darf ich dir Wolfi Langer vorstellen?“, begann Dorothea, noch bevor er sie erreicht hatte. Sie hatte schon einen Arm nach ihm ausgestreckt und legte ihn nun vertraulich um seine Hüfte.
Verwundert schmiegte sich Piet an sie. So etwas gab es normalerweise nicht vor den Kunden. Oder war Wolfi Langer kein Kunde? Mit einem Blick aus den Augenwinkeln sah er, dass der Laden ansonsten leer war.
„Wolfi und ich sind zusammen in die Schule gegangen“, erzählte Dorothea weiter. „Er war meine erste große Liebe. Ach Gott, waren wir da noch jung. Jetzt arbeitet er als Reporter beim Fernsehen.“
Etwas regte sich in Piets Magen. Er hätte den letzten Schluck Bier nicht mehr runterstürzen sollen. Reflexartig zog er Dorothea noch näher an sich heran, dann taxierte er sein Gegenüber. Wolfi schien jünger zu sein als er. Klar, wenn er mit Dorothea in eine Klasse gegangen war. Leider sah er auch wesentlich eleganter aus. Er hatte noch immer dunkles Haar, nur mit leichten grauen Strähnen durchzogen. Oder war das gefärbt? Unter seinem Poloshirt zeichneten sich eindeutig Muskeln ab. Die Art, die den Frauen gefielen. Arm- und Brustmuskeln, flacher Bauch. Sicher vom Fitnessstudio, weniger von der Arbeit. Automatisch zog Piet seinen leichten Bauchansatz ein.
„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte Wolfi jetzt mit einer Stimme, die Piet nicht bei ihm erwartet hatte. Irgendwie zu hoch und quietschig. Durften Fernsehleute so klingen? Erst jetzt entdeckte er Wolfis ausgestreckte Hand.
Keine Arbeiterhand, das sah Piet sofort. Als Wolfi jetzt auch noch zu lächeln begann und dabei seine dunkelblauen Augen strahlten und gleichmäßig weiße Zähne zum Vorschein kamen, hatte Piet für einen kurzen Moment die Vorahnung von versteckter Kamera. Wenn Dorothea solche perfekten Menschen kannte, warum hatte sie sich dann mit ihm eingelassen? „Moin“, murmelte er und drückte fest Wolfis Hand.
Der zuckte kurz zusammen, sein Lächeln aber blieb.
„Weißt du, warum Wolfi hier ist?“, fragte Dorothea und strahlte Piet dabei an.
Endlich konnte er sich von Wolfis Anblick losreißen und sich wieder auf Dorothea konzentrieren. Irgendetwas schien sie mächtig zu freuen, denn sie hatte rote Wangen und ihre Augen leuchteten noch stärker als sonst.
„Er will einen Film drehen! Über meine Buchhandlung. Ist das nicht der Wahnsinn?“ Dorothea wäre ihm beinahe um den Hals gefallen, hätte nicht Wolfi dazwischen geredet.
„Eher über dich, meine Liebe. In diesem Format geht es um Unternehmer, und natürlich Unternehmerinnen, die schon ein Leben lang ihren beruflichen Traum leben. Komm, zeig mir jetzt endlich dein Geschäft, dann können wir uns über unsere Zusammenarbeit austauschen.“ Während er sprach, schaffte er es irgendwie, Dorothea aus Piets Umklammerung zu befreien und sie ganz galant mit sich zu ziehen.
Piet musste die Information erst einmal verarbeiten. Der Typ war also vom Fernsehen. Hätte er sich auch gleich denken können, so aalglatt, wie der aussah. Und jetzt wollte er ausgerechnet über Dorothea einen Film machen? Aus alter Verbundenheit, oder was? Schnell folgte er den beiden, um ja nichts zu verpassen. Und um in Dorotheas Nähe zu sein. Schließlich hatte sie ihn extra dazu geholt. Vielleicht fühlte sie sich in Wolfis Nähe ja auch nicht so wohl.
Nach einer Weile kam er sich dann aber doch ziemlich überflüssig vor. Wolfi hatte einen Block gezückt und begann darauf herumzukritzeln, während Dorothea ins Schwärmen über ihren Buchladen kam. Immer wieder ermunterte Wolfi sie mit seinem schmierigen Lächeln, weiter zu sprechen.
Weil er nun nicht mehr wusste, was er dabei sollte, aber auch nicht woanders hingehen wollte, begann Piet den Laden aufzuräumen. Es blieben immer Bücher liegen, die wieder an ihren Platz geräumt werden mussten. Auch konnte er es überhaupt nicht leiden, wenn die Bücher nicht ausgerichtet in einer Reihe standen. Gerade als er überlegte, wie der heutige Abend wohl ablaufen könnte und ob Dorothea noch einmal kurz mit zu ihm nach Hause gehen würde, legte sich eine warme Hand auf seine Schulter. Sofort fuhr er herum.
„Ist alles gut bei dir? Ich denke, die Bücher haben jetzt genug Streicheleinheiten bekommen“, lächelte Dorothea ihn zärtlich an.
Erst jetzt merkte Piet, dass er die ganze Zeit über seine Hand über die Buchrücken gleiten ließ. Schnell zog er sie fort.
„Du, Wolfi und ich wollen schon rüber aufs Festland fahren und dort noch zusammen essen gehen. Über die Dreharbeiten und alte Zeiten klönen. Ist es okay, wenn ich heute nicht mehr mit zu dir komme?“ Dorothea hatte ihre Arme um Piets Hals geschlungen und küsste ihn vorsichtig auf den Mund.
Natürlich ist es nicht okay, dachte Piet und verstärkte den Kuss. Andererseits war es wohl unvermeidbar, dass die beiden solche Dinge besprachen und über die Vergangenheit plauderten. Und da Dorothea ja sowieso in Esens wohnte, passte es besser, wenn sie sich jetzt auf den Weg machten, bevor sie später die letzte Fähre verpassen würden.
Er nickte ihr lächelnd zu, bevor sie sich von ihm löste.
„Ich rufe dich später noch an, ja?“, flüsterte sie ihm ins Ohr, bevor sie zu dritt den Laden verließen.
Dorothea und Wolfi machten sich auf den Weg zur Fähre, während Piet sein Fahrrad holte und nach Hause radelte.
Den ganzen Tag hatte Sibille damit verbracht, die alte Eckbank, die ihr Opa selbst gebaut hatte, abzuschleifen und neu zu streichen. Sie hatte sich für einen leicht gedeckten Weißton entschieden, damit die Bank sofort wieder so gemütlich und benutzt aussah wie vorher, aber doch irgendwie neu wirkte.
Zum Glück hatte das Wetter gehalten, denn solche Arbeiten machte sie am liebsten im Garten. Jetzt mussten nur noch Tuuli und Piet eintrudeln, dann konnte das gute Stück wieder an seinen Platz gerückt werden.
Mit einer Weinschorle und ihrem Laptop machte sie es sich in der Zwischenzeit auf der Terrasse gemütlich. Sie hoffte auf eine E-Mail von ihrer Freundin Sonja, die sie schon seit ihrer Ausbildung kannte und mit der sie alles besprechen konnte. Im Moment ging es eher darum, wie sie sich beruflich hier auf der Insel orientieren könnte. Sie hatte Sonja eine Liste mit Arbeitswünschen allgemein und mit ihren Vorstellungen, was davon umsetzbar war, zuschicken sollen. Sibille liebte es, wenn Sonja mit ihrem Für- und Wider-Ritual Ordnung in ihr Leben brachte. So hatte sie ihr schon manches Mal das Chaos im Kopf sortiert. Zuletzt bei der Entscheidung, auf Langeoog zu bleiben und hier ein Leben aufzubauen. Nur musste sie nun endlich auch wieder Geld verdienen. Die Renovierungen am Haus hatten schon einiges verschluckt. Und auch wenn sie keine Miete mehr zahlen mussten, standen doch Nebenkosten, Verpflegung und diverse Neuanschaffungen an.
Während sie sich gedankenverloren durch die Nachrichtenliste scrollte, tauchte plötzlich Runes Name als Absender auf. Woher hatte er ihre Mailadresse? Ihr Herz begann zu pochen. Und einem Reflex folgend schaute sie verstohlen in Nachbars Garten. Als würde Morten dort sitzen und auf telepathische Weise in ihren Mailaccount abtauchen.