Zum Glück Neuseeland - Frida Luise Sommerkorn - E-Book

Zum Glück Neuseeland E-Book

Frida Luise Sommerkorn

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Beschreibung

"Was kann jetzt noch kommen?", denkt Rosi an ihrem 60. Geburtstag. "Kaffeefahrten mit Freundinnen?" Weit gefehlt! Frederico und Karlotta, Sohn und Enkelin, halten ein ganz besonderes Geschenk für sie bereit: Eine gemeinsame Reise nach Neuseeland! Im ersten Moment ist Rosi geschockt. Hat sie doch nicht nur Bammel vor der langen Reise, sondern vor allem vor der Begegnung mit ihrer großen Liebe Fred, den sie seit 40 Jahren nicht gesehen hat. Doch dann entwickelt sich eine amüsante Fahrt über die grüne Insel und Rosi entdeckt ganz neue Seiten an sich. Nur: Wo ist Fred?

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Bisherige Veröffentlichungen:

Nordseeglück-Trilogie:
Insel wider Willen: Teil 1
Träume sind wie Wellen: Teil 2
Liebe dank Turbulenzen: Teil 3

Ostseeliebe-Reihe:
Kaffeeduft und Meeresluft: Teil 1
Sanddornpunsch und Herzenswunsch: Teil 2
Himbeerschaum und Dünentraum: Teil 3

Sehnsuchts-Trilogie:
Immer wieder im Juni: Teil 1
Manchmal ist das Glück ganz nah: Teil 2
Endlich schwingt die Liebe mit: Teil 3

Fernwehromane:
Zum Glück Ostseestrand: Ferien Küste Kuckucksmänner
Zum Glück Neuseeland: Kiwi gesucht
Zum Glück Costa Rica: Herzchaos im Gepäck

Ein Rauhnachtswunder

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Inhaltsverzeichnis

Oma, bist du schnieke!

So weit, so gut

Auckland, Augen zu und links

Fred?

Von Delphinen, Elben und Rindviechern

Stille Nacht, traurige Nacht

Das doppelte Örtchen

Eilen auf Meilen

Mitten rein

Wo auch immer

Danksagung

Meine Veröffentlichungen

Impressum

Zum Glück Neuseeland

Kiwi gesucht

Frida Luise Sommerkorn

Oma, bist du schnieke!

Sommer 2014

»Kinder, Kinder, euer Gekrächze wird von Jahr zu Jahr schlimmer!« Lachend wischte sich Rosi die Tränen aus dem Gesicht. Gerade eben war der Chor ihrer Freunde verklungen, die ihr ein Ständchen zum Besten gegeben hatten. »Aber ich danke euch von Herzen! Nun ja, 60 wird man nur einmal im Leben.« Sie räusperte sich. »Und eine Rede brauche ich vor euch, meinen liebsten Freunden und meiner Familie, nicht zu halten. Ihr wisst sowieso, was ich sagen will. Also lasst uns einfach feiern! Wie sagt man so schön: Das Buffet ist eröffnet!«

Mit einer ausladenden Geste deutete Rosi auf eine lange Tafel, die üppig gefüllt mit vielen Leckereien unter dem großen Nussbaum stand. Das weiße Tischtuch flatterte leicht im Wind. Die Sitzgruppen hatte sie wahllos auf der Wiese verteilt und mit bunten Sommersträußen aus ihrem Garten verziert. Jedes dieser Arrangements stand unter einem kleinen Pavillon. Schließlich brauchte man in ihrem Alter Schatten, um eine Gartenparty mitten im Sommer zu überstehen.

Lächelnd schaute Rosi zum wolkenlosen Augusthimmel. Spontan kam ihr die Idee, kleine Wannen für kalte Fußbäder zu verteilen. Das Thermometer war in der Zwischenzeit auf über 30 Grad geklettert und ihre Freunde waren nicht mehr die jüngsten. Sie entdeckte Herbert, ihren Freund aus Kindertagen. Die Gicht hatte seine schönen Arbeiterhände verunstaltet. Gebannt schaute Rosi auf den übervollen Teller, den Herbert in Richtung seines Platzes balancierte. Plötzlich machte der Teller halt. Rosi hob den Kopf und sah direkt in zwei spitzbübische Augen, die ihr zu verstehen gaben, dass er alles im Griff hatte. Ertappt hob Rosi die Schultern und grinste schelmisch zurück.

Ach, wenn doch alles anders gekommen wäre! Warum konnte sie sich damals nicht in Herbert verlieben? Dann hätte ihr Leben sicher andere Wendungen genommen. Aber der Platz in ihrem Herzen blieb für alle Zeiten besetzt. Unglücklich besetzt.

Rosi spürte eine Hand auf ihrer Schulter und im nächsten Augenblick wurde sie auch schon stürmisch umarmt.

»Alles Liebe zum Geburtstag!«, kreischte das Mädchen in ihr Ohr. »Mensch Oma, bist du schnieke!«

»Ach Karli, jetzt hast du alles versaut. Wir wollten doch für Oma singen.«

Frederico nahm enttäuscht die Hand von der Schulter seiner Mutter.

»Mein Junge, lass mal. Hier haben heute schon ganz andere gesungen.« Rosi zog ihren Sohn an sich und tätschelte ihm den Nacken.

»Na gut Mamia, dann lass dich drücken. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Und dass du uns noch schön lange erhalten bleibst. Wir haben nämlich noch etwas vor mit dir.« Damit gab er seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und zog einen Umschlag aus der hinteren Hosentasche. »Mach es erst heute Abend auf, dann hast du mehr Ruhe, ja?«

Mit feuchten Augen nahm Rosi das Kuvert entgegen. Am liebsten hätte sie es sofort aufgerissen, aber wenn Frederico Mamia zu ihr sagte, dann musste sie immer an den kleinen süßen Jungen denken, der er einmal gewesen war. Und sie konnte ihm schon damals keinen Wunsch verwehren. Sie drückte den Umschlag an ihre Brust und nickte.

Die Party plätscherte so dahin. Die flotten Tanzabende hatten die meisten von Rosis Gästen schon hinter sich. Das Einzige, was noch flott gehen musste, war der Gang auf die Toilette.

Rosi saß inmitten ihrer Freunde und lauschte träge den Unterhaltungen. Wann fing das eigentlich an, dass Krankheiten zum Hauptthema wurden? Wie oft hatten sie sich als junge Leute geschworen, nicht so werden zu wollen, wie ihre Eltern es waren! Aber scheinbar gab es da einen Mechanismus, der ab einem bestimmten Alter automatisch in Gang kam.

Rosis Gedanken schweiften immer wieder ab. 60 Jahre war sie nun alt. Ging das jetzt schon irgendwie auf das Ende zu? Was konnte denn noch Aufregendes kommen? Klar, sie könnte noch ein paar Reisen mit ihren Freundinnen unternehmen. Aber da die meisten davon ein paar Jahre älter waren als sie, wurden oft nur Kaffeefahrten aus ihren Ausflügen. Bisher hatte sich Rosi erfolgreich mit dem Argument, dass immer noch eine 5 als erste Zahl in ihrem Alter stand, wehren können. Und nun? War die Zeit jetzt reif für langweilige Werbefahrten? Sie schüttelte sich. Nein, das konnte jetzt nun wirklich noch nicht alles gewesen sein. Vielleicht sollte sie sich ein Hobby suchen. Malen, so wie Ingrid von nebenan? Dafür war sie zu unbegabt. Und Angeln hielt sie für einen schrecklichen Zeitvertreib. Herbert hatte sie manchmal mitgenommen. In den letzten Jahren immer weniger. Dieses ewige Rumstehen oder -sitzen! Und wenn dann endlich so ein armes Geschöpf zappelnd am Haken hing, hatte sie es doch nicht übers Herz gebracht, es zu töten. Mit leisen Entschuldigungen hatte sie jeden einzelnen Fisch, unter Herberts Protest, wieder ins Wasser gleiten lassen.

Ach, das mit der Hobbysuche konnte warten. Jetzt war es Zeit für den nächsten Gang, bevor ihre Freunde noch einschliefen und sie sich die Mühe umsonst gemacht hatte. Wie immer hatte sie es sich nicht nehmen lassen, das Essen selbst vorzubereiten. Seit Wochen war sie dem perfekten Fingerfoodmenü auf der Spur gewesen, um dann tagelang die kleinen Häppchen für ihre Gäste vorzubereiten. Nun trug sie voller Stolz und begleitet von staunenden Ahs und Ohs die vollen Platten gemeinsam mit ihrer Enkelin Karli, die eigentlich Karlotta hieß, nach draußen.

* * *

Verträumt stand Rosi am Fenster ihres Schlafzimmers und schaute in den üppig blühenden Garten. Die laue Sommerabendluft wehte leicht durch die offenen Fensterflügel. Jeder, der sie so sah, würde meinen, Rosi ließe den schönen Geburtstag selbstvergessen ausklingen. Aber dem war nicht so. In ihrem Innern kämpfte sich ein Gefühl nach oben, das sie seit 40 Jahren versucht hatte zu verdrängen. In letzter Zeit erfolgreich. Wie lange hatte sie nun schon nicht mehr an ihn gedacht. War nicht jeden Morgen mit dem Gefühl aufgewacht, dass ein wichtiger Teil in ihrem Leben fehlte. Einfach weg war. Unerreichbar für sie.

Rosis Hände zitterten, als sie sich das vergilbte Bild ansah, das sie die ganze Zeit über fest umklammert hielt. Es zeigte einen jungen Mann mit schwarzen Haaren, einer khakifarbenen Arbeitshose und einem karierten Hemd. Welche Farbe das Hemd hatte, war nicht mehr wirklich zu erkennen. Auch die Augenfarbe nicht, aber die würde Rosi sowieso nie vergessen. Ein tiefes Braun mit bunten Punkten darin. Diese Kombination hatte sie nie wieder gesehen. Vielleicht auch, weil sie nie wieder jemandem so tief in die Augen gesehen hatte.

Eine Träne bahnte sich ihren Weg aus dem Augenwinkel und rollte langsam über Rosis Wange. Sie ließ es geschehen. Heute hatte sie allen Grund dazu, diese ganze Geschichte nicht wieder verdrängen zu müssen.

Als hätte sie es geahnt, war sie, nachdem ihre Gäste gegangen waren, eine gefühlte Ewigkeit vor dem Briefumschlag ihres Sohnes sitzen geblieben. Der eine Teil von Rosi wollte das Kuvert ungeduldig aufreißen, aber ein anderer Teil in ihr mahnte zur Vorsicht.

Irgendwann hatte die Neugier gesiegt. Beim Öffnen waren drei Flugtickets aus dem Umschlag gerutscht. Danach war das Gefühlskarussell angesprungen. Wollte Frederico mit ihr eine Reise machen? In den Süden? Bestimmt, schließlich hatte sie sich das schon so lange gewünscht. Erfreut hatte Rosi die Tickets inspiziert und war dann erstarrt sitzen geblieben. Das Reiseziel war ihr ins Auge gesprungen und hatte sich eingebrannt. Hatte mit einem Schlag eine tief sitzende Wunde wieder zum Bluten gebracht. Warum ausgerechnet Neuseeland?

So weit, so gut

Winter 2014

»Mensch Oma, jetzt mach doch mal hinne! Das Taxi wartet schon so lange!« Karlotta ließ mit lautem Knall eine Kaugummiblase zerplatzen und zappelte ungeduldig herum.

»Kind, so lange war ich noch nie weg von zu Hause. Ich muss doch noch ...« Mit leisem Gemurmel verschwand Rosi zum dritten Mal im hinteren Teil ihres Hauses, um sich zu vergewissern, dass auch alle Fenster geschlossen waren.

Von draußen hörte sie den Taxifahrer hupen. Seufzend setzte sie sich auf das Bett im Gästezimmer und nahm ihre Handtasche auf den Schoß. Sie öffnete den altmodischen Verschluss und holte noch einmal das alte Foto hervor. Wie hatte sich Frederico das alles nur gedacht? Einfach so nach Neuseeland fliegen und nach ihrer großen Liebe suchen? Und was, wenn sie ihn nicht fanden? Er doch umgezogen war? Eine große Familie hatte? Oder noch schlimmer: Sich nicht mehr an sie erinnern konnte? Rosi konnte sich das alles nicht vorstellen. Immer und immer wieder war sie in den letzten Monaten alles durchgegangen. Die Reise, die Suche, das Treffen, die Enttäuschung, wenn ... Ach, es nutzte ja nichts. Die Tickets waren bezahlt. Und jetzt würde sie auch fliegen. Liebevoll strich sie über die vergilbte Fotografie. »Was ist nur mit dir passiert, mein Lieber?«, flüsterte Rosi. Wie so oft ließ sie in Gedanken noch einmal jenen schicksalhaften Tag vorbeiziehen.

August 1974

»Schatz, ich muss es tun! Ich tue es für uns! Glaube mir doch! Wenn ich erst drüben bin, hole ich dich nach. Ganz bestimmt!«

Schluchzend klammerte sich die erst 19jährige Rosi an Fred. Er war doch alles für sie, war ihre große Liebe.

»Aber ich habe doch in zwei Wochen Geburtstag. Soll ich meinen 20. Geburtstag ohne dich feiern?«, jammerte sie.

»Wir holen das alles nach, machen eine riesige Party, sobald wir im Westen zusammen sind.«

Rosi schüttelte den Kopf. Nein, das durfte alles nicht sein. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, drückte sich wie eine große Faust in ihren Magen.

»Aber was soll denn besser sein dort drüben? Wir haben hier doch alles«, wagte sie einen letzten Versuch.

»Ach Schatz ...« Zärtlich strich Fred Rosi eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann richtete er sich auf, straffte den Rücken und setzte den alten Rucksack auf. Allmählich setzte die Morgendämmerung ein. In der Ferne sah er den Bus kommen. Die Scheinwerfer schaukelten über die Sommerstraße, so als wollten sie Morsezeichen von sich geben. Auch Rosi hatte den nahenden Lichtkegel gesehen. Mit hängendem Kopf schmiegte sie sich an Fred. Er drückte ihr zärtlich einen Kuss auf die Stirn. Blitzschnell schaute Rosi nach oben. Sie hasste Abschiede, aber dieser hier war etwas Besonderes. Ihre Lippen fanden seinen Mund und noch einmal küssten sie sich innig.

»Ich liebe dich«, murmelte Rosi mit erstickter Stimme.

Fred sah ihr tief in die Augen. Der Bus hielt. Ohne ein Wort zu sagen, stieg er ein, zahlte beim Fahrer und setzte sich dann an das Fenster, neben dem Rosi stand.

Mit zitternden Fingern malte Rosi ein Herz auf die Scheibe. Die Bustüren schlossen sich. Fred legte ein letztes Mal seine Finger auf seinen Mund und dann an die Fensterscheibe. Rosi konnte es ihm gerade noch gleichtun, da fuhr der Bus schon an. Zwei braune Augen schauten sie traurig, aber auch erwartungsfroh an, wurden immer kleiner und verloren sich in der Dunkelheit. Sie sollte nie wieder in diese Augen blicken.

»Mama? Bist du hier?« Schwungvoll wurde die Tür des Gästezimmers aufgerissen und Frederico stürmte herein. Er schaute seine Mutter skeptisch an. »Wenn wir jetzt nicht losfahren, verpassen wir den Flieger. Willst du das?«

Rosi blinzelte kurz und fühlte mit ihrer Hand nach dem Ring an ihrer Halskette. Nein, sie wollte natürlich nicht zu spät kommen. Wahrscheinlich sollte das alles so sein. Damit sie endlich ihren Frieden finden konnte.

»Ist schon gut. Ich komme.«

Zum hundertsten Mal tastete Rosi nach den Flugtickets in ihrer Tasche. Eigentlich hatte sie diese ihrem Sohn überlassen wollen, aber aus irgendeinem Grund wollte er, dass Rosi selbst auf die wichtigen Dokumente achtgab. Befürchtete er, dass sie es sich sonst noch kurz vor Abflug anders überlegen könnte? Das ginge dann doch auch, wenn sie mitsamt den Tickets abhauen würde. Oder? Oder kannte ihr Sohn sie so gut?

Natürlich tat er das. Verstohlen drehte sie den Kopf und schaute auf ihre Enkelin. Ja, Frederico wusste genau, dass Rosi Karlotta so etwas nie antun könnte. Die Wangen des Mädchens waren leicht gerötet. Und obwohl sie immer öfter als erwachsene Frau durchgehen wollte, war sie doch manchmal noch ganz viel Kind. Mit ihren 15 Jahren hatte Karlotta schon einiges mitmachen müssen. Silvana, Karlottas Mutter, hatte nach der Geburt der Tochter nie wieder so richtig in das Leben gefunden. Nicht, dass ihr der Lebensinhalt gefehlt hatte, vielmehr war er ihr einfach nicht genug. Ständig musste sie ihre Weltanschauung auf Demonstrationen kundtun. Blieb manchmal tagelang weg, wenn es wieder darum ging, die Welt zu retten. Bis sie eines Tages verkündete, dass sie sich auf eine Reise begeben müsste, um gegen die vielen Ungerechtigkeiten in der Welt zu kämpfen. Verbal, versteht sich. Welche Ungerechtigkeit sie ihrer kleinen Familie, besonders ihrer Tochter, damit antat, das fand keinen Einlass in ihr revolutionäres Gehirn.

Rosi hatte viele Tränen vergossen und mit dem Schicksal, das Frederico auferlegt wurde, gehadert. Aber er und Karlotta hatten das bestens gemeistert. Erst war der Vater derjenige, der die Tochter betüttelte, mittlerweile war es oft andersherum. Karlotta suchte aus, welche Krawatte Papa zum wichtigen Meeting anziehen sollte oder was es am Wochenende zu Mittag gab. Gekocht wurde dann gemeinsam. Manchmal durfte Rosi an den vertrauten Ritualen teilnehmen und war jedes Mal erstaunt, welch eingespieltes Team Vater und Tochter waren.

Sie schmunzelte. Immer öfter sah sie sich selbst in ihrer Enkelin. Nicht nur, dass Karlotta mit ihren blauen Augen, den dunkelblonden Haaren und der schlanken Gestalt sehr nach Rosi kam, auch die Art sich zu begeistern, aufgeschlossen neuen Dingen entgegen zu gehen oder von großen Abenteuern zu träumen, ließ sie an die Jahre vor Freds Verschwinden denken. Ja, vor ihrem 20. Geburtstag war ihre kleine Welt noch in Ordnung. Da hatte sie noch Pläne fürs Leben.

Rosi schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe des Taxis. Die leichte Kühle tat ihrer Stirn gut.

Seit dieser Zeit waren 40 Jahre vergangen. Und trotzdem tat der Verlust, wann immer sie daran dachte, weh wie am ersten Tag. Der verpassten Chance auf ein Leben zu zweit trauerte sie noch immer nach. Hätten sie eine Chance gehabt, wenn Rosi damals mitgegangen wäre? Hätte Fred sie dann nicht so schnell vergessen? Seine Eltern konnten sie noch nie leiden. Aber hätten sie deshalb damals gelogen? Erst recht, als sie erfahren hatten, dass Rosi schwanger war? Fragen über Fragen. Und seit damals keine Antworten.

Vorsichtig kramte Rosi das Bild aus ihrer Tasche und schaute es nachdenklich an. War das wirklich alles richtig, was sie jetzt taten? Was, wenn seine Familie recht hatte?

Februar 1976

Ungeduldig hämmerte Rosi an die Haustür der Familie Hagedorn, der reichsten Familie im Ort. Bauern mit viel Land und noch mehr Vieh. Und Freds Verwandtschaft. Eltern, drei Geschwister, Großeltern, Onkel und Tante. Alle lebten mehr oder weniger unter einem Dach. Allerdings in einem riesigen Herrschaftshaus. ‚Die Adligen‘ wurden die Hagedorns im Ort genannt. Obwohl da weit und breit kein Adel im Stammbaum zu sehen war. Aber sie benahmen sich, als wären sie etwas Besseres. Oft bekamen sie Besuch von oberster Stelle - vom Rat der Stadt oder manchmal sogar vom Rat des Kreises. Die meisten aber machten einen großen Bogen um sie.

Es gab nur eine einzige Ausnahme: Fred. Im Dorf wurde gemunkelt, dass Fred bei der Geburt vertauscht worden sein musste. Wie konnte ein Spross der Hagedorns so anders sein! Fred war beliebt bei den Gleichaltrigen. Aber nicht nur bei denen. Er trat heimlich in die Freiwillige Feuerwehr ein, beteiligte sich an der Organisation des Dorffestes und, wenn er die Zeit hatte und nicht in der Schule war, griff er dem Briefträger unter die Arme, der mit seinem quietschenden Fahrrad auf den sandigen Wegen kaum vorankam.

Das alles war den Eltern natürlich ein Dorn im Auge gewesen. Und es wurde noch schlimmer, als Fred eines Tages Rosi mit nach Hause brachte. Was hatten die Eltern für einen Aufstand gemacht! Rosi musste im Flur warten, während im Salon gestritten wurde. Erst laut, dann immer leiser. Irgendwann verstand Rosi kein Wort mehr. Und noch weniger verstand sie, als plötzlich alle lächelnd zur Tür heraus traten und sie begrüßten. Sehr steif zwar, aber immerhin. Rosi hatte Fred damals ganz entgeistert angeschaut, der nur unmerklich mit dem Kopf geschüttelt hatte. Also hatte sie es geschehen lassen, wohl wissend, dass nichts echt war. Was Fred dafür hatte auf sich nehmen müssen, wurde ihr erst nach und nach klar.

Jetzt jedenfalls musste sie unbedingt in diese heiligen Hallen. Soeben war sie unfreiwillige Zeugin eines Gespräches im Konsum geworden. Freds Schwester Margarete hatte mit einer Freundin zwischen den Regalen getuschelt. Es ging um Fred. Und darum, dass Post von ihm gekommen war. Bisher hatte angeblich kein Mensch gewusst, wo er sich aufhielt. Aber jetzt ... Fred war in Neuseeland! Er hatte einige Bilder geschickt und schien wirklich glücklich zu sein.

Rosi war fast das Herz stehen geblieben. Neuseeland? So weit weg? Und er war glücklich? Ohne sie? Wie konnte das sein? So schnell sie konnte, war sie zu den Hagedorns gerannt.

Endlich öffnete jemand die Tür. Es schien eine neue Bedienstete zu sein. Jedenfalls kannte sie Rosi nicht. Das war ihr Glück. So gelangte sie bis in den Eingangsbereich, wo sie warten sollte. Aber je länger das Warten dauerte, um so sicherer war sie, dass sie sowieso nicht eingelassen werden würde.

Rosi schluckte. Wenn sie schon so weit gekommen war, dann musste sie die Gunst der Stunde nutzen. Auf Zehenspitzen schlich sie in den angrenzenden Salon. Die Schiebetür machte ein knarrendes Geräusch, aber niemand kam. Schnell schaute sich Rosi um. Alles war wie immer blitzblank geputzt und aufgeräumt. Nur auf dem Tisch lagen verstreut einige Fotografien herum. Rosi konnte ihr Glück kaum fassen. Von oben hörte sie aufgebrachte Stimmen. Schnell griff sie nach einem der Bilder und stopfte es in ihre Jackentasche. Im selben Moment schob sich die Salontür ganz auf und Herr Hagendorn trat wutentbrannt herein.

»Was machst du kleines Miststück hier? Wer hat dich hereingebeten?«, stieß er aufgebracht hervor.

Rosi machte einen Schritt zur Seite und suchte Deckung hinter einem der Sessel.

»Was ist mit Fred? Wo ist er?«, schrie sie zurück.

»Das geht dich gar nichts an! Wegen dir ist doch alles so gekommen! Wegen dir habe ich meinen Sohn verloren!« Herr Hagedorn stemmte sich mit beiden Armen auf den Sessel, hinter dem Rosi zitternd vor Angst stand. Sie konnte seinen Atem riechen, sah die Wut in seinen Augen.

Mit letztem Mut rannte sie zur Salontür, stieß die Hausangestellte beiseite und stürzte zur großen Eichentür. Noch einmal drehte sie sich kurz um. Das war sie sich und Fred schuldig.

»Wir haben uns geliebt, Fred und ich. Frederico ist das Produkt unserer Liebe. Ob es Ihnen nun passt oder nicht.« Sie drückte die Klinke herunter und entwischte über die breite Treppe in den angrenzenden Park.

Noch immer klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Schwer atmend lehnte sie an ihrem Lieblingsbaum, zu dem sie früher mit Fred fast jeden Tag gegangen war. Als sich ihr Atem beruhigt hatte, nahm sie vorsichtig das Foto aus der Jackentasche und strich es mit der Hand glatt.

Wie Stiche ins Herz trafen sie zwei braune Augen. Auch wenn die Qualität des Bildes sehr schlecht war, diese Augen hätte sie unter Tausenden wieder erkannt. Die Tränen rannen Rosi über die Wangen. Ihr ganzer Körper schüttelte sich. Die Angst der letzten Jahre, die Enttäuschungen und doch auch die Erleichterung darüber, dass es ihm gut ging, trafen sie mit solcher Heftigkeit, dass sie nicht dagegen ankämpfen konnte. Kraftlos sank sie zu Boden und ließ es über sich ergehen.

»Oma? Ist alles gut bei dir? Du zitterst ja!« Karlotta legte ihre Hand auf Rosis Arm und drückte ihn sanft.

Tatsächlich hatte sich sogar eine Träne aus ihrem Augenwinkel gestohlen. Unauffällig wischte Rosi sich mit dem Handrücken über die Wange. Sie holte tief Luft.

»Ist schon gut, meine Kleene. Nur eine kleine Panikattacke. Weiter nichts.«

Rosi lächelte ihre Enkelin an.

»Hast du Flugangst? Dann ist das ja jetzt die beste Therapie. Wir werden mehr als 30 Stunden fliegen. Wenn du hinterher nicht geheilt bist, wirst du wohl in Neuseeland bleiben müssen«, versuchte Karlotta sie aufzuheitern.

Froh, dass sie um eine Erklärung herum gekommen war, stimmte Rosi mit ein. »Damit ihr vor meinen Freundinnen alleine prahlen könnt, was ihr alles am anderen Ende der Welt erlebt habt? Nie im Leben! Schließlich möchte ich auch einmal was Besonderes sein. Kaffeefahrt gegen Kiwi. Angeln gegen Whale watching. Ha!«

Grinsend streichelte sie Karlottas Wange und entdeckte im gleichen Augenblick das erste Flugzeug. Berlin Tegel. Der Countdown lief.

In Neuseeland bleiben. Wie auf Kommando meldete sich Rosis Magen. Was, wenn sie Fred tatsächlich fanden? Eine ängstliche Vorfreude machte sich in ihr breit.

Die Sicherheitskontrollen hatten sie endlich hinter sich gelassen, das Gepäck war längst auf dem Weg zum Flugzeug. Rosi spürte, wie die Übelkeit allmählich ihre Magengegend erreichte. Seit einer geschlagenen Stunde stöberte Karlotta nun schon im Duty Free herum. Und immer wieder zog sie ihre Großmutter mit sich, um ihr das nächste Fläschchen eines exotisch duftenden Parfüms unter die Nase zu halten. Manches davon roch wirklich angenehm, aber das meiste war doch zu penetrant. Ihre Enkelin hatte da anscheinend einen anderen Geschmack. Jedenfalls schien bisher das Passende noch nicht dabei gewesen zu sein.

Hilfesuchend schaute sich Rosi nach Frederico um. Im gegenüberliegenden Geschäft meinte sie, seine schwarze Haarpracht entdeckt zu haben. Klar, für diese lange Reise brauchte ihr Sohn unbedingt Lesestoff. Schon immer hatte er Bücher oder Zeitschriften verschlungen, um anschließend alles haarklein wiederzugeben.

»Kind, ich brauche eine Pause«, sagte Rosi schnell, als Karlotta mit der nächsten Geruchsprobe um die Regalecke bog.

»Ach Oma, nur das eine noch, ja? Riech mal! Das wäre doch was für dich«, antwortete Karlotta.

Seufzend schloss Rosi die Augen und erschnüffelte in kurzen Stößen die neue Duftwolke, die ihre Enkelin ihr vor die Nase fächelte. Hm, ein angenehmer Vanilleduft breitete sich aus. Vanille und noch etwas. Etwas Frisches. Vielleicht Limette? Oder doch irgendwie exotischer? Jedenfalls die perfekte Mischung. Sie öffnete die Augen und schaute direkt auf einen schlichten Flakon mit ansprechendem Etikett. Das Erste, was ihr in die Augen sprang, war der Schriftzug NewZealand. Verwirrt nahm sie Karlotta das kleine Fläschchen aus der Hand. Kiwi. Das war es! Eine aufgeschnittene Kiwi prangte auf dem Etikett, daneben eine weiße Blume. Alles war in Grün- und Gelbtönen gehalten, die sofort an die Wiesen Neuseelands erinnerten.

»Und?«, fragte Karlotta und wippte abwechselnd mit ihren Füßen.

»Karli, du machst mich ganz nervös, wenn du so zappelst.« Rosi schmunzelte. »Das kostet wahrscheinlich Unsummen!«

Karlotta lächelte milde zurück. »Ach Omalein, schon mal was von zoll- und steuerfreiem Einkauf im Duty-Free-Shop gehört?« Sie nahm ihrer Großmutter das Parfüm aus der Hand und packte es in den Einkaufskorb. »Gekauft! Damit kannst du richtig Eindruck bei deiner großen Liebe machen.«

Während ihre Enkelin an der Kasse stand und den Schein, den Rosi ihr noch schnell in die Hand gedrückt hatte, durch die Finger gleiten ließ, hielt sie nach einer Bank Ausschau. Im gleichen Augenblick trat Frederico aus dem Buchladen. Die steten Gedanken an damals, an Fred, und die Aufregung vor dem, was ihr bevorstand, vermischten sich allmählich tief in ihrem Innern. Sie hob die Hand und rief laut: »Fred, hier bin ich!« Das Letzte, was sie sah, war das verwirrte Gesicht ihres Sohnes, dann wurde alles schwarz.

»Mama?«

Rosi spürte etwas Kaltes auf ihrer Stirn. Ihr Kopf war schwer und sie fühlte sich zu müde, um die Augen zu öffnen.

Leises Gemurmel drang allmählich in ihr Gehirn. Wortfetzen tauchten auf.

»... kann sie nicht reisen ... muss hier bleiben ... umbuchen ...«

Umbuchen? Reisen? Erschreckt schlug Rosi nun doch die Augen auf und schaute verdutzt in die Runde.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie.

»Mensch Mamia, du bist einfach umgekippt. Der nette Herr hier konnte dich gerade noch auffangen, sonst wärst du auf den Boden geknallt.«

An der hastigen Sprechweise ihres Sohnes erkannte Rosi, dass er sehr aufgeregt sein musste.

»Wie geht es dir denn? Ist dir schwindlig? Möchtest du etwas trinken?«

»Fredo, alles ist gut! Glaube ich jedenfalls. Nun lass mich mal aufstehen.« Rosi hob ihren Kopf, der nun doch leichter war, als sie gedacht hatte. Sie setzte sich auf und ließ sich von Frederico und ihrem Retter auf die Beine helfen.

»Meine Liebe, in diesem Zustand können Sie doch nicht reisen«, wandte sich der unbekannte Mann an sie.

Rosi testete einige Bewegungen, rollte mit den Augen, zuckte mit den Schultern und atmete schließlich tief ein und aus.

»Alles bestens! Kann losgehen!«, sagte sie.

»Was ist denn hier los?« Karlotta war soeben aus dem Parfümladen getreten und schaute sich verwundert um.

»Ach gar nichts, Karli, ich habe nur kurz mal schlappgemacht. Das war bestimmt das viele Duftwasser, was du mir vor die Nase gehalten hast. Das hätte den stärksten Mann umgehauen.«

Strahlend schnappte sie sich ihre Tasche und hakte sich bei ihrem Sohn unter. Mit einem herzlichen Dankeschön an ihren Retter zog sie ihre Enkelin mit sich.

Rosi wusste, dass nicht der Parfümduft an ihrem Schwächeanfall schuld gewesen war. Aber jetzt kneifen? Jetzt, wo sie nur noch 30 Stunden und ein paar mehr von Fred getrennt war? Vielleicht getrennt war? Nein, sie wollte nach Neuseeland! Auch wenn die Angst davor manchmal größer war als die Vorfreude.

Auckland, Augen zu und links

Bereits zum zehnten Mal spazierte Rosi durch den schmalen Gang und stattete der noch schmaleren Toilette einen Besuch ab.

---ENDE DER LESEPROBE---