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Verborgene Identitäten, unerwartete Gefühle und eine Familie voller Geheimnisse. Auf der Hamilton-Ranch hegt jeder ein Geheimnis: Luke lebt seit siebzehn Jahren als Ehemann und Vater und verschweigt, dass sie eigentlich eine Frau ist. Ihre Frau Nora verheimlicht ihre Vergangenheit in einem Bordell. Und ihre Tochter Amy verbirgt ihre Gefühle für Frauen. Mitten in diese Situation hinein platzt die ehemalige Fabrikarbeiterin Rika, die auf die Ranch kommt, um den Vorarbeiter der Hamiltons zu heiraten. Sie verschweigt, dass sie nicht die Frau ist, die mit ihm Briefe ausgetauscht hat. Amy ist zunächst nicht erfreut über den Neuankömmling, doch schon bald gewinnt Rika ihren Respekt … und vielleicht sogar ihr Herz. Verborgene Wahrheiten ist der zweite Roman in Jaes beliebter Oregon-Reihe, die mit Westwärts ins Glück begonnen hat.
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Inhaltsverzeichnis
Von Jae außerdem lieferbar
Danksagung
Macauley Baumwollfabrik Boston, Massachusetts 5. März 1868
Bahnhof Boston, Massachusetts 7. März 1868
Postamt Cheyenne, Wyoming 18. März 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 18. April 1868
Postmeisterei Baker Prairie, Oregon 20. April 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 21. April 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 21. April 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 21. April 1868
Big Laurel Hill, Oregon 22. April 1868
Baker Prairie, Oregon 24. April 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 25. April 1868
Indian Creek, Oregon 27. April 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 28. April 1868
The Dalles, Oregon 2. Mai 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 4. Mai 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 6. Mai 1868
Willow Creek, Oregon 10. Mai 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 14. Mai 1868
Fort Boise, Idaho 20. Mai 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 21. Mai 1868
Hamilton Pferderanch Baker Prairie, Oregon 21. Mai 1868
Über Jae
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
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Von Jae außerdem lieferbar
Tintenträume
Ein Happy End kommt selten allein
Alles nur gespielt
Aus dem Gleichgewicht
Hängematte für zwei
Herzklopfen und Granatäpfel
Vorsicht, Sternschnuppe
Cabernet & Liebe
Die Gestaltwandler-Serie:
Vollmond über Manhattan
Die Hollywood-Serie:
Liebe à la Hollywood
Im Scheinwerferlicht
Affäre bis Drehschluss
Die Portland-Serie:
Auf schmalem Grat
Rosen für die Staatsanwältin
Die Serie mit Biss:
Zum Anbeißen
Coitus Interruptus Dentalis
Fair-Oaks-Serie:
Perfect Rhythm – Herzen im Einklang
Beziehung ausgeschlossen
Oregon-Serie:
Westwärts ins Glück (Band 1)
Westwärts ins Glück (Band 2)
Angekommen im Glück
Danksagung
Wie immer gilt mein Dank meinen fleißigen Korrekturleserinnen, die mir auch schon beim ersten Roman der Oregon-Reihe zur Seite gestanden haben. Herzlichen Dank an Christiane, Gaby, Peggy, Sandra und Susanne sowie auch an meine Lektorin, Andrea Fries.
Macauley BaumwollfabrikBoston, Massachusetts5. März 1868
»Lauf!« Rikas Rufen erschreckte zwei Krähen, die hastig davonflogen. »Sie schließen die Tore!« Sie packte Jos dünnen Arm und zog sie über das glatte, schneebedeckte Kopfsteinpflaster. Es dämmerte noch nicht, aber Rika wusste, dass sie nicht viel Zeit hatten.
Jo keuchte. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft. »Ich kann nicht mehr.« Ein Hustenanfall schüttelte ihren mageren Körper. Das fahlgelbe Licht einer Gaslaterne offenbarte die roten Flecken auf Jos ansonsten blassen Wangen. Sie schenkte Rika ein Lächeln. »Geh ohne mich weiter. Ich komme nach, sobald ich zu Atem gekommen bin.«
Wenn sie doch nur eine andere Stelle fände, dachte Rika.
Der Baumwollstaub in der stickigen Weberei brachte selbst die gesündesten Frauen zum Husten. Aber weder Jo noch Rika hatten eine andere Wahl. Keine hatte einen Ehemann oder eine Familie, deshalb war die Arbeit in der Fabrik ihre einzige Einnahmequelle.
»Nein«, sagte Rika. Eine von Pferden gezogene Straßenbahn fuhr klappernd den Hügel hinauf, sodass sie fast schreien musste, damit Jo sie hören konnte. »Ich werde dich nicht hier zurücklassen.«
Ein weiterer Hustenanfall hinderte Jo am Antworten.
Rika schluckte. Sie gab Jo ein Taschentuch und wünschte, sie könnte mehr tun. Aber was? Vielleicht würde Jo einen Arzt aufsuchen, wenn sie ihr den Lohn für diese Woche gab.
»Komm, lass uns weitergehen.« Rika ergriff Jos Arm. »Wenn wir zu spät kommen …«
Erst gestern war eine junge Frau weinend aus Mr. Macauleys Büro gerannt und hatte einen eingerissenen Ärmel auf ihre blutende Lippe gedrückt.
»Das hast du nun davon, dass du meine Webstühle nach der Fünf-Uhr-Glocke stillstehen lässt«, hatte William Macauley ihr hinterhergeschrien.
Niemand hatte gewagt, ein Wort zu sagen.
Rika schlang einen Arm um Jo und eilte vorbei an den Ulmen, die sich im kalten Wind bogen. Sie kämpften sich über eine schmale Brücke. Rika schnappte nach Luft, als ein Windstoß Wasser aufspritzen ließ, das ihren abgetragenen Rock durchnässte. »Vorsicht«, sagte sie. »Nur nicht ausrutschen.«
Schließlich konnte sie im flackernden Licht der Straßenlaternen das vierstöckige Backsteingebäude der Fabrik erkennen. Aus dem hohen Schornstein stieg bereits rußiger Rauch in den Nachthimmel auf und verdunkelte die Sterne.
Das schrille Läuten einer Glocke durchbrach die Stille.
»Lauf!«, rief Rika.
Ein Mädchen, das sicher noch keine dreizehn Jahre alt war, schob sich an ihnen vorbei und eilte die Treppe hinauf. Wahrscheinlich war sie unterwegs zur Spinnerei im ersten Stock.
Gerade als sie durch die Eingangstür hetzten, läutete die Glocke ein zweites Mal. Unter den Sohlen von Rikas abgewetzten Stiefeln vibrierte der Boden. Sogar die Wände schienen zu schwingen.
Verflixt. Rika grub ihre Fingernägel in ihre Handflächen.
Der Aufseher hatte bereits an dem Seil gezogen, das das riesige Wasserrad in Bewegung setzte.
Sie schlich sich in die Weberei und hoffte, ihre Webstühle in Gang bringen zu können, bevor er auf seinen Hochstuhl kletterte und merkte, dass sie noch nicht an ihrem Arbeitsplatz war.
Was ist das denn? Sie rieb sich die Augen.
Jos Maschinen liefen bereits. Die Webschützen mit den Schussfäden zischten hin und her.
Eine der Frauen zwinkerte Jo zu.
Der Herr segne sie. Rika drückte Jos Hand und eilte zu ihrem eigenen Arbeitsplatz. Ihr Lächeln schwand, als sie ihre Webstühle sah. Ihre drei Maschinen waren unbewegliche Objekte inmitten all der geschäftigen Aktivität. Niemand hatte sie in Bewegung gesetzt. Vermutlich war niemandem aufgefallen, dass sie nicht da war.
Niemandem außer William Macauley. Er baute sich mit seiner goldenen Taschenuhr in der Hand vor ihr auf und klopfte mit einem dicken Finger auf das Zifferblatt. Er formte die Lippen zu einem O und blies ihr Zigarrenrauch ins Gesicht. »Du bist zu spät gekommen. Wie ist dein Name, Mädchen?«
Rika kämpfte gegen den Hustenreiz an. »Hendrika Aaldenberg.« Er erinnerte sich ohnehin nie an die Namen seiner Mitarbeiter. »Es tut mir leid, Mr. Macauley. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Verdammt richtig, das wird es nicht.« Er ließ seine Uhr zuschnappen. »Ich kann hier keine faulen Mädchen gebrauchen.«
Rika fing an zu zittern. Wollte er sie entlassen? Sie hob flehend die Hände. »Ich schwöre Ihnen, ich habe die Pension pünktlich verlassen, aber ich hatte … ein Frauenproblem und musste den Abort aufsuchen.« Das war nicht gelogen, immerhin war eine Frau schuld daran, dass sie zu spät gekommen war.
Mr. Macauley errötete und biss auf seine Zigarre.
Rika hielt den Atem an. Hoffentlich würde er nicht weiter nachfragen, weil er keine Einzelheiten über ihre Frauenprobleme hören wollte.
Er deutete auf die Reihen von Webstühlen, die um sie herum klapperten und surrten. »Warum haben dann alle anderen Weibsbilder pünktlich mit der Arbeit angefangen?«
Weil sie an Jo vorbeigelaufen sind, ohne ihr zu helfen. Aber wenn sie ihm das sagte, würde er Jo ohne jedes Erbarmen entlassen. Einmal war ein Mädchen in der schwülen Hitze des Webraums ohnmächtig geworden. Der Aufseher hatte ihr gesagt: »Wir haben keinen Platz für ein krankes Mädchen«, bevor er sie auf die Straße gesetzt hatte.
Rika senkte den Kopf. »Es wird nicht wieder vorkommen, Mr. Macauley. Ich verspreche es.«
Der alte Bock knurrte, schien die Entschuldigung aber anzunehmen.
Ha! Rika biss sich auf die Unterlippe, um ein triumphierendes Lächeln zurückzuhalten.
»Die verlorene Zeit ziehe ich dir vom Lohn ab.« Mr. Macauley paffte seine Zigarre und blies ihr Rauch ins Gesicht. »Eine Woche ohne Bezahlung ist sicher fair.«
Eine Woche? Rika würde an ihre bescheidenen Ersparnisse gehen müssen, um Kost und Logis bezahlen zu können. Wenn das so weiterging, würde sie nie genug gespart haben, um die Fabrik hinter sich zurücklassen zu können. Außerdem konnte sie Jo kein Geld für den Arzt geben.
Hinter dem Rücken ballte sie die Hand zur Faust. Kurz zog sie in Erwägung, zu verhandeln und ihm einen Tageslohn anzubieten, aber das würde ihn nur noch wütender machen. »Ja, natürlich«, murmelte sie.
Mr. Macauley wischte einige Baumwollflusen von seiner Krawatte. »Ich warne dich, Mädchen. Der Aufseher wird dich im Auge behalten. Solltest du noch einmal zu spät kommen«, er wedelte drohend mit dem Finger, sodass Asche auf sie herabrieselte, »werde ich dich entlassen.« Er steckte seine goldene Uhr ein und verschwand zwischen den Webstuhlreihen.
Rika presste sich eine Hand auf den Bauch. Für den Moment hatte sie die Katastrophe abgewendet, aber wie lange würde sie sich noch um Jo kümmern und ihre Stelle behalten können?
Stunden später klingelten Rikas Ohren. Um sie herum surrten wasserbetriebene Räder, Ketten und Lederriemen. Zweihundert Webstühle klapperten, als sich die Schäfte mit den Kettfäden rhythmisch hoben und senkten. Ihr Blick glitt nach links und rechts, um die Webschützen im Auge zu behalten. Nach jedem Schuss presste das kammartige Webblatt den neu gewobenen Faden an das schon fertige Tuch.
Verflixt! Ein Faden war gerissen. Rika drückte den Hebel, der den Webstuhl zum Stillstand brachte. Rasch griff sie in die Maschine, suchte die beiden Fadenenden und verknüpfte sie mit einem Weberknoten.
Sie hatte lange gebraucht, um diesen Kniff zu beherrschen, und die Macauleys gestatteten den Frauen nicht, während der Arbeitszeit zu üben. Unter Jos Anleitung hatte sie deshalb stundenlang im Kerzenlicht in ihrem Pensionszimmer Knoten geknüpft, bis ihre Finger zu bluten begannen.
Sie schüttelte die Erinnerung ab und drückte den Hebel wieder in seine Ausgangsposition. Der Webstuhl nahm klappernd seine Arbeit auf.
Rika sah zu ihren beiden anderen Maschinen. Schweiß lief ihr über das Gesicht und sie wischte ihn mit einem Zipfel ihrer Schürze weg. Ihr schweißfeuchtes Mieder klebte an ihrer Brust. Trotz der Kälte draußen trieben Dampfschwaden durch die Webhalle. Die Feuchtigkeit bewahrte die Baumwollfäden vor dem Austrocknen, deshalb wagte es niemand, ein Fenster zu öffnen.
Baumwollstaub und der Gestank von Öl und Schweiß stiegen ihr in die Nase.
Es schien ewig zu dauern, bis endlich die Glocke ertönte, die das Ende des Arbeitstages verkündete.
Dem Herrn sei gedankt! Rika bedeutete dem Laufjungen, das gewobene Tuch aufzurollen, und ging dann nach Jo sehen, die noch immer von einem Webstuhl zum nächsten eilte. »Jo!«, rief sie laut.
Ihre Freundin arbeitete weiter. Der Lärmpegel in der Weberei hatte sie nach drei Jahren schwerhörig werden lassen. Rika schwor sich, hier herauszukommen, bevor ihr dasselbe passierte.
»Johanna Bruggeman!«
»Oh!« Endlich schien Jo zu bemerken, dass die anderen Frauen längst gegangen waren. Ein müdes Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Lass uns nach Hause gehen. Meine Füße schmerzen schrecklich.« Einige feuchte Strähnen ihres weißblonden Haares klebten an ihrem mageren Gesicht.
Als Rika die schwere Tür der Fabrik öffnete, war es draußen bereits dunkel geworden. Die kalte Luft traf sie wie ein Schlag und sie fröstelte, als der Wind über ihre überhitzten Wangen strich.
Sie zog Jo näher, um sie mit ihrem eigenen Körper vor dem Wind zu schützen, als sie sich auf den Weg nach Hause machten.
Wenn man es überhaupt ein Zuhause nennen konnte. Wie die meisten Fabrikarbeiterinnen wohnten sie in einer Pension im überfüllten Teil der Stadt östlich der Tremont Street.
»Was hat Mr. Macauley heute Morgen zu dir gesagt?«, frage Jo, als sie stehen blieben, um einen Bierwagen vorbeifahren zu lassen. »Er hat doch nicht gemerkt, dass du zu spät gekommen bist, oder?«
Rika raffte ihren Rock und trat über eine halb gefrorene Pfütze. »Keine Sorge. Er hat nur ein wenig geschimpft.«
Kerzen flackerten in den schmalen Fenstern der Pension und versprachen Wärme, Essen und ein paar Stunden des Ausruhens. Aber als sie die Straße überquerten, saßen mehrere junge Frauen in ihren Mänteln auf der Treppe.
»Was macht ihr denn hier draußen?«, fragte Rika. »Sagt nicht, wir haben schon wieder Ungeziefer im Haus?« Ihre Kopfhaut juckte bei dem Gedanken an die Läuseplage vom letzten Sommer.
»Nein«, sagte eine der Frauen fröstelnd. »Es ist selbst für Ungeziefer zu kalt. Betsy unterhält sich drinnen mit einem Verehrer. Sie zahlt jeder einen Cent, um die gute Stube eine Stunde lang für sich zu haben, und wir wollen nicht in unseren Zimmern eingepfercht sein.«
Obwohl Rika sich nach etwas frischer Luft sehnte, machte sie sich Sorgen, Jo könnte sich erkälten, deshalb führte sie ihre Freundin ins Haus und die knarrende Treppe hinauf.
Aus ihrem Zimmer im dritten Stock drang Mary-Anns Stimme. »Ich bin dran.«
»Aber ich hatte sie zuerst«, antwortete Erma.
Nicht schon wieder. Rika hatte das Gezanke satt. Sie öffnete die Tür. »Hört auf zu streiten. Überlasst Jo die Waschschüssel.«
»Ist schon in Ordnung.« Jo sank auf das Bett, das sie sich mit Rika teilte. In ihrem kleinen Zimmer gab es keine anderen Sitzgelegenheiten. »Ich glaube, du bist sowieso an der Reihe.«
Schnaubend wich Erma von der Waschschüssel zurück. »Ich werde einen Brief nach Hause schreiben.«
Rika faltete ihren Mantel und ihre Schürze und legte beides auf die Truhe neben dem Bett. Ohne Jo oder Mary-Ann anzusehen, schlüpfte sie aus Mieder, Rock und Unterrock. Sofort bekam sie in der kühlen Luft eine Gänsehaut. Sie trat auf das Waschgestell zu und fuhr sich mit einem nassen Tuch über ihre blasse Haut.
Nachdem sie in ihren letzten sauberen Rock geschlüpft war, schob sie ihre Füße zurück in die abgenutzten Schuhe. Heute Morgen waren sie ihr zu groß gewesen, aber abends passten sie immer. Als sie in der Fabrik angefangen hatte, hatte Jo sie unter ihre Fittiche genommen, weil sie beide aus einer holländischen Familie stammten. Sie hatte Rika beigebracht, ihre Schuhe immer eine Nummer größer zu kaufen, damit sie abends ihren geschwollenen Füßen noch passen würden.
Die Glocke, die zum Abendessen läutete, ließ Rika zusammenzucken. »Beeil dich, Jo!« Sie gab ihrer Freundin den Waschlappen und legte ihr einen sauberen Rock und ein Mieder hin.
»Geh allein.« Jo rührte sich nicht vom Bett. »Ich habe keinen Hunger.«
Rika musterte ihre Freundin. Jo hatte in den letzten Wochen an Gewicht verloren und konnte es sich nicht leisten, Mahlzeiten auszulassen. »Komm schon, Jo. Nur ein paar Bissen.«
»Nein. Geh du.« Jo wedelte matt mit der Hand. »Ich bleibe hier und lese meine Briefe.«
Schritte auf der Treppe ließen Rika aufsehen. Wenn sie sich nicht beeilte, waren gleich ihr Platz am Tisch und das meiste Essen weg. »Ich versuche, dir etwas Brot und Käse zu bringen. Oder soll ich lieber bleiben und dir Gesellschaft leisten?«
»Nein, geh nur.«
»Versprich mir, dass du zu einem Arzt gehst. Sie haben jetzt weibliche Ärzte im Krankenhaus.«
»Die würden mir ohnehin nur sagen, dass ich mich ausruhen oder aufhören muss, in der Weberei zu arbeiten.« Jos Stimme war ruhig, so als hätte sie sich schon vor langer Zeit mit ihrer Situation abgefunden. »Das kann ich mir nicht leisten.«
»Aber vielleicht gibt es irgendein Elixier oder ein Mittel, das dir helfen kann.«
»Darauf kann ich kein Geld verschwenden. Ich brauche jeden Cent für die Reise nach Oregon. Jetzt beeil dich, sonst essen die anderen dein Abendessen auf.«
»Aber …«
Jo öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ein Hustenanfall unterbrach sie. Ihr Gesicht lief rot an und sie wedelte erneut mit der Hand.
Nach einem letzten Blick zurück eilte Rika zum Speisesaal.
Blechteller klapperten und Stühle wurden über den Boden gerückt. Junge Frauen unterhielten sich lautstark an drei langen Tischen, was das Dröhnen in Rikas Ohren nur noch verstärkte. Sie ergatterte einen Platz zwischen zwei Mädchen und nahm sich die letzte Kartoffel. Die ersten paar Bohnen landeten in ihrem Magen, ohne dass sie sich die Zeit nahm, gründlich zu kauen.
Beim Frühstück und Mittagessen trieb die Glocke der Fabrik sie zur Eile an, deshalb hatte Rika sich angewöhnt, ihr Essen hinunterzuschlingen. Jetzt fiel es ihr schwer, langsam zu essen. Einige Minuten später wischte sie das ausgelassene Fett auf ihrem Teller mit einem Stück Schwarzbrot auf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, worüber die anderen Frauen gerade sprachen.
»Hast du das von der armen Phoebe gehört?«, fragte Mary-Ann.
Die Frauen schüttelten den Kopf und starrten sie an.
Rika hörte zu, sagte aber nichts und nutzte den Moment, als alle abgelenkt waren, um eine Scheibe Brot in ihre Tasche zu stecken.
»Was ist passiert?«, fragte Erma.
»Ihre Haare sind in eine der Maschinen geraten«, sagte Mary-Ann. »Sie wurde von der Stirn bis zum Nacken skalpiert.«
Das Mädchen neben Rika schnappte nach Luft.
Rika berührte ihr eigenes Haar. Die Fabrikvorschriften schrieben vor, dass die Frauen ihre Haare hochstecken oder unter einem Kopftuch verbergen sollten, aber dennoch gab es immer wieder Unfälle. Letzte Woche hatte ein Weber einen Finger verloren und im Monat zuvor hatte ein umherfliegender Webschütze ein Mädchen ein Auge gekostet.
»Ich sammle Geld für Phoebes Krankenhauskosten«, sagte Mary-Ann. »Falls ihr ein paar Cent entbehren könnt …« Sie sah die anderen Frauen an.
Rika griff in ihre Schürze und rieb mit dem Daumen über eine Münze in ihrem Lederbeutel. Fünf Cent, die helfen könnten, ihren Traum von einem eigenen Heim zu verwirklichen. Fünf Cent, die besseres Essen oder Arznei für Jo kaufen könnten. Sie umklammerte die Münze so fest, dass sie sich in ihre Haut bohrte.
»Hendrika?« Mary-Ann streckte ihre Hand aus. Darauf lagen bereits die Münzen, die die anderen Frauen für Phoebe gespendet hatten.
Seufzend überließ ihr Rika das Geldstück.
Als Rika in ihr Zimmer zurückkehrte, saß Jo gegen ihr Kissen gestützt im Bett. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Gesicht war noch immer ungesund gerötet.
»Jo?«, flüsterte Rika. Erst dann fiel ihr ein, dass Jo sie nicht hören konnte, und sie wiederholte lauter: »Johanna?«
Jo öffnete die Augen. »Wie war das Abendessen?«
»Gut.« Sie würde Jo lieber nicht von Phoebes Unfall erzählen. Es würde sie nur traurig machen und einen weiteren Hustenanfall verursachen. Rika griff in ihre Schürzentasche. »Hier. Ich habe dir etwas Brot mitgebracht.« Das Aroma des Brotes rief Erinnerungen aus ihrer Kindheit wach, als sie stundenlang durch die Straßen Bostons gezogen war, um das Brot ihres Vaters zu verkaufen, bis ihre Füße Blasen bekommen hatten. Damals hatte sie von einem besseren Leben geträumt, von einem Ort, an dem man sie um ihrer selbst willen liebte und nicht nur dafür, wie viel Brot sie verkaufte. Sie schob den Gedanken beiseite. Liebe war ein kindischer Traum. Nun wollte sie bloß noch ein eigenes bescheidenes Zuhause, das ihr niemand wegnehmen konnte.
Jo nahm die Scheibe Brot und hielt sie in ihrer Hand, ohne davon zu essen. »Danke.«
Rikas Blick fiel auf Jos Füße, die über die Bettkante hinausragten, als hätte sie nicht die Kraft gehabt, ihre Stiefel auszuziehen. Sie setzte sich auf das Bett und griff nach einem Fuß. Baumwollstaub färbte die abgenutzten Stiefel mausgrau und Rika versuchte, das Leder mit einem Zipfel ihrer Schürze zu säubern.
Stöhnend hob Jo den Kopf. »Nicht nötig. Die alten Dinger wirst du ohnehin nicht zum Glänzen bringen.«
Rika gab auf und zog Jo die Stiefel aus, um es ihr bequemer zu machen. »Soll ich dir beim Waschen helfen?«
»Ich mache es gleich, wenn ich aufstehe, um den Abort zu benutzen.« Jo setzte sich aufrechter hin. »Im Moment möchte ich mich nur ein wenig ausruhen und meine Briefe lesen.«
»Lesen?« Rika betrachtete die zerknitterten Briefe auf Jos Schoß. »Du meinst wohl auswendig aufsagen. Wirst du es nicht leid, sie immer und immer wieder zu lesen?«
Jo drückte ein Taschentuch an ihre Lippen. »Niemals. Hör dir das an: Das Land hier ist üppig und grün und die Luft riecht nach Pinien, Frühlingsgras und Apfelblüten. Du wirst hier ein gesundes Klima vorfinden, wenn du nach Oregon kommst, um meine Frau zu werden. Klingt das nicht himmlisch?« Sie seufzte. »Nur noch eine Woche, bis ich den Zug nach Westen nehme.«
»Warum seufzt du dann?«, fragte Rika. Es hatte sich wie ein frustriertes Seufzen angehört, nicht wie ein sehnsüchtiges. »Ich dachte, du freust dich darauf, deinen Philippus zu heiraten.«
»Hendrika Aaldenberg! Du weißt ganz genau, dass sein Name Phineas ist.« Ein Lächeln hob Jos Mundwinkel. Dieses Spielchen hatten sie in den vergangenen Monaten oft gespielt, um Jo aufzuheitern. »Natürlich freue ich mich darauf, nach Westen zu gehen und seine Frau zu werden. Ich wünschte nur, du würdest deine Meinung ändern und mitkommen.«
Auch diese Unterhaltung hatten sie schon oft geführt. »Ich soll nach Oregon ziehen und einen Mann heiraten, den ich nicht kenne?« Ein Bild von Willem ging ihr durch den Kopf. Ein Zittern durchlief sie. Seine blutunterlaufenen Augen schienen sie anzustarren, als wäre sie eine Fremde, während sie ihm ins Bett half. »Er könnte sich als Trunkenbold herausstellen.«
»Oder …« Jo hustete. »Oder er könnte sich als der Mann deiner Träume herausstellen.«
»Ich träume nicht von irgendeinem Mann.« Rika stellte Jos Stiefel neben das Bett. »Aber ich hoffe, dass du mit Paul glücklich wirst.«
Jo hielt sich die Rippen, diesmal vor Lachen, nicht wegen eines Hustenanfalls. »Phineas.«
Rika drehte sich auf die Seite und zog sich die dünne Steppdecke über die Ohren. Die Nächte in der Pension waren so laut wie die Tage in der Webstube. Jo hustete und keuchte neben ihr und im anderen Bett schnarchte Erma.
Knurrend drehte sich Rika zur Wand. Die Strohmatratze unter ihr raschelte.
Das Schnarchen hörte kurz auf, bevor es doppelt so laut wieder einsetzte.
Ihr war zum Weinen zumute. Wie sollte sie völlig übermüdet einen vierzehnstündigen Arbeitstag durchstehen? Sie warf ihren Stiefel gegen die Wand über Ermas Kopf.
Endlich hörte das Schnarchen auf.
Das Rauschen und Knacken in ihren Ohren ging jedoch weiter. Manchmal hörte sie nachts, wenn alles ruhig war, noch immer das Klappern der Webstühle. Wenn sie nicht aufpasste, wurde sie am Ende noch genauso schwerhörig wie Jo.
Es war bereits weit nach Mitternacht, als Jos Husten endlich aufhörte und Rika in einen erschöpften Schlaf fiel.
»Hey, Hendrika!«
Eine Hand auf ihrer Schulter riss Rika aus dem Schlaf. Schläfrig öffnete sie die Augen und starrte in das Halbdunkel des Raums.
Erma stand neben ihr. Eine Petroleumlampe erzeugte einen Heiligenschein um ihren Kopf. »Der hier gehört vermutlich dir.« Sie ließ den staubigen Stiefel auf Rikas Brust fallen. »Und weil du heute Nacht so damit beschäftigt warst, Stiefel zu werfen, habt ihr die Glocke nicht gehört und prompt verschlafen. Ihr solltet euch lieber beeilen, um es noch rechtzeitig zur Fabrik zu schaffen.«
»Verflixt!« Der Stiefel fiel zu Boden, als Rika die Decke zurückwarf. »Jo, wach auf. Wir dürfen nicht wieder zu spät kommen.« Ihre müden Arme und Beine protestierten, als sie rasch in Unterrock und Rock schlüpfte.
Jo lag immer noch unter ihrer Decke und rührte sich nicht. Ein Arm ragte unter der zusätzlichen Decke hervor, die sie sich genommen hatte.
»Jo!« Rika gab ihr einen Schubs.
Jo bewegte sich nicht.
Die Brotscheibe lag unberührt auf der Truhe neben dem Bett. Im fahlen Licht der Petroleumlampe erkannte Rika ein zerknittertes Taschentuch, das mit bräunlichen Flecken und den grauen Fusseln übersät war, die sich in Jos Lungen angesammelt hatten.
Hastig knöpfte sie ihr Mieder zu und versuchte, Jo wach zu rütteln.
Jos Schulter war kalt.
Die Kälte glitt Rikas Arm hinauf und ergriff den Rest ihres Körpers. Ein eisiger Klumpen bildete sich in ihrem Magen. »Jo?«, flüsterte sie. »Jo, bitte!«
Keine Antwort.
Mit zitternden Fingern drehte Rika Jo um und starrte in ihr Gesicht, das seine fieberhafte Röte verloren hatte. »Oh, nein. Nein, nein, nein, nein, nein.« Sie drückte beide Hände auf ihren Mund. »Nur noch eine Woche. Dann kannst du hier verschwinden.«
Tränen brannten in ihren Augen. Sie streichelte Jos steife Finger, die einen von Phineas’ Briefen umklammert hielten.
»Hendrika, Jo, kommt schon«, rief Erma von der Treppe. »Wenn ihr wieder zu spät kommt, werdet ihr entlassen.«
Rika rührte sich nicht vom Fleck. Sie nahm Jo vorsichtig das zerknitterte Papier aus der Hand, faltete den Brief zusammen und schob ihn zurück in seinen Umschlag.
BahnhofBoston, Massachusetts7. März 1868
»Nein, Ma’am.« Der Mann hinter dem Bahnhofsschalter schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen keine Rückerstattung für diese Fahrkarte geben.«
Eine dunkelgraue Rauchsäule stieg von der Dampflokomotive auf, die gerade zischend anfuhr. Der Kohlenruß brachte Rika zum Husten. »Aber die Fahrkarte ist gültig und ich brauche das Geld.«
»Keine Rückerstattung!«, rief er über das schrille Pfeifen der Lok und deutete auf eine Markierung, die auf die Fahrkarte gestempelt war. »Entweder nutzen Sie die Karte am kommenden Freitag oder Sie werfen sie weg.«
Rika starrte auf das Stück Papier in ihrer Hand. Jos Verehrer hatte ihr also nicht getraut und es ihr deshalb unmöglich gemacht, die Fahrkarte gegen Bargeld umzutauschen. Rika konnte es ihm nicht verdenken, immerhin war Jo eine Wildfremde.
Sie schob die Fahrkarte in die Tasche ihres dünnen Wollmantels, nickte dem Mann dankend zu und ging davon.
Wie sollte sie jetzt Jos Beerdigung bezahlen? Ihre und Jos Ersparnisse würden zwar die Kosten abdecken, aber wie würde sie dann die Miete aufbringen, nachdem sie ihre Stelle in der Fabrik verloren hatte?
Als sie vom Bürgersteig trat, um die Straße zu überqueren, wieherte ein Pferd erschrocken und wich nach links aus, wobei es fast mit einem Wagen zusammengeprallt wäre.
»Um Himmels willen, passen Sie doch auf, Miss«, rief der Fahrer des Einspänners ihr zu.
»Tut mir leid.« Rika eilte davon und irrte durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin sie ging.
Erma und Mary-Ann konnten ihr nicht helfen. Sie hatten bereits die Hälfte ihres Lohns für Phoebe geopfert. Selbst falls sie das nötige Geld gehabt hätten, bezweifelte Rika, dass sie ihr helfen würden. Sie waren Jos Freundinnen gewesen, nicht ihre, und jetzt, da Jo tot war, wollten sie ihr Geld lieber für die Lebenden aufsparen.
Alle hatten Jo mit ihrem herzlichen Lächeln gemocht, aber Rika wusste, dass ihr eigenes Grinsen dank ihrer Zahnlücke keine Herzen gewinnen würde.
Sicherlich nicht das von Mrs. Gillespie. Als Rika zur Pension zurückkam, trug ihre Vermieterin gerade eine Reisetasche nach draußen und stellte sie neben einem schmalen Holzkasten ab.
Rika schleppte sich die Stufen hinauf und starrte auf den Kasten mit seinen vertrauten grünen und lilafarbenen Flecken. Das ist doch Mamas Farbkasten! Sie funkelte Mrs. Gillespie an. »Was machen Sie da? Das sind meine Sachen!«
Mrs. Gillespie ließ Rikas alte Schuhe auf die Kiste fallen. »Die Fabrik schickt mir ein halbes Dutzend irischer Mädchen und ich brauche den Platz.«
»Aber Sie können mich nicht einfach auf die Straße setzen.«
»Ich kann es mir nicht leisten, dich hier wohnen zu lassen, obwohl du die Miete nicht mehr bezahlen kannst«, sagte Mrs. Gillespie.
Säure stieg Rikas Hals hinauf. Sie schluckte. »Ich werde bezahlen, das verspreche ich. Ich habe das Geld für einen Monat zusammengespart.«
»Und was dann?« Mrs. Gillespie verschränkte die Arme. »Wie willst du den Monat danach bezahlen, jetzt, wo du deine Stelle in der Weberei verloren hast?«
Es hatte sich also bereits herumgesprochen. Rika ließ den Kopf hängen.
»Viel Glück.« Ihre Vermieterin drehte sich um und trat zurück in die Pension.
»Nein! Sie können mich nicht einfach …«
Mrs. Gillespie schloss die Tür vor ihrer Nase.
Rikas Knie versagten ihr den Dienst. Sie sank zwischen der Reisetasche und dem Farbkasten auf die kalte Treppe und stützte den Kopf in die Hände.
»Amen.« Der Pastor schloss seine Bibel, nickte Rika und den Totengräbern zu und ging davon.
Rika starrte in das offene Grab. Oh, Jo. Warum ist das Leben manchmal so ungerecht?
Als einer der Totengräber sich hinter ihr räusperte, gab sie sich einen Ruck. Es nützte nichts, über Dinge zu klagen, die sie nicht ändern konnte. Sie verabschiedete sich endgültig von Jo und verließ den Friedhof.
Sie wanderte durch Bostons Straßen und hielt Ausschau nach Stellenangeboten oder einer preiswerten Unterkunft, fand aber nichts.
Schließlich erreichte sie den Markt mit seinen farbenfrohen Ständen. Sie drückte ihre Reisetasche an die Brust und schob sich zwischen zwei Männern hindurch, die um den Preis eines Fisches feilschten. Der Geruch von frischem Brot und geräuchertem Fleisch ließ ihren Magen knurren. Schon seit gestern hatte sie nichts mehr gegessen.
Auf der Suche nach einer Mahlzeit, die sie sich leisten konnte, stieg sie über die Messlatte eines Tuchverkäufers.
»Knusperbrot«, rief eine tiefe Stimme auf der anderen Straßenseite. »Bostoner Brötchen! Apfelbrot frisch aus dem Ofen.«
Sie kannte diese Stimme! Ein Schauder lief ihren Rücken hinunter. Sie versteckte sich hinter einem Gemüsestand und schielte zu dem Mann hinüber.
Eine weiße Schürze spannte sich über seinem breiten Brustkorb und seine Pranken, die auf dem Handwagen ruhten, waren so riesig, wie Rika sie in Erinnerung hatte.
Rikas Herz raste, beruhigte sich dann aber. Es konnte nicht ihr Vater sein, denn dieser hatte bereits seinen fünfzigsten Winter hinter sich gelassen, während der Mann, der dort drüben Backwaren verkaufte, jünger als Rika erschien.
»Nicolaas«, flüsterte sie. Er musste es sein. Als sie vor sechs Jahren ihr Zuhause verlassen hatte, war er erst zwölf gewesen. Jetzt war ihr kleiner Bruder erwachsen. Sie reckte den Hals und ließ ihren Blick über die Menschenmenge gleiten, um auszuschließen, dass ihr Vater in der Nähe war.
Doch Nic schien allein zu sein.
Rika atmete auf und eilte über die Straße.
Nic lächelte ihr zu. Das Funkeln in seinen braunen Augen erinnerte sie noch immer an ihre Mutter. »Wie wäre es mit einem Laib Apfelbrot? Heute nur zwei Cent.«
»Nein, danke, ich möchte kein Brot. Ich …«
Sein Grinsen verwandelte sich in die wütende Grimasse ihres Vaters. »Dann geh mir aus dem Weg. Ich verteile keine Almosen.« Er trat nach ihr, als wäre sie ein streunender Hund.
Rika schrie auf, als er sie am Schienbein traf, und starrte ihn an. Die braunen Augen, die sie einst mit Bewunderung angeschaut hatten, blickten nun unbarmherzig.
»Du hast wohl noch nicht genug«, sagte er, als sie nicht davonlief.
Aus ihrem Bruder war also ein Mann geworden, der Menschen trat, die sich sein Brot nicht leisten konnten. Rikas Brust schmerzte. »Wenn Mutter dich jetzt sehen könnte, würde sie sich in Grund und Boden schämen.«
»Wie kannst du es wagen …?« Er hob die Faust, hielt dann aber inne und blinzelte. »Rika? Hendrika? Bist du das?«
Rika nickte, hielt aber Abstand. Er war nun praktisch ein Fremder und sie konnte ihm nicht mehr trauen. Sechs Jahre unter der Knute ihres Vaters hatten aus dem schüchternen Jungen einen hartherzigen Mann gemacht. Güte war in den Augen ihres Vaters schon immer ein Zeichen von Schwäche gewesen.
»Himmel, du hast dich verändert!«
»Du auch«, murmelte sie.
»Was machst du hier? Kommst du zurück nach Hause?«
Sie schüttelte den Kopf. Die Bäckerei war nie ihr Zuhause gewesen, nur das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie hatte sich geschworen, niemals zurückzukehren. Aber wo sollte sie sonst hingehen? Die vergangenen zwei Nächte hatte sie im Armenhaus verbracht, wo sie ein Bett mit Betrunkenen und Schwachsinnigen teilen musste. Sie hatte versucht, Arbeit im Krankenhaus zu finden, obwohl sie eigentlich nach den Schrecken des Krieges nie wieder als Krankenschwester hatte arbeiten wollen.
Doch nun, da der Krieg vorbei war, brauchte man im Krankenhaus nicht mehr so viel Personal. Einwanderer, die gerade erst in Amerika angekommen waren, arbeiteten fast umsonst.
Niemand wollte Rika einstellen und Mr. Macauley hatte dafür gesorgt, dass auch keine andere Baumwollfabrik sie nehmen würde.
Boston hatte ihr nichts mehr zu bieten. Sie musste woanders einen Neuanfang wagen. Ihre Finger schlossen sich um die Fahrkarte in ihrer Manteltasche. Was wäre, wenn ich an Jos Stelle nach Oregon reisen würde?
Der Gedanke schien bizarr, aber er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie gestattete sich nicht, zu zögern. »Ich gehe nach Westen.«
Nic nickte, fragte aber nicht nach Einzelheiten. »Dann bist du also verheiratet?«
Wieder schüttelte Rika den Kopf. »Der Krieg hat mich zur Witwe gemacht.«
»Dann wirst du es nicht sehr weit bringen.«
Ihr Vater hatte ihr das Gleiche gesagt, bevor sie von zu Hause weggegangen war. Der harte, herablassende Ausdruck in Nics Augen erinnerte Rika an ihren Vater – und machte sie noch entschlossener, die Reise nach Oregon anzutreten. »Ich werde schon zurechtkommen.« Solange sie sich mit einer Schüssel Bohnen und einem Stück Brot pro Tag begnügte, würde sie mit dem Geld zurechtkommen, das Jo für die Reise gespart hatte. »Auf Wiedersehen, Nic. Pass auf dich auf und werde nicht zu sehr wie Vater.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie in die Menge und ließ sich vom Lärm des Marktes einhüllen, in der Hoffnung, dass er ihren Schmerz übertönen würde.
PostamtCheyenne, Wyoming18. März 1868
»Alle einsteigen! Reisende nach Boise, The Dalles und Umatilla bitte einsteigen!«
Rika raffte mit einer Hand ihre Röcke und rannte los, um die Postkutsche noch zu erwischen. Der Zug nach Cheyenne hatte Verspätung gehabt und wenn sie die Kutsche nach The Dalles verpasste, würde sie drei Tage lang hier festsitzen.
Fast wäre sie mit einem Mann zusammengeprallt, der einen großen Sack zu seinem Wagen schleppte. Ein Maultier stieß neben ihr einen markerschütternden Schrei aus. Ihre Reisetasche entglitt ihr. Rasch hob Rika sie auf und eilte zu der rot-goldenen Postkutsche.
Der Fahrer warf ihr einen missmutigen Blick zu. »Beeilung, Miss. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Rika hielt ihm die Fahrkarte hin. Als er nickte, reichte sie ihm ihre Reisetasche, damit er sie auf dem Dach verstauen konnte, und kletterte in die Kutsche, wo sie sich auf den einzig freien Platz quetschte. »Guten Tag«, sagte sie zu den anderen Reisenden.
Der gut gekleidete, stämmige Mann neben ihr tippte sich an die Stirn, wo normalerweise seine Hutkrempe saß. »Willkommen, junge Dame. James Kensington, zu Ihren Diensten.«
Anstatt sich vorzustellen, fragte Rika: »Sind Sie auch unterwegs nach The Dalles?«
»Ja. Ich bin für die gesamten vier Wochen voller Staub und Elend mit dabei.«
Elend? Nichts könnte schlimmer sein als die vergangenen fünf Tage, die sie im stickigen Personenwagen der Hölle auf Erden verbracht hatte, die sich Zug schimpfte. Ihr Rücken schmerzte immer noch von der harten Holzbank und sie konnte den Kohlenruß nicht aus dem Mund bekommen.
»Tut mir leid«, sagte Mr. Kensington, »aber ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen.«
Vor dieser Frage hatte sie sich bereits gefürchtet.
Du lernst besser schon jetzt, deine Rolle überzeugend zu spielen. »Johanna Bruggeman«, sagte Rika und unterdrückte einen Schauder. Ihr Vater hatte nie über Gott gesprochen, aber sicher war es eine Sünde, den Namen einer toten Frau anzunehmen.
Mr. Kensington schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Schön, Sie kennenzulernen, Miss Bruggeman.«
Stunden später gestand Rika sich ein, dass die Postkutsche tatsächlich schlimmer als der Zug war. Die Räder holperten über einen Felsbrocken und sie musste sich an dem Lederriemen festklammern, der von der Decke baumelte. Sie saß zwischen Mr. Kensington und dem Postsack eingequetscht. Ab und zu stieß ihr Knie gegen das des Reisenden gegenüber.
»Haben Sie Hunger?« Mr. Kensington hielt ihr ein Stück kalten Schinken hin.
»Oh, nein, danke.« Rika presste sich eine Hand auf den Bauch. Jedes Mal, wenn die Postkutsche holperte und schlingerte, tat ihr Magen dasselbe. Sie erinnerte sich nicht an die lange Überfahrt nach Amerika, weil sie damals erst ein Jahr alt gewesen war, aber ihre Eltern mussten sich damals ähnlich gefühlt haben.
Die Ledervorhänge waren geschlossen, um den Staub abzuhalten, und deshalb war es im Wagen trotz der frischen Märzbrise genauso stickig wie im Zug.
»In ein oder zwei Jahren ist die transkontinentale Eisenbahn endlich fertig. Dann kann man in nur sieben Tagen von der Ost- zur Westküste reisen«, sagte der Mann ihr gegenüber.
Das klang himmlisch, nützte ihr jetzt aber nichts. Obwohl sie schon seit Tagen unterwegs war, befand sie sich noch lange nicht in der Nähe des Willamette Valley.
Die Kutsche fuhr langsamer. Sofort legte Mr. Kensington seine Hand auf den Perlmuttgriff seines Revolvers.
»Nur mit der Ruhe«, sagte ein anderer Reisender. »Wahrscheinlich nur eine Station, bei der wir das Gespann wechseln. Kein Grund zur Sorge.«
»Ich werde aufhören, mir Sorgen zu machen, wenn wir in The Dalles ankommen«, sagte Mr. Kensington. Durch das Holpern der Kutsche klang er so abgehakt, als hätte er einen Schluckauf. »Dies ist eine wichtige Handelsroute. Banditen und blutrünstige Indianer könnten hinter jedem Busch lauern.«
Die einzige andere Frau in der Kutsche schnappte erschrocken nach Luft.
Er übertreibt sicher.
Die Postkutsche kam zum Stillstand und ihr Hintern freute sich, als sie ins Freie kletterte, um sich die Beine zu vertreten.
Nur wenige Minuten später waren sie mit sechs frischen Pferden wieder unterwegs.
In der Kutsche wurde es still, obwohl an Schlaf nicht zu denken war.
Rika nahm das Bündel Briefe aus ihrer Manteltasche und fuhr mit dem Finger über das sorgfältig geknüpfte Band, das Jos Schätze zusammenhielt.
Jo und Phineas Sharpe hatten sechs Monate lang korrespondiert und nun hielt sie ein halbes Dutzend Briefe auf ihrem Schoß.
Sie löste den Knoten und öffnete den ersten Umschlag. Eine Zeitungsanzeige fiel heraus und sie hob sie an die Augen, um sie trotz des Schaukelns der Kutsche lesen zu können.
Ein gutmütiger, fleißiger Mann von 25 Jahren hat das Junggesellenleben satt und wünscht die Bekanntschaft einer jungen Dame oder Witwe, die nicht älter als 25 ist. Sie sollte freundlich, liebevoll und ehrlich sein. Bitte richten Sie Ihre Antwort an Phineas Sharpe, Hamilton Pferderanch, Baker Prairie, Oregon.
Ehrlich. Rika verzog das Gesicht. Es war ihr schon immer leichtgefallen, zu lügen und sich zu verstellen. Dank ihres Vaters hatte sie viel Übung darin.
Sie starrte auf das Inserat hinab. Wie seltsam. Welche Art von Mann bestellt sich eine Braut per Post? Aber die Antwort war klar. Jemand, der genauso verzweifelt ist wie ich.
Sie steckte das Inserat weg und straffte die Schultern.
Ihr Plan konnte auch nicht schlimmer sein, als Willem zu heiraten. Sie wünschte sich ein Haus und Sicherheit und vielleicht hatte Jo ja recht: Nur wenige Frauen würden je ein eigenes Haus bekommen, ohne zu heiraten.
Sie betrachtete die geschwungene Handschrift eines Briefes und las ein paar Sätze. Phineas Sharpe war einfacher Vorarbeiter auf einer Ranch, aber seine Worte waren überraschend poetisch.
Entschlossen schob sie den Brief in seinen Umschlag zurück. Sie hatte sich nie gestattet, sich von Poesie und Schönheit blenden zu lassen. Die Kunstwerke ihrer Mutter, so schön sie auch waren, hatten die Mägen ihrer Geschwister nicht zu füllen vermocht, als ihr Vater zu betrunken gewesen war, um arbeiten zu können.
Als sie die Briefe bündelte, fiel ihr Blick auf die verbeulte Blechfotografie, die Jo zwischen zwei Umschläge gelegt hatte. Das leicht unscharfe Bild zeigte einen Mann mit hellen Haaren, der mit seinem Hut auf den Knien stocksteif dasaß. Er reckte den Hals, als würde er sich in seinem gestärkten Hemd unwohl fühlen. Sein Haar war sauber gescheitelt und sein Schnurrbart wirkte frisch gestutzt.
Rika hatte sich nie etwas aus Schnurrbärten gemacht.
Mit jeder Meile auf der holprigen Straße nach Oregon wuchsen ihre Zweifel. War ihre verzweifelte Entscheidung eine Dummheit gewesen? Was, wenn Phineas Sharpe in seinen Briefen gelogen hatte und weder gutmütig noch fleißig war? Was, wenn er herausfand, dass sie nicht die Frau war, die ihm geschrieben hatte?
Konnte sie einfach die nächste Postkutsche nehmen und nach Hause zurückkehren?
Rika schüttelte den Kopf. Sie hatte schon lange kein Zuhause mehr.
Nein, es führte kein Weg daran vorbei: Sie würde Mrs. Phineas Sharpe werden und sich an einen Schnurrbart gewöhnen müssen.
Hamilton PferderanchBaker Prairie, Oregon18. April 1868
»Phin?« Amy schob die knarrende Tür auf.
Phin wirbelte mit seinem Rasiermesser in der Hand herum. Der Duft von Rasierseife füllte die kleine Blockhütte. »Verdammt, Amy. Wenn du so weitermachst, werde ich mir eines Tages noch selbst die Kehle durchschneiden.« Er wischte sich einen Tropfen Blut vom Hals und wandte sich wieder dem Spiegel zu. »Oder dein Vater schneidet mir die Kehle durch. Eine junge, unverheiratete Dame kann ohne Anstandsdame nicht einfach einen Junggesellen besuchen.«
»Du bist unser Vorarbeiter. Wie sollen wir denn sonst unseren Arbeitstag absprechen, wenn ich nicht rüberkomme und mit dir rede?«
Phin warf ihr über die Schulter einen Blick zu. »Wir könnten beim Frühstück im Haupthaus reden.«
»Nein, danke. Mama würde versuchen, mich aus den interessantesten Tätigkeiten herauszuhalten.«
»Ich weiß nicht, warum du versuchst, vor ihr zu verheimlichen, was du machst«, sagte Phin. »Deine Mutter weiß ohnehin über alles Bescheid, was auf der Ranch passiert. Deine Eltern haben nie Geheimnisse voreinander.«
Ja, weil sie nichts zu verbergen haben. Im Gegensatz zu mir. Sie schob den unwillkommenen Gedanken beiseite und spielte mit den Rändern einer Satteldecke, die über einem Stuhl hing. »Außerdem würden die meisten Leute ohnehin sagen, dass ich keine Dame bin.« Ihr machte das nichts aus. Wenn eine Dame zu sein, bedeutete, wie die jungen Frauen aus der Stadt zu sein, dann war Amy lieber undamenhaft.
»Ich würde jedem, der das in meiner Anwesenheit sagt, eine ordentliche Tracht Prügel verpassen.« Phins Kiefermuskeln mahlten unter dem Rasierschaum. Dann wurde sein Gesichtsausdruck weicher. »Aber du solltest trotzdem lieber lernen, anzuklopfen, denn ich werde nicht viel länger ein Junggeselle sein.«
»Wie bitte? Du machst wohl Witze?« Soviel sie wusste, hatte Phin nie einer Frau den Hof gemacht. Sie ritt jeden Tag Steigbügel an Steigbügel mit ihm. Wenn er irgendwo eine Verlobte hätte, wüsste sie das.
Er drehte sich zu ihr um und sie konnte erkennen, dass er unter dem Rasierschaum errötete. Wortlos zeigte er zum Tisch.
Amy wandte sich um. Ihre Fingerkuppen berührten die verbrannte Stelle der Tischplatte, wo sie und ihre jüngere Schwester Nattie sich vor Jahren gezankt und dabei eine Petroleumlampe umgeworfen hatten. Ein Hauch von Mehl füllte noch immer die Ritzen im Holz, wo Mama unzählige Apfelkuchen für Papa gebacken hatte. Die Blockhütte war ihr erstes Zuhause in Oregon gewesen.
Doch nun war da inmitten der Kindheitserinnerungen etwas Neues. Ein Stapel von Briefen lag auf dem Tisch und darauf thronte die Blechfotografie einer jungen Frau.
Amy runzelte die Stirn. »Wer ist das?«
»Meine zukünftige Frau.« Phins Brust schwoll wie die eines stolzen Gockels.
»Du willst wirklich heiraten?« Sie nickte auf das Bild hinab. »Die da?« Sie war nicht etwa eifersüchtig. Phin war wie ein Bruder für sie. Aber wenn er heiratete, würde er entweder weggehen oder eine andere Frau würde auf die Ranch ziehen.
»Sie heißt Johanna Bruggeman. Ist sie nicht hübsch?«
Ja, das war sie. Ihr Lächeln war selbst auf der Schwarz-Weiß-Fotografie bezaubernd. Aber so hübsch sie auch war, passte sie zur Ranch? Amy sah sich in der Blockhütte um. »Papa sagt, die Hütte ist kein Zuhause für eine Frau. Ich sehe das anders, aber sie sieht aus wie eine, die seine Meinung teilt. Hast du dich nie gefragt, warum keiner unserer Rancharbeiter verheiratet ist?«
»Weil sie zu hässlich sind, um eine Frau zu finden?«
Beide lachten los, aber das Gelächter verklang rasch.
Amy presste die Hände auf die vertrauten Konturen der Tischplatte. »Du gehst weg, oder?«
»Ich kann nicht mein Leben lang euer Vorarbeiter sein«, sagte Phin. »Ich arbeite gerne für die Hamilton-Ranch, aber eines Tages will ich etwas Eigenes besitzen. Dein Vater hat versprochen, mir ein paar Hektar Land und einige Pferde zu geben.«
Phin hatte es verdient, aber Amy gefiel der Gedanke dennoch nicht. Papa würde einen neuen Vorarbeiter einstellen und Amy würde erneut darum kämpfen müssen, Seite an Seite mit den Männern arbeiten zu dürfen und nicht in die Küche geschickt zu werden.
»Hey«, sagte Phin. »Warum das lange Gesicht? Wir bleiben Freunde. Und Johanna kennt hier keine Menschenseele, da braucht sie eine Trauzeugin für die Hochzeit. Würdest du uns die Ehre erweisen?«
Amy klopfte sich die Hüften. »Du willst mich wohl wie alle anderen unbedingt in fünf Unterröcken sehen, was?«
Phin sah sie an, als wäre sie ein störrisches Stutfohlen. »Vielleicht solltest du darüber nachdenken, auch zu heiraten.«
Nicht schon wieder die Leier. Das war einer der Gründe, warum Amy selten in die Stadt ritt. Das Geflüster und die Blicke der Leute gaben ihr das Gefühl, die einzig unverheiratete Zwanzigjährige auf der Welt zu sein. »Wo hast du sie kennengelernt?«, fragte sie, statt zu antworten. »Ist sie neu in der Stadt?«
Rasierschaum tropfte auf Phins Hemd und er wischte ihn weg. Dann fand er noch ein paar weitere Spritzer, die seiner Aufmerksamkeit bedurften.
»Phin?«
»Wenn man es genau nimmt, habe ich sie noch nicht kennengelernt.«
»Was soll das heißen?«
Phin scharrte mit den Füßen. »Ich habe eine Anzeige in drei dieser vornehmen Zeitungen im Osten geschaltet und eine Antwort von einer jungen Dame in Boston erhalten.«
»Du hast für eine Frau inseriert?« Amy hatte davon gehört, aber es nie verstanden. Warum sollte eine anständige Frau sich an einen wildfremden Mann verkaufen?
Er wich ihrem Blick aus. »Ich wusste, dass du es albern finden würdest, aber du musst das verstehen. Es gibt kaum ledige Frauen in der Stadt und keine, die mich heiraten würde.«
»Ein paar gibt es schon.«
Phin schnaubte. »Ja, solche wie Ella Williams und Fanny Henderson. Nein, danke.«
»Also hast du dir einfach eine Frau aus dem Katalog bestellt, so wie du einen neuen Sattel bestellen würdest?«
»Was soll ein heiratswilliger Mann denn sonst tun? Du willst mich ja nicht heiraten.«
Sein Grinsen war ansteckend. Amy konnte ihrem Freund nie lange böse sein. »Du heiratest also Johanna Bruggeman.« Sie riskierte einen weiteren Blick auf das Bild der lächelnden Frau. »Ist das ein deutscher Name?«
»Holländisch.« Phins Grinsen wuchs in die Breite, als wäre es eine großartige Leistung, Holländerin zu sein.
Himmel, er ist verliebt und er hat sie noch nicht einmal persönlich getroffen.
Schweigend sah sie zu, wie Phin sich rasierte. Irgendwie kamen ihr seine effizienten Handbewegungen falsch vor, vielleicht weil er sich selbst rasierte. Fast jeden Tag ihres Lebens hatte Amy beobachtet, wie ihre Eltern dieses beinahe intime Ritual teilten.
Papa saß in der Küche und Mama seifte sein Gesicht mit Rasierschaum ein. Manchmal, wenn sie glaubten, dass ihre Töchter nicht hinsahen, küssten sie sich. Aber Amy sah immer hin. Sie wusste, dass sie etwas ganz Besonderes zu sehen bekam – etwas, das ihre Eltern miteinander verband. Der Blick ihres Vaters war voller Vertrauen, wann immer er zuließ, dass Mama das Rasiermesser an seinem Hals ansetzte.
Eine plötzliche Sehnsucht nach dieser Art von Vertrauen überkam Amy. Sie schüttelte das Gefühl ab und konzentrierte sich auf Phin.
Für ihn schien die Rasur ein notwendiges Übel zu sein. Die Art und Weise, wie er Schaum und Stoppeln von seinen Wangen schabte, hatte nichts Liebevolles an sich.
Vielleicht braucht er wirklich eine Frau. »Wann kommt sie hierher?«, fragte Amy.
»Nun ja.« Er wischte sich den restlichen Rasierschaum aus dem Gesicht und zwirbelte seinen Schnurrbart. Amy zog ihn oft deswegen auf. Ihr gefiel Papas glattrasiertes Aussehen besser. »Genau darüber wollte ich mit dir reden. Wenn die Postkutsche pünktlich ist, kommt sie am Montagnachmittag an.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Montagnachmittag? Aber …«
»Ich soll am Montagmorgen mit deinem Vater nach Fort Boise reiten.«
Das war ihre Chance! Amy verkniff sich ein Grinsen und versuchte, ganz lässig zu wirken. »Kein Problem. Ich helfe Papa, die Pferde nach Fort Boise zu treiben, und du kannst deine Braut am Montagnachmittag aus der Stadt abholen.«
Er räusperte sich. »So habe ich das nicht gemeint. Darüber müsstest du mit deinem Vater reden.«
Und er würde Nein sagen. Nicht, weil es Männerarbeit war, eine Pferdeherde vierhundert Meilen weit zum nächsten Fort zu treiben. Mit einem solchen Argument war ihr Vater ihr nie gekommen. Er würde sagen, dass sie für eine solche Aufgabe nicht erfahren genug war, insbesondere, weil es mehrfach Angriffe der Shoshonen gegeben hatte. Deshalb sollte sie sich um die Ranch kümmern, während er weg war.
Sie seufzte. »Was hast du dann gemeint?«
»Wenn es nicht zu viel verlangt ist, könntest du dich in deinen Sonntagsstaat werfen und meine zukünftige Frau aus der Stadt abholen.«
Ein Kleid zu tragen und sich den neugierigen Blicken der Stadtleute zu stellen, war nicht Amys liebster Zeitvertreib. Doch Phin war ihr bester Freund.
Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. »Ich würde sie keinem der Jungs anvertrauen.«
Sie zu bitten, seine Verlobte abzuholen, um sie vor unerwünschten Aufmerksamkeiten zu schützen … Phin konnte nicht ahnen, wie ironisch das war.
Keine Sorge, das wird schon gut gehen. Sie mag vielleicht hübsch sein, aber sie ist nicht Hannah. »Na schön«, sagte sie. Dann fiel ihr etwas auf. »Du hast ihr also nur durch Briefwechsel den Hof gemacht? Wie hast du das denn geschafft, wo du nicht schreiben kannst?«
»Ich lerne es. Miss Nattie bringt’s mir bei.«
