Versuch über den geglückten Tag - Peter Handke - E-Book

Versuch über den geglückten Tag E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Der Versuch über den geglückten Tag, »Ein Wintertagtraum«, hat ein Motto aus dem Römerbrief: »Der den Tag denkt, denkt dem Herrn.« Der geglückte Tag ist ein Abenteuer mit dem Tag als Gegenüber, als Gegner. Die »Expedition Tag« gibt Einzelmomenten einen Zusammenhang eben durch die Stimme des Erzählers. »Carpe diem«, der Spruch des Horaz, wird hier neu übersetzt mit »Pflücke den Tag«, ganz so, wie der Erzähler sein Problem sieht: aus den geglückten Augenblicken, als vierte Macht, den geglückten Tag zu pflücken.

»Wie viel mehr wäre mit dem Tag zu machen, mit nichts als dem. Und jetzt, in meinem Leben, in deinem, in unser beiden Epoche, ist sein Momentum … Wenn ich es nicht jetzt mit dem Tag versuche, dann habe ich seine Möglichkeiten auf Dauer verspielt …«

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Seitenzahl: 66

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Peter Handke

Versuch über den geglückten Tag

Ein Wintertagtraum

Suhrkamp Verlag

»Ὀ φρονῶν τὴν ἡμέραν ϰυρίῳ φρονεῖ«

»Der den Tag denkt, denkt dem Herrn«

An die Römer, 14,6

»Wintertag: Auf dem Pferd gefriert der Schatten«

Bashō

Ein Selbstbildnis des Malers William Hogarth, in London, ein Augenblick aus dem achtzehnten Jahrhundert, mit einer Palette, auf dieser, sie zweiteilend, ungefähr in der Mitte, eine leicht geschwungene Linie, die sogenannte »Line of Beauty and Grace«. Und ein flacher, gerundeter Stein vom Ufer des Bodensees auf dem Schreibtisch, in dem dunklen Granit, als Diagonale, mit einer feinen, wie spielerischen, genau im rechten Moment von der Geraden abweichenden Krümmung, eine kalkweiße Ader, welche beide Hälften des Kiesels trennt und zusammenhält. Und auf jener Fahrt in jenem Vorortzug zwischen den Seine-Hügeln westlich von Paris, zu jener Stunde des Nachmittags, da in der Regel Frischluft und -licht manch morgendlichen Aufbruchs verbraucht sind, nichts mehr natürlich ist und nur noch das Abendwerden, vielleicht, aus der Tagklemme hilft, jenes plötzliche Ausscheren der Gleisstränge, zu einem weiten Bogen, fremdartig, zum Staunen, hoch über der unversehens sich in der Flußniederung frei wegdehnenden ganzen Stadt samt ihren, dort auf der Höhe etwa von St. Cloud und Suresnes, so verrückt wie wirklich sich auftürmenden Wahrzeichen, mit welch unvorhergesehener Kurve, heraus aus der Enge, der Tageslauf, in einer Sekunde des Übergangs von Wimpernstarre zu Wimpernzucken, neu Richtung bekam und die fast schon abgetane Idee von dem »geglückten Tag« wiederkehrte, begleitet von dem Schwung, der heiß macht, sich zusätzlich an einer Beschreibung, oder Aufzählung, oder Erzählung der Elemente und Probleme solch eines Tags zu versuchen. Die »Linie der Schönheit und der Anmut« auf Hogarths Palette scheint sich regelrecht den Weg durch die unförmigen Farbmassen zu bahnen, wirkt zwischen diese eingegraben, und zugleich ist es, als werfe sie einen Schatten.

Wer hat schon einen geglückten Tag erlebt? Sagen werden das zunächst von sich wahrscheinlich die meisten. Und es wird dann nötig sein, weiterzufragen. Meinst du »geglückt« oder bloß »schön«? Sprichst du von einem »geglückten« Tag oder einem ‒ es ist wahr, ebenso seltenen ‒ »sorglosen«? Ist für dich ein geglückter Tag allein schon, der ohne Problem verlief? Siehst du einen Unterschied zwischen einem glücklichen Tag und dem geglückten? Ist es für dich etwas anderes, mit Hilfe der Erinnerung von diesem und jenem geglückten Tag zu reden, oder gleich jetzt, unmittelbar danach, ohne eine Verwandlung durch die Zwischenzeit, am Abend ebendesselben Tags, als dessen Beiwort dann auch nicht ein »geschafft« oder »überstanden« stehen kann, sondern einzig »geglückt«? Ist dir der geglückte Tag also grundverschieden von einem unbeschwerten, einem Glückstag, einem ausgefüllten, einem Aktivtag, einem durchstandenen, einem von der Langvergangenheit verklärten ‒ ein Einzelnes genügt da, und ein ganzer Tag schwebt auf in Glorie ‒, auch gleichwelchem Großem Tag für die Wissenschaft, dein Vaterland, unser Volk, die Völker der Erde, die Menschheit? (Im übrigen: Schau ‒ blick auf ‒, der Umriß des Vogels dort oben im Baum; wozu das griechische Verb für »lesen« in den Briefen des Paulus, buchstäblich übersetzt, ein »Auf-Blicken« wäre, geradezu ein »Hinauf-Wahrnehmen«, ein »Hinauf-Erkennen«, ein Wort ohne besondere Befehlsform schon als eine Aufforderung oder ein Aufruf; und dazu noch jene Kolibris in den südamerikanischen Dschungeln, die beim Verlassen ihres Schutzbaums, um die Raubgeier zu täuschen, das Geschaukel eines fallenden Blatts nachmachen …) ‒ Ja, der geglückte Tag ist für mich nicht wie all die anderen; er heißt mir mehr. Der geglückte Tag ist mehr. Er ist mehr als eine »geglückte Bemerkung«, mehr als ein »geglückter Schachzug« (sogar ein geglücktes vollständiges Spiel), als eine »geglückte Erstbesteigung im Winter«, etwas anderes als eine »geglückte Flucht«, eine »geglückte Operation«, eine »geglückte Beziehung«, gleichwelche »geglückte Sache«, ist auch unabhängig vom geglückten Pinselstrich oder Satz, und hat nicht einmal etwas zu schaffen mit jenem »nach lebenslangem Warten in einer einzigen Stunde geglückten Gedicht«! Der geglückte Tag ist unvergleichlich. Er ist einzigartig.

Ob es mit unserer speziellen Epoche zu tun hat, daß das Glücken eines einzelnen Tages zum Thema (oder Vorwurf) werden kann? Bedenk, daß vordem eher der Glaube an den richtig ergriffenen »Augenblick« gewirkt hat, der freilich für das »ganze große Leben« einstehen konnte. Glaube? Vorstellung? Idee? Jedenfalls galt vorzeiten, ob beim Schaftrieb auf den Pindus-Höhen, beim Umherwandeln unterhalb der Athener Akropolis oder beim Feldmauernschichten auf den steinigen Plateaus von Arkadien geradezu etwas wie ein Gott solch eines geglückten Augenblicks oder Zeit-Atoms, ein Gott allerdings, von welchem es, anders als sonst bei den griechischen Gottheiten, weder Bild noch Geschichte gab: der göttliche Moment selber erzeugte sein, jeweils verschiedenes, Bild und erzählte, jetzt, jetzt und jetzt, zugleich sich, jenen »kairos«, als eine Geschichte, und jener Augenblicksgott war wohl, seinerzeit, mächtiger als alle anscheinend auf Dauer feststehenden Göttergestalten ‒ immer gegenwärtig, immer da, immer in Kraft. Entmachtet wurde aber schließlich auch er ‒ oder? wer weiß? ‒, euer Gott des »Jetzt!« (und der Augen, die so sich begegneten, und des Himmels, der so, eben noch formlos, eine Gestalt annahm, und des verwaschenen Steins, der so auf einmal in seinen Farben spielte, und, und), von dem nachfolgenden Glauben ‒ in der Tat nun weder Vorstellung noch Idee mehr, sondern »von der Liebe bewirkter« Glaube ‒ an eine neue Schöpfung, als eine Erfüllung der Augenblicke und der Zeiten, durch das Irdischwerden, Sterben und Auferstehen des Gottessohns, und damit an die sogenannte Ewigkeit; eine Frohbotschaft, von welcher ihre Verkünder zum einen selber sagten, daß sie nicht mehr nach dem Maß der Menschen sei, und zum andern, den an sie Glaubenden würden, jenseits der bloßen Augenblicke der Philosophie, die Äonen, oder eben die Ewigkeiten der Religion glücken. Folgte dann, enthoben sowohl dem Gott des Augenblicks als auch dem der Ewigkeit, wenngleich ohne den Eifer, die beiden zu entkräften, die Periode einer dritten Macht, einer rein diesseitigen, freiheraus weltlichen, und sie setzte ‒ was soll mir euer Kairos-Kult, Hellenen, euer Himmelsglück, ihr Christen und Muslime ‒ auf etwas dazwischen, auf das Glücken je meiner Hiesigkeit, auf die einzelne geglückte Lebenszeit. Glaube? Traum? Vision? Am ehesten, zumindest im Ursprung dieser Periode, wohl eine Vision: der eines jeden Begriffs von gleichwelchem Glauben Entzauberten; eine Art trotzigen Tagtraums. Da über mich hinaus nichts mehr denkbar ist, werde ich aus meinem Leben das Möglichste machen. Und so war die Zeit dieser dritten Macht in Wort und Tat eine der Superlative, der Herkules-Arbeiten, der Weltbewegungen. »War«? Heißt das, ihre Zeit sei vorbei? Nein, die Idee von einem durchs Tätigsein geglückten ganzen Leben ist, natürlich, weiter in Kraft und wird immer fruchtbar bleiben. Nur scheint inzwischen kaum mehr etwas darüber sagbar zu sein, die Epen und Abenteuerromane der Pioniere, die jenen Anfangstraum von der Lebenstat entschlossen beherzigten, sind bereits erzählt und bilden auch das Muster für die etwa heute glückenden Leben ‒ jedesmal eine Abwandlung der bekannten Formel: »Einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen, ein Buch schreiben« ‒ und erzählbar an der Sache finden sich höchstens noch seltsame kleine Varianten oder Glossen, beiläufig, im Vorübergehen, zum Beispiel von einem jungen Mann, gerade dreißig, verheiratet mit einer Frau, die er sicher war, bis ans Ende zu lieben, Lehrer an einer kleinen Schule in der Vorstadt, für deren Monatsblatt er auch bei Gelegenheit Theater- und Filmtips verfaßte, ohne sonst eine Absicht für eine Zukunft (kein Baum, kein Buch, kein Kind), und der, nicht erst nun mit seinem vollendeten dreißigsten Jahr, sondern schon an den paar letzten Geburtstagen, wie er seinen Bekannten, unter einem festlichen Blitzen der Augen, unvermittelt sagte, die Gewißheit hatte, sein Leben sei ihm geglückt (noch seltsamer freilich der Satz im französischen Original, »j'ai réussi ma vie« ‒ »ich habe mein Leben bestanden«? »Gemeistert«?). Wirkte bei diesem Zeitgenossen noch die epochale Vision vom geglückten Leben? Oder war das schon wieder ein Glaube? Es ist sehr lange her, daß der Satz fiel, aber in der Vorstellung jetzt, was auch immer seitdem mit dem Mann passiert wäre, käme auf die Besucher-Frage seine höchst selbstverständliche Wiederholung. Also Glaube. Was für einer? ‒ Was mag aus jenem jungen »geglückten Leben« geworden sein?