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- Die Weltenbrand-Reihe ist beendet! - Als Mitarbeiterin eines renommierten Sicherheitsdienstes ist Claire Esterbrooks den Umgang mit gefährlichen Individuen gewohnt. Ihr selbstsicheres Auftreten imponiert Daniel Kirby, so dass er sich zu einem heißen Flirt hinreißen lässt. Ein Kuss allerdings macht sie zur Zielscheibe eines übermächtigen Magiers. Im Kampf um ihr Leben entdeckt sie bislang verborgene Fähigkeiten, die sie gleichsam faszinieren wie auch ängstigen. Daniel und seine Begleiterin scheinen zudem die Einzigen zu sein, die ihr gegen den mörderischen Zauberer helfen können. Claire ist gezwungen, ihre Hilfe anzunehmen, obwohl sie instinktiv spürt, dass weder Daniel noch seine Begleiterin von dieser Welt sind. Doch alles Training scheint vergebens, denn die Angriffe werden immer rücksichtsloser, und Claire und Daniel läuft die Zeit davon … Rasantes Urban-Fantasy-Abenteuer mit einer Prise Romantik! Band 1: Weltenbrand: Das Erbe des Blutadels Band 2: Weltenbrand: Der Zorn der Brüder Band 3: Weltenbrand: Der Weg des Kriegers Band 4: Weltenbrand: Revelation - REIHE beendet! -
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Weltenbrand: Das Erbe des Blutadels
Über den Autor
Danara DeVries (*1982) arbeitet als freier Autor und IT-Fachfrau. Danara DeVries ist das Pseudonym einer nerdigen Mutter von zwei Nachwuchs-Nerds und der Ehefrau eines Ober-Nerds. Zusammen begeistern sie sich in trauter Nerdigkeit für alles, was auch nur im Entferntesten mit Fantasy, Mystik und Science Fiction zu tun hat. Während die Nachwuchs-Nerds noch an der Vervollkommnung ihrer Kängeroo-Zitate und Nightwish-Songtexten arbeiten, widmet sich die Autorin Höherem. Das Schreiben eigener Texte ist ihr liebster Zeitvertreib und wenn sie nicht gerade durch virtuelle Welten hastet und mit Schwertern herumfuchtelt, versinkt sie in der nordischen Mythologie oder in anderen längst vergangenen Epochen.
Weitere Informationen unter: http://www.danara-devries.de
Widmung
Gewidmet allen Lesern, die gerne in
fremde Welten tauchen.
Weltenbrand
Das Erbe des Blutadels
Danara DeVries
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über die Adresse http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der vorliegende Text darf nicht gescannt, kopiert, übersetzt, vervielfältigt, verbreitet oder in anderer Weise ohne Zustimmung des Autors verwendet werden, auch nicht auszugsweise: weder in gedruckter noch elektronischer Form. Jeder Verstoß verletzt das Urheberrecht und kann strafrechtlich verfolgt werden.
1. Auflage, 2017
© 2017 Danara DeVries – alle Rechte vorbehalten.
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Schloßstraße 20
06869 Coswig (Anhalt)
http://www.danara-devries.de
ISBN: 9783744892339
Cover: Bianca Holzmann (www.cover-up-books.de) unter Verwendung der Bilder von ©Shutterstock (Darren Whittingham; Igor Zh.; BERNATSKAYA OXANA; AlexZaitsev; Ase; Iacostique; StellaL)
Verwendete Schriftarten: Linux Libertine O, Trajan Pro 3, Calligrapher
Verwendete Graphiken: Ornate Design Set ©KatyaKatya,
Viking icons ©antto
Layout: Johann-Christian Hanke, www.jchanke.de
Buchsatz: Kathi Boehlau-Godau
Lektorat: Claudia Pachmann
Korrektorat: Samira Düring, Zebrabooks
Nadja Schreiber, Korrekturleserich
Kathi Boehlau-Godau
Zufälle gibt es nicht, die Ereignisse folgen einem bereits lange vorbestimmten Plan. Wir begreifen ihn nur noch nicht.
Loke Jörd
Kapitel 1
Lustlos schob sie das leere Glas vor sich hin und her und betrachtete gedankenverloren die feuchten Spuren, die es auf der abgenutzten Tischplatte hinterließ. Seufzend hob sie ihren Blick und ließ ihn durch die feiernde Menge schweifen. Das Top10 war eine angesagte Szene-Bar und sie sollte sich glücklich schätzen, hier zu sein.
Grundsätzlich hatte Claire Esterbrooks nichts gegen diese typische Freitag-Abendgestaltung der hiesigen Damenschaft, zu denen sich auch ihre besten Freundinnen gehörig fühlten. Doch alleine hier an einem Tisch zu versauern, widersprach ihren Vorstellungen von »ins Getümmel stürzen nach Beziehungsende« gänzlich. Bereits am späten Nachmittag waren Freundinnen bei ihr aufgeschlagen und hatten sie nach der noch so frischen Trennung von Steve auf andere Gedanken bringen wollen. Mit sündhaft teurem Champagner, den Chrissy im Keller ihrer Eltern ausgegraben hatte, und einem ordentlichen Beautyprogramm hatten sie ihre besten Freundinnen ablenken wollen und das war ihnen auch gründlich gelungen. Claire war ihnen für ihre Bemühungen durchaus dankbar, obwohl sie den weiteren Verlauf des Abends schon kannte. Er würde wie so viele andere Freitagabende enden.
Chrissy und Steph hatten sich wie üblich unters Volk gemischt und angeheitert, wie sie waren, ihre eherne Mission aus den Augen verloren. Mittlerweile war es im Top10 spürbar voller geworden, Chrissy tanzte eng umschlungen mit einer neuen Eroberung und Steph, so glaubte Claire, war mit einem alten Bekannten in den oberen Bereich der Bar verschwunden. Kuschelige Nischen luden Pärchen und die, die es werden wollten, zu gemütlicher Zweisamkeit ein, während unten auf der Tanzfläche das Nachtleben tobte.
Claire konnte weder dem einen noch dem anderen etwas abgewinnen. Doch ihren Freundinnen zuliebe hatte sie an diesem Abend nicht Nein! gesagt. Sie schätzte ihre Versuche, wenn auch das Ergebnis immer wieder aufs Gleiche hinauslief. Während Chrissy und Steph sich problemlos unters Volk mischen konnten, versauerte Claire an einem einsamen Tisch in der hintersten Ecke der Bar und schob gelangweilt einen alkoholfreien Cocktail von einer Ecke in die andere. Sie bereute bereits, dass sie sich überhaupt zu dieser Art der Abendgestaltung hatte breitschlagen lassen. Aber ihre Freundinnen fanden, dass sie dem Verflossenen nicht allzu lange nachtrauern sollte. Sie hätte die Trennung lieber mit Brendan Fraser anno 1999 verarbeitet. Aber aus Slapstick im Indiana-Jones-Kostüm wurde nichts. Steph und Chrissy hatten auf das Top10 bestanden und sie unerbittlich dorthin geschleift. Sie könne ja dann gemeinsam mit ihrer neuen Eroberung Die Mumie schauen.
Stephanie und Chrissy gingen – wie Claire bis vor kurzem auch – gewöhnlichen Bürojobs nach, zogen an den Wochenenden durch die Bars, trafen Jungs und nahmen hin und wieder auch einen von ihnen mit nach Hause. Claire hatte bis auf Steve noch nie einen Mann mit in ihre Wohnung genommen, dafür war sie viel zu pflichtbewusst und vorsichtig. Aber Steve war anders gewesen, so wie sich jede Frau den perfekten Partner vorstellte. Groß, durchtrainiert, breitschultrig, amüsant, aufmerksam, einfach perfekt. Sein einziges Problem war seine Liebe zu extremen Sportarten. Claire wusste nie, in welchem Winkel der Welt er sich gerade herumtrieb. Eisklettern im Himalaya war noch seine leichteste Übung. Höher, schneller, weiter! Er liebte das Abenteuer, die Gefahr und gierte unersättlich nach dem Nervenkitzel. Adrenalin war seine Droge. Für Claire war das auf Dauer einfach zu viel gewesen.
Aus dieser Beziehung war sie klüger und reservierter hervorgegangen und demzufolge nicht sonderlich erpicht darauf, Steve sofort durch eine neue Bekanntschaft zu ersetzen. Dennoch sehnte sie sich nach DEM Mann, der genau ihren Vorstellungen entsprach, dem Partner fürs Leben sozusagen.
Während sich Steph und Chrissy so vollkommen angstfrei ins Nachtleben stürzten und einen Kerl nach dem anderen kennenlernten, haderte Claire mit ihren persönlichen Ängsten. Obwohl sie für einen Sicherheitsdienst arbeitete und sich tatkräftig zu Wehr setzen konnte, wenn ein Mann ihr gegenüber handgreiflich werden sollte, hinderte sie genau diese Angst davor, so unbeschwert wie ihre Freundinnen den Abend genießen zu können. Ihre Angst hinderte sie von jeher, auf Männer zuzugehen. Wie sollte sie da jemals DEN Mann fürs Leben kennenlernen, wenn sie nur an ihrem Tisch hockte und darauf wartete, dass der Abend vorbei ging und sie nach Hause durfte?
Selbstverständlich hatte sie Steve nicht im Top10 kennengelernt; er war ihr im Fitness-Studio aufgefallen, mit seiner beherzt fröhlichen Art, seinem einnehmenden Lachen und dem belustigten Funkeln in den Augen. Er war der erste Mann in ihrem Leben, mit dem sie überhaupt intim geworden war. Und das nicht etwa in einer Kneipe, sondern ganz entspannt auf der Couch beim Kinoabend. Die Kerle davor überging sie stillschweigend. Claire war auch sonst ein eher vorsichtiger Mensch. Ihr Vater, dem sie ihre übervorsichtige Art zuschrieb, war kein einfacher Mann gewesen und sie hatte schon früh lernen müssen, dass die Einsamkeit eines LKW-Fahrers nicht am Freitagabend auf der Landstraße blieb. Stattdessen hatte er sie mit nach Hause gebracht, in Form von unzähligen Bierchen. Wenn dann nicht alles rund lief, das Kind zu laut war oder ihre Mutter nicht funktionierte, weil sie die ganze Woche über alleinerziehend war, rastete er regelmäßig aus. Als dann das Verhalten ihres Vaters vor ein paar Jahren zu eskalieren drohte, hatte ihre Mutter geistesgegenwärtig die Reißleine gezogen. Claire fehlte die unbeschwerte und sorgenfreie Kindheit, dieser traumatische Einschnitt in ihrem jungen Leben hatte sie zu einem vorsichtigen Menschen gemacht. Vor allem wenn Alkohol im Spiel war.
Claire seufzte und schob gelangweilt ihren leeren Cocktail in die andere Ecke des Tischchens. Grimmig zückte sie ihr Smartphone und starrte auf das Display. Noch nicht einmal Mitternacht. Wenn sie jetzt ging, könnte sie sich noch gemütlich auf die Couch kuscheln, um doch noch Brendan anzuschmachten. Er sah Steve gar nicht so unähnlich. Die Aussicht auf heiße Szenen im Wüstensand beflügelte sie in ihrem Vorhaben, doch die moralisch mahnende Stimme in ihrem Hinterkopf konnte sie nicht einfach ignorieren. Es wäre äußerst schäbig von ihr, die Freundinnen einfach so hängen zu lassen und daheim ihrem Ex nachzutrauen. Sie war es, die die Beziehung als »belastend« eingestuft hatte.
Claire seufzte, kämpfte noch einen Augenblick mit ihrem schlechten Gewissen und ließ das Handy wieder sinken. Chrissy und Stephanie wären zu Recht enttäuscht, wenn sie jetzt kommentarlos verschwinden würde. Es war ja noch nicht einmal Mitternacht! Sie klappte die helle Lederhülle ihres Smartphones unverrichteter Dinge wieder zu und verstaute es in ihrer Tasche. Erst einmal ein neuer Drink, selbstverständlich alkoholfrei. Vielleicht würde sich ja an der Bar etwas ergeben, zum Beispiel ein nettes Gespräch gegen die vorherrschende Langeweile.
Konversation war gut, hatte ihre Mutter heute Nachmittag noch am Telefon gesagt, als sie von dem geplanten Abend im Top10 erzählte. Man konnte sich kennenlernen und etwas für die eigene Sozialisierung tun. Man müsse nur genug Menschen begegnen, dann würde sich auch die ein oder andere Bekanntschaft entwickeln, die sich zu vertiefen lohnen könnte. Claire hatte den Rat ihrer Mutter zwar beherzigt, aber umsetzbar war er für sie nicht. Dafür war sie viel zu ängstlich, an genau den falschen Typen zu geraten. Nicht jeder konnte auf Fremde so unbefangen zugehen wie ihre Freundinnen.
Die Jungs aus der Firma kämen ebenfalls nicht als potenzielle neue Bekanntschaften, die sich zu vertiefen lohnten, in Frage. Sie waren ein ganz anderer Schlag Mann als Steve. Große, kernige Typen, die in Sekundenschnelle eine Pistole fachgerecht zerlegen und wieder zusammenbauen konnten. Aber mit dem weiblichen Geschlecht hatten sie nicht viel am Hut. Für diese Sorte Männer zählten nur Eroberungen. Sie hatte genug Gespräche zufällig mitgehört, sodass sie gut darauf verzichten konnte, bei den gegrölten Wortwechseln in der Umkleide eine tragende Rolle zu spielen. Eine Umkleide für beide Geschlechter – es lebe die Gleichstellung. Lediglich ein abgetrennter Bereich verschaffte ihr und zwei Kolleginnen etwas Privatsphäre. Als ihr Chef ihr die Stelle im Außendienst anbot, hatte sie sehnsüchtig zugegriffen. Sie wollte ja in eine Männerdomäne eindringen und ihrem langweiligen Schreibtisch entfliehen, also musste sie sich auch mit dem anderen Geschlecht arrangieren. Prinzipiell kein Problem, allerdings wünschte sie sich manchmal, die Jungs – so sehr sie sie auch mochte – würden etwas diskreter prahlen.
Schweren Herzens betrachtete Claire die wabernde Menge auf der Tanzfläche. Wenn sie einen neuen Drink wollte, musste sie sich wohl oder übel da durchkämpfen. Ihr Tischchen befand sich im hinteren Bereich des Top10 und die wabernde Masse menschlicher Körper versperrte ihr den Weg zur Bar. Mühsam drängte sich Claire seitlich an der Tanzfläche vorbei. Noch vor einer Stunde waren die Tische fast leer gewesen und der Weg praktisch frei. Aber es war Freitagabend und das Top10 dank seiner Atmosphäre beliebt.
Sanftes Licht tauchte die Theke in wohliges Ambiente, spiegelte sich in den hinter dem Barmann aufgebauten Flaschen wieder und ließ das Glas funkeln und blitzen. Claire wusste genau, warum sie und ihre Freundinnen dieses Etablissement immer wieder aufsuchten. Es gab die großzügige Tanzfläche, besagte Bar mit köstlichen Cocktails und einer umfangreichen Auswahl an Getränken, sowie Tische für größere Gruppen an der Seite. Im hinteren Bereich fanden abgetrennte Sitzgelegenheiten für mehr Privatsphäre ihren Platz und eine Etage höher konnten sich Pärchen und die, die es werden wollten, in eine gemütliche Lounge zum Kuscheln mit ruhiger Musik, gedämpftem Licht und sehr viel Sichtschutz zurückziehen.
Mittlerweile war die Bar richtig gut gefüllt, die Tische komplett besetzt und Claire musste sich energisch vorwärts schieben, um überhaupt bis zur Bar zu gelangen. Als sich eine Lücke in der Mauer aus breiten Schultern am Tresen bot, schob sie sich energisch dazwischen. Sie war nicht besonders groß. Sie hätte auf einem der Hocker Platz nehmen müssen, um überhaupt weit genug über die Theke zu reichen, aber sie verzichtete lieber auf die mühsame Ersteigung dieser Hocker, da sie ja nur einen Drink ordern wollte. Weit lehnte sie sich über die Theke und versuchte, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erlangen.
Der junge Mann, vermutlich studentischer Aushilfsjob, war am anderen Ende des Tresens beschäftigt und sah nicht so aus, als ob er in nächster Zeit in ihre Richtung sehen würde. Eine große Gruppe Ausländer gab mit Verständigungsschwierigkeiten ihre Getränkebestellung auf und sie hatten – so wie es aussah – exotische Wünsche. Claire seufzte gottergeben und schnippte versuchsweise mit dem Finger.
»Mist.« Enttäuscht ließ sie ihren Arm wieder sinken.
»So wird das aber nichts«, kommentierte der Typ neben ihr und setzte sein Bier an die Lippen. Claire sah überrascht auf und starrte ihn verständnislos an.
»Was?«, gab sie bissig zurück. Sei freundlich, maßregelte sie sich im Tonfall ihrer Mutter. Du wolltest schließlich eine nette Unterhaltung.
Strahlend blaue Augen inspizierten sie über den Rand des Glases hinweg, und Claire hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, ein spöttisches Funkeln darin aufblitzen zu sehen. Als er das Bierglas wieder absetzte, musterte sie ihn etwas genauer. Dunkelblondes Haar war zweckmäßig zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden und der Dreitagebart konnte sein jungenhaftes Lausbubengrinsen nicht ganz verbergen. Er trug Jeans, ein dunkles Shirt mit V-Ausschnitt und einen rotbraunen kurzen Wildledermantel. Weiches Brusthaar linste vorwitzig unter dem Stoff hervor und Claire blieb einen Moment zu lange an dieser Stelle hängen. Weich? Sie hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlen würde, aber sie kostete diese Vorstellung einen winzigen Moment zu lang aus.
Als sie merkte, wie lange sie in seinen Ausschnitt starrte, spürte sie schamvolle Hitze ihre Wangen überziehen. Seufzend riss sie sich von dem Anblick los und begegnete seinem amüsierten Grinsen. Sie wollte den Blick abwenden, sich ertappt wegdrehen, aber sein Lausbubengrinsen war so einnehmend, so fesselnd, dass sie sich nicht von ihm lösen konnte.
Daniel Kirby genoss den Blick der jungen Frau viel zu sehr. Er wusste genau, wo ihr Blick hängen geblieben war. Sie verschlang ihn sprichwörtlich und ihr ertapptes Erröten war erfrischend und unschuldig zugleich. Sein Lächeln genügte, damit sie merkte, dass ihm ihre Blicke nicht entgangen waren.
»Der Barkeeper«, erklärte er noch immer lächelnd. Ihre dunklen Locken wallten in einer atemberaubend schönen Masse über ihren Rücken. Sie war schlank und nicht besonders groß. Um überhaupt über den erhöhten Tresen reichen zu können, musste sie sich ordentlich strecken. Dadurch konnte er einen guten Einblick in ihr straffes Dekolleté erhaschen. Daniel schmunzelte und genoss die Aussicht noch einen Augenblick länger auf den attraktiven Schlitz.
Er war noch nicht sehr lange im Top10, wollte nur auf ein Bier an die Bar und sich dann wieder ins Getümmel stürzen. Die Spurensuche war mühsam, langweilig und fruchtlos, aber leider blieb ihm nichts anderes übrig. Er hatte keine Ahnung, wo er ansetzen sollte. Die Bars abzuklappern und Fragen zu stellen, schien ihm die einzige Option. Das Bier an der Bar diente sowohl einer kurzen Pause, als auch Kontakt zum Barkeeper aufzunehmen.
Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als sich die junge Frau neben ihm ein bisschen mehr streckte und wieder mit den Fingern schnippte. Sie hatte sich offensichtlich von seinem Ausschnitt erholt und wieder ihrem eigentlichen Anliegen zugewandt.
»Ach was«, entgegnete sie und versteckte ihre Verlegenheit hinter einer schnippischen Antwort. »Der wird mich schon irgendwann bemerken.« Sie ließ den Arm wieder sinken und stützte sich leicht gekränkt auf dem glatt polierten Holz ab.
»Glaub ich nicht«, gab Daniel schmunzelnd zurück. »Die Meute da vorne hat recht ausgefallene Wünsche und unser Freund hier ist nicht der Hellste.« Er prostete ihr spielerisch zu und schenkte ihr erneut sein Lausbubengrinsen. Dabei gab er sich besonders große Mühe, in ihre Augen und nicht in ihren Ausschnitt zu sehen, während er sein Bier direkt vor ihre Nase stellte. Sigrid hatte ihm eingeschärft, bei seinen Befragungen immer Augenkontakt zu halten. Das würde die Menschen freundlich stimmen und sie zugänglicher für seine Fragen machen. Seiner Meinung nach war Sigrid allerdings notorisch eifersüchtig und versteckte ihre eigenen Ambitionen hinter guten Ratschlägen. Sie wollte nur verhindern, dass er sich dem weiblichen Geschlecht der hiesigen Bevölkerung zu sehr näherte oder gar Gespräche mit den Damen führte.
Die junge Frau sah das angebotene Glas irritiert an, als ob sie nicht wusste, was sie von seiner Geste halten sollte. »Ich habe auf dieses hier schon beinahe zwanzig Minuten gewartet, aber ich trete es dir gerne ab. Du wirkst mir halb verdurstet«, fügte er erklärend zu seiner Geste hinzu.
Claire lächelte ihn entschuldigend an und schob das Glas energisch von sich. Sein Lausbubengrinsen hatte offenbar seine Wirkung verfehlt. »Nein«, erwiderte sie bestimmt, »das kann ich unmöglich annehmen! Sie haben sich das Bier bestimmt redlich verdient und ich kann warten!« Sie wandte sich erneut dem Barkeeper zu. Der hatte inzwischen das Feld geräumt und war im Hinterzimmer verschwunden. Frustration und Enttäuschung machten sich auf ihrem Gesicht breit.
Verdammt! Claire hatte ihn nur einen winzigen Moment aus den Augen gelassen, und schon war der Mistkerl abgehauen! Die Verärgerung darüber musste sich deutlich in ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Daniel folgte ihrem Blick und grinste schelmisch in sich hinein.
»Zu blöd«, murmelte er schadenfroh, während er sich wieder zu ihr wandte. »Wenn du das Bier allerdings nicht alleine trinken magst, könnten wir es uns auch gerne teilen.«
Bewusst setzte er sein Lächeln erneut ein, um so aufrichtig und harmlos wie möglich zu wirken. Es fiel ihm sogar leichter als erwartet, denn ihre Augen strahlten vor Energie und Witz. Ihr Lächeln wirkte nicht aufgesetzt und sie entsprach generell so gar nicht dem üblichen Klientel dieser Kneipe. Ihre Gesellschaft war jetzt genau das Richtige für ihn, sie gab ihm reichlich Motivation, seine ermüdende und fruchtlose Fragerei fortzusetzen.
Nicht auszudenken, wenn er ihn nicht rechtzeitig fand. Er musste einen Hinweis zutage fördern. Nicht auszudenken, was der Kerl, hinter dem er her war, in der Zwischenzeit alles anstellen konnte. Und Daniel war daran schuld, nur er allein. Hartnäckig klammerte er sich an die Vorstellung, dass alles wieder so sein würde wie früher, wenn er ihn nur zurückbrachte. Doch insgeheim wusste er, dass nichts wieder so werden würde wie vor der Wahl. Die Eifersucht und der Hass standen für immer zwischen ihnen. Daniel schluckte schwer und lächelte die junge Frau entschuldigend an, doch er konnte die Schuldgefühle nicht ganz verbergen.
Der Ausdruck seiner Augen erweichte ihr Herz. Sie lächelte ihn mitfühlend an und nickte, ehe sie nach dem Glas griff. »Einverstanden.«
Interessiert beobachtete Daniel jede ihrer Bewegungen, als sie sein Bier ansetzte und es in einem Zug leerte. Das Glas war zwar nicht mehr bis zum Rand gefüllt, aber sie stellte es erst wieder ab, als sie den gesamten Inhalt geleert hatte. Seine Augen wurden mit jedem ihrer kräftigen Züge größer und er staunte nicht schlecht, als sie das Glas lautstark auf dem Tresen abstellte und tief Luft holte.
»Du musst ja am Verdursten gewesen sein«, kommentierte er lachend ihre hastigen Atemzüge. »Wir werden uns allerdings die Zeit anderweitig vertreiben müssen, bis der Barkeeper zurückkommt und wir nachbestellen können.« Daniel deutete erneut auf die ausländische Touristengruppe. Der Barmann war inzwischen zurückgekehrt. Das Gebrachte schien allerdings nicht den Wünschen der Gäste zu entsprechen, denn die Gruppe wirkte sichtlich unzufrieden und lehnte die Getränke lautstark ab.
Die junge Frau wurde puterrot. »Öhm ...«, machte sie verlegen und heftete ihren Blick angestrengt auf ihre Hände. »Ich geb dir eins aus, okay?«
»Kein Problem«, entgegnete er beschwichtigend. Das Bier hatte ihm sowieso nicht geschmeckt. Er hatte es nur bestellt, um überhaupt irgendetwas zu bestellen, und es befeuchtete die Kehle. Als Durstlöscher für diese junge, nervöse Person war es jeden Cent wert.
Aus einem Impuls heraus streckte er ihr seine Hand entgegen. »Darf ich den Namen der Dame erfahren, die gestandene Männer unter den Tisch trinken kann?«
Sie zögerte einen Moment, ehe sie seine Hand ergriff. »Claire.«
»Daniel,« erwiderte er und grinste sie an. Der Barhocker neben ihnen war in der Zwischenzeit frei geworden. Er lächelte sie aufmunternd an und deutete nickend darauf. »Wenn du mir einen ausgibst, bist du aber gezwungen, mir etwas Gesellschaft zu leisten.«
Claire musterte den gepolsterten Sitz unsicher. »Okay«, murmelte sie und versuchte, umständlich den Hocker zu bezwingen. Sie war viel zu klein und hatte jedes Mal erhebliche Probleme, diese Dinger zu besteigen. Deshalb bevorzugte sie auch die Tische und Nischen. Zur Bar ging sie nur, wenn die Bedienung überfordert war und sie am Verdursten war.
Daniel hob spöttisch eine Augenbraue und kommentierte ihre unbeholfenen Versuche mit einem wohlwollenden Lächeln. Claire bemerkte seine Reaktion. Ihr blieb allerdings keine Zeit für eine passende Erwiderung, denn er glitt mit einer fließenden Bewegung von seinem Barhocker herunter und hob die überraschte Claire ohne sichtliche Anstrengung auf die Polster.
Verdutzt starrte sie ihn an. Also so etwas war ihr auch noch nicht passiert! Wie ein kleines Kind auf einen Stuhl gesetzt zu werden! Sie war eine erwachsene Frau und dieser Typ hatte sie einfach ohne Erlaubnis hochgehoben und auf dem verdammten Hocker postiert, ohne sich um ihre Meinung zu scheren. Claire wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sollte sie sich ärgern oder über die fürsorgliche Geste erröten? Ihr Herz jedenfalls hatte bereits einen Standpunkt bezogen und pochte aufgeregt in ihrer Brust. Von ihm so angehoben zu werden war nicht unangenehm, aber irgendwie unangebracht. Sie kannten sich schließlich erst wenige Minuten. Sie anzuheben war eine vertraute Geste, die ihm nicht – noch nicht? – zustand. Sie spürte schon, wie ihre Wangen zu glühen begannen und ihr Blick an seiner Brust hängen blieb. Obwohl sie nun deutlich erhöht saß, war er im Stehen so groß, dass er sie um mehr als einen Kopf überragte. Nervös rutschte sie auf dem Hocker hin und her, suchte nach einer bequemen Sitzposition und wich seiner Brust aus, deren vorwitziger Ausschnitt schon wieder auf ihrer Augenhöhe war.
»Danke«, murmelte sie schüchtern und schluckte trocken. »Aber das wäre nicht nötig gewesen, ich hätte das schon geschafft.« Sie nestelte verlegen an ihrem schwarzen Jäckchen herum und zupfte die Bänder gerade.
»Ach was«, winkte er ab. »Ich wollte dir nur helfen.« Der tiefe Klang seiner Stimme ließ Claire von Kopf bis in die Zehenspitzen erschauern. Helfen? Sie hob leicht den Blick, um ihm in die Augen sehen zu können. Sein anzügliches Grinsen strafte seine harmlosen Worte Lügen. Dieser Mistkerl hatte das definitiv genossen! Oh Gott, das würde kein gutes Ende nehmen!
»So, was kann ich euch zwei Hübschen bringen?«, platzte der junge Barkeeper in ihre Gedanken und holte sie zurück auf ihren verdammten Barhocker. Besser war es, denn ihr Gehirn hatte sich eindeutig selbstständig gemacht und das vor ihrem inneren Auge ablaufende Kopfkino war absolut nicht jugendfrei.
»Äh ...« Claire war noch immer nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen und stammelte verlegen, doch Daniel übernahm zufrieden grinsend ob der Wirkung, die er auf sie hatte, die Bestellung.
»Für die junge Dame hier einen ...«, er machte eine vielsagende Pause, »... Ladykiller, und ich hätte gerne noch zwei Bier.« Der Barkeeper erwiderte sein Grinsen mit einem deutlichen Blick und einer schnellen Kopfbewegung. Daniel überging die unausgesprochene Bemerkung und starrte den Barkeeper irritiert an. »Alles klar!«, bestätigte der Barkeeper die Getränke. »Kommt sofort!«
»Das bezweifle ich«, murmelte Daniel und wandte sich wieder Claire zu, die dem kurzen Dialog mit offenem Mund gefolgt war. Sie arbeitete lange genug mit Männern zusammen, um deren lautlose Gespräche einschätzen zu können.
»Ladykiller?« War da nicht auch Alkohol drin? Er brauchte sie nicht betrunken zu machen, um wie ein Ladykiller auszusehen. Oh Gott, was dachte sie sich nur dabei?
»Mir scheint, als könntest du etwas Stärkeres vertragen.«
Claire war sich nicht sicher, ob er von dem Mixgetränk sprach. Ladykiller entsprach zwar genau ihrem Geschmack, aber sie hatte dabei keinen Alkohol im Sinn. Schockiert über ihre eigenen Gedanken riss sie entsetzt die Augen auf. Daniel deutete ihren Blick allerdings ganz anders und lachte aus vollem Hals. »Ich meine den Cocktail.« Belustigt zuckten ihre Mundwinkel. Dieser Kerl ... wusste verdammt gut, was sie gemeint hatte, aber sein herzliches Lachen steckte sie an und sie fing lauthals an zu prusten. Kein aufgesetztes Hüsteln, um ihre Verlegenheit zu überspielen, sondern ehrlich und von Herzen.
»Hast du etwa meine Gedanken gelesen?«, stichelte sie mit einem Augenzwinkern und schob das leere Bierglas zwischen ihren Händen hin und her. Das förmliche Sie, dass sie bei ihrer Begrüßung noch verwendet hatte, war vergessen. Ganz automatisch hatte sie sich seiner Wortwahl angepasst und war zum persönlichen Du übergegangen. Sie hatte sein Bier geleert, sich dann immer noch zu siezen erschien ihr unpassend.
»Lag ich richtig?«, wich er ihr mit einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue aus. Claire blickte von ihrer Beschäftigung auf und sah ihm ernst in die Augen.
»Vielleicht.«
Daniel lächelte gelöst und entspannte sich in ihrer Gesellschaft.
Die Musik war viel zu laut, das Bier widerte ihn an und die Alibi-Bekanntschaft wurde für seinen Geschmack zu aufdringlich. Genervt ließ sich der dunkelhaarige Mann auf einer Tischkante im hinteren Bereich der miesen Spelunke nieder, nur um im gleichen Moment das lästige Gewicht eines nahezu unbekleideten Mädchens auf seinem rechten Oberschenkel zu spüren. Sie presste ihre verknöcherte Hüfte an ihn und machte unappetitliche Versuche, sich an ihm zu reiben.
Genervt schob er sich die linke Hand in die Hosentasche und umschlang mit der rechten mechanisch ihre Hüfte. Er schob sie in eine für ihn erträglichere Position, sodass sich ihre harten Hüftknochen nicht mehr unsanft in seine Seite bohrten. Sie nahm diese Berührung seufzend an und schmiegte auch den Rest ihres Klappergestells an ihn. Ihr Oberschenkel legte sich über seinen Schritt und sie begann mit unbeholfenen, kreisenden Bewegungen. Seine rechte Augenbraue wanderte angewidert nach oben, doch er unterdrückte jegliche Reaktion. Den Blick fest auf das Pärchen an der Bar geheftet, löste er die Hand von der Hüfte der Blondine und vollführte ein paar komplizierte Symbole. Seine Lippen bewegten sich tonlos in einer fremden Sprache.
Die Blondine erschlaffte an seiner Seite und sollte nun nicht weiter stören. Als Dekoration war sie ganz nützlich, aber zu aufdringlich brauchte sie auch nicht werden. Er war definitiv nicht mit amourösen Absichten hergekommen, der Besuch dieses Etablissements diente einzig und allein dem blonden Riesen an der Bar. Irgendwann würde er ihn in einem achtlosen Moment erwischen und dann konnte er seinen Plan endlich in die Tat umsetzen.
Das Pärchen am Tresen lachte und scherzte, der ehemals erschöpfte Blick des Riesen wirkte entspannt und gelöst. Verbittert presste er die Lippen bei dieser Beobachtung aufeinander und schluckte den Spruch, der ihm auf der Zunge lag, hinunter.
Dann packte der Mann die Kleine und setzte sie auf den Barhocker. Entsetzt riss ihr Beobachter die Augen auf und würgte trocken. Die zwei kannten sich also etwas besser ... Solch eine Vertraulichkeit nahm man sich nur unter Freunden heraus.
Bittere Galle kroch ihm die Kehle hoch und zwang ihn, den ekelhaften Geschmack hinunter zu würgen. Mit jedem Schlucken wuchs sein Hass: Hass auf diesen Kerl, Hass auf dieses Mädchen und Hass auf ihre gemeinsame, unbeschwerte Zeit. Sein grimmiger Blick heftete sich manisch auf die junge Frau.
Genüsslich blickte er auf seine rechte Hand, in der er plötzlich einen edel geschwungenen Dolch hielt. Die gebogene, vorne spitz zulaufende Schneide schimmerte im flackernden Licht der sich unablässig drehenden Diskokugel. Eigentlich hatte er ihn die Klinge heute Abend schmecken lassen wollen, wollte endlich seinen – ihren – Plan beginnen und seinen Teil dazu beitragen. Er hatte gehofft, wenn er sich durch die Menschenmassen zu dem Hünen durchschlug, könnte er endlich nah genug an ihn herankommen. Aber dann war das Mädchen aufgetaucht, und dann diese Vertraulichkeit zwischen den beiden. Die Rohheit des eigentlichen Planes stieß ihn von Anfang an ab und er ersann innerhalb weniger Atemzüge einen neuen, raffinierten. In jenem Augenblick schwor er sich, dass er das Fräulein genauso leiden lassen würde wie den Mann, für den er heute hergekommen war. Direkt vor dessen Augen, damit er genau den gleichen Schmerz erführe wie er, als er ihn um sein Erbe betrogen, ihre Freundschaft mit Füßen getreten und sein Versprechen gebrochen hatte. Er hätte ihm gehören sollen, nur ihm allein, und nicht diesem Trottel!
Der grünäugige Mann presste die junge Blondine noch fester an sich, sodass sie trotz ihrer Trance schmerzhaft stöhnte und morgen eine Reihe blauer Flecken ihre knochigen Hüften zieren würde. Dann zog er sich mit ihr an seiner Seite in eine der dunklen Nischen zurück. Von dort aus konnte er das Pärchen in aller Ruhe beobachten und auf dem Weg zu ihnen würde er dieses Anhängsel irgendwo abladen.
»Und was macht ein Mädchen wie du allein in so einer Bar?«
»Ich bin doch nicht alleine«, entgegnete Claire lächelnd und tauschte das Glas gegen Daniels Hand, die so unschuldig vor ihr gelegen hatte. Der unwiderstehliche Drang, ihn zu berühren, ließ sie ihre üblichen Hemmungen vergessen. Sie drehte seine Hand und fuhr gedankenverloren die harten Schwielen in der Innenfläche nach. Das waren die Hände eines Mannes, der tagtäglich harter, körperlicher Arbeit nachging. Claire hob den Kopf und begegnete seinen überrascht nach oben wandernden Augenbrauen. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern und verflocht ihre Finger mit seinen. Seine Kehle trocknete mit einem Schlag aus und er schluckte hart. Erneut ließ er den Blick Richtung Barkeeper schweifen, doch von dem bestellten Bier war nach wie vor nichts zu sehen. Damit könnte er seine klebrige Zunge befeuchten und seine Finger hätten etwas zu tun, würden Claires irritierenden, aber ganz und gar nicht unangenehmen Berührungen entgehen.
»Ähm, ja ... allein bist du nicht. Hier sind ... ganz viele ... Menschen«, stammelte Daniel abgelenkt und klebte förmlich mit seinem Blick an ihren Fingern.
Claire registrierte das Gestammel nicht. Er hätte ihr auch eine Spielanleitung vorlesen können, so sehr war sie von seiner großen und starken Hand fasziniert. Diese Hand würde sich wunderbar auf ihrer Haut anfühlen. Sie ließ ihre Finger über die einzelnen Fingerkuppen wandern, streichelte gedankenverloren über die Innenfläche und rieb mit dem Daumen über seinen Handballen. Das angestrengte Zittern, das von Daniels Arm in seine Hand überging, bemerkte sie nicht.
»Zwei Bier und ein Ladykiller, wie gewünscht!« Lautstark stellte der Barkeeper die Getränke vor ihnen ab und riss sie damit aus ihren Gedanken. Hastig legte Daniel seine andere Hand auf Claires und stoppte damit ihre irritierenden Streicheleinheiten. Den Barkeeper funkelte er grimmig an. »Ihr könnt euch auch oben in eine Nische verziehen«, fügte der junge Mann spöttisch hinzu, »dort ist es ruhig. Dunkel. Sanfte Musik.« Er grinste vielsagend und überging Daniels tödlichen Blick mit einer lässigen Geste.
Ertappt zog Claire ihren Arm weg und löste sich von seiner Hand. Ihre Selbstbeherrschung hatte sich verabschiedet und sie hatte nur noch seine wundervoll starke Hand im Sinn. Was er damit alles machen könnte? Er fühlte sich so gut und so richtig an ... Allein das plötzliche Auftauchen des Barkeepers holte sie zurück in die unwillkommene Realität. Claire sah ihm irritiert hinterher und schluckte trocken. »Verzeihung«, murmelte sie und griff nach ihrem Cocktail.
»Du brauchst dich nicht entschuldigen, ich hätte einfach meine Hand wegziehen können«, erwiderte Daniel und nahm einen großen Schluck kühles Bier, um sich selbst am Reden zu hindern. Oh ja, das tat gut.
»Nein, nein.« Claire drehte ihr Cocktailglas hin und her. Endlich hatten ihre Hände etwas anderes zu tun, als Daniel zu begrapschen. Wer weiß, wo sie sonst noch ohne ihr Zutun hinwandern würden. Als hätten ihre Hände ein Eigenleben entwickelt. Was war nur los mit ihr? Sie war doch sonst eher zurückhaltend.
Nicht aufhören!, dachte Daniel, als er sein Bierglas wieder abgestellt hatte. »Mir waren deine Berührungen nicht unangenehm«, murmelte er gestelzt.
Claire blickte überrascht auf. »Ich ...«, begann sie. Die Worte wollten ihren Mund allerdings nicht so recht verlassen und ihr Blick verlor sich in Daniels Augen, deren ehrlicher und sanftmütiger Ausdruck sie sprichwörtlich dahinschmelzen ließ. Widerstand war zwecklos. Ihre Augen wanderten zu seinem Mund und sie leckte sich unwillkürlich über die Lippen, wollte ihn nur noch fühlen. Seine Lippen würden genauso wunderbar weich und anschmiegsam sein, wie seine Hand. Aber das konnte sie natürlich nicht tun, nicht hier in der Öffentlichkeit. Sie kannten sich gerade mal fünf Minuten. Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie sich nach vorn beugte und die Augen schloss. Vielleicht um sich die sinnliche Berührung vorzustellen oder vielleicht auch nur, um ihn nicht weiter anzustarren. Sie wusste es nicht und genauso wenig traute sie sich, die Augen wieder zu öffnen. In nervöser und freudiger Erwartung hielt sie den Atem an. Und dann spürte sie plötzlich seine Lippen auf ihren. Die Berührung war sacht und zurückhaltend, unsicher, wie weit er sich vorwagen durfte, was sie erlauben würde. Sanft knisternd spürte Claire, wie sich ihr gesamter Körper auflud und sie mehr wollte, so viel mehr. Gierig öffnete sie ihre Lippen und ertrank in Daniels Küssen, vergrub ihre Hände in seinem Haar und klammerte sich haltsuchend an ihn. Die Ekstase durchströmte sie wie ein Stromschlag, setzte alle ihre Nervenenden in Brand und durchflutete sie mit ungeahnter Lebenskraft. So etwas hatte sie noch nie gespürt und sie wollte, dass es niemals endete.
Langsam legte er seine Arme um sie und schob sich zwischen ihre Lippen, so weich und nachgiebig. In ihrem Kuss versunken, vergaßen sie völlig, wo sie sich befanden, blendeten die Menschen, die laute Musik, einfach alles aus und existierten nur für diesen einen Moment.
Widerstrebend lösten sie sich erst voneinander, als sie zu ersticken drohten. Claires Kopf schwirrte, aber sie fühlte sich frisch und belebt, so als hätte sie zwölf Stunden am Stück geschlafen. Er hatte sie halb bewusstlos geküsst. Sie fühlte sich so elektrisiert, dass ihr vor Energieüberschuss beinahe die Sinne schwanden. Langsam kam sie wieder zu Atem und die Achterbahnfahrt in ihrem Kopf verlor an Geschwindigkeit. Ihr Herz pochte allerdings noch aufgeregter und ihr Puls raste wie nach einem Hundert-Meter-Lauf. Dort, wo er sie berührte, kribbelte es angenehm. Sein zärtliches Lächeln trieb ihren Herzschlag erneut an.
»Das war ...«, versuchte sich Claire, schwer atmend zu sammeln. Ohne Erfolg. Die Worte blieben ihr im Halse stecken, die Schmetterlinge in ihrem Bauch hinderten sie daran, ihre Gefühle in Worte zu fassen.
»Es tut mir leid«, murmelte Daniel, deutete ihr Schweigen vollkommen falsch, küsste sie aber dennoch gedankenverloren auf die Stirn. »Das hätte ich nicht tun dürfen, es war unangemessen.«
Deswegen küsst du mich auch schon wieder, dachte Claire und vergrub lächelnd für einen kurzen Moment ihr Gesicht in seinem Ausschnitt. Ihre Nase streifte über den Ansatz seines Shirts und berührte flüchtig das gekräuselte Brusthaar. Tatsächlich, es war wunderbar weich und roch nach Seife und ein wenig Schweiß, aber keineswegs unangenehm, eher nach ein wenig zu viel Mann. Dann spürte sie jedoch, wie er vor Anspannung zitterte. Mit gespieltem Entsetzen sah sie zu ihm auf, ehe sie seine aufkeimenden Bedenken mit einem einzigen Lächeln beiseite wischte.
»Mir waren deine Berührungen auch nicht unangenehm«, äffte sie ihn nach und grinste. »Ich kenne dich nicht, aber ich mag deine Küsse ...« Claire war von sich selbst überrascht, aber verdammt noch mal, sie war schon so lange nicht mehr geküsst worden. Steve war auch ein guter Küsser gewesen, aber bei Daniel fühlte sie dieses unbeschreibliche Kribbeln. Er hatte sie schwindelig geküsst. Sie würde diese Erfahrung – entgegen aller Vernunft und Vorsicht – gerne wiederholen und vertiefen.
»Nehmt euch doch ein Zimmer, das kann man sich ja nicht mit ansehen!«, unterbrach sie der Barkeeper lachend und wollte wieder verschwinden.
Claire riss sich ertappt von Daniel los und drehte sich zu dem jungen Mann. »Nein, danke«, entgegnete sie bissig und löste sich energisch aus Daniels Umarmung.
Der Barkeeper ging ihr gehörig auf die Nerven. Dauernd störte er und unterbrach sie. Sollte er sich doch lieber um seine Kunden kümmern, statt sie ständig abzulenken.
Statt Erregung und Daniels Küssen raubten jetzt Aufregung und Zorn Claire den Atem und trieben ihren Puls an. Sie musste dringend hier raus! Entweder das, oder sie würde den Kerl lynchen. Frische Luft! Sie brauchte unbedingt frische, kühle, kalte Nachtluft.
»Wir gehen!«
Daniel sah Claire verwundert dabei zu, wie sie sich vor Wut aufplusterte und sich das Rot ihrer Wangen intensivierte, insofern das nach seinen Küssen überhaupt noch möglich war. Wütend kramte sie in ihrer Hosentasche und warf ein paar Scheine auf den Tresen, dann griff sie nach seiner Hand und wollte vom Barhocker runterspringen. Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder, als sie nach unten blickte und ihre energischen Bewegungen abrupt stoppte. Höhenangst, dachte Daniel amüsiert. Die Kleine hatte Höhenangst.
Er reagierte sofort, rutschte von seinem eigenen Barhocker und hob sie sanft herunter. Claire lächelte ihn dankbar an, ihre Wut augenscheinlich verflogen. Für einen kurzen Moment verfing sich ihr Blick in seinem. Sein Magen verkrampfte sich ruckartig und er löste die Verbindung mit einem unsicheren Lächeln. Widerwillig kämpfte er den Drang nieder, sie einfach auf seine Arme zu heben und aus dieser Bar herauszutragen.
»Danke«, murmelte sie leise, löste sich von ihm und zog ihn hinter sich her Richtung Ausgang.
»Danke für die Einladung, aber ich wollte für dich zahlen«, beschwerte er sich im Hinausgehen. Er hatte überhaupt nichts dagegen, wenn sie die Bar verließen, aber bitte doch mit korrekter Rollenverteilung.
»Kein Problem«, murmelte Claire und beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte es plötzlich sehr eilig. Daniel folgte ihr widerstandslos. Die Bar war ihm sowieso zuwider. Der lästige Barkeeper, die viel zu laute Musik, die sich unkontrolliert bewegende Menge.
Als sie sich durch die Menschen schoben, wanderte sein Blick wie gewohnt durch die Menge, suchte ein bestimmtes Gesicht. Dabei fielen ihm die vielen Blicke auf, die man ihm zuwarf. Die Leute lächelten ihm teilweise zu, andere bedachten ihn mit anzüglichen Blicken und wieder andere fast feindselig. Nein, er hatte nichts dagegen, die Bar zu verlassen.
Was hatten sie da am Tresen getrieben, dass die Leute sie so genau wahrnahmen? Sein Hirn hatte zwar für ein paar Sekunden die Arbeit eingestellt und sich ganz Claire hingegeben, aber das konnten doch nicht viel mehr als ein paar Küsse gewesen sein. Okay, wilde und hungrige Küsse.
Sein Blick wanderte zu der kleinen Brünetten, die ihn energisch Richtung Ausgang zog. Ihr Shirt hing aus der Hose, das kurze Jäckchen war ihr von der Schulter gerutscht und entblößte verführerisch zarte Haut, ihre akkurat gelegten Locken hatten sich in eine zerzauste Löwenmähne verwandelt. Okay, das waren vielleicht doch etwas intensivere Küsse gewesen als gedacht. Aber er mochte ihren derangierten Anblick sehr. Anzüglich grinsend ließ er sich von ihr führen.
Starre Pupillen glänzten im flackernden Licht der glitzernden Diskokugel, die sich über der wogenden Menge im Rhythmus der hämmernden Bässe drehte. Kein Zwinkern, kein Flackern konnte den bohrenden Blick hinter der grünen Iris zweier fanatisch funkelnder Pupillen stören. Das Pärchen, auf das die manischen Augen gerichtet waren, bemerkte nichts von dem Interesse, das der grünäugige Mann ihnen zukommen ließ. Sie schoben und drängten sich durch die zähe Masse tanzender Körper, doch den Blick, der sich in ihre Hinterköpfe bohrte, registrierten sie nicht. Besonders die junge Frau mit der ungezähmten braunen Haarpracht bildete das Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Für sie würde er sich etwas ganz Außergewöhnliches ausdenken. Denn wenn dieses Mädchen es schaffte, das Interesse des Hünen zu erringen, dann war sie ein wenig Aufwand wert.
Gemurmelte Worte lösten sich von seinen Lippen und drängten sich in ihren Kopf, in ihre geheimsten Gedanken. Schonungslos zerrte er Ängste an die Oberfläche ihres Bewusstseins und verstärkte sie, pflanzte eine Erinnerung in ihren Geist, die nicht ihr gehörte. Sie würde wie Unkraut wachsen und ihre Gefühle vergiften. Leises Bedauern beschlich ihn, denn er würde ihrem Ausbruch leider nicht beiwohnen können. Zu gerne hätte er sie dabei beobachtet, doch er musste hier verschwinden. Die Zeit drängte.
Gemächlich verschmolz er mit der Wand in seinem Rücken und vollführte mit der Hand ein paar komplizierte Bewegungen. Sein Körper versank im Gemäuer und sein schallendes Gelächter erklang wie aus weiter Ferne. Es war jedoch noch immer nah genug, dass sich die Menschen in seiner Nähe verwirrt umdrehten, irritiert den Kopf schüttelten. Als sie die Quelle des Gelächters nicht ausfindig machen konnten, wandten sie sich wieder ihren Gesprächen zu. Als hätte sie das Lachen eines Geistes gestreift.
Auch die junge Frau schien das Gelächter gehört zu haben. Sie drehte im Gehen kurz den Kopf und starrte die Stelle in der Wand an, wo er gestanden hatte. Kreisförmige Wellenbewegungen breiteten sich von diesem Punkt aus. Doch nun wunderte sie sich lediglich über das eigenartige Flimmern und tat diese Beobachtung achselzuckend als Sinnestäuschung ab. Vor ihr hatte sich eine Lücke zwischen den tanzenden und feiernden Menschen aufgetan und sie beschleunigte ihre Schritte. Die Gelegenheit wollte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Erst, als Claire und Daniel die Bar endlich verlassen hatten, verlangsamten sie ihr Tempo. Zielstrebig gingen sie die Straße hinunter. Daniel glitt gemächlich neben ihr her, dank seiner langen Beine musste er sich nicht sonderlich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten.
»Sorry«, murmelte Claire und rieb sich den Nacken, nachdem sie ein paar Minuten schweigend nebeneinander her gelaufen waren. »Ich hab’s da drin einfach nicht mehr ausgehalten.« Ein unangenehmes Pochen breitete sich über ihre Schläfen bis zum Hinterkopf aus. Sie schluckte trocken.
»Ich auch nicht«, brummte Daniel und zog sie an sich. Unter Einsatz seines Körpergewichts drückte er sie ohne Vorwarnung gegen die nächste Hauswand und suchte wie ausgehungert nach ihrem Mund. Sobald sich ihre Lippen berührten, drängte er sich in ihren Mund. Claire war vollkommen überrascht von seinem ungestümen Kuss. Überwältigt von der fast schmerzhaften Wildheit, erstarrte sie und ließ seine Berührungen unerwidert über sich ergehen. Nur mit Mühe hielt sie der Attacke stand, wollte zurückweichen, doch die Mauer in ihrem Rücken verhinderte ihren Rückzug. Erinnerungen, die nicht ihre Eigenen waren, überrollten sie und jagten ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken, kontrollierten sie und erlaubten ihr nicht, anders als mit Totstellen zu reagieren. Daniel presste sie fester gegen die Hauswand, eroberte ungestüm ihren Mund und ließ ihr keinen Spielraum. Claire konnte sich nicht bewegen, fest im Würgegriff seines massigen Körpers und der Empfindungen, die ihr so fremd waren. Sie fühlte Angst und Beklemmung, aufkommende Panik und eine eisige Kälte.
Sie war einmal dermaßen bedrängt worden, aber sie hatte sich solide zur Wehr gesetzt und den Kerl gehörig vermöbelt. Der war so überrascht von ihrer kraftvollen Gegenwehr gewesen, dass er schnellstens das Weite gesucht hatte. Humpelnd hatte er sich den Schritt gehalten und sie mit wüsten Beschimpfungen bedacht. Claire hatte diese Begegnung nicht im mindesten aus der Bahn geworfen. Es bestärkte sie eher, dass sie sich wehren konnte und nicht als Opfer daraus hervorgegangen war. Und nun überwältigten sie eine ganze Reihe verzerrter Gefühle, die den damaligen Angriff in ein völlig deformiertes Licht rückten. Statt der Genugtuung und dem Gefühl des Triumphs, die sie damals gespürt hatte, fühlte sie sich wehrlos und gehemmt. Ihre so lange antrainierten Reflexe reagierten überhaupt nicht. Die Angst lähmte sie. Daniels stürmischer Kuss wurde zum Auslöser und sie konnte nicht anders, als es stocksteif über sich ergehen zu lassen.
Daniel bemerkte hinter dem Schleier der Erregung, dass sie seine plumpen Annäherungsversuche nicht erwiderte, sondern wie erstarrt vor ihm stand. Abrupt hielt er inne, geschockt und angeekelt von seinem Verhalten.
»Ich ...«, murmelte er und löste sich von ihr. »Ich wollte nicht ...« Er suchte nicht einmal ihren Blick, sondern wandte sich mühsam beherrscht ab. Hastig trat er ein paar Schritte zurück. Verwirrt starrte er auf seine Schuhe und versuchte bewusst, Claire nicht anzusehen, während sein Herzschlag pochend in den Ohren dröhnte. Er schluckte schwer und versuchte tief durchzuatmen, doch dieses Mädchen löste ein ihm unbekanntes Verlangen aus. Seine Gier nach ihr ängstigte ihn. Er wollte sie nur noch spüren, seine Hände in ihren Locken vergraben und mit ihr verschmelzen. So etwas war ihm noch nie passiert! Das passte überhaupt nicht zu ihm. Er war ein Gentleman, überließ immer der Frau den ersten Schritt, wagte sich nie zu weit vor, um ihre Grenzen nicht zu überschreiten, hatte sich und seine Empfindungen immer unter Kontrolle und war niemals impulsiv. NIEMALS.
Vollkommen fassungslos wandte er ihr den Rücken zu und floh vor seinen Emotionen, musste so viel Abstand wie möglich zwischen sie bringen. Jegliche Erregung verrauchte, als er im Laufen über sein Verhalten nachdachte. Sie hatte sich gesträubt, er hatte es genau gespürt. So wollte sie ihn nicht, und er hatte sich wie ein wildes Tier auf sie gestürzt. Wie sollte er ihr nur je wieder in die Augen sehen? Am besten überhaupt nicht!
Er beschleunigte sicherheitshalber seine Schritte und hastete um die nächste Ecke. Besser, wenn er sie nie wiedersehen würde! Selbst wenn das bedeutete, dass seine Lust nie wieder von einer Frau derart angefacht werden würde wie von ihr. Sie hatte sich ihm mit nur einem Kuss so bedingungslos hingegeben, dass die Erinnerung daran heftig schmerzte. Und dann hatte er ihre Grenzen überschritten. Bei Odin, allein der Gedanke daran ...
Claire lehnte schwer atmend an der Hauswand, verharrte für ein paar Sekunden in dieser Position und versuchte, das Geschehene zu entwirren. Verstört fuhr sie sich durch das Haar, wuschelte sich aufgewühlt durch die Locken und ordnete ihre Gefühle. Daniel hatte sie wild geküsst, hatte eindeutig mehr gewollt. Sie hatte ihm mit ihren Küssen eindeutige Signale gegeben. Er musste denken, dass sie ihn ebenfalls wollte. Und sie wollte ihn auch, unbedingt. Nur war sie so von ihren – verwirrt verzog sie das Gesicht – Erinnerungen überwältigt worden, dass sie nicht in der Lage gewesen war, so auf seine Küsse zu reagieren, wie er – und sie – es erwartet hatten. Vor ein paar Jahren, in einer ähnlichen Nacht, an einer ähnlichen Hauswand, waren ihr zwar einige unangenehme aber dennoch harmlose Dinge widerfahren. Allerdings stimmte ihre Erinnerung überhaupt nicht mit dem überein, was ihre Emotionen ihr suggerierten. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Irgendetwas Unerklärliches war passiert. Sie hatte geglaubt, die Nacht von damals verarbeitet zu haben. Ihre Fähigkeiten hatten Schlimmeres verhindert. Himmel, sie hatte zwischenzeitlich eine sexuell sehr erfüllende Beziehung gehabt und mit Steve keinerlei Probleme gehabt. Sie verstand einfach nicht, was hier gerade passiert war. Diese Erinnerungen fühlten sich verzerrt und fremd an, so als hätte jemand ihre damaligen Gefühle wachsen lassen, sie verstärkt wie die verzauberte Bohnenranke aus dem Märchen. Claire schüttelte verwirrt den Kopf.
Vielleicht waren auch nur ihre gerade entstehenden Gefühle für diesen Mann mit den dunkelblauen Augen, dem schelmischen Lausbubengrinsen und dem kitzeligen Dreitagebart Schuld. Ein verträumtes Lächeln stahl sich unbewusst auf ihre Lippen und sie berührte gedankenverloren ihre Wange. Dort hatte sie sein Bart gekitzelt.
Ein Schwarm Schmetterlinge flatterte einmal quer durch ihren Bauch. Sie wollte seine Berührungen und Küsse erwidern, sich an ihn schmiegen und ihn spüren. Es war egal, was ihre Erinnerungen ihr vorgaukelten. Die Gefühle für ihn waren stärker.
Claire straffte sich, atmete tief ein und löste sich von der Mauer. Sie musste ihm folgen und in aller Ruhe mit ihm reden. Daniel würde verstehen, warum sie so reagiert hatte. Er konnte ja nicht wissen, was ihr widerfahren war. Claire setzte sich in Bewegung und lief hinter ihm her. Zügig beschleunigte sie ihre Schritte.
»Daniel!«, rief sie und erhaschte einen kurzen Blick auf seinen Mantel, als er um eine Ecke bog. Doch er floh vor ihr und verschwand. Claire hechtete nur Sekunden nach ihm um die Häuserecke, legte nochmals an Geschwindigkeit zu. Suchend sah sie sich um.
Nur wenige Straßenlaternen durchbrachen die Dunkelheit, überall bildeten sich Schatten und erhellten viele – zu viele – Nischen nur spärlich. Hier und da waren Passanten unterwegs, aber niemand hatte auch nur annähernd Daniels Statur. Claire lief noch ein paar Meter weiter, spähte in Hauseingänge und rief seinen Namen, aber sie konnte ihn nirgends entdecken.
Leiser Donner kündigte das Herannahen eines Sommergewitters an. Ein Blitz zuckte über den Nachthimmel und leichter Nieselregen setzte ein. Claires Locken sogen sich mit dem sanften Regen voll und kräuselten sich durch die Feuchtigkeit noch mehr. Strähnen klebten ihr im Gesicht.
Ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Rippen, ihr Puls raste vor Anstrengung. »DANIEL!«, rief sie gegen die stärker werdenden Wassertropfen, die laut auf die Häuserdächer trommelten, aber sie bekam keine Antwort.
Kapitel 2
Donnergrollen erfüllte die tiefschwarze Nacht und kündigte vom Herannahen eines Sommergewitters. Seit Tagen löste ein Gewitter das nächste ab. Die Luft roch schwer nach Ozon und die drückende Hitze der vergangenen Tage steckte tief in den Mauern der Lagerhallen. Im Hafen lagen nur wenige Boote, doch ihre Buge wurden nicht mehr ganz so sanft wie am Morgen gegen die Kaimauer gedrückt. Das Wasser war unruhig und plätscherte aufgeregt.
Ein Blitz zuckte über den wolkenverhangenen Nachthimmel, als sich Claire langsam aus ihrem Dienstwagen schälte. Durch das näher kommende Gewitter waren die Funksprüche ihrer Kollegen in der Zentrale nur zerhackt zu ihr durchgedrungen, Bruchstücke hatte sie mühsam entziffern können. Darunter »Hafen«, »Pier 3« und Lagerhaus des Unternehmens »Kettler&Söhne«. Nach mehrmaligem Nachfragen drangen weitere Fetzen zu ihr durch. Sie sollte ihre normale Runde erweitern und dem neuen Kunden Sicherheit vermitteln. Claire arbeitete für einen Sicherheitsdienst in der Sparte Objektschutz für Gewerbegebäude. Ihre Arbeit war ruhig und vollkommen unspektakulär, im Gegensatz zu den Einsätzen ihrer Kollegen, die unter anderem auch im Ausland agierten und den gut bezahlten Personenschutz übernahmen. Ihre Aufgabe hingegen war es, Präsenz zu zeigen, die Objekte mehrfach in der Nacht anzufahren, um die Gebäude herumzugehen und mit ihrer Taschenlampe in die Fenster zu leuchten. Manchmal wurde von ihr auch erwartet, dass sie das Gelände betrat und genauer nach dem Rechten sah. Je nachdem, welches Paket der Kunde gebucht hatte und wie viel er bereit war, für den Schutz seiner Immobilien auszugeben, variierten auch ihre Aufgaben. Nahezu alles war möglich; der Preis war die entscheidende Komponente.
Claire war seit ein paar Jahren beim Sicherheitsdienst »Lehmann Security«. Zu Beginn ihrer Tätigkeit hatte sie im Büro gearbeitet, Buchhaltung, Terminplanung, Büroarbeiten. Innerhalb der letzten Monate hatte sich ihr Arbeitsbereich drastisch verändert. Lehmanns Kundenkreis wuchs so schnell, dass er mit der Einstellung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter schlichtweg nicht mehr hinterherkam. Sie langweilte sich schrecklich im Büro und so kam es, dass Lehmann sie zu einem Waffenlehrgang einlud. Er selbst besaß einen gültigen Waffenschein und durfte die Ausbildung seiner Mitarbeiter selbst übernehmen. Für sie wählte er eine leichte P99 aus, Standartwaffe der Polizei. Ihr geringes Gewicht, die hohe Schusszahl und die unkomplizierte Handhabung machten sie für Anfänger optimal. Claire wusste genau, dass er bewusst darauf verzichtet hatte, die Waffe als optimal für eine »Frau« zu betiteln. Er wusste, wie sehr sie es hasste, auf ihr Geschlecht reduziert zu werden. Die Formulierung rechnete sie ihm hoch an, als Büromitarbeiterin war sie nicht für den Außendienst eingestellt. Claire erwies sich als äußerst talentiert im Umgang mit der P99. Schon nach kurzer Zeit erreichte sie die höchstmögliche Trefferquote, dazu ihre gute Reaktionsgeschwindigkeit. Lehmann nahm sie schon nach wenigen Wochen mit zur Prüfung. Wenn man im Rahmen der Tätigkeiten eines Sicherheitsdienstes auf offener Straße eine Waffe tragen wollte, musste man sich einer offiziellen Prüfung unterziehen. In ihrem Fall wurde die Prüfung direkt auf einer Polizeidienststelle abgenommen. Claire erinnerte sich nur ungern an die Prüfung, der Schießstand hatte sich im Keller befunden, es roch muffig und sie war den ständigen Sticheleien der Beamten ausgesetzt. Professionell war etwas vollkommen anderes. Aber sie hatte die Prüfung ohne großes Federlesen absolviert und konnte von da an als vollwertiges Mitglied in der Abteilung Objektschutz eingesetzt werden. Endlich keine langweilige Büroarbeit mehr! Wahnsinn!
Zunächst begleitete sie einen älteren Kollegen, sah ihm bei der Arbeit über die Schulter. Aber dank der hinzugekommenen neuen Gebäude – der Wunsch der Eigentümer nach Objektschutz wuchs unaufhörlich – mussten sie sich irgendwie arrangieren, um die neuen Objekte genügend abzusichern. Dabei spielte ihre eigene Sicherheit übergangsweise eine untergeordnete Rolle, bis neue Mitarbeiter eingestellt wurden. Leider hielt der unterbesetzte Zustand in ihrer Abteilung an. Und so fuhr sie schließlich alleine auf die Straße. Claire behagte diese Situation nicht, aber was getan werden musste, musste getan werden. Und sie leistete ihren Beitrag, die Straßen ein klein wenig sicherer zu machen.
Die Nachtschicht war fast zu Ende, am Horizont zeichnete sich bereits ein heller Streifen ab und kündigte den Sonnenaufgang an. Claire gähnte abermals, löste den kleinen Gurt von ihrer Waffe und legte die Hand auf den wohlgeformten Lederknauf ihrer P99. Wann immer sie sich einem Objekt näherte, war das ihre erste Handlung. Sie brauchte das zusätzliche Gefühl einer Pistole in ihrer Hand, auch wenn sie keinen Anlass dazu hatte.
Sie nahm ihre Taschenlampe vom Gürtel und bahnte sich einen Weg durch herumstehende Kisten, leere Pappkartons und herumfliegende Zeitungen. Das Lagerhaus von »Kettler&Söhne« lag weit ab vom Hauptgeschehen des Piers, aber immer noch nah genug am Steg, dass es sich zum Hafen zählen konnte.
Claire betrachtete skeptisch die heruntergekommene Fassade. Zerbrochene Scheiben und abgesplitterte Farbe kündeten eher von einem verlassenen als einem benutzten Bauwerk. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Ob sie sich in der Adresse geirrt hatte? Der Funkspruch war nur bruchstückhaft zu ihr vorgedrungen, ein Irrtum war also nicht auszuschließen. Claire holte tief Luft und leuchtete die Fenster aus, suchte nach einem Eingang. Normalerweise prägten sie sich die Gebäudepläne ihrer Objekte noch in der Zentrale gut ein, damit sie bereits im Vorfeld alle Sicherheitslücken kannten und auf diese Stellen ihr besonderes Augenmerk richten konnten. Da die Halle von »Kettler&Söhne« heute neu hinzugekommen war, kannte sie die Grundrisse noch nicht. Sie würden erst in ein paar Tagen geliefert werden. Aber wenn sie jetzt sowieso schon hier war, konnte sie sich das Gebäude auch gleich ansehen. Zurück im Dienstwagen wollte sie sich bei der Zentrale nochmal nach der Adresse erkundigen.
Sie grübelte noch immer über die genaue Anschrift nach, als sie eine Eingangstür entdeckte, die ebenso verkommen war wie der Rest des Lagerhauses. Ein Schild darüber verwies auf die Betreiberfirma, »Kettler&Söhne«. Okay, das war definitiv der Name, der ihr vorhin über Funk genannt worden war.
Sie ruckelte probeweise an der Schiebetür. Offen? Was zur Hölle hatte das zu bededeuten? Wozu brauchte man einen Sicherheitsdienst, wenn sie den Haupteingang nicht verriegelten? Mit einem kräftigen Schwung öffnete sie die Tür und trat ein.
Ein übler Geruch nach Abgasen, Altöl und verrottendem Metall schlug ihr schwallartig entgegen und ließ sie angewidert die Nase kräuseln. Würgend hielt sie sich die Hand vor den Mund und schluckte jeglichen Kommentar herunter. Stattdessen leuchtete sie mit ihrer Taschenlampe in das Gebäude. Das Innere spiegelte das Äußere wieder, genauso verrottet wie ausgestorben. Wie sonst üblich, erwartete sie das Scharren von kleinen Krallen unzähliger Nager über kalten, feuchten Betonboden. Doch scheinbar trieben sich nicht einmal Ratten hier herum, und die gab es überall am Hafen. In jedem Lagerhaus lebten Unmengen der kleinen Tiere und versorgten sich auch dort mit Essbarem, wo es scheinbar nichts gab.
Sofort beschlich Claire ein ungutes Gefühl. Wenn sogar Ratten dieses Gebäude mieden, war etwas überhaupt nicht in Ordnung.
Sie hielt ihre Waffe alarmiert im Anschlag unter ihrer Taschenlampe und ging aufmerksam weiter. Stück für Stück leuchtete sie die Ecken aus, ihr Atem ging stoßweise und ein eisiger Schauer kroch ihr Rückgrat hinab. Ihr siebter Sinn verlangte energisch, diesen Ort auf der Stelle zu verlassen, zurück zum Wagen zu gehen und ihre Kollegen anzufordern oder zumindest ihr Funkgerät zu benutzen. Pah! Sie war kein Jammerlappen! Sie konnte diese Lagerhalle sichern! Also ignorierte sie die Vorahnungen, schob ihre Ängste beiseite und tat ihren Job, denn dafür war sie hier und genau das würde sie auch tun. Sie würde das Objekt sichern, Meldung machen und ihre Schicht beenden.
Statt auf ihre innere Stimme zu hören, drang sie Meter für Meter in das Lagerhaus vor. Umsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und überprüfte systematisch jeden Winkel stur nach Schema F. Plötzlich fühlte sie einen eisigen Hauch in ihrem Nacken, der langsam über ihre Wirbelsäule hinab kroch und sie erschauern ließ.
Claire fuhr mit klopfenden Herzen herum und richtete die Waffe auf ... was auch immer?! Sie blickte Richtung Ausgang und erhaschte gerade noch aus dem Augenwinkel eine Bewegung – eine wahnsinnig schnelle Bewegung. Ihr Puls raste, als sie ihren bewaffneten Arm herum riss und dem Schatten zu folgen versuchte. Der Strahl der Taschenlampe hinterließ leuchtende Schlieren in ihrem Blickfeld und sie konnte für die nächsten Sekunden gar nichts erkennen. Innerlich ohrfeigte sie sich für diese dämliche Aktion. Jetzt musste sie endlose Atemzüge warten, bis sich ihre Augen an das veränderte Licht gewöhnt hatten. Schließlich erhaschte sie einen Schatten, der vor ihrer Lampe flüchtete.
Claires Herz pochte bis zum Hals, als sie mit der Taschenlampe und der Waffe im Anschlag dem Schatten folgte. Aber sie drehte sich nur im Kreis und konnte weder eine Person noch sonst etwas ausmachen. Wild auf etwas nicht eindeutig Erkennbares zu schießen, kam für sie nicht in Frage. Jede im Einsatz abgefeuerte Kugel musste akribisch dokumentiert werden und sie hatte keine Lust, Formulare auszufüllen. Rational gesehen würde sich die Gestalt vermutlich als Katze oder Waschbär entpuppen und das Gespött ihrer Kollegen wäre ihr schon sicher, wenn sie für diese Art von Einbrecher Munition verschwendete.
Ein schepperndes Krachen ließ Claire, noch während sie ihren Gedanken nachhing, zusammenzucken. Die Tür des Lagerhauses schlug heftig zu. Vielleicht der Wind? Claire schnappte nach Luft, als ihr Gehirn sich endlich in Bewegung setzte und zum Rückzug blies. Was auch immer das war, sie würde nicht hier eingesperrt Jagd darauf machen, allein und ohne Rückendeckung. Egal, Waschbär hin oder her, sie war weder von ihren Fähigkeiten überzeugt noch lebensmüde. Der Eindringling musste warten, bis Verstärkung eintraf. Sie konnte das Kerlchen auch mit Tommy jagen, der würde sie wenigstens nur ein paar Tage damit aufziehen. Dieser Preis war völlig in Ordnung, wenn sich dieses ... Wesen als Tier entpuppen sollte. Ihr siebter Sinn widersprach der Rationalität ihrer Gedanken vehement. Das war kein Tier gewesen. Es war viel größer, schneller und die Gefahr, die davon ausging, war greifbar.
Vorsichtig setzte Claire einen Fuß hinter den anderen und versuchte, zur Schiebetür zu gelangen, ohne den unerkundeten Bereich aus den Augen zu lassen. Weit war sie nicht in das Lagerhaus vorgedrungen, die Tür musste also direkt hinter ihr sein. Claire fühlte, wie sich ihre Brust schmerzhaft zusammenzog und sie beinahe keine Luft mehr bekam. Die verbliebene Hitze des Tages war in der Lagerhalle entsetzlich drückend. Sie musste hier raus, sie konnte nicht mehr atmen! Die Dunkelheit wich nicht mehr wie noch vor Kurzem dem Licht ihrer Taschenlampe, sondern wurde immer dichter und schien regelrecht auf sie einzustürzen! Claire schnappte nach Luft. Statt ihren kontrollierten Rückzug fortzusetzen, drehte sie sich um und floh in Panik Richtung Tür. Sie rannte und rannte, doch sie konnte die Tür nicht erreichen! Claire beschleunigte in Panik ihre Schritte und spürte eine flüchtige Berührung im Rücken. Etwas schabte über den Stoff ihrer Uniformjacke, etwas sehr Kaltes. Ein starker Schmerz durchfuhr ihren Körper. Umdrehen oder weglaufen? Da muss ich nicht lange überlegen!, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte. Das Etwas packte sie an der Schulter und wirbelte sie mit solcher Kraft herum, dass sie in einer heftigen Drehung zu Boden stürzte und ihre P99 verlor. Die Taschenlampe schlitterte in einem wild flackernden Wirbel aus Licht außer Reichweite und kam scheppernd zum Stillstand.
Claire atmete ruckartig und krabbelte rückwärts – zur Tür, wie sie meinte, aber sie hatte vollends die Orientierung in dieser undurchdringlichen Schwärze verloren. Hastig sah sie sich um und erkannte nur schemenhafte Konturen. Sie spürte genau, dass da jemand – etwas? – auf sie zu kam, fühlte die Schritte mehr, als dass sie sie hörte. Der Beton vibrierte unter ihren Fingerkuppen. Wie die Kreise, die ein Kieselstein beim Eintauchen in das Wasser eines Sees hinterlässt.
Dann hörte sie das Geräusch gummierter Schuhsohle auf Beton. Schwere, langsame Stöße. Bedrohliche Umrisse ragten über ihr auf und näherten sich ihr unaufhaltsam. Hilflos und in Panik streckte sie abwehrend ihre Arme aus und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieses Ungeheuer von ihr lassen würde, sie nicht angreifen und verletzen würde. Sie musste sich schützen!
Die Enge in ihrem Inneren strömte nach Außen, pulsierte in ihren Händen und entlud sich in einer einzigen, kraftvollen Druckwelle. Hätte Claire nicht ihre Lider fest aufeinandergepresst, hätte sie die Wirkung ihres Wunsches in Erstaunen versetzt. Der Schatten stieß einen erschrockenen Schrei aus, als er zurückgeschleudert wurde und gegen einen Pfeiler prallte. Die erdrückende Schwärze ließ augenblicklich nach, das Licht der Straßenlampen drang wieder durch die zerbrochenen Fensterscheiben und die nur undeutlich erkennbaren Umrisse gewannen zunehmend an Gestalt. Claire öffnete vorsichtig die Augen und blickte sich zitternd um, während die Dunkelheit immer weiter zurückwich. Da waren Pfosten, die die Decke stützten, einzelne Kabinen, verrostete Maschinen und vieles mehr. Und dann erkannte sie eine vermummte, in Lumpen gehüllte Gestalt.
Sie schluckte die aufkeimende Panik herunter, fixierte den Angreifer mit zusammengekniffenen Augen und spähte aus dem Augenwinkel nach ihrer Taschenlampe und ihrer Waffe. Der Zerlumpte rührte sich und hob den Kopf. Nur ein Mensch!, atmete Claire erleichtert auf.
»Du Miststück ...!«, brüllte er wütend und kämpfte sich unter Schmerzenslauten auf die Beine. Doch weit kam er nicht, denn er wurde von einem Blitz getroffen. Er zuckte heftig unter den Stromschlägen, wurde in die entgegengesetzte Richtung geschleudert und verschwand damit aus Claires Sichtfeld.