Almost Gone - (K)ein Happy End zu Weihnachten - Danara DeVries - E-Book
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Almost Gone - (K)ein Happy End zu Weihnachten E-Book

Danara DeVries

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Beschreibung

Kaputte Seele trifft auf kaputten Körper. Können sie gemeinsam ein Ganzes sein? Carly Rosin fühlt sich zerstört. Ihre Wunden heilen, doch ihre Seele trägt tiefe Narben. Nachdem sie von ihrem Ex-Freund monatelang emotional und physisch misshandelt wurde, zieht sie zur Familie ihres Bruders. Das turbulente Leben lässt sie regelrecht aufblühen. Als Carly ihre siebenjährige Nichte Lulu zum Kampsport bringt, lernt sie deren eigenwilligen Trainer kennen. Eli zeigt den Kindern, wie sie sich in Gefahrensituationen richtig verhalten, aber er kennt sich auch mit Gewaltopfern aus. Eli bietet Carly an, sie ebenfalls zu trainieren, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Während Carly langsam ins Leben zurückkehrt, kommt es zu einem folgenschweren Vertrauensbruch. Können die beiden in der Weihnachtszeit zusammenfinden? Gegenseitig das Puzzleteil sein, das dem anderen fehlt? Man sagt ja, zu Weihnachten ist alles möglich, sogar ein Happy End für zwei vom Schicksal so schwer gezeichnete Menschen.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Almost Gone

 

(K)ein Happy End zu Weihnachten

 

Von Danara DeVries

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

Kaputte Seele trifft auf kaputten Körper. Können sie gemeinsam ein Ganzes sein?

 

Carly Rosin fühlt sich zerstört. Ihre Wunden heilen, doch ihre Seele trägt tiefe Narben.

Nachdem sie von ihrem Ex-Freund monatelang emotional und physisch misshandelt wurde, zieht sie zur Familie ihres Bruders. Das turbulente Leben lässt sie regelrecht aufblühen.

Als Carly ihre siebenjährige Nichte Lulu zum Kampsport bringt, lernt sie deren eigenwilligen Trainer kennen. Eli zeigt den Kindern, wie sie sich in Gefahrensituationen richtig verhalten, aber er kennt sich auch mit Gewaltopfern aus. Eli bietet Carly an, sie ebenfalls zu trainieren, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Während Carly langsam ins Leben zurückkehrt, kommt es zu einem folgenschweren Vertrauensbruch.

Können die beiden in der Weihnachtszeit zusammenfinden? Gegenseitig das Puzzleteil sein, das dem anderen fehlt?

 

Man sagt ja, zu Weihnachten ist alles möglich, sogar ein Happy End für zwei vom Schicksal so schwer gezeichnete Menschen.

 

 

 

 

 

 

 

Über den Autor:

Danara DeVries ist das Pseudonym einer nerdigen Mutter von zwei Nachwuchs-Nerds. Das Schreiben eigener Texte ist ihr liebster Zeitvertreib und wenn sie nicht gerade durch virtuelle Welten hastet und mit Schwertern herumfuchtelt, versinkt sie in dem Kreieren romantischer Beziehungen mit Tragikfaktor.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2021

© 2021 Danara DeVries – alle Rechte vorbehalten.

Danara DeVries

c/o easy-shop

K. Mothes

Schloßstraße 20

06869 Coswig (Anhalt)

 

Email:[email protected]

Web: https://www.danara-devries.de

 

Korrektorat/ Lektorat: Bianca Karwatt, Lektorat Buchstabenpuzzle

 

Covergestaltung: Constanze Kramer, www.coverboutique.de

Bildnachweise: ©Subbotina Anna, ©Kara-Kotsya – stock.adobe.com

 

Verwendete Schriftarten: Linux Libertine, Times New Roman, Trajan 3 Pro, Arial, Gebrina Regular

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Deine Danara

Innerlich war ich tot. Als hätte mich das Leben vor Monaten verlassen. Ich fror nicht, ich atmete nicht, ich existierte nur noch neben mir. Meine Therapeutin hatte gesagt, dass das ein reiner Schutzmechanismus gewesen war. Nun war ich in Sicherheit. Ich brauchte diese Bewältigungsstrategien nicht mehr. Doch so einfach war das nicht. Ich konnte nicht einfach in meinen Körper zurückspringen und dort weitermachen, wo ich vor zwei Jahren aufgehört hatte.

Vor etwas mehr als vierundzwanzig Monaten hatte ich aufgehört zu existieren. Irgendwie. Nicht sofort, eher schleichend, ohne dass ich es bemerkte. Ich verlor den Kontakt zu meinen Freunden, zu meiner Familie. Meinen Platz nahm eine leere Hülle ein, eine Puppe, ein lebloses Wesen, das nur den einen Zweck erfüllte. IHM zu gehorchen. Diese Puppe konnte ER nach Herzenslust benutzen. Sie schlagen, sie verletzten, sie vergewaltigen. Doch mich bekam ER nicht. Niemals.

Sarah sagte, dass mein Verstand in den Verteidigungsmodus geschaltet hatte, um sich vor den Angriffen zu schützen. Das konnte ich akzeptieren. Aber zurückkehren zu dem Ich, das ich war, bevor ich auf ihn hereingefallen war, konnte ich nicht. Zumindest nicht so einfach.

Geh zu den Menschen, die dich lieben, die dich so akzeptieren, wie du geworden bist. Dann wirst du gesund werden. Das waren Sarahs Worte gewesen. Sie klangen einleuchtend. Es hatte lange gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass ich nie wieder zu der Carly von früher werden würde. Meine körperlichen Wunden verheilten, doch ich war eine neue Frau geworden, eine andere Carly. Meinem Bruder zumindest fiel es noch schwer, diese Tatsache überhaupt in Erwägung zu ziehen. Er sah in mir immer noch seine Zwillingsschwester, den anderen Teil seiner Seele. Niemand kannte mich besser als Matteo und er wollte mich genauso wiederhaben, wie er mich in Erinnerung hatte. Er konnte einfach nicht realisieren, dass tiefe Wunden meinen Körper und Geist verunstalteten.

»Rück mal ein Stück!« Teilnahmslos trat ich einen Schritt zur Seite, schob die Hände in die weiten Ärmel meiner Strickjacke und beobachtete Matteo. Er schleppte meine beiden Koffer in das geräumige Gästezimmer und platzierte sie vor dem Bett. Dann drehte er sich um und öffnete die Schiebetür des großen Kleiderschranks. »Hier kannst du deine Sachen unterbringen.« Er ließ seinen Blick durch das Innere schweifen. »Odette hat alles ausgeräumt, in Kisten verpackt und auf dem Dachboden verstaut. Du hast genug Platz.« Matteo grinste mich an. Unbehaglich trat ich zurück, bis ich den Türrahmen in meinem Rücken spürte, und zuckte zusammen.

»Ihr hättet euch nicht so viel Mühe machen brauchen. Schließlich will ich nicht bei euch einziehen.« Nur ein paar Tage. Das war die Abmachung gewesen, doch mein Bruder und seine Frau hatten mir nicht zuhören wollen.

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Deine Therapeutin hat gesagt, dass es wichtig für dich wäre. Also bleibst du erst einmal bei uns. Bis es dir wieder besser geht.«

Ich seufzte. »Mat, mir geht es schon sehr viel besser.« Dank der Therapie schaffte ich es hin und wieder zurück in meinen Körper. Ich war längst noch nicht in der Lage, allein zurechtzukommen. Das war mir auch klar. Mich mit der Familie meines Bruders zu umgeben, bedeutete vor allem eines: Leben spüren. Ihre Tochter Lulu, deren Patentante ich war, holte mich regelmäßig zurück, wenn ich drohte, mich in meiner Bewältigungsstrategie zu verlieren. Dann konnte es passieren, dass ich stundenlang vor mich hinstarrte, als wäre ich gar nicht da. Nur damit ER mir nicht wehtun konnte.

Matteo trat vor mich und umschloss meine Schultern mit seinen riesigen Händen. Liebevoll blickte er auf mich herab. »Das weiß ich doch, Carly. Aber mir wäre es lieber, du bleibst bei uns. Nur um sicher zu gehen.«

Posttraumatische Belastungsstörung nannte Sarah es, mit einer ausgeprägten Neigung zu selbstzerstörerischen Verhalten und drohender Suizidgefahr. Aber hey, noch hatte ich nicht versucht, dem Leben durch Selbsttötung zu entfliehen. Noch war ich hier. Meistens zumindest. Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen, was wohl beruhigend wirken sollte. Auch eine dieser Bewältigungsstrategien. ER war immer besorgt gewesen, dass es mir nicht gut ging. Immer hatte ER wissen wollen, was los war. Und wenn ich nicht zu seiner Zufriedenheit antwortete, gab ER mir die Schuld, dass es mir schlecht ging. Dann ging es ihm auch schlecht und dann schlug er mich, weil ich schuld war. Also hatte ich früh gelernt zu lächeln. Wenn man lächelte, hinterfragten die Leute weniger, ob es einem gut ging. Nicht Sarah. Sie entlarvte mein Lächeln als Lüge. Matteo konnte ich noch beruhigen, weil er die fröhliche Version in mir sah. »Okay. Danke.«

Matteos Lächeln war echt. Es ließ seine Augen strahlen. »Gut, pack aus, dann komm runter. Lulu wollte zur Feier des Tages Spaghetti Bolognese machen. Und deine Bolognese ist um Längen besser als meine.« Das war eine glatte Lüge. Unsere Eltern besaßen ein kleines italienisches Restaurant und wir hatten früh gelernt, Bolognese zu kochen. Überhaupt zu kochen.

Ich zwang mir ein künstliches Lächeln auf die Lippen. »Alles klar.« Odette musste arbeiten, Matteo hatte sich extra freigenommen, um mich von der Klinik abzuholen, mit mir kurz in meine Zweizimmer-Wohnung zu fahren und die nötigsten Sachen einzupacken, bevor wir hierher gefahren waren. Die Wohnung, die ich kaum noch betreten hatte, seit ich mit IHM zusammen war. ER wollte, dass ich bei IHM wohnte, doch irgendwie hatte ich es nicht geschafft, die alte Wohnung zu kündigen. Dieser eine Rückzugsort war mir geblieben. Matteo wollte sogar, dass ich noch weiterging und endlich meine Aussage machte. Aber ich konnte nicht. Ich wollte einfach nur vergessen. Mir war egal, ob er bestraft wurde oder nicht, Hauptsache, ER ließ mich in Ruhe. Ich wusste, dass Dinge im Hintergrund geschahen. Immerhin war die Polizei im Krankenhaus gewesen. Man hatte mich zu einer Aussage gedrängt, doch ich hatte geschwiegen. Ich wollte nur noch vergessen, aber so einfach war das nicht. Manchmal holte mich die Erinnerung ein. Sarah nannte sie Reminiszenz. Ich verlor mich selbst darin, konnte nicht unterscheiden, was Realität war und was nicht. Die Flashbacks ließen mit der Zeit nach. Ich musste nur noch lernen, wie ich die alten Verhaltensmuster durch neue ersetzte.

Mittlerweile war es nach zwölf. Lulu kam spätestens um ein Uhr von der Schule nach Hause. Sie besuchte die zweite Klasse. Normalerweise aß Lulu wie die anderen Kinder in der Schule, aber sie hatte eine Allergie und weigerte sich strikt, überhaupt irgendein Lebensmittel in der Kantine auch nur anzurühren.

Während meine Gedanken wie Brummkreisel durch meinen Verstand drehten, trat ich erneut neben mich. Mein Denken schaltete auf Durchzug und ich starrte einfach nur in das so liebevoll von Odette eingerichtete Zimmer, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Mein Blick sollte das mit geblümter Bettwäsche bezogene, aus weißem Holz bestehende Bett wahrnehmen, den kleinen Schreibtisch, wo Odette ein paar Astern in einer Vase platziert hatte. Oder den herrlichen Kleiderschrank mit verspiegelter Schiebetür. Zudem hatte sie Handtücher bereitgelegt. Nur für mich, damit ich mich unter ihrem Dach sofort wie zuhause fühlte.

Unten schepperte es. »Verdammt!« Matteo fluchte. Ein Ruck durchpflügte meinen Körper. Es schien fast so, als würde der Impuls mich einschalten. Diesmal war mein Lächeln echt. Sarah hatte recht. In diesem Haus war Leben. Die Stille war mein größtes Problem. Krach sorgte dafür, dass ich nicht in diesen Überlebensmodus verfiel. Dieses Geräusch holte mich zurück.

Mein Bruder war ein herzensguter Mensch. Er würde mich niemals rufen, weil ich die Zeit vertrödelte. Eher fing er selber mit dem Kochen an. Als ich die Küche betrat, blieb ich stehen und stutzte. Matteo steckte mit seinen fast zwei Metern Körpergröße bis zur Hüfte im Schrank und wühlte in den Töpfen herum. »Was zur Hölle …?« Er fluchte und dann erklang das Geräusch, welches mich aus meiner Starre geholt hatte, erneut. Es schepperte, weil er einen metallenen Topfdeckel aus den Untiefen des Einbauschranks zerrte und hinter sich warf. Verblüfft folgte ich dem Deckel, der über die Fliesen schlingerte und noch ein wenig empört vor sich klapperte, bevor er liegenblieb. Neben ihm lag bereits ein Artgenosse, der genauso verstimmt über die ruppige Behandlung zu sein schien.

Irritiert wandte ich den Kopf wieder Matteos Hinterteil zu und setzte mich langsam in Bewegung. Hinter ihm blieb ich stehen und beugte mich über ihn. »Was genau machst du da eigentlich?«

Matteo zuckte zusammen, sein Kopf ruckte nach oben und donnerte lautstark gegen die Innenseite des Küchenschranks. »Verdammt, Carly! Erschreck mich doch nicht so.«

Ich grinste und trat einen Schritt zurück. Das Lächeln fühlte sich nicht aufgesetzt an, sondern echt. Als ob ein Leuchten kurzzeitig die Dunkelheit in meinem Inneren durchbrach. Wie ein Glühwürmchen flimmerte es vor mir herum. Ich wollte danach greifen, es festhalten. Doch dann war es wieder verschwunden. Meine Mundwinkel sackten nach unten. Matteos Worte klangen wie ER. Die Dunkelheit hüllte mich erneut ein. Unwillkürlich wich ich zurück, bemerkte gar nicht, wie mein Bruder sich aus dem Schrank befreite, auf die Beine kam und mich ansah.

»Carly? Carly!« Er packte mich bei den Schultern, hielt mich genauso, wie Sarah es gesagt hatte. Und dann drehte ich den Kopf in seine Richtung und sah ihn. »Ich bin es. Matteo.« Die Dunkelheit löste sich auf und ich nickte. Ja, Matteo. »Ist alles okay?«

Widerstrebend nickte ich. »Sarah sagte, dass die Flashbacks öfter kommen, wenn ich in einer neuen Umgebung bin. Aber ja, es ist okay. Ich muss mich nur ein wenig umgewöhnen.«

»Du bist hier zu Hause.« Matteo zog mich an sich. »Du bist hier sicher. Er wird dir nicht wehtun. Ich werde aufpassen. Diesmal werde ich wirklich aufpassen.« Matteo schloss mich in seine starken Arme, drückte mich an seine breite Brust und strich mir immer wieder über den Rücken. Er machte sich schreckliche Vorwürfe, dass er mich nicht viel früher aus dieser Beziehung befreit hatte, dass er nicht bemerkt hatte, wie schlecht es mir ergangen war. Aber er konnte nichts dafür. Ich hatte ja selbst geschwiegen und alle belogen, ihn immer nur in Schutz genommen, bis er irgendwann versuchte, mich umzubringen. Die Würgemale waren gerade erst verblasst. Seitdem befand ich mich in Therapie. Mehrere Wochen stationär. Nun würde ich Sarah nur noch zweimal die Woche sehen. Sie fand, ich sei bereit. Ich nicht. Vorhin war ich nicht einfach nur so abgedriftet. Die Situation überforderte mich, aber – auch das hatte Sarah prophezeit – ich war stark genug, damit zurechtzukommen. Ich konnte aus eigener Kraft zurück ins Hier und jetzt kehren. ER war nicht da, was konnte mir also schon groß passieren?

Meine Lungen füllten sich mit frischer Luft, ich spürte, wie das kleine Monster, das mir bei einer drohenden Panikattacke immer auf der Brust saß, sich in die Dunkelheit zurückzog. Noch wartete ich einen Augenblick, unsicher, ob es auch dortbleiben würde. Doch es kehrte nicht zurück, belauerte mich nur mit seinen glühenden Augen. Gut. Ich straffte die Schultern und schenkte meinem Bruder ein aufrichtiges Lächeln. »Danke.«

Mat lächelte. »Okay, dann lass uns kochen. Lulu liebt deine Bolognese.«

 

Ich war zwar erst ein paar Stunden im Haus meines Bruders, doch allmählich verstand ich, was Sarah meinte, als sie vorschlug, ich sollte bei meiner Familie leben anstatt in meine Wohnung zurückzukehren. Nicht in die andere, die meine Therapeutin nur als den Tatort bezeichnete. Nein, es war vollkommen in Ordnung, hierherzukommen. Das merkte ich erst so richtig, als ein kleiner Sonnenschein durch den Flur wirbelte und ihre Ärmchen um meinen Hals schlang, als wäre ich ihr Dreh- und Angelpunkt. Hoffentlich würde Odette nicht eifersüchtig werden. Doch den Gedanken verwarf ich ganz schnell wieder. Nicht die zauberhafte, liebevolle, fürsorgliche Odette.

»Tante Carly, es ist so schön, dass du da bist. Wir können nachher malen und mit den Barbies spielen. Du darfst ihnen auch allen neue Zöpfe flechten und …« Lulu schnüffelte prüfend. Ein genüssliches Lächeln legte sich auf ihre runden Kinderlippen und sie presste mir einen dicken Kuss auf die Wangen. »Du hast Bolo gemacht.«

Mir zog sich die Brust vor Rührung zusammen. Das Strahlen ihrer Augen erreichte mein Herz. Es wusste absolut nicht, was es mit diesem Gefühl anfangen sollte, doch die Wärme, die Lulus Lachen auslöste, brachte dem Eispanzer, den ich um das schützenswerte Organ gelegt hatte, ein paar hauchzarte Risse bei. Ich wusste plötzlich, dass ich hier heilen konnte. Automatisch erwiderte ich ihr Lachen. »Natürlich, für dich koche ich immer, was du am liebsten isst.«

Mat stand hinter seiner blondgelockten Tochter, die so gar nichts von dem in unserer Familie vorherrschenden Aussehen geerbt hatte. Odette hatte ihre wunderschönen, honigblonden in sanften Wellen fließenden Locken an ihre Tochter vererbt, während Mat und ich stoisch unsere italienischen Wurzeln vertraten. Daher auch unser Name: Rosin. Odette war gebürtige Französin, lebte aber seit Jahren in Berlin, wo es auch meine Familie hin verschlagen hatte.

»Also, meine Damen, wenn ihr dann mit eurer Begrüßung fertig seid, könnten wir dann essen? Ich sterbe vor Hunger!« Lulu kicherte. »Och, Papa, man stirbt doch nicht vor Hunger!«

Ich richtete mich auf. »Ja, Matti, so schnell stirbt es sich nicht.«

Das Lächeln in seinen Augen verblasste. Shit, mein Mundwerk entwickelte wieder einmal ein Eigenleben, plapperte aus, was besser ungesagt blieb. »Nicht darüber nachdenken. Mir geht es gut.«

Mat atmete tief durch und stieß sich vom Türrahmen ab. »Ja, es ist alles gut.«

»Und er wird mir nie wieder weh tun.« Schon als Kinder übernahm immer einer die Beschützerrolle, wenn es dem anderen schlecht erging. So war das eben zwischen Zwillingen. Wir beschützten einander. Und Mat knabberte sehr daran, dass er mich nicht hatte beschützen können.

Mein Bruder reichte mir die Hand und zog mich schwungvoll auf die Beine. Lulu stürmte indessen an den Esstisch, kletterte auf die Bank und suchte sich ihren Platz. Mat legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich an sich.

Auch Mat hatte tiefe Wunden davongetragen. Andere als ich, doch sie waren nicht minder schwer. Gemeinsam hielten wir uns aufrecht und gingen aneinandergeschmiegt zum Esstisch. Und zusammen würden wir auch heilen. Fast wie früher.

Mat drückte mir einen Kuss auf die Schläfe. »Nie wieder.«

Im Krankenhaus hatte man meine Verletzungen dokumentiert. Jeden Zentimeter meines Körpers hatten sie untersucht. Ich war damals noch fest davon überzeugt gewesen, dass ich durch Nichtssagen die Tat totschweigen könnte. Doch dem war nicht so. Ich musste gar keine Anzeige erstatten, das erledigte die Polizei für mich. Sehr zu seinem Verdruss. Wenn ER nicht in Panik geraten wäre, würde ich noch heute bei ihm leben. ER hätte meine Wunden selbst versorgen können, doch dazu fehlte ihm der Mumm. Zumal er fest davon ausgegangen war, dass ich nur den Mund halten musste, dann würde niemand ihn anzeigen. Nicht bei seiner Familiengeschichte, nicht nach allem, was seine Familie für das Krankenhaus getan hatte. Zu dumm, dass es ein paar handfeste Regeln gab, wie Schwestern und Ärzte mit Patienten umgehen mussten, die Verletzungen aufwiesen, die auf ein Gewaltverbrechen hinwiesen. Was bitte sollte an Würgemalen falsch zu verstehen sein? Die Treppe war ich jedenfalls nicht heruntergefallen.

Sarah sollte mir dabei helfen, eine Aussage zu machen. Zwar hatten sie die Fotos, aber ich als Zeugin könnte viel mehr zur Aufklärung des Verbrechens beitragen. Irgendwann in den nächsten Wochen würde eine Vorladung im Briefkasten liegen, der Moment, vor dem ich mich am meisten fürchtete.

Bisher hatte ich kein einziges Wort über die Tat verloren. Sarah, meine Therapeutin, konnte mich genauso wenig davon überzeugen. Wir wussten beide, dass ich tief in meinem Inneren der Wahnvorstellung nachhing, die Vorfälle totzuschweigen, würde sie ungeschehen machen. Meine Bewältigungsstrategie bestand im Augenblick noch aus Verdrängung. Wenn ich nicht über ihn nachdachte, wo ER sich gerade befand und ob ER mir gefährlich werden könnte, dann würde das auch nicht passieren. So einfach war das. Nicht. Mir genügte die Versicherung der Polizisten, dass der Täter, wie sie ihn nannten, sich mir nicht nähern würde. Dafür sei gesorgt. Soweit okay. Man wollte mir etwas Zeit einräumen, aber nur wenn ich redete, konnte ich für ein angemessenes Strafmaß sorgen.

Sarah meinte zwar, wir könnten bald die nächste Stufe angehen und uns langsam dem, was passiert war, nähern. Aber erst, wenn ich mich dazu bereit fühlte. Sie bedrängte mich nicht. Alles ging von mir aus. Wenn ich erzählen wollte, würde sie mir zuhören. Wenn nicht, war das genauso in Ordnung. Sarah unterstützte mich. Doch am allermeisten half Lulu.

»Carly bringt mich!« Mein kleiner Engel stampfte mit dem Fuß auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und du nicht!«

Mat ging vor seiner Tochter in die Hocke und fasste sie bei den Schultern. »Rubinchen, wir haben doch darüber gesprochen. Tante Carly ist sehr krank und sie ist hier bei uns, damit sie wieder gesund wird.« Die Zornfalten in dem kindlichen Gesicht glätteten sich etwas. Mat nickte zufrieden. Lulu war im Grunde ein sehr verständnisvolles Kind. »Sie ist heute den ersten Tag bei uns und ich denke, sie sollte sich, nachdem sie für uns gekocht hat, etwas ausruhen. Meinst du nicht auch?«

Lulu schob die Unterlippe vor. »Nur Babys machen Mittagschlaf.«

»Und wenn man krank ist?«

Lulu musterte mich prüfend. »Aber du siehst gar nicht krank aus.«

»Manche Krankheiten sieht man nicht immer gleich.«

»Frau Winkelhuber hat gesagt, frische Luft tut einem gut. Auch wenn man krank ist.«

Mat ließ seufzend den Kopf hängen. Ich schmunzelte. »Mat, ich kann sie bringen, wo auch immer sie hin möchte. Mir geht es gut.« Mir ging es überhaupt nicht gut, aber das hier war Mats Zuhause, meine Familie und meine Nichte. Ich wollte einfach nicht, dass er mir auch noch das nahm. Der Weg würde anstrengend werden und mir alles abverlangen, aber für Lulu war ich bereit, so einiges auf mich zu nehmen.

Mein Bruder hob den Kopf. »Bist du sicher?«

»Na klar. Lulu hat schon recht, körperlich bin ich nicht krank.«

Mat erhob sich. »Gut, aber ich gehe mit.«

Lulu schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das darfst du nicht. Ich will …« Sie überlegte eine Weile, doch ihr schien kein Argument einzufallen, warum ihr Vater uns nicht begleiten durfte. Hilfreich sprang ich ihr zur Seite.

»Ist das ein Geheimnis?«

Lulu runzelte die Stirn. »Mami bringt mich sonst immer.«

»Mami kann dich auch heute bringen.«

»Nein, Carly muss mich bringen. Mami ist immer so müde, wenn sie nach Hause kommt.« Odette arbeitete als Krankenschwester Zwölfstundenschichten. Sie war bereits die ganze Nacht auf den Beinen und würde in Kürze nach Hause kommen.

Ich ging neben meiner Nichte in die Knie. »Was macht ihr denn immer, wenn ich fragen darf, dass Papa dich nicht bringen darf?«

Lulu beugte sich zu mir und hielt ihre Hände so vor den Mund, dass sie einen Tunnel formten, durch den sie mir zuflüsterte. »Der Trainer ist heiß.«

Ich machte große Augen. Diese Worte aus dem Mund einer Siebenjährigen. »Wie bitte?«

»Psssst!« Lulu sah mich strafend an. Ihre Augen wanderten zu ihrem Vater. »Nichts verraten. Mami sagt, Papa darf das nicht wissen.«

Ich kicherte. »Alles klar. Also bringe ich dich dann zum Sport, okay? Ohne Papa?«

Lulu grinste mich breit an. »Das wird lustig.« Dann verpasste sie mir einen dicken Schmatzer auf die Wange und stürmte ins Obergeschoss, wo sich ihr Kinderzimmer neben dem Gästezimmer, das ich bewohnte, befand. Mat sah ihr stirnrunzelnd hinterher.

»Was ist denn nun? Warum darf ich sie nicht bringen?« Fragend sah er mich an. Liebevoll legte ich meinem Bruder die Hand auf die Schulter.

»Das, mein lieber Bruder, ist ein Geheimnis.«

Mat verzog schmollend das Gesicht. »Echt, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee war, dich unter meinem Dach aufzunehmen. Jetzt hab ich statt zwei Weibern drei, die mir auf die Nerven gehen.«

Ich kicherte und beugte mich vor, um meinem Bruder einen Kuss auf die Wange zu geben. »Ach, quatsch. Gib ruhig zu, dass du es genießt, der Hahn im Korb zu sein.«

Mat rollte mit den Augen, nahm meinen Kuss aber lächelnd an. »Vielleicht, ein ganz klein wenig.« Er stemmte sich aus der Hocke in die Höhe und reichte mir die Hand. »Komm, lass uns aufräumen. Ihr habt noch eine Stunde, bis ihr losmüsst.«

In dicke Winterjacken gehüllt schlenderten wir kurz nach fünfzehn Uhr durch die Reihenhaussiedlung. Es dämmerte bereits an diesem späten Tag Ende November, beziehungsweise war es heute erst gar nicht so richtig hell geworden. Dicke Regenwolken bedeckten den Himmel und tauchten den Randbezirk Berlins in tristes Grau. Lulu störte das überhaupt nicht. Fröhlich ihren Turnbeutel schwingend hüpfte sie vor mir her und erzählte unaufhörlich vom Training.

»Eli zeigt uns, wie wir uns gegen böse Menschen wehren können.« Meine Augen weiteten sich. Was für ein Training war das denn? Als mir Mat davon berichtete, nahm ich an, die Kinder würden über Turnbänke balancieren, Seilhüpfen machen oder mit Hula-Hoop-Reifen üben. Aber das klang eher nach etwas, was ich hätte gebrauchen können. Böse Menschen kannte ich.

»Was ist denn das für ein Training?«

»Ach, ich weiß auch nicht.« Lulu schien keine Lust zu haben, mir mehr zu erzählen. Aber ich war schon irgendwie neugierig. Ich zog meine Kapuze tiefer in die Stirn und ließ meine Hände in den Taschen meiner dick mit Pelz gefütterten Collegejacke verschwinden. Darunter trug ich einen weiten Hoodie, dessen Kapuze meinen Kopf vor der nasskalten Luft schützte. Lulu war ähnlich eingemummelt. Ihr warmer Steppmantel und die dicken Winterstiefel hielten die Kälte fern. Darunter trug sie bereits die Trainingskleidung: eng anliegende Leggins und ein schwarzes T-Shirt mit einem stilisierten Drachen über dem Schriftzug einer Kampfsportschule. Unsicher sah ich mich um. Draußen fühlte ich mich immer noch nicht wohl. ER könnte überall lauern. Hinter jeder Ecke. Ich wusste nicht, ob ER im Gefängnis oder noch auf freiem Fuß war. Ein Anruf und ich hätte es herausgefunden, aber dazu hätte ich mich mit ihm beschäftigen müssen und das könnte die Flashbacks zurückbringen, also vermied ich jede Konfrontation mit der Vergangenheit. Trotzdem blieb das unwohle Gefühl, beobachtet zu werden. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich wieder auf Lulu.

»Was macht ihr denn für Übungen?«

Lulu blieb stehen und reichte mir die Hand, damit ich ihr beim Balancieren auf einer kniehohen Mauer half. »Eli hat überall Matten hingelegt und dann schubst er uns um.« Lulu kicherte. »Wir müssen üben, wie man richtig fällt. Und dann das Bein hochreißen, damit der Angreifer uns nicht kriegt.«

»Ah. Und was noch?«

»Wir üben, wie man ganz laut Feuer schreit! Eli sagt, dass die meisten Leute gar nicht auf Hilferufe reagieren, aber Feuer funktioniert.«

»Und was noch?«

Lulu zuckte mit den Schultern und hüpfte von dem Mäuerchen. »Dieses und jenes.«

Ich lachte. Das war die ultimative Antwort, wenn Lulu keine Lust mehr hatte. Ich gab mich zufrieden. Schließlich kam die Turnhalle in Sichtweite und ich würde gleich mit eigenen Augen sehen, was dieser Eli meinem Patenkind so beibrachte.

 

 

Kurze Zeit später betraten wir den Vorraum der Turnhalle, wo bereits einige Eltern ohne ihre Sprösslinge warteten. Lulu stürmte durch die Wartenden direkt in die Umkleidekabine.

»Bis später, Tante Carly!« Verblüfft verlor ich mein Patenkind aus den Augen. Mir blieb nur, mich zu den anderen Eltern zu gesellen. Wie ich das hasste. Viel zu viele Menschen auf einem zu kleinen Raum. Zudem drang nicht sonderlich viel Licht durch die mit blickdichtem Glas versehene Turnhallentür. Dunkel, voll und stickig. Nicht gerade förderlich für jemanden, der unter Panikattacken litt. Ich versuchte, die Gesichter der Personen zu erkennen, doch die meisten hatten mir den Rücken zugewandt. Unwillkürlich beschleunigte sich mein Herzschlag. Schweiß trat mir auf die Stirn. Natürlich gab es dafür eine logische Erklärung, schließlich drang nicht besonders viel Frischluft in den Vorraum, doch ich wusste es besser. Die Panik rollte an, wie eine Lokomotive durch einen dunklen Tunnel, direkt auf mich zu, ohne die Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Die Enge in meiner Brust nahm zu und ich griff mir unwillkürlich an den Hals, schnappte nach Luft …

»Hey.« Ein junger Mann, Anfang dreißig, begrüßte mich und drängte mit einem freundlichen, aufgeschlossenen Lächeln den Panikzug zurück. »Du bist also die berühmte Tante Carly.« Seine braunen Augen musterten mich prüfend. Dabei blitzten sie vergnügt.

»Und Sie sind?« Dank IHM trat ich Fremden immer besonders reserviert gegenüber. Vor allem, wenn es sich dabei um Männer handelte. ER hasste es, wenn ich mit anderen sprach. Ganz von seiner Tageslaune abhängig bezog ich dann zu Hause eine Tracht Prügel oder nicht. Hastig schüttelte ich den Kopf. ER war nicht hier und die Panikattacke bewältigt. Ich konnte das. Stoisch zwang ich mir ein Lächeln auf die Lippen, weil man das eben in solchen Situationen tat.

»Entschuldige, Erik Reiter. Ich bin der Papa von Finn. Lulu redet dauernd von dir. Ich hab dich einfach so geduzt. Ich hoffe, das ist okay?« Erik strahlte mich an. Er trug sein braunes Haar etwas länger und seinen Vollbart kinnlang gestutzt. Sein freundliches Lächeln ließ mich das Verhalten meines Exfreundes in einer solchen Situation vergessen. ER war nicht mehr hier. Ich musste anfangen, mich von ihm zu lösen. Auch gedanklich.

»Nein, nein. Alles okay. Warum warten wir hier?« Irritiert blickte ich mich um. Die anderen Eltern schienen das nicht eigenartig zu finden.

»Darauf, dass Eli die Halle aufschließt. Dauert nur einen Moment.«

Wenige Minuten später öffnete sich die Eingangstür und ein junger Mann in meinem Alter schob die Flügeltüren auseinander. »Immer hereinspaziert, die Damen und Herren!« Fröhlich lachte er in die Runde. Die Eltern strömten links und rechts an ihm vorbei. »Denkt dran, meine Lieben, Schuhe ausziehen. Wer mir Dreck in die Halle schleppt, putzt!« Brav streiften die Eltern in der vordersten Reihe die Schuhe von den Füßen und stellten sie artig in Reih und Glied auf. Einer nach dem anderen.

Während Erik und ich warteten, hatte ich Gelegenheit, Eli, denn um niemand anderen konnte es sich bei dem jungen Mann handeln, etwas genauer zu betrachten. Für einen Mann war Eli nicht sonderlich groß. Den meisten anwesenden Vätern ging er gerade mal bis zur Schulter. Seine kräftige Statur und sein interessanter Bart ließen ihn eher wie einen … Krieger wirken. Ich wusste überhaupt nicht, woher der Gedanke kam. Sein braunes Haar trug er in einem geflochtenen Zopf als acht oder zehn Zentimeter breiten Streifen auf dem Kopf. Als er sich zur Seite drehte, bestätigte sich mein erster Eindruck. Elis linke und rechte Schädelhälften waren rasiert und komplett mit Tribaltättowierungen übersät. Ich blinzelte irritiert.

»Er ist interssant, was?« Erik beugte sich zu mir.

»Das ist vielleicht nicht das Wort, was ich verwendet hätte.« Eli strahlte rohe Kraft aus, die allerdings durch sein freundliches Lachen und die kumpelhafte Begrüßung der Eltern abgemildert wurde. Einigen klopfte er kameradschaftlich auf die Schultern, anderen schüttelte er die Hände. Nur bei mir änderte sich sein Gesichtsausdruck und er hielt inne, meine Hand in der seinen gefangen, mich aufmerksam musternd.

»Du bist neu.«

Ich wartete darauf, dass er meine Hand losließ, doch er hielt sie einfach fest. Und zu meinem großen Erstaunen verspürte ich nicht den Drang, sie ihm zu entziehen. Eli war etwas kleiner als ich, doch sein Lächeln ließ ihn größer erscheinen. Er trug eine schwarze, ärmellose Kutte und eine weite Hose. Die Ränder seiner Jacke verzierte eine rote Borte. Die Farbe wiederholte sich in den Knöpfen und Aufschlägen. Elis muskulöse Arme schmückten ebenfalls Tattoos.

»Ich bin Lulus Tante.« Elis Augen funkelten mich amüsiert an.

»Du siehst gar nicht aus wie ein Tantchen, eher wie die große Schwester.« Flirtete er etwa mit mir? Ich blinzelte. »Na, egal, ich weiß gerne, wer die Kinder bringt.« Er zwinkerte mir zu. »Wir möchten doch nicht, das jemand Falsches sie abholt, oder?« Mittlerweile hatte sich der Vorraum geleert. Selbst Erik war schon in die Halle gegangen. Eli und ich waren allein und mich störte es nicht. Seltsam. »Komm, wir sollten reingehen. Meine Schüler sind alle schon drinnen und ich bin wie immer der letzte. Aber ich schätze, als Shīxiōng darf ich das auch, oder?« Ich blinzelte irritiert. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.

Eli ließ meine Hand los, grinste und ging drei Schritte rückwärts. Wie an unsichtbaren Fäden gezogen folgte ich ihm, Schritt für Schritt. Er deutete auf meine Füße. »Denk dran, Schuhe aus, sonst darfst du nachher den Mopp schwingen.«

Ruckartig blieb ich stehen. Nicht, dass ich mich vor dem Putzen fürchtete. Dennoch war ich nicht sehr erpicht darauf, den heutigen Abend hier zu verbringen. Wer brachte dann Lulu nach Hause?

Eli lachte, drehte sich um und lief in die Halle. Hastig streifte ich die Stiefel von meinen Füßen und folgte ihm. »Hey, Carly!« Erik winkte mir zu. Ich wandte mich in seine Richtung und ließ mich neben ihm im Schneidersitz nieder. Währenddessen holte Eli die Kinder aus der Umkleidekabine. Er klatschte in die Hände und die Kinder liefen zur Grundlinie, um sich aufzustellen. Eli drehte kurz den Kopf und winkte in unsere – meine? – Richtung.

»Position einnehmen!« Elis Stimme durchdrang die Halle und die Kinder nahmen Haltung an. Erstaunt beobachtete ich, wie die zehn sieben- bis zehnjährigen Knirpse seinem harschen Befehl folgten. Hände an die Hosennaht, den Blick auf Eli gerichtet. Seine Mundwinkel zuckten verhalten. Er gab sich sichtlich Mühe, den harten Trainer rauszukehren. Dann nahm er die Hände hoch und schlug die Faust der Rechten in die Handfläche der linken Hand. Die Kinder taten es ihm gleich und im Einklang verbeugten sie sich voreinander. »Auf ein gutes Training!«

»Auf ein gutes Training, Shīxiōng!« Die einstimmige Erwiderung der Kinder ließ mich erschauern.

»Kim, mach bitte die Erwärmung! Ich muss kurz mit den Eltern reden!« Eli verbeugte sich noch einmal, dann löste sich ein Mädchen aus der Gruppe. Die Kinder verteilten sich und begannen die Übungen, die ihnen Kim vorführte, nachzuahmen. Fasziniert beobachtete ich Lulu. Sie war eine der Kleinsten, doch sie arbeitete ernsthaft und konzentriert.

»Hey, ihr. Augen zu mir!« Ich zuckte ertappt zusammen, als Eli genau mich ansprach und ich hastig zu ihm sah. Seine Mundwinkel kräuselten sich. »Also, da ich jetzt eure ungeteilte Aufmerksamkeit habe und der Nachwuchs beschäftigt ist, würde ich gerne etwas mit euch besprechen.« Sein Blick ruhte auf mir. Verschämt senkte ich den Kopf.

»Wie ihr wisst, trainieren wir seit geraumer Zeit aktiv das Verhalten auf vollen Plätzen. Was die Kids tun sollen, wenn sie euch verloren haben, wie ihr einander wiederfindet. Ich würde am letzten Donnerstag vor Heiligabend auf dem Weihnachtsmarkt einen Probelauf durchführen. Nachmittags ist noch nicht so viel los und ich bin eh dort, wie ihr wisst.« Zustimmendes Gemurmel. Ich hatte keine Ahnung, was Eli meinen könnten, nickte aber so, als ob ich selbstverständlich im Bilde war.

»Ich nehme an, ihr kennt alle die Location? Am Salomon-Platz?« Erneut zustimmendes Gemurmel. Wo? Ich war zwar öfter in dieser Gegend gewesen, aber der Ort sagte mir überhaupt nichts. Okay, zugegeben war ich die letzten Jahre nicht häufig hier – wegen IHM. ER hatte meine Familie gehasst und nicht erlaubt, dass ich sie besuchte. Zudem veränderte sich die Stadt ständig und war so groß, dass es selbst als Berlinerin immer wieder Ecken gab, die ich noch nicht kannte.

»Eure Aufgabe besteht darin, den Markt vorher abzulaufen. Findet die Notfalltreffpunkte. Wir wählen dazu immer den Sammelpunkt aus und dann wird trainiert. Erklärt eurem Kind, dass ihr es an einem bestimmten Punkt alleine lasst. Vermeidet Gruppenbildung. Jedes Kind soll alleine trainieren, denn im Notfall müssen sie sich auch selbst zurechtfinden. Ihr Erwachsenen bezieht rund um den Markt Stellung. Schließlich wollen wir ein sicheres Trainingsumfeld schaffen. Und ja, dann kann es losgehen. Ich werde die Knirpse dann am Sammelpunkt erwarten und euch informieren, sobald ein Kind bei mir ankommt. Alles klar?« Wieder zustimmendes Gemurmel. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es ging.

»So.« Eli ließ seinen Blick durch die Runde schweifen. »Gibt es noch Fragen?« Keiner der Anwesenden hob die Hand. Obwohl nur einige Frauen kleiner als Eli waren und alle Männer ihn überragten, strahlte er eine unvergleichliche Autorität aus. Sowas hatte ich noch nicht erlebt. Seine kräftige Gestalt sprühte nur so vor positiver Ausstrahlung. Er blickte in die Runde. »Gut, dann setzt euch, tragt eure Telefonnummern zur Sicherheit in die Liste ein und genießt das Training!« Eli verbeugte sich kurz vor uns, dann wandte er sich ab und lief zu den Kindern, die mittlerweile ihr Aufwärmtraining beendeten. Eli wies Kim an, mit den größeren Kindern Matten zu verteilen, woraufhin ich annahm, dass ein wildes Durcheinandergewusel begann. Doch nichts dergleichen geschah. Die Kinder gingen in Vierergruppen zu dem Mattenstapel, nahmen gemeinsam eine Matte und trugen sie in die Halle.

»Geht das immer so geordnet zu?« Erik saß neben mir und sah von seinem Handy auf, als ich ihn ansprach.

»Jep, Eli hat sie voll im Griff. Wir sind hier eigentlich völlig überflüssig. Aber seiner Meinung nach müssen auch Eltern trainieren.« Interessiert hob ich eine Augenbraue, doch Erik fuhr nicht fort. Und nachfragen traute ich mich nicht. Also beobachtete ich das Training. Nachdem sechs Matten zu einem großen Trainingsbereich zusammengeschoben waren, nahm sich Eli ein Kind aus der Gruppe, stellte es auf die Matte und erklärte, wie sie sich fallen lassen sollten. Unter großem Gejohle ließ er sich von dem Kind umstoßen und zeigte dabei, wie er sich den perfekt kontrollierten Sturz vorstellte. Dabei fiel er extra langsam, landete auf seinen Schulterblättern, stemmte in Zeitlupe ein Bein in die Höhe, mit dem anderen stützte er sich ab. Er zielte mit dem Fuß genau auf die Brust des Kindes. Dabei erklärte er. »Ihr habt einen großen Vorteil. Eure Größe.« Verständnislos blickten sie sich an. »Na ja, ich bin zwar nicht der allergrößte, aber ich treffe ein Kind von Kimis Größe an der Brust. Stünde mir jetzt ein erwachsener Mensch gegenüber, würde es sehr schmerzhaft werden.« Die Kinder kicherten. Offensichtlich wussten sie, welche Körperteile sich in dieser Höhe befanden. Eli holte aus und trat mit den Zehenspitzen kräftig in die Luft. Erik verzog neben mir das Gesicht.

»Das sitzt.«

»Wenn ihr in dieser Position seid, einmal kurz zutreten, aufrappeln, rennen. Nicht kämpfen. Unser Ziel ist es, fortzulaufen. Ihr kennt das Spiel. Auf geht’s!«

Bei der folgenden Übungseinheit übernahm Eli die Rolle des Angreifers. Sanft schubste er jedes Kind auf die Matte. Sie fielen teils kontrolliert hin und traten aus, vergaßen aber das Weglaufen, weil sie sich so sehr darüber amüsierten, wie Eli sich gespielt krümmte und selbst auf der Matte herumkullerte. Hin und wieder artete das Training in wildes Gekicher aus und einmal stürzten sich alle Kinder auf Eli. Er nahm es mit Humor, ließ sie etwas toben und rief sie dann wieder zur Ordnung. Diese Mischung aus Spaß und liebevoller Strenge brachte den gewünschten Erfolg. Bereits nach kurzer Zeit ließen sich selbst die Kleinsten kontrolliert fallen, nahmen die Tritt-Stellung ein, zielten auf den Schritt des Angreifers, in dem Fall Eli, der sich mit den Händen schützte und die Wucht des Schlags abfing, sprangen auf und rannten weg.

»Sehr gut!« Eli lobte die Gruppe und klatschte in die Hände. »So, die Stunde ist fast vorbei. Aber ihr wisst, was jetzt kommt? Entspannungsübung.«

Die Kinder stöhnten. Ein besonders vorlautes Mädchen erhob die Stimme. »Können wir nicht nochmal den Nasenkneifer machen?«

Eli seufzte. »Eure Eltern sind schon ganz ungeduldig.« Die Blicke der Kinder gingen in unsere Richtung, doch niemand drängte zum Aufbruch.

»Stimmt ja gar nicht!«

Eli lachte. »Okay, der böse Nasenkneifer. Stellt euch auf! Aber dann wird sich konzentriert!« Die Kinder johlten und stellten sich an der Mattenkante mit dem Rücken zur gepolsterten Fläche auf. Eli ging zu dem ersten Kind, beugte ein wenig die Knie und schnitt eine Grimasse. Dabei machte er besonders ekelerregende Geräusche und zielte mit zwei Finger auf die Nase des Kindes. Das Mädchen, welches auch die Frage gestellt hatte, kicherte, schaffte es aber noch rechtzeitig, ihr Gesicht mit den Unterarmen zu schützen, indem sie sie hochriss und fest aneinanderdrückte.

»Ha!« Die Kleine johlte, während Eli ekelige Geräusche machend versuchte, ihre Deckung zu durchdringen.

»Mist, mist!« Eli hüpfte wie Rumpelstilzchen über den Boden, stampfte wütend mit dem Fuß auf und wandte sich dem nächsten Kind zu. »Vielleicht hab ich ja bei dir mehr Erfolg.« Der Junge johlte und machte sich für den Angriff bereit. Doch auch diesmal schaffte es Eli nicht. Er bohrte seine Finger durch den Block, erfolglos. Der Junge lachte und kicherte und Eli ärgerte sich. So ging das eine ganze Weile. Ich konnte gar nicht anders, als ebenfalls zu grinsen. Die entspannte Situation löste meine inneren Verkrampfungen. Das kleine Monster, das mir ständig auf der Brust hockte und mich am Atmen hinderte, gesellte sich zu dem anderen Biest in die Dunkelheit. Ja, ich glaubte sogar, dass die Finsternis ein wenig zurückwich. Das Lachen bewirkte, dass sich eine Leichtigkeit in mir ausbreitete, die ich seit Jahren nicht verspürt hatte. Ja, ER war weg. Aber die Dämonen hatte ER hiergelassen, damit sie mich weiterquälten. Selbst mit Sarahs Hilfe schaffte ich es nur, sie in den Hintergrund zu drängen, sie irgendwie zu beschäftigen. Jeder Tag war ein ständiger Kampf.

Doch heute Nachmittag spürte ich das erste Mal nicht ihre Präsenz. Und das verdankte ich Eli und den Kindern.

Ich liebte Lulu, wirklich. Auch wenn sie nicht meine Tochter war, so fühlte ich zu ihr doch eine tiefe emotionale Bindung. Sie war mein kleiner Sonnenschein. Heute allerdings machte sie mich wahnsinnig.

Die anderen Eltern verließen nach und nach die Halle, so wie die Kinder aus der Umkleidekabine kamen. Nur meine Nichte ließ sich Zeit. Keine Ahnung, ob sie normalerweise zu den Trödeltanten gehörte. Und als Eli dann zurück in die Halle kehrte, um sich um die Matten zu kümmern, kam ich mir ziemlich dämlich vor. Also fasste ich mir ein Herz, stellte meine Tasche ab und packte mit an. Er schenkte mir ein Kopfnicken und zusammen trugen wir Matte für Matte auf den dafür vorgesehenen Stapel.

»Du bist nicht sehr gesprächig, oder?« Über die letzte Matte hinweg schenkte er mir einen aufmerksamen Blick. Ich zuckte nur mit den Schultern. Auf gar keinen Fall wollte ich angesprochen werden. Verbittert presste ich die Lippen zusammen. Verdammt. Das war wieder so ein Verhaltensmuster, welches ER mir eingeimpft hatte. Die Beachtung eines anderen Mannes auf sich zu ziehen endete unweigerlich in Schlägen. Doch ER war nicht hier, ER konnte mir nicht mehr wehtun.

Ich durchbrach den ewigen Kreislauf, nahm all meinen Mut zusammen und lächelte. »Nein. Wir kennen uns nicht.«

»Nein, tun wir nicht. Aber wir könnten das ändern.« Eli lächelte verschmitzt.

Wohl kaum, wollte ich antworten. Das wäre die übliche Reaktion eines normalen Menschen auf dieses belanglose Gespräch gewesen, wenn die gewöhnliche Frau sich angeflirtet fühlte und nicht auf die Annäherungsversuche eingehen wollte. Doch ich wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. Also ließ ich die Matte los, wandte Eli den Rücken zu und stapfte Richtung Ausgang.

Schnell griff ich nach meiner Tasche und schlüpfte in die Schuhe. Als ich jedoch den Kopf wandte, um mich nach Lulu umzusehen, erhaschte ich einen Blick auf Eli. Nachdenklich fuhr er sich durch den Bart und musterte mich eindringlich. Zwischen uns lagen bestimmt zehn Meter, doch sein Blick ruhte auf mir, als würde er eine schützende Decke über mir ausbreiten. Nein, bitte nicht. Mein Herz zog sich panisch zusammen, witterte die Gefahr, auch wenn mir hier keine drohte, weder von Eli, noch von IHM.

Ich musste hier raus. Dringend. Hastig richtete ich mich auf und fasste einen Entschluss. Ich würde Lulu holen, was auch immer sie in der Umkleide trieb. Ohne auf Elis Blick einzugehen, stapfte ich zurück in die Halle, wandte mich nach rechts zu den Umkleidekabinen. Gerade in dem Moment kam Lulu herausgelaufen. Sie entdeckte mich und blieb stehen, ein Lächeln im Gesicht. Ihr Blick fiel auf meine Schuhe. »Tante Carly!« Der tadelnde Unterton in ihrer Kinderstimme entging mir nicht.

»Was denn?« Verwirrt blickte ich an mir herunter. Verdammt. Gequält schloss ich die Augen.

»Das gibt Ärger.« Lulu senkte ihre Stimme zu einem Flüsterton.

Ich nickte ertappt. Mist.

Als ich die Augen wieder öffnete, traten zehn nackte Zehen in mein Blickfeld. »Du weißt, was das bedeutet.«

Ich hob den Kopf, tastete mich an Elis schwarzem Hosenbein nach oben, vorbei an seiner Trainingsjacke, bis hin zu den Tribaltattoos, die unter seinem Stehkragen hervorlugten. War der Kerl eigentlich überall tätowiert? Ich erfasste sein Grinsen und augenblicklich wurde mir warm ums Herz.

»Was?« Mehr als dieses eine Wort brachte ich nicht zustande.

»Putzen.« Eli grinste. »Ich hätte allerdings auch eine Alternative anzubieten, wenn du die Schuhe jetzt ausziehst.«

Auf diesen Vorschlag ging ich nur allzu gerne ein. »Was?« Ich ging in die Hocke und schlüpfte vorsichtig aus meinen Stiefeln. Eli verschränkte die Arme vor der breiten Brust.

»Ich gehe mal davon aus, dass du den Markt, den ich für das Training der Kinder im Sinn habe, nicht kennst?« Ich sah auf und schüttelte den Kopf. »Dachte ich mir. Ich muss die Location erkunden, muss wissen, wie die Buden stehen, wo eventuelle Schlupflöcher sind, damit uns kein Kind entwischt. Sowas eben. Vier Augen sehen mehr als zwei. Du könntest mich als Wiedergutmachung für dein Fehlverhalten begleiten.« Sein Blick fiel auf meine Stiefel. Ich hielt sie in einer Hand und wollte gerade wieder aufstehen. Hilfreich hielt er mir die Hand hin, die ich automatisch ergriff. Kraftvoll zog er mich auf die Beine. »Was sagst du?«

Ich seufzte. Unmöglich. Ich konnte Eli nicht begleiten. Ihn kannte ich ja noch nicht mal. Außerdem war ich doch heute erst aus der Therapie entlassen worden und längst nicht bereit, mich auf einen Mann einzulassen. Geschweige denn einen überfüllten Platz mit ihm aufzusuchen.

»Sag ja, Tante Carly! Eli ist total nett. Er wird dir nicht …« Die Kleine biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Schockiert starrte ich Lulu an. Woher wusste sie davon? Sie war ein Kind, verdammt! Sie sollte ihr Gehirn mit Spielen und Lernen und Toben beschäftigen. Eben mit all den Dingen, die Kinder so taten, aber doch nicht mit meinem emotionalen Ballast.

Schmerzhaft an den Exfreund erinnert, schloss ich die Augen. So schlimm war es also für meine Familie gewesen, dass selbst Lulu etwas mitbekommen hatte. Ich hatte immer angenommen, dass diese toxische Beziehung nur mich betroffen hätte, aber da lag ich wohl falsch. Selbst Lulu mit ihren sieben Jahren war bereits davon beeinflusst worden. Als ich die Augen wieder öffnete, konnte ich in ihrem runden Kindergesicht Sorgen erkennen. Nein, nein, nein! Lulu war doch mein Sonnenschein. Sie sollte sich keine Gedanken machen müssen. Das musste ein Ende haben. Ich musste endlich mit der Vergangenheit abschließen und mich der Zukunft zuwenden. Mein Blick glitt zu Eli. Doch ob er eine Zukunft für mich war? Keine Ahnung. Musste er auch nicht. Es reichte völlig, wenn er den Anfang einer Reihe gewöhnlicher, menschlicher Beziehungen machte. Freundschaften zu schließen musste ich genauso neu erlernen, wie … das andere zwischenmenschliche Ding, über das ich mir vehement verbot nachzudenken. Nicht jeder Mann in meinem Leben bedeutete unweigerlich sexuelles Interesse. Jawohl! An dem Gedanken hielt ich mich fest, damit konnte ich leben.

Eli neigte leicht den Kopf und musterte mich eindringlich. Als ob er hinter meine Stirn sehen und erkunden wollte, was mit mir nicht stimmte. So Einiges, hätte ich ihm antworten können. Stattdessen formten sich in meinem Verstand andere Worte. »Nur ein Besuch auf einem Weihnachtsmarkt? Ist der nicht schrecklich überfüllt?« Ich musterte ihn nachdrücklich.

Eli zuckte mit den Achseln. »Noch nicht, der Markt wird erst nächste Woche aufgebaut.«

»Wozu brauchst du mich dann?«

»Du kennst die Örtlichkeiten nicht. Dein Blick auf potentzielle Gefahren ist ein ganz anderer als der der Eltern oder meiner. Wir sind praktisch in dieser Gegend aufgewachsen. Du nicht. Etwas Besseres könnte mir gar nicht passieren.«

»Also rein geschäftlich?«

»Wenn du es so nennen willst, ja.«

»Kein …«

Seine Mundwinkel zuckten. Er schüttelte den Kopf. »Definitiv nicht.«

»Gut.« Ich nahm Lulus Hand. »An welchen Tag hattest du gedacht?«

»Morgen Abend, vielleicht? Ich hole dich ab.«

Ich wollte gerade widersprechen, dass wir uns doch auch hier treffen könnten, zumal es ja kein Date war, aber da hatte Eli uns schon den Rücken zugewandt und lief zum Ausgang. »Bis Donnerstag, Lulu!«

Meine Nichte winkte begeistert. »Bis dann, Shīxiōng!«

 

 

Odette hielt sich vor Lachen den Bauch. »Oh, wie gerne hätte ich dein Gesicht gesehen, als Eli dir die Standpauke gehalten hat.«

Verkniffen starrte ich auf meinen Teller. »Ich fand das gar nicht witzig. Er machte auf mich den Eindruck, als würde er die Sache mit den Schuhen total ernst nehmen.«

»Tut er auch. Jeder, den er erwischt, verdonnert er zum Hallenboden schrubben mit der Maschine. Was meinst du, warum der Boden so glänzt?«

»Aber ich musste nicht schrubben.«

Odette beugte sich vor und schob sich eine blonde Strähne hinters Ohr. »Und das genau wundert mich. Eli nimmt das sehr ernst und er unterscheidet nicht zwischen Männern und Frauen. Wer seine Regeln missachtet, muss putzen. Nur du offensichtlich nicht.« Meine Schwägerin sah mich durchdringend an. »Das sollte dir zu denken geben.«

Und das tat es auch. Meine Gedanken drehten sich den ganzen Abend nur um Eli, seine Tattoos und seine Worte. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich den Dreck meiner Stiefel gar nicht hatte wegmachen müssen. Odette dafür umso mehr. Und worauf genau spielte sie an? Wieso hatte Eli nicht darauf bestanden? Was war da los? Mit ihm, mit mir, mit … uns?

Irgendwann, als ich nach unzähligen Gute-Nacht-Geschichten endlich im Bett lag, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hastig setzte ich mich auf, strich mir eine Strähne hinters Ohr und starrte in die Dunkelheit. War es das, was Odette meinte? Es war etwas mit UNS? Konnte es sein, dass er … und ich … und wir?

Völlig geschafft fiel ich zurück in die Kissen. Das musste ich Sarah erzählen. Unbedingt.

Meine Therapeutin behandelte ausschließlich Trauma-Patienten. Frauen wie mich, die eine schwere gewalttätige Beziehung hinter sich hatten. Ihr Terminplan richtete sich ganz auf die Bedürfnisse ihrer Patientinnen. Und wenn das bedeutete, ich verspürte die Notwendigkeit mit ihr zu reden, dann war sie für mich da. Ein kurzer Anruf genügte und ich hatte einen Termin.

Sarah war eine gutaussehende Frau Mitte vierzig mit rotbraunem Haar, einer sportlichen Figur und strahlend blauen, freundlich blitzenden Augen. Sie hatte selbst eine traumatische Beziehung in ihren frühen Zwanzigern gehabt und widmete sich nach einem anschließenden Psychologiestudium Frauen wie sie selbst. Sie wollte jenen helfen, denen es wie ihr ergangen war. Für mich war sie mein Anker, die Person, die mich verwurzelte, wenn mein Kopf anfing, durchzudrehen und mein Verstand sich weigerte, die Vergangenheit zu akzeptieren. Als ich mich vor zwei Monaten im Krankenhaus erholte, war Sarah zu mir gekommen und hatte sich um mich gekümmert. Anschließend war ich ein paar Wochen in der Einrichtung, in der sie arbeitete. Sie glaubte fest daran, dass ich so weit war, obwohl ich liebend gern in der Therapie geblieben wäre. Doch meine achtwöchige Zeit dort war vorüber. Das bedeutete nicht, dass ich Sarah nicht mehr sehen konnte. Zweimal pro Woche hatten wir einen festen Termin, ansonsten nach Bedarf. Sie würde mir so lange beistehen, wie ich sie brauchte.

»Wie war dein erster Tag?« Sarah schlug die Beine übereinander und lächelte mich an. Wir hatten in einer kleinen Sitzgruppe aus schwarzen Ledersesseln in ihrem Büro platzgenommen. Auf dem Tisch zwischen uns stand eine dampfende Kanne Tee. Zwei große Pötte warteten nur darauf, gefüllt zu werden. Doch noch musste der Tee ein wenig ziehen.

»Gut. Lulu hat mich sofort in Beschlag genommen und mich gezwungen, sie zum Training zu bringen.«

Sarah lächelte. »Das ist gut, dass du draußen warst. Wart ihr alleine unterwegs?« Am Anfang hatte ich große Angst gehabt, ohne Begleitung vor die Tür zu gehen. Sarah ging mit mir zu Beginn, später arbeiteten wir an meiner Selbstständigkeit. Die Angst, ER könnte mich finden, mir auflauern, war allgegenwärtig.

»Ich war nicht alleine unterwegs. Lulu war bei mir.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Lulu ist sieben Jahre alt. Sie zählt nicht.«

Ich stutzte. »Aber ich habe es so nicht empfunden. Sie hat mir geholfen, obwohl sie nichts hätte tun können.«

»Und doch hast du dich sicher gefühlt.«

»Irgendwie.«

»Siehst du, es wird besser. Du hast nicht einmal darüber nachgedacht, dass dir etwas passieren könnte. Erzähl mir von dem Training. Deshalb wolltest du doch mit mir sprechen.«

Ich rollte den Saum meiner Bluse auf. Meine ganz persönliche Macke, wenn ich einer Antwort auswich. »Ich glaube, Lulus Trainer interessiert sich für mich.« Ich erzählte Sarah in knappen Worten, was beim Training vorgefallen war. »Bin ich überhaupt schon bereit für Dates?«

Sarah griff nach der Teekanne und goss ein. Das war ihre Macke, wenn sie Zeit schinden wollte. Sie nahm eine Tasse und reichte sie an mich weiter. »Sag du es mir? Wie hast du dich in seiner Gegenwart gefühlt?«

Ich pustete über den Tee, bevor ich einen Schluck nahm. Tee war auch wirklich gut dazu geeignet, wenn man etwas mehr Bedenkzeit für eine Antwort brauchte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht darüber nachgedacht habe, wie mein Ex sich in Elis Gegenwart verhalten könnte. Himmel, ich weiß noch nicht einmal, ob er mit mir geflirtet hat! Ich glaube, ich habe vergessen, wie das geht.«

Sarah lachte. »Vertrau mir, das vergisst man nicht so schnell. Wann seht ihr euch wieder?«

Irritiert blinzelte ich. »Wie kommst du darauf, dass wir uns wiedersehen?« Ich hatte nicht erwähnt, dass Eli mich eingeladen hatte, ich hatte nur gefragt, ob ich schon bereit für ein Date war.

»Weibliche Intuition. Also wann?«

»Heute Abend.«

Sara prustete in ihren Tee. »Der lässt aber nichts anbrennen.«

»Hey! Es ist nur ein Treffen, um die Location für ein Training der Kinder zu checken. Er findet, ich würde den Markt ganz anders betrachten, da ich ihn noch nicht kenne.«

»Sehr fadenscheinig, wenn du mich fragst. Für mich klingt das eher nach einer Ausrede. Wenn auch nach einer sehr kreativen.«

»Ich habe mich ein wenig überrumpelt gefühlt. Eigentlich will ich mich noch nicht mit Männern treffen. Andererseits ist das Eli, Lulus Trainer und nicht irgendein Typ von Tinder.« Alarmiert sah Sarah auf. »Nein, nein. Keine Sorge, ich melde mich in meiner Verzweiflung nicht bei einem Datingportal an.«

»Gut zu wissen. Du solltest hingehen. Ich denke, du bist bereit dafür. Und Eli scheint dich nicht zu triggern, was ein sehr gutes Zeichen ist. Gib ihm eine Chance.«

Eli hatte auch absolut nichts gemeinsam mit ihm. Die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein. Obwohl mein Ex mich geschlagen hatte, war Eli, der diese Rohheit ausstrahlte. ER tarnte seine Gewalttätigkeit mit Eleganz, Eli hingegen trug sie offen zur Schau und war doch ganz anders, ganz sanft.

 

Mit Sarahs Zuspruch im Ohr durchlebte ich den Rest des Tages wie in Trance.

---ENDE DER LESEPROBE---