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Boris Cyrulnik wuchs als Kind eines Ukrainers und einer Polin in Südfrankreich bei seiner Tante auf. Seine Eltern, beide jüdisch, wurden im Zweiten Weltkrieg in Auschwitz getötet. Nach dem Krieg wurde er in ein Heim gesteckt, wo ihm der Kontakt zu einem Hund half, die emotionale Wüste zu überstehen. Er begann, durch das Studium von Tieren die Psyche des Menschen besser zu verstehen. Der Autor, heute renommierter Neuropsychiater, kann auf eine Fülle von Wissen und klinischen Erfahrungen zurückgreifen. Er vergleicht Tiere und Menschen und kommt zu folgenden Schlüssen: Kinder mit emotionalen Defiziten laufen Gefahr, zu gewalttätigen Erwachsenen zu werden. Die menschliche Zivilisation, eine Quelle der Kreativität, bringt auch den Schrecken von Aggression und Kriegen hervor. Cyrulnik lässt uns durch seine kombinierte Erforschung der menschlichen Seele und Zivilisation auf der einen und der Tierwelt auf der anderen Seite die Gewalt in der Welt und die Wurzeln des Krieges spüren und verstehen. Er legt hier ein meisterhaftes Werk vor, in dem man hinter dem Erzähler und Weisen einen Wissenschaftler entdeckt.
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2024
Boris Cyrulnik
Wenn Tiere kämpfen und Menschen Kriege führen
Eine Psychologie der Gewalt
Boris Cyrulnik
Wenn Tiere kämpfen und Menschen Kriege führen
Eine Psychologie der Gewalt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2024
© 2024 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Copyright der französischen Originalausgabe © Odile Jacob, 2023. All rights reserved.
Die französische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Quarante voleurs en carence affective: Bagarres animales et guerres humaines.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Nikolas Bertheau
Redaktion: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Korrektorat: Dr. Manuela Kahle
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, Manuela Amode, in Anlehnung an das Cover der Originalausgabe
Umschlagabbildung: Hieronymus Bosch, der Garten der Lüste, Detail aus der Mitteltafel des Triptychons, © Adobe Stock/GiorgioMorara
Satz: Achim Münster, Overath
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-797-6
ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-555-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-556-7
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Vorwort
Kapitel 1 Das tierische oder menschliche Individuum wird durch seine Umwelt geformt
Warum gibt es Krieg?
Wenn die Tötung eines Kindes kein Verbrechen ist
Fleisch als Symbol für Macht
Können Tiere sprechen und Werkzeuge herstellen?
Langsame Entwicklung und lebenslanges Lernen beim Menschen
Die unterschiedliche Entwicklung von Jungen und Mädchen
Wenn die Kultur sich auf das Geschlecht auswirkt
Zivilisatorische Gewalt
Der Unterschied zwischen Gewalt und Aggression
Wenn die Kooperation im Klan zum Hass auf den Fremden führt
Von männlicher Gewalt und weiblicher Empathie
Traumata und kultureller Kontext
Über körperliche und kulturelle Rituale
Kapitel 2 Wie uns das Gehirn die Welt sehen lässt
Psychoanalyse, Ethologie und Naturwissenschaften
Evolutionisten und Fixisten
Laennec oder der Reichtum des Banalen
Erkenntnis durch genaue Beobachtung
Wenn wir mit geschlossenen Augen sehen, was wir denken
Jede Weltanschauung ist ein autobiografisches Bekenntnis
Wo Tierethologie und Psychologie sich ergänzen
Ideologische Interpretation einer wissenschaftlichen Aussage
Wenn das Leben von Gewalt bestimmt wird
Jedes Gehirn erlaubt eine individuelle Weltsicht
Die menschliche Sprache lässt unsichtbare Welten erkennen
Wenn Kinder sich mithilfe von Bildern und Worten in eine Gruppe integrieren
Kapitel 3 Wie sich unsichtbares Wissen entwickelt
Die Wahrheit der anderen
Schützende Wahrnehmungen, wohltuende Illusionen
Warum die Unterscheidung zwischen der eigenen Welt und der der anderen inneren Frieden voraussetzt
Physisches Wissen und metaphysische Transzendenz
Der Tote ist nicht der Tod
Wenn das Gehirn die Grammatik entdeckt
Die Vorstellung vom Tod zwingt uns zu einem sinnvollen Leben
Wenn wir den Dingen Sinn geben, verändern wir unser Gehirn
Wenn das Umfeld das Gehirn bis zum Wahnsinn prägt
Lässt uns die Technologie die übernatürliche Welt beherrschen?
Entwicklung der Gesellschaftsstruktur und Entstehung eines neuartigen Ethos
Fortschritte verändern die Bedeutung der Arbeit
Kapitel 4 Wie technologische Heldentaten das irrationale Denken verstärken
Technologie, Demokratie und irrationales Denken
Werkzeugprothesen und metaphysische Narrative
Wie das Gehirn entfernte Informationen verarbeiten kann
Verstehen jenseits der Worte: die noetische Welt
Wie wir wir selbst werden im Strom der herrschenden Lehrmeinung
Keine Liebe bedeutet emotionale Wüste; zu viel Liebe bedeutet Gefängnis
Warum Verbote eine sozialisierende Struktur schaffen
Warum technologische Wunder zum ungebremsten Genuss und zum Verschwinden von Empathie führen können
Lächerliche Konflikte zwischen der Psychoanalyse und den Naturwissenschaften
Psyche und Naturwissenschaften
Wie unsere Vorstellungen von Bildern und Worten unser Gehirn formen
Fazit Nichts ist natürlicher als der Streit, nichts ist zivilisierter als der Krieg
Anmerkungen
»Vierzig Diebe unter Liebesentzug« (so der französische Originaltitel dieses Buches, Quarante voleurs en carence affective): Das ist provokant, das klingt nicht ernst gemeint. Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass es reichen würde, die Diebe zu lieben, damit die Kriminalität sinkt!
Aber genau diese Idee thematisiert das Buch, indem es sie in eine Reihe mit den bahnbrechenden Arbeiten von René Spitz1 und John Bowlby2 stellt, zwei Psychoanalytikern, die ihre Überlegungen zur menschlichen Psychologie mit Arbeiten zur Tierethologie untermauerten.
Sehen Sie, Sie übertreiben. Man kann schließlich die Welt der Gedanken und der Freudschen innerseelischen Konflikte mit jener der Hunde und Katzen vergleichen, unserer treuen Begleiter!
Als Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts ebendiese Idee vorstellte,3 wurde er von jenen ausgelacht und verachtet, die es vorzogen, in den gewohnten Denkmustern zu verharren. Indem Darwin aber die Tiere und die Menschen in ihrem natürlichen Umfeld beobachtete, revolutionierte er die Biologie und definierte den Platz des Menschen in der Welt der Lebewesen völlig neu.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Frieden einkehrte, stellten die Millionen von Waisen, die der Krieg in Europa zurückgelassen hatte, ein großes Problem dar. In England requirierten Anna Freud und ihre Freundin Dorothy Burlingham in Hampstead am Rande Londons eine Reihe schöner Häuser und tauften sie nurseries, um dort achtzig von den Bombenangriffen und dem Verlust ihrer Eltern traumatisierten Kinder zu pflegen und zu versorgen. Weil die Kleinen noch nicht sprechen oder sich infolge ihrer Traumata nicht mehr verständlich machen konnten, ergänzten die beiden Frauen ihre unmittelbaren Beobachtungen zum Verhalten der Kinder mit einer psychoanalytischen Interpretation. In Zusammenarbeit mit René Spitz entstand so ein wunderbares Büchlein, in welchem die großen Namen der Psychoanalyse ihre Beobachtungen zu 29 Publikationen zur Tierethologie (Verhaltensbiologie der Tiere) in Bezug setzten.4 Ungefähr zur gleichen Zeit erhielt John Bowlby von der WHO den Auftrag, ein Konzept zu entwickeln, wie diesen Kindern, die keine Familie mehr hatten, geholfen werden könnte, wieder einen guten Entwicklungsweg einzuschlagen. Dieser Pädagoge, Arzt und Psychoanalytiker ließ sich ebenfalls von den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Tierwelt inspirieren.5
Was fand ich an diesen Publikationen so fesselnd? Als ich noch die Oberschule besuchte und davon träumte, einmal Psychiater zu werden, las ich in einem kleinen Que sais-je von den Arbeiten des Primatologen Harlow, der zeigte, wie ein kleiner Affe, der sämtlicher Beziehungen beraubt wurde, sich nicht weiterentwickelte.6 Ich sah mich in diesem Makakenbaby selbst und fand den Vergleich keineswegs beschämend. Ich fühlte mich nicht »herabgesetzt auf den Rang eines Tieres«, denn die Beobachtung eines Affen half mir zu verstehen, dass ein traumatisiertes Lebewesen nur dank anderer Lebewesen seinem Trauma entrinnen kann.
Jede Weltanschauung steht für ein autobiografisches Selbstbekenntnis. In den Kriegsjahren war ich häufig isoliert und von allen Beziehungen abgeschnitten gewesen. Diese Abgeschiedenheit schützte mich vor den Verfolgungen der Nazis und ich fühlte mich bei den Gerechten,7 bei denen ich aufgenommen wurde, in Sicherheit. Als ich nach dem Krieg meine Familie nicht wiederfand, steckte man mich in eine kalte Institution bei Villard-de-Lans auf dem Vercors-Plateau (ein Gebirgsmassiv in den französischen Alpen). In den Nachkriegsjahren machte ein Dogma die Runde: »Ein Kind hat den Mund zu halten. Und man soll mit ihm nicht sprechen, außer um es gehorchen zu lehren.« In dieser Gefühlswüste verkümmerten die meisten Kinder. Während manche sich wehrten und zu kleinen Bestien wurden, gehörte ich zu jenen, denen es gelang, sich einen Schutzraum zu bauen, indem sie sich die Welt der Tiere erschlossen. Kaum aufgewacht, eilte ich frühmorgens zu einem Felsen, auf dem ich die Truppenbewegungen der Ameisenbataillone entdeckt hatte: diejenigen, welche die Eier trugen, die Staffeln fliegender Ameisen, die von einer Plattform abhoben, und die Straßen, auf denen sie die Nahrungsvorräte transportierten. Kein Science-Fiction-Film hätte in mir mehr Leidenschaft wecken können, ihre Welt zu entdecken. Und weil es in dieser Anstalt des Schweigens niemanden gab, mit dem ich etwas hätte unternehmen können, schlich ich durch ein Loch im Zaun, um mit dem Hund des Nachbarn zu sprechen. Er empfing mich schwanzwedelnd und lauschte still und aufmerksam, als ich ihm mein Unglück schilderte. Dieser Hund hat mir sehr geholfen.
Menschliche Beziehungen hatte ich ausschließlich zu Tieren. Ist das der Grund, warum ich immer denke, die conditio humana (also die Wesensmerkmale des Menschen gegenüber denen anderer Lebensformen) ließe sich über das Studium der Tiere besser verstehen? Ich empfand es nicht als beschämend, als Nikolaas Tinbergen mir erläuterte, die Möwen würden sich mithilfe von rund fünfzig Schreilauten und Körpergesten verständigen, die eine wahre Verhaltensgrammatik bildeten,8 und könnten überdies viel besser sehen als ich. Als ich erfuhr, dass die Delphinmütter eine Reihe von Klickgeräuschen ausstoßen, die dem Delphinkind eine Art Muttersprache vermitteln, fühlte ich mich dadurch nicht herabgesetzt. Es faszinierte mich vielmehr und half mir zu verstehen, dass die menschliche Sprache mit nichts vergleichbar ist.
Während eines kurzen Aufenthalts am Pariser Institut de psychologie bot sich mir die Gelegenheit, mit Rémy Chauvin in Kontakt zu kommen und mich mit ihm im Rahmen von Seminaren, die Léon Chertok und Isabelle Stengers an der École des Hautes Étude en Science Sociales organisiert hatten, auszutauschen. Seit den 1960er-Jahren lehrte Chauvin zur Epigenetik der Bienen und erklärte uns, dass man nicht extrapolieren dürfe: »Was für eine Tierart gilt, muss noch lange nicht für den Menschen gelten.« Die Tierwelt liefere uns aber einen Schatz an Hypothesen und eine wissenschaftliche Methode, die der Diagnosepraxis beim Menschen ähnelt, wo man am Krankenbett eine Beobachtung macht, um sie anschließend im Labor zu präzisieren.
Auch wenn ich kein echter Ethologe (Verhaltensbiologe), sondern Neuropsychiater bin, hat die Tierwelt mir – nicht anders als René Spitz, John Bowlby und vielen anderen forschenden Praktikern – geholfen, die conditio humana zu verstehen.
Die fruchtbarste Lehrzeit bot sich mir in den 1970er-Jahren, als Jacques Cosnier, Hubert Montagner und Jacques Gervet mich anlässlich von Begegnungen, die das CNRS (Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung) und das INSERM (Nationales Institut für Gesundheit und medizinische Forschung) organisierten, zur Zusammenarbeit einluden. Meine Eigenschaft als »Psychiater, der sich für Tierethologie interessiert«, stieß auf Verwunderung bis hin zu Belustigung, erfuhr dann aber eine erste Anerkennung, als die Professoren Sutter, Tatossian und Soulayrol mir einen kleinen Dozentenposten an der medizinischen Fakultät von Marseille verschafften, der mich berechtigte, Medizinstudenten in Ethologie zu unterrichten. Die Tierethologen ermunterten mich, angeregt von ihren Arbeiten eine Humanethologie auf Basis ihrer Arbeiten zu organisieren.9
Serge Lebovici und Michel Soulé, die großen Namen der Psychiatrie der 1980er-Jahre, die diese Nebenspur mit Interesse verfolgten, begleiteten mich beschützend auf meinem »Trampelpfad«,10 der mittlerweile zu einer Autobahn mit beträchtlichem Publikationsverkehr zwischen beiden Feldern angewachsen ist.
Eine wichtige Weichenstellung erfolgte auf dem von Jacques Petit und Pierre Pascal organisierten Congrès des Embiez bei Toulon.11 Auf dieser hübschen kleinen Insel versammelten sich im Jahr 1985 Tierethologen, Biologen, Universitätsprofessoren (Soulayrol, Rufo) und Praktiker, die zu präzisieren versuchten, was René Spitz und Anna Freud 1945 geschrieben hatten: Die Ausbildung des Apparats zur Wahrnehmung der Welt (Gehirn und Sinne) beginnt im Uterus, wenn der zukünftige Säugling seine Prägung durch den Körper seiner Mutter und ihre Beziehungen zu ihrem affektiven und sozialen Umfeld erfährt. Ist die Vorstellung vom Individuum eine Illusion des westlichen Denkens? Die Entwicklung von Gehirn und Seele des Fötus vollzieht sich in drei Nischen: dem Bauch der Mutter, dem elterlichen Heim und dem verbalen Umfeld.
Wir haben mit den Tieren die ersten zwei sensorischen Nischen gemein, auch wenn jede Art in ihrer eigenen Welt lebt. Aber sobald die Menschen ihren Weg in die Noosphäre – jene auf dem abstrakten Gedanken gründende Welt – antreten, erlangen sie die Fähigkeit zur Kreativität ebenso wie zum Wahn. Die Kreativität setzt etwas in die Welt, das es in dieser Form noch nicht gab, was die Entwicklung von Ideen ermöglicht. Der Wahn hingegen setzt etwas in die Welt, das dort nicht ist und nicht sein wird, eine Vorstellung12 ohne Bezug zur Wirklichkeit, die der Mensch jedoch mit Überzeugung bewohnt, was Glaubenskriege ermöglicht.
Tiere, die in einer stärker kontextbezogenen Sinneswelt leben als wir, sind weniger anfällig für Wahnvorstellungen. Sie kämpfen, um ihr Revier, ihre Jungen oder ihre Nahrungsquellen zu verteidigen, aber sie verstehen es nicht, ein Heer von Mördern aufzustellen mit der Aufgabe, alle umzubringen, die anders denken als sie. Das Wunder des Wortes kann ebenso gut zu den Schrecken der Religionskriege und der Genozide führen.
Dieses Buch ist das Ergebnis eines langen Weges auf der Grundlage praktischer Erfahrung und zahlreicher Begegnungen verschiedener, in einem ökosystemischen Ansatz verbundener Disziplinen.
Tiere kämpfen, um zu überleben. Ihre Interaktionsrituale begrenzen die Gewalt – etwas, wozu auch der Mensch fähig ist. Aber dank seiner technischen und verbalen Intelligenz kann der Mensch nicht nur Kathedralen oder zauberhafte Erzählungen schaffen, sondern auch Werkzeuge, um damit Kriege mit dem Ziel zu führen, seine Ideen und Glaubensüberzeugungen anderen überzustülpen – bis hin zum Genozid oder zur Zerstörung des Planeten.
Dazu aber sind Tiere nicht fähig.
Warum gibt es Krieg?
Im Jahr 1926 begegnet Freud in Berlin Einstein. Die beiden großen Männer führen daraufhin einen Briefwechsel, den der Völkerbund 1933 veröffentlicht.1 War das Vorahnung? Zwei Wochen nach Erscheinen des Büchleins wird Hitler demokratisch zum Kanzler gewählt und beginnt mit den Vorbereitungen für die Eroberung der Nachbarländer und die Verbreitung seiner Ideen. Einstein schreibt, der Krieg verdanke sich »dem Machtbedürfnis der jeweils herrschenden Schicht eines Staates« und »dem im Menschen lebenden Bedürfnis zu hassen und zu vernichten«.2 Freud antwortet, es handele sich um den Destruktions- oder Todestrieb, der »innerhalb jedes lebenden Wesens arbeitet«.3
Diese Erklärungen halfen mir nicht weiter. Im Mittelalter meinte man, ein Körper falle, weil ihm eine »fallende Tugend« innewohne, und ein Gas steige empor, weil es eine »steigende Tugend« besitze. Das ist in der Tat einfach und unbestreitbar.
Neuere Studien zur Entwicklung der Tiere und der Menschen bringen eine wissenschaftliche Klärung. Die Gewalt ist kennzeichnend für die lebendige Welt. Allein schon das Auf-der-Welt-Sein gleicht einem Wunder, welches mit der Notwendigkeit einhergeht, sich vom Leben anderer zu ernähren. Körperlich sind wir keine furchterregenden Tiere. Unsere Zähne können schlecht reißen, unsere Nägel sind weich, die Kraft unserer Fäuste ist nicht der Rede wert. Mithilfe welchen Wunders konnte die menschliche Art nicht nur überleben, sondern den Planeten erobern und die Biosphäre verändern? Es ist unsere körperliche Schwachheit, die uns gezwungen hat, erfinderisch zu werden. Wir mussten Prothesen und Werkzeuge erfinden, um auf die Materie einzuwirken, und Waffen, um töten zu können. Um nicht länger schutzlos den Einflüssen des Umfelds, den klimatischen Veränderungen und Naturkatastrophen ausgesetzt zu sein, mussten wir lernen, die Natur zu zähmen, Schutzräume zu errichten, Getreide anzubauen und Tiere gefangen zu halten, um sie für uns arbeiten zu lassen und sie zuletzt zu essen. Ein tragischer Sieg! Und indem wir uns von anderen ernähren und alles beherrschen, was sich bewegt, zerstören wir unsere eigene Lebensgrundlage.
Wir unterliegen denselben Zwängen der Wirklichkeit wie die Pflanzen, die Tiere und die übrigen Menschen. Doch leider wissen wir nicht, was das ist: Wirklichkeit. Allein die wissenschaftliche Methode erlaubt es uns, ansatzweise zu begreifen, was Wirklichkeit ist. Das, was wir sehen und was unseren Gedanken Stoff bietet, ist bereits ein mentales Bild, welches wir uns auf der Grundlage jenes sensorischen Materials schaffen, das unser Gehirn erreicht und das wir »Realität« nennen. Jedes Lebewesen, ob Tier, Pflanze oder Mensch, lebt in seiner eigenen unvergleichlichen Welt, die es sich aus seinem Umfeld extrahiert.4
Und um es noch komplizierter zu machen: Der Mensch sieht, was er denkt. Sein Geist erzeugt eine »gedachte« Welt, die sich nicht wahrnehmen lässt und umso mehr empfunden wird. Die Welt, die wir uns denken – jenseits der Berge oder nach dem Tod – weckt in uns Hoffnung und Ängste, das Paradies und die Hölle. Wir sind zur gleichen Zeit physisch und metaphysisch, wir spüren in unserem Körper nicht minder die Einflüsse des Realen wie jene des Imaginären. Die Tiere können uns helfen, die Wirkung des Realen auf unseren Körper zu verstehen. Ganz gleich, um welche Art es sich handelt: Eine Welt, die reich an sensorischen Eindrücken ist, regt den Organismus an und stärkt ihn, während eine Welt, die arm an solchen Eindrücken ist, ihn verkümmern lässt. Wenn aber unser Gehirn uns Zugang zu einer Welt der Vorstellungen verschafft, die von der Realität abgeschnitten sind, dann leben wir in der von uns erfundenen Welt; wir sind dort glücklich, wir leiden unter ihr und wir wollen sie anderen aufzwingen.
Mit seiner geometrischen Intelligenz, die es ihm ermöglicht, seine Vorstellungen räumlich zu strukturieren, fertigt der Mensch technische Gegenstände an, mit denen er auf die reale ebenso wie auf die imaginäre Welt Einfluss nehmen kann. Der Mensch als Naturgeschöpf, das unter Tieren lebt, erfährt dank seiner Fähigkeit, Werkzeuge und Erzählungen zu schaffen, eine übernatürliche Qualität. Die Maschinen, die er erfindet, verändern das Umfeld, das wiederum prägend auf sein Gehirn einwirkt. Die Geschichten, die er erzählt, schaffen eine Welt der Worte, die den Überzeugungen Form geben, auf denen unsere Gesellschaften gründen. Der Hang zum anderen, die Liebe, der Hass, die Solidarität und die Kriege bilden unsere individuellen und nationalen Identitäten.
Solche Imaginationsfähigkeiten setzen ein Gehirn voraus, das imstande ist, vom Kontext zu abstrahieren und sich das Nichtwahrnehmbare vorzustellen. Ein behauener Feuerstein hat uns in die Lage versetzt, eine Antilope tödlich zu verletzen oder einem Mammut das Herz zu durchbohren. Ein runder Gegenstand rund um eine Achse kommt in der Natur nicht vor; er stellt eine mentale Vorstellung dar, die vor viertausend Jahren im sumerischen Reich zur Entstehung des Rades führte.5 Die neuen Transportmöglichkeiten vereinfachten das Unterhalten von Handelsbeziehungen. In der Bronzezeit vor rund dreitausend Jahren hat die Herstellung von Schwertern die Macht gewaltbereiter Menschen gestärkt, die nicht zögerten, sich dieser Möglichkeit zu bedienen, um ihre Gruppe zu schützen und ihre Gesetze durchzusetzen. Wir erfanden Geschichten, um das Töten zu rechtfertigen. Die Technik und die Narrative halfen uns, uns die Natur, die Tiere und die weniger stark bewaffneten und weniger gewaltbereiten Menschen untertan zu machen. Heute entsteht in den Ländern, in denen Frieden herrscht, eine neue Form der Hierarchie rund um den akademischen Abschluss, der ganz neue gesellschaftliche Klassen definiert. Auch die Frauen haben ihren Anteil an diesem Griff zur Macht. Werden sie verhindern können, dass neue Dominanzbeziehungen entstehen?
Wenn Tiere ein Nest bauen, mit einem Stein eine Auster öffnen oder gemeinschaftlich jagen, geben sie ihre Technik von Tier zu Tier weiter. Die Kleinen lernen, indem sie die Großen beobachten. Unsere Kinder machen es ebenso, wenn sie uns nachahmen, aber ungefähr im dritten Lebensjahr, wenn sie zu sprechen beginnen, verstärkt die evozierende Kraft der Worte ihren Lernprozess. Erst im Alter der Narrative, ungefähr im sechsten Lebensjahr, lernen die Kinder die Rechtfertigungen für die Kriege, Massaker und Verfolgungen kennen: »Wir mussten das Elsass und Lothringen von den Deutschen wieder holen, die es uns gestohlen hatten ... Der Abwurf der Bombe auf Hiroshima musste sein, um den Krieg zu beenden ...« Die Angesprochenen können diese ihres Kontextes beraubten Narrative nur glauben oder nicht glauben. »Was auffällt, ist die mit dem Verlust des Konkreten einhergehende Intellektualisierung der geistigen Bereiche, der Künste und der Wissenschaften.«6 Man kann dem Chaos Kohärenz verleihen, indem man erklärt, dass es durch die Angreifer, die Konjunktion der Planeten oder eine göttliche Strafaktion verursacht wurde. In allen diesen Fällen führen die Narrative zum »Verlust des Konkreten«. Sie werden von Historikern entworfen, die in den Archiven forschen, von Politikern, die ihre Theorien verteidigen, oder von Opfern, die Zeugnis ablegen wollen.
Die geometrische Intelligenz und die Fähigkeit zur Strukturierung räumlicher Vorstellungen haben wir mit den Tieren gemein. Affen können Leitern bauen, Vögel können wandern und die Bienen beschreiben mit den Bewegungen ihres Körpers die Richtung, die Entfernung und den Umfang der Nektarquelle.7 Bei den Menschen kommt zu dieser mathematischen Erfassung der Welt die verbale hinzu, bei der Gegenstände bezeichnet werden können, die sich außerhalb des realen Kontextes befinden.
Wir sind vermutlich die einzigen Lebewesen, die in der Lage sind, Narrative hervorzubringen, welche Ereignisse beschreiben, die früher einmal Wirklichkeit waren, in der Zukunft einmal eintreffen werden oder lediglich Wahnvorstellungen ohne Bezug zur Wirklichkeit darstellen, die jedoch der Welt, wie wir sie erleben, Kohärenz verleihen: »Mir geht es schlecht, weil mein Nachbar mich verhext hat«, »Ich werde sterben, aber ich bin glücklich, weil ich endlich wissen werde, was nach dem Tod kommt«.8
Der rasante technische Fortschritt verstärkt den Sinn für das Magische, indem er uns echte Bilder zuspielt von dem, was sich in China oder auf dem Mars abspielt. Schon die geringste technische Innovation stellt die Kultur auf den Kopf. Die Möglichkeit, die Fruchtbarkeit zu steuern, hat die Beziehungen zwischen Männern und Frauen verändert und zu einer Alterung der Bevölkerung geführt, seit weniger Kinder geboren werden. Die technologischen Wunder haben unsere moralische Werteskala verändert. In früheren Generationen wurden den Frauen Fesseln angelegt, damit sie sich Mann und Kindern widmeten, während die Narrative die Männer heroisierten, um sie auf die Gewalt des Krieges und die brutale Arbeit in den Bergwerksminen einzustimmen. Die von uns entwickelten Maschinen, deren Kraft unsere eigene um ein Vielfaches übersteigt, arbeiten ohne Pause, was uns Zeit schenkt, uns mit unserem Wohlbefinden zu beschäftigen. So hat die Arbeit ihren heiligen Wert verloren und ist zu einer Spaßbremse verkommen.9 Den Platz des wichtigsten Wertes nimmt heute die Selbstentfaltung ein, die unserem Leben Sinn verleiht.
Konrad Lorenz beschreibt, wie Tiere sich bedrohen und bekämpfen, um sich ihre Nahrung zu sichern, ihr Revier zu verteidigen oder ein Weibchen zu ergattern.10 Aber er erklärt auch, wie ihre von Interaktionsritualen in Schach gehaltene Aggressivität vor der zerstörerischen Gewalt haltmacht. Zwar kennt auch der Mensch diese ritualisierte Dimension des aggressiven Konflikts, aber er greift auch allein um des Narrativs willen zum Mittel des Krieges. Diese Geschichte verweist mitunter auf ein reales vergangenes Geschehen, das sich häufig jedoch mit der Zeit in Überzeugungen manifestiert, die nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben. Diese Überzeugungen dienen dann als Legitimation für Gewalt und man vernichtet ein Volk in einem Rausch der Euphorie oder gar der moralischen Erhebung. Nichts kann einen logischen Wahn bremsen.
Die Sprache ist definitiv das schlimmste und das beste aller Dinge. Von Äsop bis zur künstlichen Intelligenz bildet sie die Basis des menschlichen Lebens. »Kindestötung ist kein Verbrechen ... sie ist ein vollkommen rechtmäßiger Brauch.«11 Ein Vater gebiert nicht, aber er setzt das Kind in die Welt, indem er es vom Boden aufhebt und in seine Arme nimmt. Er erhebt es in die conditio humana ... vorausgesetzt, er findet Gefallen an dem Kind. Wenn das Neugeborene missgebildet oder mickrig ist oder wenn es in einer schwierigen Phase im Leben des Vaters zur Welt kommt, genügt es, dass der Vater es nicht aufhebt. Dann muss man es nur ertränken oder auf einen Müllhaufen legen, oder es wird von berufsmäßigen Kinderzüchtern eingesammelt, die aus ihm einen Sklaven oder eine Prostituierte machen oder es verstümmeln, um aus ihm einen gewinnbringenden Bettler zu machen.
So hat man die Säuglinge in der großartigen römischen Zivilisation vor zweitausend Jahren behandelt. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch Mütter, Ammen und Menschen gegeben hat, die sich um diese Kinder kümmerten. Es bedeutet nur, dass das Leben der anderen wenig zählt, solange der Aufbau einer Gesellschaft Priorität genießt. In so einer Kultur besteht der Wert eines Menschen in seiner Fähigkeit, im Krieg zu kämpfen, Straßen zu bauen und aus Waffen Kunstwerke zu machen. Der Körper des Mannes zählte damals nur gemäß seiner physischen Kraft und seiner Gewaltbereitschaft, die es ihm erlaubten, den Tod zu bringen, ohne sich schuldig zu machen, indem er einem Befehlsgeber Folge leistete, der ihn zum Sieg führte. Der Körper der Frau zählte nur entsprechend ihrer Geschlechtsorgane, die Genuss bringen, und ihres Bauches, der Kinder gebiert. Sie organisierten den domus, das Haus des Besitzers, der seine rechtmäßige Herrschaft über die dort lebenden Frauen, Kinder und Sklaven ausübte. Die private Architektur erhielt so eine ideologische Dimension.12 An Liebe bestand in dieser Form von Kultur kein Bedarf, ihr kam keine sozialisierende Funktion zu. Im Gegenteil, ein liebender Soldat, der seine Frau dem Schlachtfeld vorzog, wurde zum Gegenstand von Hohn und Spott.
Wenn Eltern ihren Kindern zugetan waren und sie beschützten, wurde dieses Alltagsverhalten von den Narrativen nicht weiter beleuchtet und war folglich kulturell nicht existent. Wie sollte in so einem Umfeld das Leben eines Neugeborenen irgendwelche Gefühle auslösen? Ein Junge – okay, aus ihm wird man einen Soldat machen. Ein Mädchen ist allenfalls dazu gut, sich an ihr sexuell zu befriedigen und sie männliche Kinder gebären zu lassen. Diese Art, gesellschaftliche Beziehungen zu schaffen, hat aus den ersten zwei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung das Zeitalter der pax romana (Römischer Frieden) gemacht, die in den eroberten Ländern die Bürgerkriege verringert und rund um das Mittelmeer ein prächtiges Reich geschaffen hat.
Der Wert der Männer lag allein in der Kraft ihrer Arme und der der Frauen in ihren gebärfähigen Bäuchen. An die Säuglinge wurde kein Gedanke verschwendet, was sogar dazu führte, dass Herodes, König von Judäa, auf die Nachricht hin, dass in Bethlehem den Juden ein König namens Jesus geboren worden sei, Befehl gab, alle Kinder von zwei Jahren und darunter zu töten. Dieses Blutbad spielte eine wichtige Rolle in den kollektiven Narrativen und in der Malerei – und übertraf dort vielleicht noch die Realität. Mit der Entrüstung, die er provozierte, hat dieser Mythos all jene zusammengeschweißt, die an ihn glaubten, und ihren gerechten Zorn entfacht.
Kind zu sein ist nicht leicht. Wir beginnen unser Dasein mit einer Zeit der Abhängigkeit, in der unser Geschick an das unserer Mutter gekettet ist. Erstaunlich früh schon wird die Entwicklung des Kindes durch die Narrative und Vorurteile bestimmt, die die Gesellschaft strukturieren. Über Jahrtausende waren die erzieherischen Methoden von unglaublicher Brutalität. Die Chaldäer und Phönizier opferten eine große Zahl von Kindern, um die Götter günstig zu stimmen. In Sparta schaute sich eine Gruppe von Männern das Neugeborene an und entschied, ob es missgebildet oder mickrig war, um es in diesem Fall in der Wüste auszusetzen oder einen Abhang hinabzuwerfen. In Theben konnte man seinen Säugling verkaufen, damit der Käufer aus ihm einen Sklaven machte. Eltern, die vor so einer Brutalität zurückschreckten, legten das Neugeborene in eine Tonvase oder einen Korb, den sie anschließend zu Wasser ließen. So haben Ödipus, Moses, Romulus und Remus ihre Reise in die Gesellschaft begonnen: »Die Aussetzung, Ermordung oder Verstümmelung von Kindern (Letzteres, um sie zu Bettlern zu machen) galt nicht als Verbrechen.«13
Manche Eltern widersetzten sich diesem Zeitgeist: »Ein Neugeborenes sich selbst zu überlassen, ist geradezu pervers«, »Jedes im Schoß seiner Mutter geformte Wesen hat von Gott eine Seele erhalten«. Montaigne unterstreicht mit Blick auf die missgebildeten Kinder: »Jene, die wir als Monster bezeichnen, sind für Gott keine solchen ... Unsere erste Obhut finden wir zwischen den Händen der Ammen ... Die Gewohnheit ist so stark, dass man ein bewährtes Gesetz nicht leicht verändert.«14 Im Jahr 1580 wies der Philosoph auf eine Situation hin, die bis heute Bestand hat: Gewisse Erwachsene, die den Wunsch verspüren, sich der Kindheit zu widmen, genießen es, die Kleinen zu beschützen und sie zu erziehen.15 Im 17. Jahrhundert gelingt es Vinzenz von Paul, das tragische Schicksal der Findelkinder zu verbessern. Aber in derselben Kultur machen sich andere Erwachsene die Abhängigkeit der Kinder zunutze, um sie sich zu Tode arbeiten zu lassen, sie in sexuelles Spielzeug zu verwandeln oder aus ihnen Kindersoldaten zu machen.
In einer Zeit der Kriege, in der Gewalt einen relativen Wert darstellt, ist es nicht schwer, Kinder zu töten: »Jedes Mal, wenn ein Ort eingenommen wurde, ließ man alle über die Klinge springen, die gegen eine Mauer pinkeln konnten, und degradierte die Mädchen zu Haus- oder Sexsklavinnen.«16 Diese Einstellung der Erwachsenen hat sich nicht grundsätzlich geändert: Man prügelt die Jungs und schickt sie in den Soldatentod, während man die Mädchen zu modernen Haus- und Sexsklavinnen macht. Während des Ersten Weltkrieges zögerte die französische Regierung nicht, eineinhalb Millionen Heranwachsende, die noch kein Wahlrecht besaßen, dem Tod oder der Verstümmelung auszusetzen. Im Jahr 1944 lieferte die deutsche Armee ganze Bataillone junger, von der Hitlerjugend fanatisierter Knirpse dem Massaker aus, und heute werden Zehntausende von Kindern in den »bewaffneten Konflikten« in Afrika, im Nahen Osten und in Südamerika missbraucht, um Krieg zu führen.
Im Alltag war die Gewalt Teil der Erziehung. Fast alle Familien erwarben Peitschen mit langen Lederstriemen, um damit ihre Kinder zu züchtigen, und es wurde im Kino viel gelacht über die Jungs, die sich in Der Krieg der Knöpfe balgten.17 Die Zuschauer amüsierten sich darüber, wie der splitterfasernackte, besiegte acht- bis neunjährige Gibus ausrief: »Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht gekommen.« Die Kinder waren süß und die Erwachsenen sympathisch – auch dann noch, als die Väter ihre Ärmel hochkrempelten, um dem Kind eine »verdiente« Tracht Prügel zu verabreichen. Das war das Ende einer Epoche und man begann, sich zu fragen, ob die Gewalt in der Erziehung wirklich ihren Platz hatte.
Ein Kind kann nur dort aufwachsen, wo das Leben es in die Welt gesetzt hat. Wenn es seine Lebensreise in einer vom Krieg zerrissenen Kultur antritt, wenn es in einem Land zu leben lernt, das sich im industriellen Aufbau befindet, werden die Jungs zur Gewalt ermuntert und die Mädchen werden gezwungen, sie dabei zu unterstützen. In einem Umfeld des Friedens jedoch ist Gewalt nichts anderes als Zerstörung und die Unterwerfung wird zum Bremsklotz der persönlichen Entfaltung und zur Freiheitsberaubung.
Zwei Typen von Ereignissen lenken uns unmerklich und provozieren eine Veränderung der Art, wie wir die Welt sehen und uns an sie anpassen. Erstens erfinden wir Gegenstände, die unsere Vorstellung von uns selbst verändern. Die zweite Gelegenheit bietet sich, wenn ein Mensch wagt, außerhalb der ausgetretenen intellektuellen Pfade zu denken, und uns in eine neue Sicht der Welt einführt. Der behauene Feuerstein, das Feuer, die fossilen Energien, die Pille und der Computer – jede Neuerung hat die conditio humana verändert. Wir fürchten uns nachts nicht länger vor den Tieren, seit vor einer halben Million Jahren jemand das Feuer bezwungen hat. Wir begreifen die Mutterschaft als etwas, für das wir uns frei entscheiden können, seit wir die Pille kommerzialisiert haben.
Im 19. Jahrhundert wagte Darwin, außerhalb der herrschenden Lehrmeinung zu denken, als er uns die Evolution der Pflanzen, Tiere und Menschen erklärte. Seit damals stehen jene, denen es gefällt, in einer Welt der permanenten Umgestaltung zu leben, den Bewahrern des Status quo gegenüber, die das Bedürfnis haben, in einer unbeweglichen Welt zu leben. Als Herr und Frau Sapiens vor vierzigtausend Jahren nach Europa kamen, unterschieden sie sich kaum von uns heutigen Menschen, aber das natürliche und soziale Umfeld erzwang eine vollkommen andere Lebensweise. Kleine Gruppen von vierzig bis fünfzig Personen streiften umher, um zu jagen und zu fischen, und bauten sich im Winter Unterschlüpfe. Sie trieben mit benachbarten Gruppen Handel mit Muscheln und Waffen. Die Körper der getöteten Tiere wurden zu Materiallagern, aus Oberschenkelknochen und Schienbeinen wurden Speere,18 aus den kleinen spitzen Knochen Nadeln zum Nähen der Felle und die flachen Knochen dienten als Tafeln, auf denen Kunstwerke eingeritzt wurden. Man kann sich fragen, warum wir als einzige Art unter all den Hominiden, die vor sieben Millionen Jahren lebten, nicht untergegangen sind. Unsere Anatomie hat uns geholfen, durch den aufrechten Gang benötigten wir die Vordergliedmaßen nicht länger für die Fortbewegung, und die Gegenüberstellung von Daumen und Zeigefinger lieferte uns ein Präzisionswerkzeug, mit dem wir einen Pflanzendorn greifen konnten, um damit einen Regenwurm aufzuspießen oder ein Fell zu nähen. Wir konnten unseren Körper durch ein Werkzeug erweitern, um damit ein Aas zu zerlegen. Mit einem scharfen Stein konnten wir das Fleisch abschaben und die Knochen zerkleinern, wo andere Säugetiere ihre Zähne zu Hilfe nehmen mussten.
»Schon früh, vor dreieinhalb Millionen Jahren, gab es die ersten Allesfresser. Das war vermutlich einer der Auslöser der Entwicklung zum Menschen hin. Die großen früchtefressenden Affen verschmähen nicht das Fleisch. Es kommt vor, dass sie mit einer kleinen Meerkatze oder eine Gazelle spielen, plötzlich den Spielkameraden fassen, ihn in zwei Teile zerreißen und sein noch warmes Fleisch verschlingen. Auch bei ihnen hat die Jagd eine soziale Organisationsfunktion. Drei oder vier Affen hetzen ein Wild, das kopflos in die Fänge eines wartenden weiteren Affen rennt. Die Aufteilung der Beute strukturiert die Gruppe. Wenn sich ein Fremder derselben Art nähert und um Nahrung bettelt, wird er energisch vertrieben. Die Schimpansen verständigen sich zwecks Koordination der Jagd mit Gesten. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit bewegen sie sich schweigend, um ihr Opfer zu überraschen. Die Aufteilung des Fleisches erfolgt gemäß den für die jeweilige Gruppe charakteristischen Interaktionsritualen: Der Bittsteller hält die Innenpranke hoch in Richtung des Alphatieres, das ihm seinen Anteil zuweist. Diese Geste kann von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich sein, was für einige Ethologen Grund genug ist, hier von einer »Protokultur« zu sprechen.«19
Mangels Fangzähnen und Krallen waren die Menschen gezwungen, Werkzeuge zu erfinden, mit denen sie das Fleisch essen konnten. Schon vor zwei Millionen Jahren konnten sie Elefanten und Flusspferde verschlingen, noch bevor sie Waffen herstellten, mit denen sie sie töten und zerlegen konnten. Die ganze Gruppe, Männer, Frauen und Kinder, hetzten ganze Herden von Pferden mit viel Lärm auf einen Abgrund zu, in den diese fielen. Während vieler Jahrtausende huben kleine Menschen große Gräben aus, die sie mit Pfählen bestückten, und reizten anschließend Elefanten zur Wut, die, als sie auf die Menschen losgehen wollten, in diese Fallen fielen und sich aufspießten.
Immer wenn nach den Eiszeiten die Ernten und die Obstbäume die Gruppe nicht ernähren konnten, wurde das Fleisch und somit die Erfindung von Waffen und die Techniken zur Tötung von Wild eine Frage des Überlebens.20 Die Menschen aßen also nicht nur Fleisch, um zu wachsen, sondern um nicht zu sterben. Um aber töten zu können, mussten sie sich in Jägergruppen organisieren, ausgestattet mit ausgefeilten Waffen. So wurde das Fleisch zum Symbol für Macht, Reichtum und Überlegenheit. Das Volk isst Blätter, und wenn es arm und hungrig ist, muss es sich mit tiefreichenden Wurzeln begnügen. Der Herr aber lässt sich Fleisch in unterschiedlicher Form – warm, kalt und als Schinken – servieren,21 weil er es versteht zu töten, Waffen zu bedienen und die Gesellschaft in Soldaten und Diener zu strukturieren.
Das Fleisch hat die Herrschaftsbeziehungen geschaffen, da es diejenigen zum Töten einlädt, die überleben wollen. Die Affen, die Säugetiere und manche Vogelarten lernen, sich für die Jagd zu koordinieren. Wenn ein Kätzchen sieht, wie seine Mutter sich flach macht und sich langsam an seine Beute heranschleicht, um sich zuletzt mit einem Sprung auf sie zu werfen, spielt es, als mache es dasselbe: Es macht sich flach, legt sich auf die Lauer und springt zuletzt auf den Schwanz oder das Maul seiner Mutter. Ein Kätzchen, das vom Schicksal oder zu Versuchszwecken in sensorischer Isolation (also unter Entzug sensorischer Reize beziehungsweise Sinneseindrücke) gehalten wird, lernt dieses Jagdverhalten nicht. Katze bleibt zwar Katze und somit ein flinker, schweigender und eleganter Räuber, der anmutig auf alles springt, was sich bewegt. Aber solange sich eine Katze nicht von einer anderen abgucken kann, wie sie jagt, entwickelt sie ein gestörtes Jagdverhalten. Eine Katze braucht eine andere Katze, um selbst eine zu werden. Und seit Katzen in Zivilisationen leben, für die die Rastlosigkeit kennzeichnend ist, macht das durchgedrehte sensorische Umfeld auch die Katze verrückt. Die Rhythmen der wechselnden Tätigkeiten und der Erholungsphasen, der Jagd und der Ruhe werden durchbrochen und die Katze entwickelt Verhaltensauffälligkeiten, eine ungezügelte Aggressivität, eine ständige Unruhe oder eine Fettleibigkeit, wie sie im natürlichen Umfeld nicht vorkommt.22
Aber heißt das dann nicht, dass es zwischen Mensch und Tier ein gemeinsames Programm, eine wechselseitige Beeinflussung und geteilte Welten gibt? Unsere verrückt gewordene Zivilisation mit ihrer Hast und der ständigen Präsenz technisierter Gegenstände verändert die Ausführung des genetischen Programms der Katze so sehr, dass auch sie verrückt wird. Wir leben zusammen, der Mensch steht nicht über der Natur, sondern lebt in ihr zwischen anderen Lebewesen, und wenn unsere technisierte Zivilisation die Tiere krank macht, leiden wir mit ihnen und die Zoonosen23 lassen nicht nur sie sterben.
Raubtiere müssen sich in Gruppen koordinieren, um zu jagen. Warum laufen die Schimpansen schweigend, bevor sie ein Opfer angreifen? Ihr Schweigen will sagen: »Das hier ist kein Spaziergang.« Das Schweigen der Männchen ist eine zielgerichtete Form der Kommunikation: das Opfer überraschen. Solange die Gruppe nicht jagt, bewegt sie sich anders fort, angeführt von einem Weibchen, das die Richtung vorgibt und der die jungen Männchen und die übrigen Weibchen mit ihren Jungen lärmend folgen.
Unsere Cousins, die Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans sprechen nicht. Sie verfügen weder über den Sprechapparat noch über das Gehirn, die dafür erforderlich wären. Dennoch verfügen sie über die Voraussetzungen für Sprache, die Syrinx, die dem Kehlkopf des Menschen entspricht und es ihnen erlaubt, Laute zu modulieren. Sie drücken nicht nur intime Emotionen aus, sondern geben auch Signale von sich, mit denen sie differenziert auf unterschiedliche Gefahren hinweisen. Wenn ein Adler am Himmel kreist, stößt der spähende Affe einen Schrei aus, der deutlich macht, dass die Gefahr von oben kommt. Droht die Gefahr von seitlich aus den Zweigen, weist ein anderer Schrei auf einen Leoparden, den Erbfeind der Affen, hin. Und wenn sich eine Schlange vom Boden erhebt, signalisiert ein wieder anders strukturierter Schrei, dass die Gefahr von unten droht. Die durch die Schreie alarmierten Affen reagieren mit darauf abgestimmten Verhaltensweisen. Sie tauchen in Richtung Boden ab, wenn der Schrei einen Adler bezeichnet, oder sie klettern in die Bäume, wenn er eine Schlange signalisiert.24 Der strukturierte Schrei nimmt die Stelle der Gefahr ein und die Affen reagieren auf die Information und nicht auf das Objekt selbst, das sie nicht sehen. Genau das ist die Definition eines Symbols: Ein erfahrbares Objekt tritt an die Stelle eines anderen Objekts, das nicht erfahrbar ist. Aber dieser Schrei unterliegt nicht der Willkür des Affen, die ihm erlaubt hätte, ein Wort zu bilden. Ein Affe, der Deutsch gelernt hätte, hätte »Schlange« oder »Leopard« gerufen. Der Affe in seiner Welt begnügt sich mit einem bedeutsamen Schrei, der etwas bezeichnet, was selbst nicht erfahrbar ist.
Lange wurde gesagt, dass Tiere keine Werkzeuge herstellen und dass sie sie nur durch Zufall verwenden. Das Stereotyp lautete: »Eines Tages klopfte ein Affe oder ein Otter mit einem Stein auf eine Muschelschale, die sich öffnete und ihr verzehrbares Fleisch zeigte.« Diese Form der präverbalen kognitiven Intelligenz existiert: Das Tier ahnt, dass es die Muschel öffnen kann, indem es mit einem Stein darauf schlägt. Eines Tages jedoch beschrieb Jane Goodall, die unter den Schimpansen lebte, ein soziales und intellektuelles Leben, das kein Forscher jemals hätte in einem Labor beobachten können.25 Sie beobachtete, wie die Affen einen Zweig abbrachen, um ihn als eine Art Angel zum Fischen von Termiten zu verwenden. Sie beobachtete, wie eine Mutter ihrem Jungen beibrachte, mithilfe eines Steins eine Cola-Nuss zu öffnen. Sie staunte über die Koordination der zur Jagd aufbrechenden Tiere, sie analysierte die Rituale der Nahrungsverteilung, sie wurde Zeugin tödlicher Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Gemeinschaften und gelegentlich sogar des Lynchmords an einem Familienmitglied, das sich den Zorn des Alphatieres zugezogen hatte. Sie staunte auch darüber, wie extrem selten es zu sexuellen Handlungen zwischen Müttern und Söhnen und zwischen Brüdern und Schwestern kam. Diese Hemmung der sexuellen Motivation zwischen einander nahestehenden Tieren erlaubte nicht, von einem Inzestverbot im menschlichen Sinne zu sprechen. Das aber wirft die Frage nach der präverbalen emotionalen Hemmung eines sexuellen Verhaltens auf, das sich mit nicht nahestehenden Partnern leicht realisieren ließ.26 Diese Aneignung von technischen, die Kommunikation betreffenden und sexuellen Verhaltensweisen variieren von Gruppe zu Gruppe, was Anlass zur Hypothese einer kulturellen Weitergabe gibt.27
Die Methoden der zerebralen Bildgebung legen eine andere Erklärung nahe: Die Herstellung von Werkzeugen und die Ausprägung von Kommunikationsformen machen sich dieselben Schaltkreise im Gehirn zunutze.28 Das Broca-Areal – ein Bereich des linken unteren Frontalkortex, der als Sprachzentrum des Menschen gilt – wird im Lauf der Entwicklung des Kindes ebenso beim Spielen mit Gerätschaften wie bei der Artikulation von Worten stimuliert. Bei den höher entwickelten Säugetieren ist diese Zone in reduzierter Form ebenso vorhanden. Während sie es nicht erlaubt, gezielt Laute zu formen, ermöglicht sie die Herstellung von Werkzeugen und die Strukturierung der nonverbalen Kommunikation. Beim menschlichen Kind »findet das Erlernen der Sprache gleichzeitig mit dem Erlernen der Manipulation von Gegenständen statt«.29 Die von dieser Funktion betroffenen Gehirnregionen liegen dicht beieinander im Broca-Areal der linken Hemisphäre: Die Steuerung der Hand ist nichts anderes als die Steuerung der Artikulation von Klängen. Neigen wir vielleicht deshalb dazu, beim Sprechen mit den Händen zu gestikulieren?30
Die Makaken besitzen im linken Gyrus praecentralis eine Zone F5 analog zum Broca-Areal, dem neurologischen Zentrum für die Wortartikulation beim Menschen. Wird diese Zone bei den Affen stimuliert, führt dies nicht zur Artikulation von Worten, aber zur lebhaften Reaktion auf die Gesten anderer. Wenn ein Mensch die Hand nach einer Frucht ausstreckt, aktiviert das das F5-Areal des beobachtenden Affen. Seine Neuronen setzen Energie frei, wie um ihn in Bereitschaft zu versetzen, dieselbe Geste auszuführen. Bei den Menschen sind die Spiegelneuronen noch reaktionsfreudiger. Wenn wir sehen, wie sich jemand erbricht, sorgt der durch diesen Anblick aktivierte vordere Teil der linken Insula dafür, dass uns übel wird,31 obwohl es doch die andere Person ist, die krank ist. Wenn ein Tourist stehen bleibt, um von einem schönen Ausblick ein Foto zu machen, verspüren andere Touristen in seiner Nähe regelmäßig das Bedürfnis, es ihm gleichzutun. Wenn jemand uns ein freundliches Gesicht zuwendet, fällt es schwer, nicht mit einem ebenso freundlichen Gesicht zu antworten, und wenn ein Freund mit uns spricht, aktiviert er die Neuronen unseres linken Schläfenlappens, der die Wortartikulation vorbereitet. Lernen wir so unsere Muttersprache? Wir reagieren auf mimische Gesten mit ähnlichen Gesten und sind bemüht, den Klang der gehörten Sprache mit einer Präzision zu imitieren, die uns den für unsere Region charakteristischen Akzent verleiht.32
Der Mensch hat vor einer Million Jahren das Feuer entdeckt, beherrscht es aber erst seit fünfhunderttausend Jahren, als er begann, sich seiner zu bedienen, um seine Speisen zu kochen und Werkzeuge anzufertigen. Die Speisenzubereitung war nun etwas, das es zu erlernen galt, ebenso wie die Methode, aus Tierknochen durch Erhitzen einen Klebstoff zu gewinnen, mit dem sich ein Feuerstein auf einer Holzlanze befestigen und damit ein Speer herstellen ließ. Das Lernen, also die Übertragung des Wissens, erfolgte über die visuelle Beobachtung und den verbalen Ausdruck: »Der Beobachter imitiert innerlich die Handgesten und Laute dessen, dem er zuschaut.«33 So funktionieren die Spiegelneuronen, bei denen der lernende Beobachter sich darauf vorbereitet, dieselben Hand- oder Mundbewegungen zu machen wie der Beobachtete.34 Dieses Spiegelgeschehen bildet die physiologische Basis der kulturellen Weitergabe.35 Der evolutionäre Prozess ist also nicht allein das Ergebnis äußerer Einflüsse, die auf einen Organismus einwirken, sondern verdankt sich zugleich dem Kollektivgeist jener, die eine Methode gefunden haben, wie sie ein Werkzeug herstellen und dieses Wissen weitergeben können.
Von nun an zählt für das Überleben nicht länger nur die Körperkraft, aufgrund derer wir laufen oder kämpfen können, sondern ebenso die Tradierung des kollektiven Wissens. Indem der Mensch lernt, Werkzeuge herzustellen und mit Worten etwas zu erzählen, entkommt er der Unmittelbarkeit des Kontextes und betritt eine Welt der Vorstellungen. Er antwortet auf Informationen, die er mit seinen Sinnen nicht erfassen kann, weil sich ihre Quelle nicht mehr, noch nicht oder ganz generell nicht in seinem Wahrnehmungsbereich befindet.
Bei den Tieren ist das Tempo der Entwicklung ein Anpassungsvorteil, der das Überleben sichert. Die Jungen haben viele Unfälle, fallen leicht Raubtieren zum Opfer und haben ein Interesse daran, schnell älter zu werden, um kämpfen oder fliehen zu können. Den Menschen hingegen verschaffen die Langsamkeit der Entwicklung und die Bewahrung von Charakterzügen des Kindes und Jugendlichen beim Erwachsenen die Möglichkeit, ein Leben lang zu lernen.36 Ein Tier muss jung sein, um sich fortzupflanzen, und im natürlichen Umfeld ist die Altersphase kurz, weil sie keinen Anpassungsvorteil bietet. Weil aber der Mensch spielen kann, genießt er es zu leben und weiter zu lernen. So können wir regelmäßig Ältere beobachten, wie sie Karten spielen, sich Spielfilme anschauen, sich amüsieren und über die neuen Gewohnheiten staunen oder sich aufregen, die jede neue Generation von Jugendlichen erfindet. Die Langsamkeit der menschlichen Entwicklung ermöglicht es uns, immer weiter zu lernen.37
Ein Tier hat von Geburt an ein Interesse daran, sich schnell zu entwickeln und sich an die Erfordernisse seines Lebensumfelds anzupassen. Es taumelt, lernt zu gehen, seiner Mutter zu folgen, sich von ihr zu ernähren und sich von ihr prägen zu lassen. Fast sofort teilt sich die Welt in einen »vertrauten« Bereich, in welchem sich das Junge entwickelt, und einen »fremden« Bereich, wo jede Information Alarmcharakter hat. Sehr früh fügt sich das kleine Tier in sein Umfeld ein, und wenn ihm das nicht gelingt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es nicht überlebt.
Beim Menschen, der seine Entwicklung im Uterus beginnt, ist das anders. Er empfängt Sinnesinformationen von seiner Mutter und von der Außenwelt: Klänge, Berührungen, Geruchs- und Geschmackseindrücke und Stresssubstanzen der Mutter, die sich auf die Ausformung seines Gehirns auswirken.38 Diese frühe Entwicklung ist besonders lang, weil das menschliche Gehirn erst im Alter von 25 Jahren zu wachsen aufhört. Während das junge Tier nur seine ersten Lebenswochen damit verbringt, sich in sein Umfeld einzufügen, widmet der junge Mensch ein Drittel seines Lebens der Entwicklung seines Gehirns und der Ausformung seines Apparats, mit dem er die Welt wahrnimmt. Nach seinem 25. Lebensjahr lernt der Mensch zwar weiter, sofern sein Umfeld es ihm gestattet, aber jetzt sind es nicht mehr nur die Neuronen, die seinen Lernprozess steuern, sondern mindestens so sehr seine affektiven und kulturellen Beziehungen. Für das Tier gibt es nach der Pubertät nichts mehr zu lernen, es ist mehr oder weniger gut entwickelt, bringt seine Emotionen mehr oder weniger stark zum Ausdruck, weiß zu balzen, sich zu paaren und seine Gene weiterzugeben und hat weiter keine Aufgabe. Während die Lachse nach der Paarung sterben, führen die meisten Säugetiere weiter ein geruhsames Leben bis zu ihrer kurzen Altersphase.