Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Zweitausend Meilen, eine Lüge – und eine Liebe, die niemand erwarten konnte. Nach drei Jahren in einem Bordell hat Nora Macauley sämtliche Illusionen über die Liebe verloren. Dennoch willigt sie ein, als Luke – ein völlig Fremder – ihr unverhofft einen Heiratsantrag macht, denn nur so kann sie ihrer kleinen Tochter Amy einen Neuanfang ermöglichen. Sie ahnt nicht, dass ihr Ehemann in Wahrheit eine Frau ist, die als Mann verkleidet lebt. Gemeinsam schließen sie sich einem Wagenzug nach Oregon an, in dem es kaum Privatsphäre gibt. Vor ihnen liegen zweitausend Meilen und unzählige Gefahren, die sie nur gemeinsam meistern können.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
Von Jae außerdem lieferbar
Danksagung
Karte: Oregon Trail 1851
Independence, Missouri, Juni 1846
Independence, Missouri, 27. April 1851
Independence, Missouri, 29. April 1851
Independence, Missouri, 29. April 1851
Independence, Missouri, 30. April 1851
Independence, Missouri, 30. April 1851
Independence, Missouri, 1. Mai 1851
Shawnee-Missionsstation, 2. Mai 1851
Blue Mound, 4. Mai 1851
Wakarusa River, 5. Mai 1851
Uniontown, 7. Mai 1851
Rock Creek, 11. Mai 1851
Alcove Springs, 14. Mai 1851
The Narrows, 21. Mai 1851
Zwischen dem Little Blue und dem Platte River, 22. Mai 1851
Platte River, 25. Mai 1851
Platte River, 26. Mai 1851
South Platte Crossing, 10. Juni 1851
California Hill, 11. Juni 1851
Ash Hollow, 12. Juni 1851
Courthouse Rock, 15. Juni 1851
Chimney Rock, 15. Juni 1851
In der Nähe von Chimney Rock, 15. Juni 1851
Scotts Bluff, 17. Juni 1851
Fort Laramie, 20. Juni 1851
Warm Springs, 22. Juni 1851
Ayers Bridge, 26. Juni 1851
North Platte Crossing, 29. Juni 1851
Saleratus Lake, 2. Juli 1851
Independence Rock, 4. Juli 1851
Devil’s Gate, 5. Juli 1851
Three Crossings, 6. Juli 1851
Über Jae
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Aus dem Gleichgewicht
Demnächst im Ylva Verlag
Westwärts ins Glück
Sie möchten keine Neuerscheinung verpassen?
Dann tragen Sie sich jetzt für unseren Newsletter ein!
www.ylva-verlag.de
Von Jae außerdem lieferbar
Ein Happy End kommt selten allein
Alles nur gespielt
Aus dem Gleichgewicht
Perfect Rhythm – Herzen im Einklang
Hängematte für zwei
Herzklopfen und Granatäpfel
Vorsicht, Sternschnuppe
Cabernet & Liebe
Die Hollywood-Serie:
Liebe à la Hollywood
Im Scheinwerferlicht
Affäre bis Drehschluss
Die Portland-Serie:
Auf schmalem Grat
Rosen für die Staatsanwältin
Die Serie mit Biss:
Zum Anbeißen
Coitus Interruptus Dentalis
Die Gestaltwandler-Serie:
Vollmond über Manhattan
Danksagung
Wie die Reise nach Oregon kann auch das Schreiben und Veröffentlichen eines Romans nur gelingen, wenn man dabei tatkräftige Hilfe hat. Ich danke meiner Lektorin Andrea Fries sowie meinen fleißigen Korrekturleserinnen, vor allem Christiane, Gaby, Melanie, Peggy, Sandra, Stephie und Susanne.
Independence, Missouri,Juni 1846
Tess Swenson verfluchte im Stillen den rauchgefüllten, düsteren Raum und das Klimpern des Klaviers. Der Lärm und das schlechte Licht machten es nicht einfacher, ihre Mädchen und die Kunden im Auge zu behalten, die in lauschigen Nischen oder auf Sofas saßen oder an der langen Mahagonibar lehnten.
»Verdammt.« Charlie, ihr Barkeeper, starrte grimmig auf das Dutzend Soldaten, das gerade das Bordell betreten hatte. »Und dabei habe ich gedacht, hier würde es endlich etwas ruhiger zugehen, nachdem die Trapper und Auswanderer nach Westen aufgebrochen sind.«
»Es liegt am Krieg«, sagte Tess. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Theke, um nach Anzeichen für Ärger Ausschau zu halten. »Jeder Soldat will eine letzte Nacht mit einer Frau verbringen, bevor er in den Krieg zieht.«
Um sie herum lachten die Soldaten schallend, buhlten um die Aufmerksamkeit der Mädchen und tranken Whiskey, als gäbe es kein Morgen.
Für einige von ihnen gibt es das vielleicht auch nicht. Morgen würden sie nach Süden marschieren, um New Mexico einzunehmen. Die Angst vor dem Sterben belebte Tess’ Geschäft, machte ihre Arbeit aber auch gefährlicher.
Charlie schenkte einem Kunden ein Glas Whiskey ein. Das Mädchen, das an seinem Arm hing, bekam hingegen nur kalten Tee, den ihr Freier für Alkohol halten sollte. »Ein paar von denen sind noch halbe Kinder. Schau dir den an.« Er zeigte auf einen jungen Soldaten, der von seinen Kameraden ins Innere des Etablissements gezogen wurde.
Während die anderen Männer das Bordell nicht schnell genug betreten konnten, zögerte er sein Eintreten merklich hinaus, indem er an der Tür Schlamm von seinen Stiefeln abtrat. Er machte sich von seinen Freunden los und lehnte sich gegen die Bar, sodass er den Rest des Raums im Blick hatte.
Eines von Tess’ Mädchen gesellte sich zu ihm und berührte ihn verführerisch an der Schulter.
Er blickte sie an, ohne ihr Lächeln zu erwidern. Als er sich umdrehte, um bei Charlie einen Drink zu bestellen, wurde der Körperkontakt unterbrochen.
Tess hatte das Gefühl, dass dies nicht aus Zufall geschah.
Die junge Frau trat näher, aber er schüttelte den Kopf und sagte etwas, worauf sie mit den Schultern zuckte und davonging.
Tess hatte schon öfter beobachtet, wie nervös manche Gäste bei ihrem ersten Besuch waren, aber irgendwie ahnte sie, dass der junge Mann nicht einfach nur schüchtern war. Sie entfernte sich von der Theke, um ihn mustern zu können, ohne dass er es bemerkte.
Weder seine Statur noch seine abgetragene Uniform unterschieden ihn von seinen Kameraden. Er war nicht außergewöhnlich groß und verglichen mit seinen stämmigeren Freunden schien seine schlanke Gestalt nicht sonderlich eindrucksvoll. Trotzdem strahlte er etwas aus, das Tess zweimal hinsehen ließ.
Das Rangabzeichen am Kragen seiner blauen Uniform verriet, dass er Feldwebel war. Zwar war er etwas jung für diesen Rang, aber in Kriegszeiten war das nicht ungewöhnlich.
Was den jungen Mann von den anderen unterschied, war seine Körperhaltung. Als er den Raum durchquerte und sich an einen Tisch in der Ecke setzte, bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze. Eine solche Mischung aus Kraft und Eleganz hatte Tess nicht erwartet von einem Jungen, der wirkte, als hätte er gerade erst die Pubertät hinter sich gelassen.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, nippte an seinem Whiskey und beobachtete die anderen Männer mit ausdrucksloser Miene. Alles an ihm strahlte Ruhe und Zuversicht aus – alles außer der Art, wie er seine Feldmütze zwischen seinen langen, schlanken Fingern zerknautschte.
Wütende Schreie von der Theke lenkten Tess ab. Sie wirbelte herum.
Ein Soldat mit rotem Gesicht hatte eines der Mädchen am Hals gepackt und schüttelte sie.
»Lass sie sofort los!« Tess lief zur Bar.
Der wütende Soldat ließ das Mädchen los. Er brüllte wie ein angreifender Grizzlybär, als er sich umdrehte und Tess mit dem Handrücken ins Gesicht schlug.
Schmerz durchfuhr ihre Wange. Sie prallte gegen die Theke. Einen Moment lang konnte sie nicht atmen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Charlie nach dem Revolver griff, den er hinter der Bar versteckte.
Bevor die Situation völlig aus dem Ruder geraten konnte, packte jemand den Soldaten am Kragen, wirbelte ihn herum und zog ihn weg von Tess und dem nach Luft schnappenden Mädchen.
Der betrunkene Soldat riss die Fäuste nach oben. Ein rechter Haken traf seinen Gegner am Kopf.
Tess riss die Augen auf. Ihr Retter war kein anderer als der junge Mann vom Ecktisch. Er war einen halben Kopf kleiner und bedeutend leichter als sein betrunkener Gegner, aber er wich nicht zurück. Stattdessen stürmte er vorwärts und griff an.
Der größere Mann senkte den Kopf wie ein zorniger Stier und warf sich ihm entgegen.
Eines der Mädchen stieß einen Schrei aus. Einige Männer feuerten die Kämpfenden lautstark an und wetteten darauf, wie lange der kleinere Mann den eisernen Fäusten seines Gegners wohl standhalten konnte.
Tess griff nach dem kleinen Revolver, den sie in ihrem Strumpfband versteckt hatte. Sie schwang die Waffe nach oben, doch der bullige Soldat stand bereits still und blickte in die Mündung des Revolvers, den der Junge auf ihn gerichtet hatte.
»Sie sollten ganz schnell nüchtern werden, Gefreiter, sonst erspare ich den Mexikanern die Arbeit und erschieße Sie gleich hier.« Die Stimme des Jungen war leise und ruhig, ließ jedoch keinen Zweifel daran, wie ernst er es meinte.
Der Gefreite wischte sich mit zittriger Hand etwas Blut von der Lippe, ohne den Blick von dem Jungen abzuwenden. Der stumme Zweikampf dauerte einige Sekunden, dann senkte er den Blick. »Na schön. Ich bin nüchtern.«
Der Junge steckte seinen Revolver ein, aber sein scharfer Blick blieb auf seinen Gegner gerichtet. »Ich glaube, Sie schulden den beiden Damen eine Entschuldigung, Gefreiter.«
»Was?« Der Soldat starrte ihn an. »Teufel, das sind keine Da…«
»War das eben ein ›Ja, Sir‹?«, fragte der Junge und kniff die Augen zusammen.
Der Gefreite knirschte mit den Zähnen. »Ja, Sir.«
Der Junge deutete auf Tess.
Nach kurzem Zögern drehte der Gefreite sich zu ihr um. »Ich … entschuldige mich.«
»Eine Entschuldigung ersetzt nicht die Gläser, die Sie zerbrochen haben, als Sie mich gegen die Bar geworfen haben«, sagte Tess. Sie hielt den kleinen Revolver noch immer in der Hand. Als Besitzerin des Bordells hatte sie gelernt, eine charmante Gastgeberin, ein Mutterersatz für die Mädchen und vor allem eine knallharte Geschäftsfrau zu sein.
»Geben Sie ihr Geld für die Gläser«, sagte der Junge. Seine grauen Augen wirkten wie Stahl.
Knurrend warf der Soldat einige Münzen auf die Bar und stürmte aus dem Bordell.
Der Junge sah ihm nach, dann legte er eine weitere Münze auf die Theke und wandte sich ebenfalls zum Gehen.
»Warte!« Tess eilte ihm nach.
Der junge Mann drehte sich zögernd um. Sein Blick huschte zur Tür, als wollte er so rasch wie möglich verschwinden. »Ja, Ma’am?«
»Deine Nase blutet. Komm mit nach oben in mein Zimmer und lass mich dich verarzten.« Sie streckte die Hand aus.
Der Junge nahm sie nicht. »Das ist nicht notwendig, Ma’am. Das Bluten hört von allein auf.«
»Aber es geht schneller, wenn ich mich darum kümmere. Ich habe viel Erfahrung, wenn es darum geht, Männer nach Schlägereien zusammenzuflicken.«
»Komm schon, Luke«, rief einer seiner Kameraden. »Kein Mann hat je abgelehnt, wenn Miss Tess ihn in ihr Zimmer eingeladen hat. Sei ein Mann und geh mit ihr.«
Ein Mundwinkel des Jungen zuckte und deutete das erste Lächeln an, das Tess bei ihm gesehen hatte. Bevor er sich erneut weigern konnte, nahm sie seine Hand und zog ihn die Treppe hinauf, ohne auf das Grölen seiner Freunde zu achten.
»Setz dich.« Tess klopfte auf das Bett, das den meisten Raum in ihrem Zimmer einnahm. »Es beißt nicht – und ich auch nicht.«
Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante, wobei er seine Feldmütze mit beiden Händen umklammert hielt. Er sah aus wie ein Schuljunge, der nachsitzen musste. Schwer zu glauben, dass er erst vor wenigen Minuten furchtlos gegen einen größeren Mann gekämpft hatte.
Tess nahm die Karaffe vom Frisiertisch und schenkte ihm einen Whiskey ein.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Ma’am.«
»Das geht aufs Haus«, sagte sie.
Er nahm das Glas entgegen, hielt es jedoch in der Hand, ohne auch nur daran zu nippen.
»Trink schon aus.« Tess machte sich auf die Suche nach einem sauberen Tuch. »Das wird sicher nicht angenehm.« Mit dem Tuch in der Hand trat sie zwischen seine Beine und beugte sich vor, um sich seine Nase genauer anzusehen. Behutsam wischte sie das Blut weg, legte eine Hand in seinen Nacken und drehte seinen Kopf etwas zur Seite. »Ich glaube, sie ist gebrochen.«
Er zitterte unter ihrer Berührung.
Erst glaubte sie, er hätte Schmerzen, aber dann sah sie in seine Augen und musste lächeln. Sie verdiente schon lange genug ihr Geld in diesem Gewerbe, um zu wissen, dass es nicht der Schmerz war, der seine grauen Augen verdunkelte, sondern ihre körperliche Nähe und ihr halb entblößter Busen, der sich gegen seine Schulter drückte. Sie berührte seine noch glatte Wange. »Wie alt bist du, Soldat?«
Der Junge wich ihrer Berührung aus und rutschte auf dem Bett zurück, bis sein Rücken gegen das Kopfende stieß. »Alt genug, um in den Krieg zu ziehen.«
Tess sah auf ihn hinab. Er war jung, doch der wachsame Ausdruck in seinen Augen verriet, dass er in seinem kurzen Leben schon mehr gesehen hatte als mancher Mann, der doppelt so alt war. Er war sicher kein naiver Junge, aber sie ahnte, dass er noch nie mit einer Frau zusammen gewesen war.
Das wird eine nette Abwechslung werden. Er war so völlig anders als die meisten ihrer Kunden: höflich, sauber und nüchtern. »Alt genug hierfür?« Sie trat näher, drückte ihn in eine liegende Position hinab und senkte ihre Lippen auf die seinen hinab.
Schlanke, aber kräftige Hände umschlossen ihre Handgelenke. »Nein.«
»Nein?« Tess konnte sich nicht erinnern, wann sie dieses Wort zuletzt von einem Mann gehört hatte. »Wenn du dir um Geld Sorgen machst, lass dir gesagt sein, dass ich keines von dir annehmen werde. Das ist meine Art, mich für deine Hilfe mit diesem betrunkenen Bastard zu bedanken.«
Der Junge hielt noch immer ihre Hände fest. »Nein, nein. Ich … Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich … ich bin …«
Tess lächelte ihn an. »Entspann dich. Ich weiß, was du bist.« Es war nicht schwer zu erraten, dass der Junge eine männliche Jungfrau war.
Er riss die Augen auf. »Sie … Sie wissen es? Aber woher?«
»Ich habe genug Erfahrung mit Männern, um solche Dinge zu erkennen.«
Der Junge starrte sie an. »Und trotzdem haben Sie mich auf Ihr Zimmer eingeladen?«
»Natürlich.« Was war denn daran so überraschend? Jede Hure wusste, dass unerfahrene Kunden schnell verdientes Geld bedeuteten.
»Und Sie haben versucht, mich zu küssen, obwohl Sie wissen, was ich bin?«
Tess musterte ihn. Glaubt er wirklich, er wäre der erste unerfahrene Mann in meinem Bett? Eine Hure schläft nicht mit den Männern, die ihr das größte Vergnügen bereiten können, sondern mit denen, die am meisten bezahlen. »Ich würde dich immer noch küssen, wenn du meine Hände loslassen würdest.«
Einen Moment lang ließ der eiserne Griff um ihre Handgelenke nach. »Sie … Sie mögen … Frauen?«
»Wie bitte?«
Sie starrten einander an, dann sprang der Junge – oder vielmehr das Mädchen, wie Tess nun begriff – fluchend auf und floh zur Tür.
»Warte!« Tess eilte der geheimnisvollen Besucherin hinterher und hielt die Tür zu, damit diese sie nicht öffnen konnte. »Was geht hier vor? Wer bist du?«
Das Mädchen drehte sich langsam um. Sie sah Tess an, ohne zu antworten. Die Muskeln in ihrem Kiefer traten hervor.
Tess musterte ihren schlanken und doch muskulösen Körper und das Gesicht, das auf jungenhafte Art hübsch war. Das Mädchen war größer als die meisten Frauen. Selbst jetzt, da Tess ihr Geschlecht kannte, konnte sie keinerlei weibliche Kurven entdecken. »Wer bist du?«
»Luke Hamilton.« Ihr Gast streckte ihr seine – ihre – Hand entgegen.
Tess nahm sie und bemerkte dabei, wie kräftig die schwieligen Finger zudrückten. Alles, was sie sah, hörte oder fühlte, ließ sie glauben, sie hätte es mit einem jungen Mann zu tun. Sie konnte nicht aufhören, ihren Gast anzustarren. »Aber das ist nicht der Name, den deine Eltern dir gegeben haben, oder?«
Das Mädchen zögerte. »Nein«, sagte sie schließlich.
Am liebsten hätte Tess nach ihrem richtigen Namen gefragt, aber sie ließ es bleiben. Das Mädchen hatte keinen Grund, Tess ihr größtes Geheimnis anzuvertrauen. Schon jetzt wirkte sie, als ob sie jeden Moment weglaufen würde. »Komm zurück und setz dich.« Tess klopfte auf die Matratze.
Das Mädchen blieb neben der Tür stehen. »Ich muss gehen.«
»Deine Freunde werden sicher nicht sehr beeindruckt sein, wenn dein Besuch bei mir nur drei Minuten dauert«, sagte Tess lächelnd. »Setz dich und erzähl mir, wie es kam, dass ein Mädchen als Feldwebel bei der Kavallerie dient.«
Das Mädchen scharrte mit den Füßen. »Das ist eine lange Geschichte. Und ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie mich nicht als Mädchen bezeichnen würden. Ich lebe mein Leben als Mann.«
Tess lehnte sich mit einem verführerischen Grinsen auf dem Bett zurück. »In jeder Hinsicht?«
Unter ihrer Bräune wurde das Mädchen rot. »In fast jeder Hinsicht.«
»Dann möchtest du also nicht, dass ich dir danke?« Tess nickte auf ihr tief ausgeschnittenes Kleid hinab.
Luke erstarrte. »Ich bin … Sie wissen, was ich bin. Es ist nicht möglich, dass … Oder doch?«
»Oh, und wie das möglich ist, mein Schatz.« Tess erhob sich und umkreiste ihren Gast mit verführerisch schaukelnden Hüften. »Soll ich es dir zeigen?«
Sie hatte damit gerechnet, dass das Mädchen wieder errötete, aber diesmal sah ihr die junge Frau in die Augen. »Ich billige Prostitution nicht. Kein Mann – und keine Frau – sollte die Notlage einer Frau ausnutzen, die ihren Körper verkaufen muss, um zu überleben.«
Tess starrte ihr in die Augen und fand keinerlei Verachtung, sondern nur ehrliche Anteilnahme. Wie charmant. »Du billigst also Prostitution nicht. Wie sieht es mit Freundschaft aus?«
Luke blinzelte, als hätte sie mit einem solchen Angebot nicht gerechnet. »Ich weiß nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe nicht viele Freunde.«
»Tja, wenn du möchtest, hast du jetzt eine Freundin.« Tess hielt inne. »Es sei denn, du möchtest lieber nicht in der Gesellschaft einer Dame der käuflichen Liebe gesehen werden.«
Der Hauch eines Lächelns glitt über Lukes ernstes Gesicht. »Ich schätze, mit Ihnen gesehen zu werden, könnte meinem Ruf nur guttun.«
Lachend stellte Tess sich auf die Zehenspitzen und küsste Lukes glatte Wange. »Nun gut, mein Freund. Dann lass mich mal deine Nase richten. Wir wollen doch vermeiden, dass sie dein gut aussehendes Gesicht verunstaltet.« Sie lachte, als Luke rot wurde, und zog sie zurück zum Bett.
Independence, Missouri,27. April 1851
Raues Gelächter und das Klacken von Stiefeln auf dem hölzernen Bürgersteig ließen Tess aufsehen.
»Soldaten«, stöhnte Fleur neben ihr, bevor der Erste von ihnen überhaupt eingetreten war. In den drei Jahren, in denen die junge Frau nun schon für Tess arbeitete, hatte sie eine Menge über Männer gelernt. Sogar ihren Beruf erkannte sie an deren Gang.
»Nicht so abfällig, Mädchen«, sagte Tess mit warmer Stimme. »Das letzte Mal haben sie dir ein nettes Trinkgeld dagelassen.«
»Das letzte Mal haben sie mir auch ein nettes blaues Auge dagelassen.«
Tess nickte. Sie wusste, dass Soldaten dazu neigten, am Zahltag ein bisschen wild zu sein. Nach langen Monaten in den heruntergekommenen Baracken eines isoliert liegenden Forts war es nicht erstaunlich, dass die Männer sich nach einer Abwechslung von ihren monotonen Pflichten und dem schlechten Essen sehnten. »Ich werde sie im Auge behalten«, sagte Tess.
Die Tür schwang auf. Laute Stimmen und frische Luft strömten in den Gastraum des Bordells und für einen Moment schien sich der Qualm etwas zu verflüchtigen.
Tess trat einen Schritt auf die Neuankömmlinge zu, um sie mit einigen verführerischen Worten zu begrüßen. Als sie jedoch den Mann erkannte, der als Letzter von seinen Kameraden hereingezogen wurde, wich ihr professionelles Lächeln einem erfreuten Lachen.
Luke Hamilton war längst nicht mehr das Mädchen, das sie noch vor fünf Jahren gewesen war. Nach einem Jahr in Mexiko war sie verwundet, zum Leutnant befördert und zurückhaltender als je zuvor zurückgekommen. Der Krieg hatte sie verändert. Tess hatte sich bemüht, die kühle Distanz, die Luke wie ein Schutzschild umgab, zu durchbrechen, doch obwohl Luke nach dem Krieg ihr Bett geteilt hatte, hatte sie Tess selten ihre Gedanken oder Gefühle offenbart.
»Na, wenn das mal nicht Leutnant Luke Hamilton ist, der ein Haus mit zweifelhaftem Ruf besucht«, rief Tess. »Bist du endlich einsam geworden, Soldat?«
Luke nahm ihren breitkrempigen Hut ab und lächelte auf Tess herab. »Ich bin kein Soldat mehr.«
»Was?« Erst jetzt bemerkte Tess, dass Lukes blaue Uniform durch abgenutzte Zivilkleidung ersetzt worden war.
»Ich habe meinen Abschied eingereicht«, sagte Luke. »Meine Tage als Soldat sind vorbei.«
Damit hatte Tess nicht gerechnet. »Seit wann hast du das geplant?«
Luke sah auf ihre abgewetzten Stiefel hinab. »Schon eine Weile.«
An ihrem letzten Zahltag hatte sie nichts erwähnt und das tat weh, doch dann erinnerte sich Tess an ihre Rolle. Sie war Lukes Freundin und teilte gelegentlich mit ihr das Bett, aber mehr nicht.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Tess. »Hast du irgendwo in der Stadt eine Stelle gefunden?«
Luke schüttelte den Kopf. »Ich bin jetzt ein freier Mann, der keine Befehle mehr von anderen entgegennimmt.«
Inzwischen hatte Tess sich daran gewöhnt, dass Luke sich als Mann bezeichnete.
»In ein paar Tagen breche ich nach Westen auf«, sagte Luke.
»Nach Westen? Sag nicht, du hast dich mit dem Goldfieber angesteckt!«
Luke lächelte. »Oh nein. Ich arbeite lieber mit Pferden, als im Schlamm zu graben. Das neue Gesetz spricht jedem männlichen Bürger«, sie grinste Tess an, »fünfundsechzig Hektar Land im Westen zu und man sagt, das Oregon-Territorium wäre ein guter Ort für eine Pferderanch.«
»Dann gehst du also für immer?« Es machte Tess traurig, denn Luke war eine von wenigen Personen, die sie immer wie eine ehrbare Frau behandelt hatten.
»Ja. Sobald das Präriegras hoch genug ist, dass die Ochsen unterwegs nicht verhungern. Einige meiner Kameraden haben mich zu einer denkwürdigen Abschiedsfeier hierher gezerrt. Ich habe mich gefragt, ob du heute Nacht noch frei bist.« Luke schielte unter ihren langen, dunklen Wimpern zu Tess auf. Ein schüchternes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
Tess rieb sich die Stirn und seufzte. »Nein, leider nicht.«
»Oh. Nun gut.« Wie immer verbarg Luke ihre Gefühle und versuchte, nicht zu zeigen, wie enttäuscht sie war.
Tess berührte ihre Hand, um ihre Freundin davon abzuhalten, sich von ihr zurückzuziehen. »Tut mir leid. Wenn ich könnte …«
»Nein.« Luke drückte kurz ihre Hand. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich weiß ja, dass du Geld verdienen musst.«
Mit einem unterdrückten Seufzen bedeutete Tess Charlie, Luke einen Whiskey einzuschenken. »Ich muss jetzt gehen und die charmante Gastgeberin spielen. Aber wir sehen uns auf jeden Fall noch, bevor du aufbrichst.«
Tess durchquerte den Raum und begrüßte neu ankommende Gäste. Sie blieb stehen, als jemand ihr einige Goldstücke in die Hand drückte. »Es tut mir leid, aber ich bin heute Nacht schon vergeben.«
Der bärtige Soldat lachte. »Es ging mir nicht um mich selbst. Ich möchte Ihr bestes Mädchen für meinen Freund engagieren.« Er zeigte hinüber zur Bar. »Er verlässt in ein paar Tagen die Stadt und ich möchte ihm einen Abschied ermöglichen, den er so schnell nicht vergisst.«
Tess schielte zu dem Geld in ihrer Hand. »Das muss ja ein großartiger Freund sein«, sagte sie mit ihrem geübten Flirtblick.
»Er hat mir zweimal das Leben gerettet. Also, werden Sie sich darum kümmern?«
Tess nickte. »Zeigen Sie mir den Mann einfach, dann arrangiere ich es.«
Der Soldat drehte sich um und zeigte auf Luke Hamilton.
Wie sollte sie ihrer Freundin aus dieser Patsche helfen? Sie war die Einzige, der Luke je ihren Körper und ihr Geheimnis anvertraut hatte, deshalb konnte sie Luke schlecht mit einem ihrer Mädchen aufs Zimmer schicken. Genauso wenig konnte sie jedoch die Bitte des bärtigen Soldaten ignorieren. Jeder unverheiratete Mann in der Stadt hätte sofort die Chance genutzt, kostenlos einige Stunden mit einem Freudenmädchen zu verbringen, besonders, wenn er die nächsten Monate keine ledige Frau zu Gesicht bekommen würde. Wenn Luke das großzügige Geschenk ausschlug, würden seine Freunde Verdacht schöpfen. Außerdem wollte auch Tess ihrer Freundin einen Abschied ermöglichen, den sie so schnell nicht vergaß.
Sie nickte dem bärtigen Soldaten zu. »Ich werde dafür sorgen, dass er auf seine Kosten kommt.«
»Danke.« Der Soldat ging davon.
Die Frage ist nur wie. In Gedanken versunken sah Tess auf – und direkt in die grünen Augen eines Mädchens, das eben vorbeiging. Das könnte funktionieren. »Fleur«, rief sie.
Von den zwölf Mädchen, die für sie arbeiteten, vertraute Tess Fleur am meisten. Mit ihren zwanzig Jahren war sie nur zehn Jahre jünger als Tess, aber dennoch war Fleur fast wie eine Tochter für sie. Dank ihrer feuerroten Haare und ihres hübschen, unschuldigen Gesichts war sie ziemlich beliebt bei den Männern und brachte dem Bordell eine Menge Geld. Trotzdem hoffte Tess, dass sie eines Tages weggehen und ein neues Leben beginnen würde, denn sie mochte die junge Frau.
Fleur entzog sich geschickt dem Mann, mit dem sie auf dem Weg zur Bar gewesen war, und blieb vor Tess stehen. »Ja?«
»Bist du auf dem Weg nach oben?«
Fleur blickte zu ihrem Kunden, der bereits ein anderes Mädchen gefunden hatte. »Sieht nicht so aus.«
Tess zögerte und sah tief in ihre Augen. Sie wusste, dass Fleur sehr diskret war. Im Gegensatz zu einigen der anderen Mädchen sprach sie nie darüber, was in ihrem Zimmer passierte, und sie tratschte nie über Geheimnisse, die ihr Kunden im Eifer der Lust verraten hatten. Sie war zu gütig, um Luke auszulachen, und zu erfahren, um schreiend davonzulaufen. Außerdem würde Luke ihre sanfte Schönheit und ihre weiblichen Rundungen sicher zu schätzen wissen. In dieser Hinsicht unterschied sich ihre Freundin wenig von dem Mann, der sie vorgab zu sein. »Ich habe einen Kunden, um den du dich kümmern musst. Dein Lohn ist bereits bezahlt. Er ist ein Freund von mir, also behandle ihn bitte gut.«
Fleur neigte den Kopf. »Bist du sicher, dass du nicht selbst mit ihm nach oben gehen möchtest?«
»Das würde ich, aber ich muss heute einen Stadtrat unterhalten.« Tess warf Fleur einen bedeutungsvollen Blick zu. Die Stadtverwaltung drückte ein Auge zu, was das Bordell betraf, aber nur im Austausch gegen ein paar Gefälligkeiten. Normalerweise konnte sich Tess als Bordellchefin ihre Kunden aussuchen und teilte nur mit wenigen Männern das Bett, doch heute Nacht hatte sie keine Wahl.
»Ist der Mann, um den ich mich kümmern soll, ein Stammkunde?«, fragte Fleur.
Tess schüttelte den Kopf. »Nein. Aber er ist etwas ganz Besonderes, deshalb traue ich es keinem anderen Mädchen zu, sich um ihn zu kümmern.«
Fleur drehte den Kopf und sah in dieselbe Richtung wie Tess. »Der schlanke Dunkelhaarige, der allein an der Bar steht? Er sieht nicht wie einer deiner besonderen Kunden aus.«
Ein Lächeln umspielte Tess’ Lippen. »Oh, er ist etwas Besonderes, glaub mir.« Sie drehte sich zu Fleur um und sah ihr in die Augen. Ihr Lächeln war nun verschwunden. »Erinnerst du dich noch an die erste Regel, die ich dir beigebracht habe?«
»Stiehl nicht das Tafelsilber?«, sagte Fleur mit dem schelmischen Lächeln, das sie selbst nach drei Jahren im Bordell nicht komplett verloren hatte.
Tess unterdrückte ein Schmunzeln. »Diskretion.«
Eine rotbraune Augenbraue hob sich, aber Fleur fragte nicht, warum gerade bei diesem Kunden absolute Diskretion vonnöten war. Nach einer Weile fragte sie: »Gibt es irgendetwas, bei dem ich vorsichtig sein sollte?« Eine Spur von ängstlichem Misstrauen schimmerte in ihren grünen Augen.
»Nein«, sagte Tess. »Du hast nichts von ihm zu befürchten. Er ist ein wahrer Gentleman.«
Einer von Fleurs Mundwinkeln hob sich zu einem humorlosen Halblächeln. »Das wäre dann der Erste, der mit mir aufs Zimmer geht. Nun denn. Ich kümmere mich um ihn.« Sie drehte sich um und ging auf die Bar zu.
»Ich hoffe, ich habe das Richtige getan«, flüsterte Tess, als sie ihr nachsah.
Nora musterte ihren potenziellen Kunden misstrauisch, während sie auf ihn zuging.
Er hatte nichts gemein mit den Männern, die Tess sonst mit nach oben nahm. Sein ausgebeulter, breitkrempiger Hut und sein ausgeblichenes Flanellhemd verrieten, dass er nicht viel Geld hatte, das er für Frauen und Whiskey ausgeben konnte. Seine blaue Hose mit dem gelben Streifen entlang der Beine stammte wohl von einer Uniform. Er war ein ehemaliger Soldat, keiner der reichen, mächtigen Männer, die ab und zu Tess’ Bett teilten.
Selbst seine Haltung unterschied sich von der anderer Männer. Während um ihn herum alle lachten, Whiskey tranken und die Hände nicht von den Mädchen lassen konnten, saß er ruhig da und nippte an seinem Drink. Sein Blick glitt wachsam über jeden, der ihm zu nahe kam.
Nora verzog das Gesicht. Solche Kunden mochte sie nicht. Wenn sie ihre eiserne Selbstkontrolle schließlich aufgaben, ging es für Nora meistens nicht gut aus.
Sie straffte die Schultern und warf einen Blick an sich hinab, um zu prüfen, ob ihr Ausschnitt tief genug war, um Interesse zu erregen, ohne es jedoch zu befriedigen. Ein letztes Mal atmete sie tief durch, dann blieb sie neben ihm stehen. Sie beging nicht den Fehler, ihn zu berühren, denn er strahlte eine Zurückhaltung aus, die solch eine Vertraulichkeit verbot. »Hallo«, sagte sie mit verführerischer Stimme.
Der Mann stellte sein Glas auf die Theke und drehte sich um. Er war nicht das, was Nora erwartet hatte. Die meisten ihrer Kunden hatten struppiges Haar, lange Bärte, vom Kautabak gebräunte Zähne und schmutzige Kleidung. Sie rochen nach Alkohol, Rauch und Schweiß. Die schwarzen Haare dieses Mannes hingegen waren sauber geschnitten und reichten gerade bis zum Kragen seines Hemds. Seine Kleidung war zwar abgetragen, aber sauber und seine Hose besaß noch immer die militärisch präzise Falte. Nicht einmal ein Dreitagebart zeigte sich auf seinem gebräunten Gesicht. Entweder hatte er sich vor seinem Bordellbesuch rasiert oder er war sogar noch jünger, als er wirkte.
Nora trat einen halben Schritt auf ihn zu. Erfreut nahm sie wahr, dass er nur nach Leder, Seife und einem Hauch von Pferd roch. Vielleicht war dieser Kunde wirklich ein Gentleman. Er ist jung und vermutlich unerfahren, da komme ich sicher mit der Jungfrauennummer durch. Vielleicht hatte Tess sie sogar deswegen diesem Kunden zugewiesen.
Immer, wenn ein naiv wirkender Kunde das Bordell betrat, entweder ein sehr junger Mann oder ein Soldat mit Geld in der Tasche, bot Tess ihm eine Nacht mit einer Jungfrau für den doppelten Preis an. Da Jungfrauen in ihrer Branche selten waren, hatte fast jedes Bordell ein Mädchen, das noch immer jung und unschuldig genug aussah, um damit durchzukommen. Nora war die offizielle Jungfrau von Tess’ Etablissement.
»Mein Name ist Fleur«, sagte Nora. Die meisten Mädchen verwendeten Pseudonyme oder Spitznamen, deshalb gab es viele Marys, Roses und Daisys in Freudenhäusern.
Der Kunde sagte nichts. Nora hatte nicht erwartet oder gewollt, dass er ihr seinen Namen nannte. In ein paar Tagen hätte sie ihn ohnehin vergessen, denn er war nur einer von vielen Kunden.
»Sie sehen ein wenig einsam aus, so ganz allein.« Nora nutzte ihre großen grünen Augen, um das naive, freundliche Mädchen zu spielen, das sie einst gewesen war. »Ich dachte, vielleicht könnte ich Ihnen für eine Weile Gesellschaft leisten.«
Der junge Mann sah sie an, ohne zu antworten. Obwohl sein Blick weder grausam noch anzüglich war, erschauderte sie. Ihr Instinkt sagte ihr, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte. Da sie es sich aber nicht leisten konnte, heute Nacht nicht zu arbeiten, ignorierte sie dieses Gefühl. Sie warf ihm ein zuckersüßes Lächeln zu und schob ihre Hand in seine Armbeuge, so als wäre sie eine Dame und er der Verehrer, der ihr den Hof machte.
Die Muskeln unter ihrer Hand waren hart wie Stein. »Ich habe kein Geld für so etwas.«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Darum wurde sich bereits gekümmert.« Nora streichelte seinen Arm. »Sollen wir auf mein Zimmer gehen, wo es ein wenig ruhiger ist und wir ungestört reden können?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich möchte nur in Ruhe austrinken, dann gehe ich.«
Nora starrte ihn an. Kein Mann, den sie kannte, hatte je ein Bordell besucht, um in Ruhe einen Whiskey zu trinken, und sie glaubte ihm nicht, dass er nur deshalb hier war. »Das können Sie auch oben. In meinem Zimmer habe ich eine viel bessere Sorte.«
»Nein, danke«, sagte der junge Mann. »Ich bin müde und sollte …«
»Müde?« Nora lächelte und zog an seinem Arm, damit er ihr zur Treppe folgte. »Zufälligerweise habe ich ein großes, wunderbar weiches Bett in meinem Zimmer.«
In Wirklichkeit war an ihrem Bett nichts wunderbar. Sie hasste dieses Bett und das, was sie Nacht für Nacht darin tun musste, aber da sie keine besonderen Fähigkeiten, keine Familie und keinen Ehemann hatte, der für sie sorgte, blieb ihr keine Wahl. Lieber würde sie mit diesem seltsamen, aber höflichen jungen Mann nach oben gehen als mit den wilden, betrunkenen Kerlen, die ihr von der anderen Seite der Bar anzügliche Blicke zuwarfen.
»Hey, Leutnant, immer noch hier unten?« Ein bärtiger Soldat lehnte sich neben Nora und ihren potenziellen Kunden an die Theke. Er betrachtete Nora, als wäre sie ein Stück Vieh. »Was ist los? Gefällt Ihnen das Mädchen nicht?«
Nora presste die Lippen zusammen, um nicht zu zeigen, wie demütigend sie diese Bemerkung fand. War das der Grund, warum der junge Mann sich weigerte, mit ihr nach oben zu gehen? Gefielen ihm die anderen Mädchen besser?
Doch er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist sehr hübsch, aber …«
»Dann gehen Sie mit ihr und haben Sie ein bisschen Spaß.« Der bärtige Soldat griff um Nora herum, um dem jüngeren Mann auf die Schulter zu klopfen. »Sie möchten mich doch nicht beleidigen, indem Sie mein Abschiedsgeschenk ablehnen, oder?«
»Nein.« Er seufzte resigniert.
Nora nutzte die Gelegenheit, um ihn zur Treppe zu ziehen und ihn zu ihrem Zimmer in der ersten Etage zu führen. Sie öffnete die Tür und sah zu, wie er den bunten Teppich, die Gemälde nackter Frauen an den Wänden und das Messingbett in der Mitte des Raums betrachtete. Sie schloss hinter ihnen die Tür und lauschte einen Moment lang dem Klang des Klaviers und dem Gelächter, das aus dem Erdgeschoss kam, bevor sie tief durchatmete und sich ihm zuwandte. »Wenn Sie möchten, lasse ich heißes Wasser kommen und Sie könnten ein Bad nehmen«, sagte Nora. Vielleicht würde sie so ihren vermutlich unerfahrenen Kunden am ehesten dazu bekommen, sich auszuziehen.
Er sah sie an. »Das ist nicht notwendig. Ich bin bereits sauber.«
Nora senkte demütig den Kopf. Sie musste aufpassen, ihn nicht zu erzürnen. »Ja, natürlich. Ich wollte nicht das Gegenteil andeuten.«
»Schon in Ordnung«, sagte er.
Sein freundlicher Ton ermutigte sie und ließ sie nähertreten. Vielleicht sollte sie die Rolle der Jungfrau aufgeben und den ersten Schritt machen. »Möchten Sie mich ausziehen?«
»Nein.«
Es lief eindeutig nicht gut. Aber Nora hatte nicht vor, aufzugeben, deshalb begann sie, sich auszuziehen.
Er griff nach ihrer Hand, die eben dabei gewesen war, den dünnen Träger ihres engen Seidenkleids nach unten zu streifen. »Machen Sie das nicht.«
Noras Verwirrung nahm zu. Was wollte er von ihr? Egal, was sie tat, es schien immer das Falsche zu sein. Andere Kunden hatten sie stets attraktiv gefunden und die meisten konnten es kaum erwarten, sie nackt zu sehen. Wieso gefiel sie ihm nicht?
Vielleicht ist er nur schüchtern.Sie beugte sich vor, damit er einen Blick auf ihr Dekolleté erhaschen konnte, doch er sah weiterhin stur auf ihr Gesicht. Sie warf den Kopf zurück, was die weiche, helle Haut ihres Halses entblößte und ihr rotes Haar über ihre nackten Schultern fallen ließ.
Die Bewegung erregte dann doch seine Aufmerksamkeit. Nora fühlte, wie sein Blick dem Pfad ihrer Sommersprossen von ihren Schultern bis zu ihrem Ausschnitt folgte. Dort angelangt sah er schnell wieder in ihr Gesicht zurück, aber der kurze Blick hatte genügt, um Nora wissen zu lassen, dass er doch nicht so uninteressiert war.
»Sie müssen keine Angst haben«, sagte sie. »Ich habe auch keine Angst. Nicht mit Ihnen. Ich weiß, Sie werden sehr sanft sein. Ich bin wirklich froh, dass mein erstes Mal …«
»Sie müssen das nicht tun«, sagte er.
»Was denn?«
»Mir etwas vorspielen. Ich weiß, wie es in diesem Gewerbe zugeht, das Theater ist also unnötig.«
Nora musterte ihn erneut. Er war also nicht so naiv und unschuldig, wie sie angenommen hatte. Sie neigte den Kopf zur Seite und schenkte ihm ein Lächeln, das verführerisch war, gleichzeitig aber auch die unschuldige Neugier der Jungfrau vortäuschte, die sie vorgab zu sein. »Sie haben also schon mit anderen Frauen das Bett geteilt?«
Der junge Mann antwortete nicht, sondern sah sie nur an. Seine grauen Augen waren kühl und scharf wie Stahl. »Ich weiß, dass Sie keine Jungfrau sind.«
Nora musste sich beherrschen, um weiterhin zu lächeln. Normalerweise spielten selbst die Männer, die sie durchschauten, das Spiel gern mit, um ihre Fantasien auszuleben. Doch dieser Mann war anders.
»Und ich weiß, dass Sie mich nicht begehren«, fügte er hinzu. »Sie wollen nicht mit mir ins Bett gehen.«
Nein, er ist ganz und gar nicht naiv.Nora biss sich auf die Lippe. Wollen? Sie unterdrückte ein bitteres Lachen. Es ging nicht darum, was sie wollte, sondern darum, was sie tun musste. Sie brauchte Geld, um ihr Überleben zu sichern, und dieser Mann machte das unmöglich. Ein Blick in seine Augen ließ sie jegliches Schauspiel aufgeben. »Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen und Sie scheinen mir ein anständiger Kerl zu sein, also …« Sie deutete zum Bett.
Er wandte sich von ihr ab. Seine Kleidung raschelte.
Mit grimmiger Befriedigung begann Nora, das Oberteil ihres Kleids aufzuschnüren. Nun, da er sich endlich auszog, wollte sie keine Zeit mehr verschwenden.
Doch als er sich wieder umdrehte, hatte er kein einziges Kleidungsstück abgelegt. Wortlos hielt er ihr zehn Dollar hin.
Nora machte keinerlei Anstalten, das Geld zu nehmen. »Was ist das?«
»Sie haben gesagt, Sie müssten Ihren Lebensunterhalt verdienen.« Wieder streckte er ihr das Geld hin.
»Nein.« Nora trat beiseite. »Ich brauche keine Almosen. Ich nehme das Geld, das mir für meine Dienste zusteht, keinen Cent mehr.« Sie wusste, dass sie sich als Prostituierte Stolz eigentlich nicht leisten konnte, doch sie war zu wütend, ängstlich und verwirrt, um klar zu denken. Es bereitete ihr Sorgen, dass dieser junge Mann ihre Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte und gänzlich unbeeindruckt von ihren Verführungskünsten schien. Offenbar hatte er mehr als einmal Tess’ Bett geteilt, also lag es nicht daran, dass er Prostituierte generell ablehnte. Es lag an ihr. Ihr Leben hing von ihrer Fähigkeit ab, Männer zu verzaubern. War sie dabei, dieses Talent zu verlieren?
»Nun gut.« Er steckte das Geld weg und ging zur Tür.
Das Blechschild, das unten neben dem Eingang hing, fiel Nora ein. Darauf stand: Wenn Sie nicht zufrieden sind, wird Ihr Geld zurückerstattet.
Wenn er jetzt ging, würde sie heute Nacht keinen Cent verdienen. Nach den Geräuschen zu urteilen, die durch die dünnen Wände drangen, waren die meisten Kunden längst mit den anderen Mädchen nach oben gegangen. »Bitte.« Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
Er sah über die Schulter zurück und einen Moment lang nahm sie etwas in seinen Augen wahr, das fast wie Bedauern wirkte. Dann setzte er seinen Hut auf und trat nach draußen. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Independence, Missouri,29. April 1851
Luke trieb ihre Appaloosa-Stute an, um den Mietstall schneller zu erreichen, in dem sie für ihr Pferd eine Box gemietet hatte.
Auf der Hauptstraße von Independence herrschte das reinste Chaos. Überall um sie herum verhandelten Männer lautstark die Preise für ihre Vorräte, während andere brüllend und fluchend die Ochsen- oder Maultiergespanne antrieben, mit denen sie noch nicht umzugehen wussten. Maultiere schrien, als zwei Wagen zusammenprallten. Alles wurde übertönt vom Hämmern, das aus zahlreichen Schmieden drang, wo die Auswanderer ihre Planwagen reparieren und ihre Pferde und Ochsen beschlagen ließen.
Luke war jahrelang ganz in der Nähe stationiert gewesen. Sie konnte kaum glauben, dass dies das verschlafene Nest war, das sie oft an Zahltagen aufgesucht hatte. Im Frühjahr erwachte Independence aus seinem Schlaf. Auswanderer begannen, per Schiff oder in Planwagen einzutreffen, und Ende April kampierten Tausende in und um Independence herum, sodass die Stadt aussah, als herrschte der Belagerungszustand. Die Hügel, die sich zwischen der Stadt und den schlammigen Ufern des Missouri River erstreckten, waren übersät von Zelten und hastig errichteten Hütten. Kneipen, Spielhöllen und Freudenhäuser schienen über Nacht aus dem Boden zu schießen.
Um diese Jahreszeit war das Präriegras endlich hoch genug, um genug Futter für das Vieh zu liefern. Die Auswanderer machten sich hastig auf den Weg, um die zweitausend Meilen lange Reise beenden zu können, bevor auf den hohen Bergpässen der erste Schnee fiel. Wenn die Wagenzüge weg waren, würde Independence wieder zu einem verschlafenen Städtchen werden, doch diesmal würde Luke nicht mehr hier sein, um diese Verwandlung mit anzusehen.
Übermorgen würde sie sich einem Wagenzug nach Westen anschließen und ein neues Leben beginnen. Mehr als ein Jahrzehnt lang waren die zugigen Baracken verschiedener Militärstützpunkte ihr Zuhause gewesen. Nun sehnte sie sich nach einem Ort, den sie ihr Eigen nennen und wo sie tun und lassen konnte, was sie wollte.
Doch von diesem Traum trennten sie zweitausend Meilen. Dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der geeignete Ort, um an die Pferderanch zu denken, die sie sich in Oregon aufbauen wollte.
Zuerst einmal musste sie einen Weg finden, sechs Monate lang auf engstem Raum mit den anderen Angehörigen des Wagenzugs zusammenzuleben. Auf dieser Reise würde es noch weniger Privatsphäre geben als in den Militärbaracken, sodass sie ständig auf der Hut sein musste. Das Leben als Zivilist war unberechenbarer als die tägliche Routine eines Soldaten. Sie wusste, dass niemand, der sie beobachtete, ihre wahre Identität erraten würde. Luke hatte so lange als Mann gelebt, dass sie sich nicht länger verstellen musste. Selbst in ihren eigenen Gedanken war sie Luke Hamilton, ein ehemaliger Leutnant, keine Frau. Doch ihre Gedanken und ihr Auftreten waren eine Sache, die Realität ihres Körpers eine andere. Zu baden oder sich zu erleichtern, würde ein echtes Problem darstellen. Die guten Lagerplätze waren oft überfüllt und sie würde ständig Gefahr laufen, entdeckt zu werden.
Als sie den Mietstall erreichte, schob sie ihre Sorgen beiseite. Vor dem Gebäude züngelten Flammen in der Esse eines Schmieds, als er den Blasebalg betätigte.
Luke stieg ab und führte ihr Pferd auf die Stalltür zu.
Der Mietstallbesitzer erschien und griff wortlos nach den Zügeln.
In diesem Moment schoss eine kleine Gestalt um die Ecke und prallte mit Luke zusammen.
Ihre Stute scheute und warf den Kopf zurück, dabei versuchte sie, dem Stallbesitzer die Zügel zu entreißen. Ein Vorderhuf donnerte nur knapp an seiner Schläfe vorbei.
Instinktiv fing Luke den kleinen Körper auf, der gegen sie geprallt war, und starrte auf das Kind hinab, das sich an ihrem Bein festhielt. Wäre es ein Pferd oder ein angriffslustiger Hund gewesen, hätte Luke gewusst, was zu tun war, doch mit Kindern hatte sie keinerlei Erfahrung.
Das kleine Mädchen starrte mit großen Augen zu ihr auf und drückte ihre Puppe Schutz suchend an ihre Brust.
Bevor Luke etwas sagen oder tun konnte, brüllte der Stallbesitzer los und packte das Mädchen brutal am Arm.
