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Wenn Masken fallen, bleibt nur die Wahrheit – und die Liebe. Obwohl ihre Ehe als reine Zweckgemeinschaft begann, verliebt sich Nora auf der gefährlichen Reise in das ferne Oregon langsam in ihren Ehemann. Sie ahnt nicht, dass Luke in Wahrheit eine Frau ist. Luke erwidert ihre Gefühle, doch sie fürchtet, dass Nora ihr wahres Ich nicht akzeptieren würde. Als Luke verletzt wird und Nora ihr Geheimnis herausfindet, bricht für Nora eine Welt zusammen. Gibt es für die beiden trotzdem eine gemeinsame Zukunft?
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Inhaltsverzeichnis
Karte: Oregon Trail 1851
VORWORT DER AUTORIN
Ice Slough, 7. Juli 1851
South Pass, 12. Juli 1851
Pacific Springs, 12. Juli 1851
Parting of the Ways, 14. Juli 1851
Big Sandy River, 14. Juli 1851
Green River Wüste, 15. Juli 1851
Soda Springs, 24. Juli 1851
Soda Springs, 24. Juli 1851
Sheep Rock, 25. Juli 1851
Fort Hall, 29. Juli 1851
Fort Hall, 5. August 1851
American Falls, 8. August 1851
Thousand Springs, 17. August 1851
Two Island Crossing, 23. August 1851
Fort Boise, 29. August 1851
Farewell Bend, 5. September 1851
Flagstaff Hill, 9. September 1851
Grande Ronde, 12. September 1851
In den Blue Mountains, 14. September 1851
Crawford Hill, 15. September 1851
Umatilla River, 16. September 1851
Fifteenmile Creek, 30. September 1851
Big Laurel Hill, 7. Oktober 1851
Sandy River, 9. Oktober 1851
Devil’s Backbone, 10. Oktober 1851
Philip Fosters Farm, 11. Oktober 1851
Oregon City, 13. Oktober 1851
Hamilton Pferderanch, Baker Prairie, Oregon, 27. April 1853
Über Jae
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Aus dem Gleichgewicht
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Ein Happy End kommt selten allein
Alles nur gespielt
Aus dem Gleichgewicht
Perfect Rhythm – Herzen im Einklang
Hängematte für zwei
Herzklopfen und Granatäpfel
Vorsicht, Sternschnuppe
Cabernet & Liebe
Die Hollywood-Serie:
Liebe à la Hollywood
Im Scheinwerferlicht
Affäre bis Drehschluss
Die Portland-Serie:
Auf schmalem Grat
Rosen für die Staatsanwältin
Die Serie mit Biss:
Zum Anbeißen
Coitus Interruptus Dentalis
Die Gestaltwandler-Serie:
Vollmond über Manhattan
Oregon-Serie:
Westwärts ins Glück (Band 1)
VORWORT DER AUTORIN
In Band 1 von Westwärts ins Glück haben sich Luke und Nora auf ungewöhnliche Weise in einem Bordell kennengelernt und sich gemeinsam einem Wagenzug ins ferne Oregon angeschlossen. In Band 2 geht die gefahrenreiche Reise der beiden nun weiter.
Viele spannende Lesestunden auf dem Weg nach Oregon wünscht
Jae
Ice Slough,7. Juli 1851
Luke hob ihren schmerzenden Arm und ließ die Peitsche knallen, damit die müden Ochsen nicht stehen blieben. Die Zugtiere stemmten sich mit gesenkten Köpfen gegen die rasselnden Ketten. In der Hitze bewegten sie sich sogar noch langsamer als sonst, zu langsam, um den Staubwolken zu entkommen. Der Staub war überall – auf ihrer Kleidung, auf den Rücken der Ochsen und Pferde und sogar im Essen.
Selbst Noras rötliche Augenbrauen waren fast weiß von der Staubschicht. Sie nieste und leckte sich die rissigen Lippen.
»Gesundheit«, sagte Luke.
Nora nickte nur, als wäre sie zu müde, um zu antworten.
Nach zweimonatiger Reise waren alle erschöpft, obwohl sie noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten. Luke hatte gewusst, dass es anstrengend werden würde, doch nie hätte sie vorhersehen können, dass sie die Rocky Mountains mit einer schwangeren Frau – ihrer schwangeren Frau – überqueren musste. Auch hätte sie nie gedacht, dass ihr derart viel an Noras Wohlergehen liegen würde. Ihre Beschützerinstinkte liefen auf Hochtouren.
Sie blinzelte gegen die grelle Sonne an und sah sich um, in der Hoffnung, einen Rastplatz für Nora und die anderen zu entdecken. Hinter ihnen lagen Meilen ohne jeden Schatten, doch vor ihnen tauchte nun ein flaches Becken auf, in dem grün-braune Büschel Sumpfgras wuchsen. Wasser glitzerte silbern in der Sonne. »Haltet die Ochsen zurück«, rief Luke den anderen Wagen zu. »Das Wasser ist alkalihaltig und giftig!«
Nora starrte sehnsüchtig zum Wasser, marschierte dann aber seufzend weiter.
»Hättet ihr beide gern ein Glas kühle Limonade mit Eis?«, fragte Luke Nora und ihre Tochter grinsend.
»Du bist gemein, Lucas Hamilton«, sagte Nora. »Hör auf, uns etwas unter die Nase zu reiben, was wir nicht haben können.«
Luke hob den Arm zum Zeichen, dass die Wagen hinter ihnen halten sollten. »Dann lass uns mal sehen, wie gemein ich bin.« Sie holte einen Spaten und nahm Noras Arm, damit sie auf dem sumpfigen Boden nicht stolpern würde.
Nora hielt Amy ihre freie Hand hin. Zu dritt spazierten sie vorsichtig durch das kleine Tal.
Nach einer Weile blieb Luke stehen und begann, mit dem Spaten das Sumpfgras zu entfernen. Schließlich rammte sie den Spaten einige Male in den Boden. Grinsend förderte sie einen Block Eis zutage. »Bitte schön, die Damen. Hier ist das versprochene Eis.«
Mit einem begeisterten Kreischen nahm sich Amy ein bisschen Eis und steckte es sich in den Mund.
»Keine Sorge«, sagte Luke, als sie Noras entsetzten Blick sah. »Das Eis ist in Ordnung. Da ist kein Alkali drin.«
Vorsichtig nahm Nora ein Stückchen Eis und berührte damit ihre aufgesprungenen Lippen. »Wo kommt mitten im Juli das Eis in dieser Einöde her?«
»Das Wasser gefriert im Winter«, sagte Luke. »Das Sumpfgras und das Ried fungieren als isolierende Schicht und sorgen dafür, dass das Eis bis zum Sommer gefroren bleibt.« Sie genoss es, Nora und Amy ein wenig verwöhnen zu können, auch wenn es nur mit einem Glas eiskalter Limonade war.
Während Nora und Bernice die versprochene Limonade zubereiteten, gruben Luke und die Männer große Eisblöcke aus und legten sie in die Fässer, sodass sie kühles Wasser für die Weiterreise haben würden.
Nach einer kurzen Pause fuhren sie weiter. Luke überließ Nora das Lenken der Ochsen und ritt voraus, um nach einem Lagerplatz für die Nacht Ausschau zu halten. Sie ritt nach Westen, immer dem Sweetwater River entlang. Ab und zu döste sie in der sengenden Sonne im Sattel ein.
Plötzlich gab der Erdboden unter ihr nach. Masern schnaubte panisch.
Luke entglitten die Zügel, als sie über den Kopf der Stute hinweggeschleudert wurde. Noch in der Luft versuchte sie, sich zu drehen, um sich abzufangen, doch der Boden war bereits zu nah.
Der Aufprall war so hart, dass er ihr den Atem nahm. Ein gezackter Fels riss ihr den Unterarm auf, als sie über den Boden schlitterte. Dann lag sie endlich reglos da. Vorsichtig bewegte sie einen Arm, dann ein Bein. Nichts schien gebrochen zu sein.
Stöhnend erhob sie sich und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Als sie sich nach Masern umsah, begann ihr Herz zu hämmern.
Das Pferd strampelte hilflos und kämpfte gegen den Treibsand an. Schon jetzt steckte sie bis zum Bauch im Sand und ihr Strampeln ließ sie noch tiefer sinken.
Luke rannte zu ihr, wobei sie darauf achtete, nicht auch noch selbst einzusinken. Sie griff nach den Zügeln, merkte aber schnell, wie sinnlos es war, daran zu ziehen. Stattdessen versuchte sie, die Stute von hinten anzuschieben.
Es half nichts. Der Sand stieg Maserns Flanken hinauf.
Luke raste zur anderen Seite und zog stattdessen an ihrem Hals, doch das brachte genauso wenig. Ihr Blick huschte auf der Suche nach etwas umher, mit dem sie Masern herausziehen konnte.
Über ihr kam der erste Wagen über die Kuppe des Hügels.
Fast wäre Luke vor Erleichterung auf die Knie gesunken. »Jacob! Tom! Ich brauche Hilfe!«
Die Männer ließen die Wagen stehen und rannten zu ihr. Jacob Garfield warf ein Seil um den Hals der Stute und zog mit seinen Söhnen, während Tom Buchanan, Brody und sogar Bill Larson von hinten schoben.
Nora eilte hinzu, um ihnen zu helfen.
»Nein.« Luke nahm eine Hand vom Sattelhorn und hielt sie zurück. »Du nicht. Die anderen können mir helfen.« Auf keinen Fall würde sie eine Fehlgeburt riskieren, selbst wenn es bedeuten sollte, dass sie Masern deshalb verlor.
Nora wandte den Blick ab.
Einen Moment lang konnte Luke ihr am Gesicht ablesen, wie verletzt sie war, bevor Nora ihre Gefühle wieder hinter einer undurchdringlichen Maske versteckte. Das hatte sie sicher in ihrer Zeit im Bordell gelernt. Luke bereute ihren unwirschen Tonfall sofort, aber sie hatte keine Zeit, um sich zu entschuldigen. Sie stemmte die Absätze in den Boden und zog mit aller Kraft.
Von irgendwoher kam ein zweites Seil angeflogen und sie band es am Sattelhorn fest. Mit vereinten Kräften zogen sie das verängstigte Pferd Stück für Stück aus dem Treibsand. Schließlich stand Masern mit zitternden Flanken am Flussufer.
Auch Luke zitterte am ganzen Körper. Masern war der Schlüssel zum Erfolg ihrer geplanten Pferderanch. Doch sie bedeutete Luke mehr als nur das. Die Stute war jahrelang ihre treue Gefährtin gewesen und hatte sie durch ein Dutzend Schlachten und lange Expeditionen begleitet. Nun hätte sie diese alte Kameradin beinahe verloren.
Wenn ihre Mitreisenden nicht gewesen wären, hätte die Stute nicht überlebt. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Auf wackeligen Beinen ging sie zu Nora hinüber, die eine weinende Amy im Arm hielt. »Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe«, sagte Luke. »Ich möchte nur nicht, dass dir oder dem Baby irgendetwas zustößt. Ich wollte Masern nicht retten, indem ich dich womöglich verliere.«
Einige Sekunden lang stand Nora reglos da. Über Amys Kopf hinweg starrte sie Luke an. Vermutlich war sie es nicht gewöhnt, dass jemand sich bei ihr entschuldigte. Früher waren Leute auf ihr herumgetrampelt, ohne sich um ihre Gefühle zu scheren. »D-daran habe ich nicht gedacht. Ich habe nur gesehen, wie Masern einsinkt, und …«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Luke. »Niemand ist verletzt worden, nicht du und auch nicht Masern. Das ist alles, was zählt.«
Nora atmete zittrig aus. Ohne zu antworten, trug sie ihre Tochter zu Masern hinüber, damit Amy die Stute streicheln konnte.
South Pass,12. Juli 1851
»Wo ist Amy?«, fragte Bernice, als sie mit ihrer jüngsten Tochter Hannah zu Nora herüberkam.
Nora zeigte in Richtung Horizont. »Luke hat sie auf eine Erkundungstour mitgenommen.«
»Das Mädchen ist völlig in ihren Vater vernarrt.« Bernice lächelte liebevoll.
Nora seufzte. »Ja, das ist sie.« Sie starrte in die Ferne, wo schneebedeckte Gipfel über ihnen aufragten. Die weiß-braunen Bergflanken sahen aus wie Schokoladenkuchen, der mit Puderzucker bestreut worden war.
»Was hältst du von Sarah?«
Sarah? Nora hatte verpasst, was Bernice zuvor gesagt hatte. »Welche Sarah?« Mindestens drei Frauen des Wagenzugs trugen diesen Namen.
Bernice rollte mit den Augen, lächelte aber weiterhin. »Ich spreche von einem Namen für dein Baby. Hast du dir noch keine Namen überlegt?«
Nein, das hatte Nora nicht getan. Zwar war es nicht mehr sehr lange bis zur Geburt, doch sie hatte sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnt, dass sie bald ein Kind zur Welt bringen würde. Erst seitdem Luke versprochen hatte, das Baby als sein eigenes anzusehen, freute sie sich auf das Kind. »Ich weiß noch nicht, wie wir das Baby nennen werden.«
»Gibt es auf Lukes Seite des Familienstammbaums keine schönen Namen?«, fragte Bernice.
Nora schluckte. Wieder wurde ihr bewusst, wie wenig sie von ihrem Ehemann wusste. »Ich muss ihn mal fragen, ob er irgendwelche Lieblingsnamen hat.« Auf der Suche nach einem Thema, das Bernice ablenken würde, deutete sie auf zwei Hügel, die vor ihnen auftauchten. »Ist das South Pass?«
»Ich glaube nicht. Der Pass über die Rocky Mountains ist doch sicher sehr viel steiler.«
»Da geht Ihre Fantasie mit Ihnen durch, verehrte Mrs. Garfield«, sagte eine Männerstimme hinter ihnen.
Nora musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer gesprochen hatte. Brody Cowen schlich schon um ihren Wagen herum, seit Luke mit Amy davongeritten war.
»Es mag mehr wie eine Wiese wirken, aber das ist tatsächlich South Pass.« Brody deutete auf den windgepeitschten, mit Salbeisträuchern überwucherten Hang vor ihnen, doch sein Blick blieb auf Nora gerichtet. »Wenn Sie vorausreiten, könnten Sie die Erste sein, die auf der anderen Seite der Rockies ankommt und das Oregon-Territorium betritt.«
»Bitte, Mama.« Hannah zog an der Hand ihrer Mutter. »Lass uns gehen. Ich will die Erste sein, die Oregon betritt.«
Seufzend ließ sich Bernice zu dem Reitpferd zerren, das hinter ihrem Wagen angebunden war.
Nora erschauderte, doch es hatte nichts mit der kühlen Bergluft zu tun. Hilflos sah sie zu, wie die Garfields davonritten.
»Endlich allein.« Cowen grinste schief, doch in seinem Blick lagen weder Humor noch Güte.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Nora. Zu ihrem Unmut musste sie feststellen, dass ihre Stimme kaum mehr als ein zittriges Flüstern war.
Cowen griff nach ihr. »Ach, wo bleibt denn da der Spaß? Aber keine Sorge, ich bezahle dich sogar. Es soll dein Schaden nicht sein, wenn du nett zu mir bist.«
Nora wollte sein Geld nicht. Sie wollte gar nichts von ihm, aber ihre Stimmbänder versagten ihr den Dienst, sodass sie ihm das nicht sagen konnte. Viel zu lang war es ihr nicht gestattet gewesen, ihre Wünsche zu äußern. »Mr. Cowen …«
»Du kannst mich Brody nennen«, sagte er.
»Nein, ich …«
»Du glaubst wohl, du wärst zu gut für mich.« Er umklammerte ihre Handgelenke mit seinen breiten Pranken. Unsanft zog er sie an sich. »Mal sehen, ob du das immer noch glaubst, wenn ich mit dir fertig bin. Es wird dir gefallen. Wart’s nur ab.«
Nora begann zu strampeln, war aber gegen seine Umklammerung genauso hilflos, wie Masern gegen den Sog des Treibsands gewesen war.
»Brody? Nora?« Lukes Stimme vereitelte Cowens Pläne. »Was ist hier los?«
»Nichts«, antwortete Cowen und ließ Nora los. »Wir unterhalten uns nur, stimmt’s?« Er legte einen Arm um Noras Schultern, doch sie wich vor ihm zurück.
Lukes Blick glitt zwischen ihnen hin und her. »Nora? Stimmt das?«
Zum ersten Mal in ihrem Leben war jemand bereit, ihr zu glauben, obwohl ein Mann etwas anderes behauptete. Sag es ihm, verlangte eine Stimme in ihrem Kopf, doch eine andere warnte: Cowen wird sich rächen, wenn du das tust. Er wird seine Unschuld versichern und wenn Luke ihm glaubt, bist du am Ende die Dumme.
»Nora?«, fragte Luke erneut. »Bitte sag mir, was hier vorgeht.«
Nora machte einen Schritt von Cowen weg und suchte stattdessen Lukes schützende Nähe. Ihre Angst ließ etwas nach, als sie in seine vertrauten grauen Augen blickte. Dann fiel ihr Blick auf Amy, die vor Luke im Sattel saß. Ihr Kleid war mit Erbrochenem bekleckert. »Amy! Schatz, was ist passiert?« Nora vergaß ihre eigene Notlage, als sie zu ihrer Tochter eilte und sie in die Arme nahm.
»Sie hat sich übergeben«, erklärte Luke, obwohl es offensichtlich war. »Wir sind nicht sehr schnell geritten. Wirklich nicht. Sie muss etwas Falsches gegessen haben.«
Nora führte Amy zum Wagen. Luke folgte ihr.
Brody Cowen verschwand eilig, als sie begann, sich um ihre Tochter zu kümmern.
»Nora?« Über ihre Schulter hinweg warf Luke einen Blick auf das Mädchen, das immer noch ein wenig grün um die Nase war.
»Du trägst keine Schuld«, sagte Nora. »Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Manchmal wird Kindern einfach schlecht. Aber mit etwas Ruhe ist sie morgen wieder ganz die Alte.«
»Nora?«, sagte Luke erneut.
Seufzend drehte sich Nora um. Sie starrte auf seinen Hemdkragen, da sie ihm nicht in die Augen sehen wollte.
»Sieh mich an, Nora. Bitte.«
Sie hob den Kopf.
Seine Augen waren neutral, verurteilten sie nicht. »Was ist zwischen dir und Brody vorgefallen?«
Nichts, was nicht schon hundert Mal davor passiert wäre, und ich bin sicher, es wird noch öfter geschehen, egal, wo ich hingehe. Nora zögerte. Ein Teil von ihr wollte ihr Schweigen brechen und Luke die Wahrheit sagen. Doch in der Vergangenheit hatte es ihr nie etwas gebracht, wenn sie sich über ungerechte Behandlung beschwert hatte. Es war immer besser gewesen, alles stumm zu ertragen.
Luke trat näher. Mit einem Finger hob er ihr Kinn an, bis sie ihm in die Augen sah. »Hast du Angst vor ihm?«
»Er …« Nora schnappte nach Luft. »Er hat mich angefasst. Er hat versucht, mich zu begrapschen und zu küssen.«
Lukes sonnengebräunte Haut wurde blass.
Nora biss die Zähne zusammen. Würde er ihr glauben oder würde er davon ausgehen, dass sein Freund niemals eine Frau belästigen würde? Aus irgendeinem Grund schien er Brody zu bewundern und blind gegenüber dessen schlechten Eigenschaften zu sein.
»Er hat dich angefasst?« Lukes Gesichtsfarbe wechselte von bleich zu rot. »Warum hast du ihn nicht abgewehrt? Oder wenigstens um Hilfe gerufen?«
Nora zuckte mit den Schultern. Wenigstens glaubte er ihr, doch sie wusste nicht, wie sie ihm das erklären sollte.
»Warum hast du einfach nur dagestanden und ihm erlaubt, dich anzufassen?« Zorn schwang in Lukes Stimme mit.
»Ich … ich weiß nicht«, stotterte Nora. »Ich habe nie gelernt, mich zu wehren.«
Luke schloss die Augen und atmete tief durch. Als er die Augen wieder öffnete, war er ruhiger. »Es ist nicht deine Schuld. Früher war es dir nicht gestattet, dich zu wehren. Aber dieser Teil deines Lebens ist vorbei. Du darfst dich zur Wehr setzen, wenn dich jemand ohne Erlaubnis anfasst.«
Ich darf mich wehren. Nora war froh, das zu hören, aber sie hatte keine Ahnung wie. Gegen einen großen, starken Mann wie Brody Cowen anzukämpfen, war sinnlos. »Ich weiß nicht, wie ich mich wehren soll«, sagte sie und wandte den Blick ab.
»Dann kommst du zu mir und erzählst mir, was passiert ist. Ich werde versuchen, dich zu beschützen«, sagte Luke mit entschlossener Miene.
»Aber du kannst ja nicht immer da sein. Er ist schlau. Er wartet, bis du gerade nicht da bist, bevor er sich mir nähert.«
Lukes Kinnlade klappte nach unten. »Er hat dich schon mal belästigt?«
Nora ließ den Kopf hängen.
»Du hättest es mir sagen können.«
Nora nickte, noch immer ohne ihn anzusehen. »Ja, ich weiß.«
»Warum hast du es dann nicht getan?«
»Ich wusste nicht, ob du mir oder Brody Cowen glauben würdest.« Als Luke den Mund öffnete, vermutlich, um zu widersprechen, fügte Nora hinzu: »Und ich wollte dich nicht in eine derart komplizierte Situation bringen.«
»Die Situation scheint mir ganz einfach zu sein. Du bist meine Frau und …«
»Und er eine Art Vaterersatz für dich. Wenigstens hatte ich den Eindruck, dass du dir das wünschst«, sagte Nora. Sie hatte beobachtet, wie er sich Cowens Meinung anschloss und seinem Rat folgte. Scheinbar erwartete er nur das Beste von dem älteren Mann. Luke musste eine glücklichere Kindheit gehabt haben als sie. Noras Vater hatte sie nie beachtet. Nur seine Geschäfte und seine drei Söhne waren ihm wichtig gewesen. Als sein Vorhaben, sie mit dem Sohn eines Geschäftspartners zu verheiraten, fehlgeschlagen war, konnte er sie nicht länger gebrauchen und hatte sie auf die Straße gesetzt.
Luke betrachtete finster die verblassten Blutergüsse an Noras Handgelenken. »Nicht, wenn er meine Frau belästigt.«
Nora musste schlucken, als sie ihm in die Augen sah. Mehrfach hatte er ihr gesagt, sie solle sich in Oregon einen besseren Mann suchen, doch nun lag etwas Besitzergreifendes in seinem Blick. »Was, wenn er sich weigert, damit aufzuhören?«, fragte Nora.
Einen Moment lang schwieg Luke.
Nora wusste, dass er immer versucht hatte, ein ruhiges Leben zu führen. Auf der Reise war fast jeder Mann des Wagenzugs zumindest einmal in eine Schlägerei oder einen lautstarken Streit verwickelt gewesen. Jeder außer Luke. Egal, wie sehr andere ihn auch provozierten, er ging einfach schweigend davon. Er war kein Feigling, aber Nora war sich dennoch nicht sicher, ob er ihretwegen einen Kampf mit Brody riskieren würde. Wollte sie das überhaupt?
Lukes Kiefermuskeln spannten sich an. »Dann werde ich ihn dazu zwingen, aufzuhören.«
Vor Noras innerem Auge sah sie, wie Brody Luke eine Kugel in den Kopf jagte. Sie schloss die Augen. »Nein. Das ist es nicht wert. Ich bin sicher, er wird aufhören.«
»Was, wenn nicht?« Luke schüttelte den Kopf. »Dieses Risiko gehe ich nicht ein. Ich stelle ihn jetzt sofort zur Rede.«
Nora hielt ihn am Ärmel fest. »Nein. Nein, bitte nicht. Wenn du das machst, bekommen es alle mit und werden wissen wollen, was passiert ist. Brody wird ihnen sagen, dass ich eine Hure war. Dann werden es alle wissen. Das möchte ich nicht. Bitte.«
Luke zögerte. »Wie soll ich dich dann beschützen? Wie du eben gesagt hast, ich kann nicht immer da sein.« Er legte die Hand auf den Griff seines Revolvers und nagte an seiner Unterlippe. »Ich sollte dir wenigstens beibringen, wie du dich verteidigen kannst.«
Ich? Ich soll lernen zu kämpfen? Nora hatte ihre Zweifel, doch andererseits konnte es ihr nur nützen, wenn sie lernte, sich zur Wehr zu setzen, egal, mit wem sie den Rest ihres Lebens verbringen würde. »Das würdest du tun?«
Luke nickte.
Eine weitere Sache, die er für mich tut. »Ich könnte dir im Gegenzug das Lesen und Schreiben beibringen«, sagte sie. Andere Gegenleistungen hatte er wiederholt abgelehnt, aber das war etwas, das sie für ihn tun konnte.
»Mal sehen«, sagte er. »Der Unterricht in Selbstverteidigung ist wichtiger. Sollen wir heute Abend anfangen, nachdem Amy im Bett ist?«
»Einverstanden.« Es war das seltsamste Rendezvous, zu dem sie sich je verabredet hatte.
Pacific Springs,12. Juli 1851
Luke lehnte sich gegen den Wagen und hauchte in ihre Hände, um sie zu wärmen. Heute Nachmittag hatten sie die Passhöhe der Rocky Mountains überquert. Der Auf- und Abstieg durch den South Pass war so sanft gewesen, dass sie kaum glauben konnten, auf der anderen Seite angekommen zu sein, bis sie Pacific Spring erreicht hatten, eine grüne Oase inmitten der Einöde.
Die Tiere grasten zufrieden und die anderen Auswanderer feierten, endlich das Oregon-Territorium erreicht zu haben. Niemand würde Nora und sie vermissen und Bernice hatte versprochen, hin und wieder nach Amy zu sehen, während sie angeblich einen romantischen Spaziergang am Bach machten.
Sie neigte den Kopf und lauschte der Geschichte, die Nora Amy im Wagen vorlas. Mittlerweile war es ein heimliches Vergnügen, das sie sich jeden Abend gönnte. Ihre eigene Mutter hatte ihr nie etwas vorgelesen.
Schließlich kam Nora beim Happy End der Geschichte an und es wurde still, vermutlich, weil sie ihrer Tochter einen Gute-Nacht-Kuss gab. Nach einer Weile schlüpfte sie aus dem Wagen. Sie erstarrte und blickte in Lukes Richtung.
»Ich bin’s nur.« Luke trat in den Lichtkegel der Öllaterne, die an der Seite des Wagens hing.
Nora atmete auf und lächelte, als hätte sie sich keine Sekunde lang gefürchtet.
Doch Luke wusste es besser. Sie schwor sich, alles zu tun, damit Nora in Zukunft keine Angst mehr haben musste.
Leise verließen sie die Wagenburg und spazierten den Bach entlang, bis sie weit genug vom Lager entfernt waren, um nicht gesehen oder gehört zu werden.
Luke blieb stehen und krempelte die Ärmel hoch.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, sagte Nora.
Luke sah von ihren Ärmeln auf und blickte Nora fragend an.
»Gegen Cowen habe ich keine Chance. Er ist viel größer und stärker als ich.«
»Du brauchst ihn nicht zu schlagen«, sagte Luke. »Du musst ihn nur lange genug abwehren, um weglaufen oder um Hilfe rufen zu können. Meinst du, das schaffst du?«
Nora straffte die Schultern. »Zeig mir wie.«
»In Ordnung. Ich spiele Brody und du bist du selbst. Also, was macht er für gewöhnlich?«
»Er … er packt mich.«
Ein lebhaftes Bild entstand vor Lukes innerem Auge. Zorn kochte in ihr hoch und trieb ihr die Hitze ins Gesicht. Sie atmete tief durch. »Wie?«
»Er packt mich an den Handgelenken.« Nora führte es vor, indem sie die Finger um das Handgelenk ihres anderen Arms schloss.
Luke umfasste Noras Handgelenke. »So?«
»Nein, er umklammert beide Handgelenke mit einer Hand, sodass er mich mit der anderen anfassen kann«, sagte Nora. »Und er ist viel brutaler.«
Nickend legte Luke Noras Handgelenke übereinander und umklammerte sie mit ihrer Linken. Da ihre Hände nicht so groß wie die von Brody waren, war es nicht einfach, sie auf diese Weise festzuhalten, vor allem, da sie Nora dabei nicht wehtun wollte. »Und dann? Was macht er dann?«
»Er zieht mich an sich, so dicht es geht, bis ich seinen Atem im Gesicht spüre.« Nora schüttelte sich.
Luke sah auf sie herab. »Wir müssen das nicht tun.«
»Doch. Doch, das müssen wir. Ich will lernen, wie ich ihn aufhalten kann.«
Luke schaute ihr in die Augen. Diesmal hielt Nora ihrem Blick stand. Nie hätte Luke gedacht, dass sie einmal eine ehemalige Prostituierte bewundern würde, doch Nora hatte sich ihren Respekt verdient. »Na gut.« Nun war sie es, die zögerte. Langsam zog sie Nora an sich.
»Noch enger«, flüsterte Nora. »Er hält mich so eng an sich gepresst, dass ich mich nicht rühren kann.«
Luke zog Nora noch näher. Noras Bauch drückte gegen ihre Hüfte und ihr Atem benetzte Lukes Hals. Luke brauchte all ihre Selbstbeherrschung, um sich auf das zu konzentrieren, was sie Nora beibringen wollte. »Was tust du, wenn er dich auf diese Weise festhält?«
»Ich versuche, mich zu befreien, aber das führt nur dazu, dass er mich noch fester hält.« Nora führte vor, wie sie strampelte, was ihre Körper noch dichter aneinanderpresste.
Gütiger Himmel. Luke hielt nur mit Mühe ein Stöhnen zurück. »Und dann?« Ihre Stimme klang rau.
»Dann versucht er, mich zu küssen.« Nora hörte auf, sich zu wehren, und sah zu ihr auf.
Das nachzustellen, war keine gute Idee. Luke konnte den Blick nicht von Noras Mund abwenden. Ohne dass sie sich bewusst dazu entschieden hätte, hob sie die Hand und berührte Noras weiche Wange.
Nora wich nicht zurück. Sie sah zu Luke auf.
Beide neigten sich einander entgegen. Dann berührten sich ihre Lippen. Noras Handgelenke – und jeglicher Bezug zur Realität – entglitten Luke. Sie spürte, wie Noras Finger ihren Nacken hinauf und durch ihre Haare glitten, während Nora den Kuss vertiefte.
Noras Zunge neckte ihre Unterlippe und bat um Einlass, den Luke ihr gewährte, ohne darüber nachzudenken.
Sie war sich nicht sicher, ob sie aufgehört hatte zu atmen, doch plötzlich wurde ihr schwindelig. Keuchend unterbrach sie den Kuss und wich zurück. »Tut mir leid. Das war ganz sicher nicht das, was ich dir zeigen wollte.«
»Na ja, aber es war definitiv angenehmer, als misshandelt zu werden«, sagte Nora mit dem verführerischen Lächeln, das sie vermutlich im Bordell gelernt hatte. Doch in ihren Augen stand dieselbe Verwirrung geschrieben, die auch Luke empfand.
»Du musst lernen, dich zu verteidigen«, sagte Luke. Sie wappnete sich, um diesmal nicht auf Noras Nähe zu reagieren. »Also, dann noch einmal von vorn.« Diesmal beherrschte sie sich, als sie Noras Handgelenke festhielt und sie an sich zog. »Wenn er dich festhält und versucht, dich zu küssen, ist das Beste, was du machen kannst, ihn zu beißen. Dann trittst du ihm auf den Fuß, so fest du kannst, und wenn er dich loslässt … Na ja, ich muss dir sicher nicht sagen, wohin du einen Mann treten musst, um ihn außer Gefecht zu setzen, oder?« Mit einem grimmigen Lächeln sah sie zu Nora hinab.
Noras Lippen formten eine dünne Linie. »Nein. Aber was ist, wenn ich vor Panik erstarre und mich nicht rühren kann?«
»Deshalb sind wir ja hier. Damit du üben kannst. Also, versuch es mal mit mir.«
Nora starrte sie an. »Ich soll dich treten?« Ihr Blick wanderte Lukes Körper hinab.
Luke schluckte und grinste nervös. Sie kämpfte gegen den plötzlichen Drang an, die Hände schützend vor einen ganz bestimmten Körperteil zu halten, den sie nicht einmal besaß. Ein Tritt zwischen die Beine war auch für eine Frau keine angenehme Erfahrung. »Vielleicht wärst du so freundlich, den letzten Teil des Manövers auszulassen. Probier einfach die verschiedenen Bestandteile des Angriffs aus, aber tritt mich nicht mit voller Kraft. Und das Lippenbeißen kannst du bitte auch auslassen.«
»Einverstanden.« Noras Brust hob und senkte sich. Sie schielte nach unten und visierte Lukes Fuß an.
»Sieh nicht nach unten«, sagte Luke. »Du musst ihn überraschen. Wenn du nach unten siehst, verrät ihm das, was du vorhast.«
Noras Zungenspitze schaute zwischen ihren Lippen hervor. Sie bemühte sich so krampfhaft, nicht nach unten zu sehen, dass es wiederum auffällig war.
Luke sagte nichts. Sie wollte Nora nicht entmutigen. Sie verzog das Gesicht, als Noras Stiefelsohle an ihrem Schienbein entlangkratzte und ihr dann fast die kleine Zehe brach. »Das war großartig«, keuchte sie. »Sehr gut. Jetzt deute den Tritt an. Zögere keinen Moment. Du musst ihn treten, während er noch vom Schmerz in seinem Fuß abgelenkt ist.«
Als Nora ihr Gewicht auf ein Bein verlagerte und zutrat, verlor sie das Gleichgewicht.
Rasch fing Luke sie auf und hielt sie fest. »Vielleicht solltest du nicht mit dem Fuß zutreten, sonst stolperst du nur über deinen Rock, gerade jetzt, wo dein Körperschwerpunkt sich verändert hat.« Sie deutete auf Noras wachsenden Bauch. »Versuch, ihm das Knie zwischen die Beine zu rammen.«
Wieder nahmen sie ihre Positionen ein. Noras Stiefel schabte über ihr Schienbein und sie stellte sich darauf ein, dass sie morgen neben dem Wagen herhumpeln würde. Dann trat Nora ihr auf den Fuß und ihr Knie presste sich in einem angedeuteten Tritt zwischen ihre Beine.
Luke stöhnte – nicht vor Schmerz, sondern vor Verlangen. Sie versuchte, zurückzuweichen, doch Noras Fuß auf ihrem eigenen hielt sie an Ort und Stelle. »Äh, das reicht. Du kannst jetzt aufhören.« Sie atmete mehrfach tief durch, als Nora endlich zurückwich.
»War das gut?«
Du hast keine Ahnung, wie gut es war. »Ja. Wenn du genau dasselbe machst, nur eben kräftiger, wird Brody erst mal mit sich selbst beschäftigt sein und du kannst fliehen. Aber um ganz sicherzugehen …« Sie zog einen Revolver aus dem Hosenbund. Es war nicht ihr schwerer Walker Colt, sondern ein kleineres, leichteres Modell.
Nora riss die Augen auf. »Du willst, dass ich ihn erschieße?«
»Nein. Ich will, dass du tust, was nötig ist, um dich zu verteidigen. Du hast das Recht, selbst zu entscheiden, wer dich anfassen und küssen darf.«
Nora blickte auf ihre Lippen, sodass Luke schlucken musste. Dann nahm sie zögernd die Waffe entgegen.
Luke trat hinter sie und griff mit beiden Armen um sie herum, sodass sie ihr zeigen konnte, wie man den Revolver hielt. Sie erstarrte, als ihr klar wurde, wie intim ihre Position war. Wie eine Umarmung von hinten. »Um die Waffe zu laden, klappst du die Trommel heraus, schiebst Papierpatronen in jede Kammer und setzt dann die Zündhütchen auf.«
»Wozu dienen sie?«, fragte Nora, als sie versuchte, es Luke gleichzutun.
»Wenn du den Abzug drückst, schnellt der Hammer vor und prallt gegen ein Zündhütchen, das dann explodiert. Der Funke entzündet das Schießpulver in der Papierpatrone und die Explosion feuert die Kugel ab«, erklärte Luke. »Versuch es mal. Spann den Hammer mit deinem Daumen.«
Nora zog den Hammer zurück.
Luke nickte. »Halt die Waffe mit beiden Händen. Bei einem richtigen Schuss gibt es einen Rückstoß. Jetzt ziele mit dem Revolver auf den großen Stein im Bach.«
Nora drehte den Kopf, um sie zweifelnd anzusehen.
»Versuch es einfach. Die Waffe ist nicht geladen. Wir können nicht riskieren, dass Brody oder jemand anderes die Schüsse hört.«
Schließlich hob Nora die Waffe und richtete die Mündung auf den Stein, ohne den Revolver auf Augenhöhe zu heben.
Luke lächelte. »Du hast ein gutes Augenmaß.«
Nora sah auf ihre Hand hinab. »Ach ja?«
»Ja. Wie ein erstklassiger Revolverheld.«
»Du machst dich über mich lustig.« Nora presste die Lippen aufeinander.
Luke zog sie herum, damit Nora ihr in die Augen schauen und erkennen konnte, wie ernst sie es meinte. »Nein. Ich glaube, mit ein bisschen Übung könntest du richtig gut mit einem Revolver werden.«
»Meinst du das ernst? Du kannst das beurteilen, nur von der Art, wie ich eine ungeladene Waffe auf einen Stein richte?«
Sie hat kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Vermutlich ist sie nie für irgendetwas außer ihren Fähigkeiten im Bett gelobt worden. »Natürlich kann ich das«, sagte Luke. »Ich habe so vielen Rekruten das Schießen beigebracht, dass ein Blick genügt. Wenn wir noch ein paar dieser romantischen Spaziergänge machen, brauchst du dich nie wieder vor irgendjemandem zu fürchten.« Das war das beste Geschenk, das sie Nora machen konnte. Ein Teil von ihr bedauerte es fast, denn insgeheim wollte sie Noras Beschützer sein. Sie hielt ihr die Hand hin, um die Waffe für den Moment wieder zurückzunehmen.
Doch statt ihr den Revolver zu geben, legte Nora ihre Hand in Lukes. »Danke.«
Luke schluckte. »Gern geschehen.« Sie lächelte Nora zu. »Aber wenn du den Revolver benutzen möchtest, dann sollten wir ihn besser laden.«
Mit roten Wangen gab Nora ihr die Waffe zurück.
Parting of the Ways,14. Juli 1851
»Siehst du es?«, fragte Luke.
Nora beschattete mit der Hand ihre Augen, doch außer der endlosen Prärie und jeder Menge Salbeisträucher gab es nicht viel zu sehen. »Äh, sehe ich was?«
»Parting of the Ways.« Luke zeigte auf die Stelle, an der sich der Weg gabelte. Einige der Radspuren, die sich tief in den Boden gefressen hatten, liefen nach links, andere nach rechts.
»Ich bin dafür, der Hauptroute nach Fort Bridger zu folgen«, sagte Tom Buchanan und zeigte nach links. Ihm gingen langsam die Vorräte aus und sein jüngstes Kind war krank, deshalb konnte Nora gut verstehen, warum er die sicherere Route nehmen wollte, auf der es mehr Wasser gab und die es ihm ermöglichte, im Fort das Nötigste zu kaufen.
»Macht, was ihr wollt, aber ich nehme die Abkürzung«, sagte Bill Larson und lenkte seine Maultiere nach rechts. »Das erspart uns über fünfzig Meilen.«
Fünfzig Meilen? Das entsprach einer Reise von zwei oder drei Tagen. So erschöpft, wie Nora war, kam ihr das wie eine Ewigkeit vor.
»Ja, aber wir müssten durch die Wüste reisen«, sagte Jacob Garfield. »Fünfzig Meilen ohne Wasser, kaum Gras, nur ein zerklüfteter Weg und alkalihaltiger Staub.«
Selbst nach langem Abwägen konnten die Auswanderer sich nicht einig werden, welcher Weg der bessere war. Nora blickte zu Luke, doch wie so oft hielt ihr Ehemann sich zurück und äußerte keine Meinung. Er stand nur da und betrachtete mit gerunzelter Stirn beide Routen.
Schließlich seufzte der Treckführer. »Mir scheint, wir müssen uns in zwei Gruppen aufspalten. Ich nehme die Abkürzung. Diejenigen, die das Risiko nicht eingehen möchten, fahren mit Tom nach Fort Bridger.«
Uns aufspalten? Wird uns das nicht schwächen, falls wir auf Indianer oder Diebe stoßen? Doch zugleich begann Hoffnung in Nora aufzusteigen. Brody Cowen, der ziemlich abenteuerlustig war, würde sicher die riskante Abkürzung nehmen. Wenn Luke, wie sie vermutete, den Umweg nach Fort Bridger in Kauf nahm, wäre sie Cowen ein für alle Mal los.
Luke trat dichter an sie heran. »Was meinst du?«, fragte er und zeigte erst nach links, dann nach rechts.
Mit einer solchen Frage hatte Nora nicht gerechnet. Luke wusste mehr über die Reise nach Oregon als jeder andere ihrer Mitreisenden. Trotzdem fragte er sie, eine ehemalige Prostituierte, die noch nie westlich des Missouri gewesen war, um Rat? Die meisten anderen Männer hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihre Frauen um ihre Meinung zu fragen. »Ich bin mir nicht sicher. Wir haben genügend Vorräte, brauchen den Umweg zum Fort also eigentlich nicht. Andererseits klingen fünfzig Meilen durch die Wüste nicht gerade verlockend.«
»Ich denke, wir sollten es riskieren«, sagte Luke mit grimmiger Miene.
»Tatsächlich?« Sonst hatte Luke stets vermieden, sie oder Amy unnötigen Risiken auszusetzen, und nun entschied er sich für den gefährlicheren Weg?
»Ja. Ein Umweg von zwei oder drei Tagen könnte bedeuten, dass deine Wehen mitten in einem Schneesturm in den Bergen einsetzen statt in der Blockhütte eines Arztes in Oregon City.« Luke blickte auf Noras Bauch, dann in ihre Augen.
Nora legte beide Hände auf ihre Mitte. Also hat Luke sich doch für die Option entschieden, die für mich besser ist. Ich hätte es wissen müssen.
Schnell bildeten sich entlang der Weggabelung zwei Gruppen.
Sehnsüchtig blickte Nora nach links. Die Garfields hatten ihren Wagen auf diese Seite gelenkt, da sie auf Nummer sicher gehen wollten. Ein Blick nach rechts zeigte, dass sowohl Brody Cowen als auch Bill Larson die Abkürzung nehmen würden.
»Welche Route wäre dir lieber«, fragte Luke erneut.
Nora zwang sich, den Blick von den Garfields abzuwenden, und sah auf ihre staubbedeckten Stiefel hinab. »Was immer du für richtig hältst.«
»Nein. Ich möchte nicht, dass das so läuft«, sagte Luke.
Nora drehte den Kopf und musterte ihn. »Was meinst du?«
»Du bist nicht meine Leibeigene. Du bist meine Frau. Ich möchte nicht, dass du dich nur nach meinen Befehlen richtest. Ich möchte deine Meinung hören. Wir sollten das gemeinsam entscheiden.«
Mit jeder Meile, die sie auf dem Weg nach Oregon zurücklegten, entdeckte Nora etwas Neues – nicht nur über das Land, sondern auch über ihren Ehemann. Habe ich zu lange im Bordell gelebt? Gibt es da draußen noch andere Männer, die so sind wie er, und ich habe es bloß nicht gewusst?
»Also?«, fragte Luke.
Nora holte tief Luft. »Dann nehmen wir die Abkürzung. Der Gedanke daran, das Baby mitten in einem Schneesturm zu bekommen, behagt mir nicht.« Das war jedoch nicht der einzige Grund. Nora wollte nicht den Weg des geringsten Widerstands gehen und nur danach entscheiden, was für sie am besten war. Wenn es ihre Reise abkürzte, würde sie dafür Brody Cowens Anwesenheit noch etwas länger in Kauf nehmen müssen.
»Bist du dir sicher? Ich weiß, es wird schwer für dich werden, Bernice nicht an deiner Seite zu haben. Und dann ist da auch noch …« Luke sah bedeutungsvoll zu Brody Cowen hinüber.
Nora tastete nach dem kleinen Revolver, der in einer der Taschen ihrer Schürze verborgen war. »Ich bin mir sicher.«
»Na schön. Ich werde Mr. McLoughlin sagen, dass wir uns seiner Gruppe anschließen.« Luke marschierte davon.
Nora ging zu den Garfields hinüber.
Bernice sah ihr entgegen. »Ihr kommt nicht mit, oder?«
»Nein.« Nora kämpfte gegen Tränen. Bernice war ihr eine gute Freundin geworden, mehr wie eine Mutter oder große Schwester. »Ich schätze, wir müssen Abschied nehmen.«
»Ja.« Bernice schnäuzte sich und schloss Nora in die Arme. »Pass gut auf dich und die beiden Kleinen auf, ja?« Sanft berührte sie Noras Bauch.
»Ist Jacob wirklich wild entschlossen, den Umweg nach Fort Bridger in Kauf zu nehmen?«, fragte Nora. Sie hatte gehofft, dass Bernice da sein würde, falls die Wehen doch unterwegs einsetzten. Zwar konnte auch eine der anderen Frauen ihr helfen, aber mit keiner verband sie eine herzliche Freundschaft. Emeline Larson hatte genügend eigene Probleme und konnte sich nicht auch noch um Nora kümmern.
Bernice drückte sie ein letztes Mal. »Uns bleibt keine Wahl. Unsere Vorräte reichen nicht, bis wir Fort Hall erreichen.«
Jacob gesellte sich zu ihnen. Er tätschelte Noras Arm, statt sie zu umarmen. »Tut mir leid zu hören, dass ihr nicht mitkommt. Wir hätten einen Mann wie Luke gut gebrauchen können.«
Wie auf dieses Stichwort hin kam Luke zu ihnen herüber. Er schüttelte Jacob die Hand und nickte Bernice höflich zu, während Nora die Kinder der Garfields umarmte.
Amy, die alle vergnügt umarmt hatte, begann zu weinen, als sie auf ihren Wagen zugingen und sie begriff, dass die Garfields nicht mitkommen würden.
Nora biss sich auf die Unterlippe. Bisher hatte sie nicht daran gedacht, was ihre Entscheidung, die Abkürzung zu nehmen, für Amy bedeuten würde. Schon wieder musste Amy sich von Leuten verabschieden, mit denen sie sich angefreundet hatte. Bernice war fast so etwas wie eine Großmutter oder Tante für sie und die jüngste Garfield-Tochter war Amys liebste Spielkameradin. Nun würde sie wieder allein sein.
Am liebsten hätte Nora sich umgedreht und Luke gesagt, sie habe ihre Meinung geändert, doch dann sah sie, wie Luke die Ochsen antrieb. Er sah stur geradeaus, zum Weg, der nach Westen führte, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Seufzend nahm sich Nora vor, es ihm gleichzutun. Oregon zu erreichen, bevor der erste Schnee fiel, hatte oberste Priorität. Alles andere war purer Luxus, den sie sich nicht leisten konnten.
Big Sandy River,14. Juli 1851
Nora saß gegen einen Mehlsack gelehnt und kaute am Ende ihrer Schreibfeder herum, während sie darüber nachdachte, was sie in ihr Tagebuch schreiben sollte. Die Einzelheiten des heutigen Reisetags hatte sie bereits eingetragen.
Gegen Mittag hatten sie den Big Sandy River erreicht und beschlossen, bis zum Einbruch der Dunkelheit hier zu kampieren. Der Wind wirbelte Staub auf und machte es unmöglich, ein Feuer zu machen oder die Zelte aufzuschlagen, deshalb hatte sich jede Familie in ihren Wagen zurückgezogen und die Planen zugezurrt, so fest es ging.
Amy schlief endlich und Luke war mit den anderen Männern aufgebrochen, um das Vieh zu den Hügeln zu treiben, wo sie etwas Gras finden würden.
Nora war allein mit ihrem Tagebuch und ihren Gedanken. Der Wind heulte und zerrte an der Plane und Nora fühlte sich so abgeschnitten und einsam wie schon lange nicht mehr. Bernice, ihre einzige Freundin westlich des Missouri, war längst Meilen entfernt.
War Bernice wirklich der einzige Mensch, mit dem sie befreundet war? Was ist mit Luke?
Während der vergangenen Monate hatte sie gelernt, ihm so sehr zu vertrauen wie noch nie einem Mann zuvor. Mehr als einmal hatte er ihr Leben und das ihrer Tochter in der Hand gehabt und sich jedes Mal ihres Vertrauens würdig erwiesen. Sie bewunderte sein Geschick und seine Integrität. Ach, gib’s doch zu. Es ist mehr als das. Du magst ihn.
Die Plane wurde zurückgeschlagen und riss sie aus ihren Gedanken.
Luke kletterte in den Wagen.
Nora legte ihr Tagebuch weg und holte ihm einen Teller Brot und kalte Bohnen.
»Bleib sitzen.« Luke winkte ab. »Du musst mich nicht bedienen. Schreib ruhig weiter.«
Mit einem erleichterten Seufzen ließ sich Nora zurücksinken. Ihre Füße schienen mit jedem Tag mehr anzuschwellen und ihr Rücken schmerzte unablässig.
Mit einem Teller setzte sich Luke auf die einzig freie Stelle im Wagen, direkt neben Nora. Er lehnte sich ebenfalls gegen den Mehlsack, der Nora als Rückenstütze diente. »Fällt dir nichts ein, worüber du schreiben könntest?«, fragte er nach einer Weile und zeigte mit der Gabel auf ihr Tagebuch.
Das Gegenteil war der Fall. Ihr gingen zu viele Dinge durch den Kopf. Sie schloss das ledergebundene Tagebuch. »Mir fallen heute nicht die richtigen Worte ein. Wie wäre es, wenn ich dir, wie versprochen, stattdessen Unterricht im Lesen und Schreiben gebe? Es ist ohnehin zu windig, um mit dem Revolver zu üben, da kann ich genauso gut heute mal die Lehrerin sein.«
Luke kaute langsam und ließ sich Zeit beim Essen. Schließlich schluckte er. »Ich bin zu alt, um das noch zu lernen.«
»Unsinn. Dazu ist es nie zu spät. Gib nicht auf, bevor du es überhaupt erst versucht hast.«
Luke nahm einen weiteren Bissen, bevor er den Teller beiseiteschob. »Na schön. Ich werde es versuchen.«
Vorsichtig riss Nora eine leere Seite hinten aus ihrem Tagebuch. Sie schrieb die Buchstaben des Alphabets auf und zeigte sie Luke. »Das hier«, sie zeigte auf den ersten Buchstaben, »ist ein A wie in Apfel.«
Luke nahm ihr die Seite aus der Hand, um die Buchstaben genau zu studieren. Ihre Finger streiften sich und beide sahen schnell zur Seite. »Warum gibt es für das A zwei verschiedene Buchstaben?«
»Das große A benutzt man zum Beispiel für Namen wie Amy und am Satzanfang.« Nora zog einen Kreis um den besagten Buchstaben.
