Alle meine Feinde - Viktorija Tokarjewa - E-Book

Alle meine Feinde E-Book

Viktorija Tokarjewa

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Beschreibung

Wer solche Feinde hat, braucht keine Freunde! Fünf Erzählungen über zupackende Frauen und sanftmütige Männer, über den Kampf um das tägliche Brot und das Leben der Millionäre, über die Treue der Herrenwelt und über den Hass als die Kehrseite der Liebe.

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Viktorija Tokarjewa

Alle meine Feinde

und andere Erzählungen

Aus dem Russischen von Angelika Schneider

Diogenes

Alle meine Feinde

Eines Morgens setzte ich mich an meinen Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb an den oberen Rand: Alle meine Feinde. Dann konzentrierte ich mich und zählte meine Feinde mit Namen auf.

ANKA

TANKA

WANKA

Ich dechiffriere:

Anka – das ist meine Haushälterin.

Tanka – das ist die Frau meines Vaters.

Wanka – das ist mein Nachbar auf der Datscha.

Anka – ist ein Feind im Inneren des Hauses.

Tanka – ist ein Feind außerhalb des Hauses.

Wanka – ist ein Feind direkt hinterm Zaun.

Meine Feinde sind mir ganz nah. Irgendwas ist da wohl schiefgelaufen. Man muss etwas tun. Aber was?

Soll ich in den Wald laufen zu den Partisanen? Und meine Feinde der Reihe nach umlegen?

Heutzutage ist es Mode, zum Psychoanalytiker zu gehen. Aber wozu die Zeit und das Geld aufwenden? Ich kann das selbst auseinandernehmen, ich bin meine eigene Psychoanalytikerin. ›Na dann los‹, sag ich mir, ›fangen wir an, schön einer nach dem anderen …‹

ANKA

Meine Tochter hat ein Kind geboren, »Vater anonym«, wie sie amtlich hat eintragen lassen. Es ist vom ›Erstbesten‹, sozusagen. Sie hat mir erklärt, dass das alles nach ihrer Mittlere-Reife-Prüfung passiert sei. Sie hat also noch eine zweite Art Reifeprüfung gemacht, die Prüfung zur Erwachsenen.

Meine Tochter verändert sich nur wenig. Ich erinnere mich noch genau an sie als Säugling, als Krabbelkind und als Sechsjährige. Jetzt ist sie achtzehn, hat noch immer ein Kindergesicht und einen Blick, der ins Nirgendwo gerichtet ist, als ob sie irgendwohin blickt, aber nichts sieht. Sie schaut vor sich hin und denkt wohl an irgendetwas.

Man hat immer zu mir gesagt: »Was für ein liebes Mädchen, deine Tochter …« Wahrscheinlich wollte man mir nur etwas Nettes sagen, aber ich habe es mit ganzem Herzen geglaubt. Sie war ja auch wirklich lieb … So lieb und brav. Sie war fügsam und leicht zu lenken. Man konnte sie von allem überzeugen. Sie ließ sich erziehen wie ein gelehriger Delphin.

Als sie noch ein Kind war, fuhr ich oft mit ihr raus auf die Datscha. Für mich selbst war es verlorene Zeit: Langweilig war’s und der Alltag schwierig dort auf dem Land. Aber wir saßen gern zusammen auf der Holztreppe am Eingang, ganz dicht nebeneinander, und noch heute erinnere ich mich an die Wärme dieser kleinen Schulter.

Und plötzlich war sie erwachsen und brachte diesen ›Erstbesten‹ mit. Ich will mir ja kein Urteil anmaßen, aber ich war immer beunruhigt und machte mir Sorgen um meine Tochter, wenn sie mit ihm zusammen war.

Eines Tages waren sie auf irgendeinem Ausflug, und meine Tochter – sie heißt Lisa – bekam eine Blinddarmentzündung. Um sie herum nichts als Berge und malerische Täler, keine medizinische Hilfe weit und breit. Kaum zu fassen, dass sie mit dem Leben davonkam.

Lisa brachte das Kind zur Welt, während er auf einem Ruderausflug mit seinen Kumpels war. Er wollte immer das wilde Leben. Aber die Ruderbootkumpels hat er dann später genauso sitzenlassen. Er wollte nicht mehr im Zelt schlafen, ohne jeglichen Komfort. Er zischte einfach ab und hinterließ seinen Kameraden vierzig Kilo Gepäck. Der Kerl verstand es wirklich, seine Lasten auf andere Leute zu verteilen.

Mir war sofort klar: Lisa war wie ein Kaninchen, das vor einer Riesenschlange sitzt.

Ich sagte zu ihr: »Heirate den bloß nicht.«

»Er hat mich auch gar nicht gefragt«, beruhigte mich Lisa.

Das hieß, das Kind würde bei mir aufwachsen. Und Lisa wäre frei wie der Wind.

Aber ich fand eine Kinderfrau. Sie hieß Anna Fjodorowna Strelzowa. Anna Fjodorowna, Rufname: Anka.

Sie erledigte alles schnell und zuverlässig, war einfach wie geschaffen für diese Dinge. Ich bin Künstlerin. Und nur das. Hausarbeit deprimiert mich, ja sie bringt mich um.

Das, wofür ich einen ganzen Tag brauchen würde, erledigte Anka in vierzig Minuten. Wenn sie nur erschien, wurde es sonniger ringsum. Mit leichten, schnellen Bewegungen legte sie die Dinge an ihren Platz zurück. Sie schaffte Sauberkeit und Ordnung, schon allein durch ihre Anwesenheit.

Und erst ihre Krautwickel – das waren echte Kunstwerke. Es tat einem geradezu leid, sie aufzuessen. Klein, sorgfältig zubereitet, schön anzusehen, mit einer besonderen Soße übergossen. Meine Krautwickel wurden immer groß wie ein Handteller. Ich drehte schon durch bei dieser Vielzahl von Vorbereitungen: erst das Hackfleisch anbraten, die Kohlblätter blanchieren, Reis kochen, Zwiebeln andünsten … Wie viel lieber würde ich in dieser Zeit eine flirrende Birke malen, mit geflecktem Stamm …

Aber das Kochen war nur die eine Hälfte. Die Hauptsache war die Enkelin. Anka liebte meine Enkelin mit überirdischer Hingabe, und diese erwiderte ihre Liebe. Mein ganzes Haus war vom Boden bis zum Dach angefüllt mit idealer, gegenseitiger Liebe. Nur Anka konnte die Kleine füttern, beschäftigen, trösten, heilen und ihr etwas beibringen.

Eines Tages wurde meine Enkelin krank. Das Fieber wollte einfach nicht sinken. Das ging so eine ganze Woche lang. Das Mädchen lag apathisch da und lutschte am Daumen. Da versank Anka in eine Depression, ja sie wollte nicht mehr leben. Aber dann, von einem Tag auf den anderen, fiel das Fieber, und Anka fasste frischen Mut, ihre Augen funkelten wieder wie zwei grüne Edelsteine. Das Leben kehrte ins Haus zurück.

Ich sah, dass Anka uns treu ergeben war, und verzieh ihr alles. Was es zu verzeihen gab? Unter anderem kleine Unverschämtheiten in Bezug auf mich. Worin sich das zeigte? Unter anderem darin, dass sie mir nichts zu essen übrigließ.

Meine Tochter lebte in Moskau, denn sie besuchte eine Fachhochschule. Mein Mann war gerade in New York, er unterrichtete an der Universität. Die ›Riesenschlange‹ war oft unterwegs und untersuchte Vulkane. Der ›Erstbeste‹ ist nämlich Vulkanologe, er erforscht das Leben der Erde. Er sagte, dass die Erde ein lebendiges Wesen sei. Und das Erdöl sei das Blut der Erde. Und dass man die Menschen nicht in Krematorien verbrennen dürfe, sondern in der Erde vergraben solle, denn alles, was stirbt – Menschen, Tiere, Pflanzen –, sei die Nahrung der Erde. Die Erde ernährt sich von uns, und im Gegenzug ernährt sie uns wieder. Der Planet war zuerst da, und die Menschen sind nur das Futter für den Planeten, mehr nicht. Vielleicht kam daher sein kühles Verhältnis zu Menschen. Nur zu sich selbst verhielt er sich leicht anders als zu einem Planeten.

Die Enkelin kam ganz nach dem ›Erstbesten‹: die Augen misstrauisch, immer eine Augenbraue hochgezogen. Sie hatte gar nichts von dem Liebreiz meiner Tochter, aber ich liebte sie trotzdem. Und über sie erfuhr ich auch etwas über den ›Erstbesten‹ und brachte allmählich ein gewisses Verständnis für ihn auf.

Ich fand in meiner Enkelin auch eigene Züge wieder, einen kleinen Teil von mir. Und wie konnte ich schließlich einen Teil von mir nicht lieben, noch dazu, wenn es der bessere Teil war, derjenige, der auf die Unsterblichkeit ausgerichtet ist?

 

Der Konflikt mit Anka reifte langsam und stetig heran.

Sie hatte einen freien Tag. Und wenn sie an ihrem freien Tag zur Familie ihrer Schwester fuhr, räumte sie meinen Kühlschrank halb leer. Und das nicht einmal heimlich, sondern direkt vor meinen Augen.

Ich hätte eine Bemerkung fallenlassen können, aber ich schämte mich für sie, und deshalb schwieg ich.

Als sie sich mit vollen Taschen entfernte, fing ich an, vor Wut zu kochen. Aber es direkt zu sagen hätte einen offenen Konflikt bedeutet. Es hätte Trennung bedeutet, und es hätte bedeutet, meiner Enkelin einen nahen Menschen wegzunehmen, ihr ein seelisches Trauma zuzufügen. Und wie sich so ein seelisches Trauma auf ein kleines Kind auswirken konnte, wusste man nicht. Was das für Folgen haben konnte? Na, alle möglichen. Das Kind stößt auf die Instabilität der Welt: Erst ist da ein Mensch, dann ist dieser Mensch plötzlich weg, und das Kind ist völlig hilflos. Meine Enkelin würde weinen, vor Wut brüllen und nichts verstehen. Dann sollte schon lieber ich weinen, vor Wut brüllen und nichts verstehen.

Aber ich brüllte nicht vor Wut. Ich ertrug es.

Als ich Anka mein neues Bild zeigte, zuckte sie nur die Achseln.

»Gefällt es Ihnen nicht?«, fragte ich verwundert.

Anka zuckte wieder mit den Schultern, dann sagte sie: »Ich hatte im Zeichnen immer Einser.«

Das sollte heißen, dass sie besser zeichnen könne als ich. Sie habe bloß keine Zeit dazu.

Ich schwieg beleidigt. Dann dachte ich bei mir: ›Blöde Kuh. Sie beißt die Hand, die sie füttert. Sie hätte wenigstens ein bisschen so tun können, als ob …‹

 

Anka rief dauernd ihre Freundinnen an: Walja, Galja, Toma, Mila Ksjuscha …

Mein Haus wurde zum Hauptquartier, in dem die Neuigkeiten aller möglichen fremden Lebensläufe zusammenkamen und ausgetauscht wurden.

Wenn Anka das Telefon klingeln hörte, ließ sie alles stehen und liegen, rannte ins Bad und schloss die Tür hinter sich ab.

Das Essen verbrutzelte auf dem Herd, das Kind schluchzte.

Ich ließ alles stehen und liegen und düste zwischen Küche und Kinderzimmer hin und her. Anka nahm sich reichlich Zeit, um Datum und Ort eines Treffens auszumachen.

Dann kam sie in die Küche zurück, zufrieden mit ihrer Verabredung. Ich sagte: »Das Fleisch ist verkohlt, ich zieh dir das Geld vom Lohn ab.«

Anka machte runde Augen. »Das können Sie doch nicht machen«, sagte Anka.

»Wieso nicht? Du verdienst Geld, und ich muss mein Geld auch verdienen. Du hast wohl den Eindruck, dass ich mein Geld fürs Nichtstun bekomme …«

»Na ja, mal ein paar Bilder machen …«

»Und den Farbendunst einatmen«, ergänzte ich, »sich die Lunge vergiften.«

»Nur, wenn Sie so viele machen, weil Sie so geldgiiierig sind«, ergänzte Anka. »Ihr seid eben alle geldgiiierig.« Sie sprach das Wort mit ewig langem ›i‹ aus, in dem ihre ganz besondere Verachtung lag.

Jetzt war mir alles klar. Da war er also, der Klassenkampfhass. Wegen dieses Klassenhasses war es im Jahre 1917 zur Revolution gekommen. Das hatte das ganze Land auf den Kopf gestellt.

Anka war noch eine typische Vor-Perestroika-Frau: die Haare wasserstoffgebleicht, an den Wurzeln vier Fingerbreit herausgewachsen der dunkle Haaransatz. Vorne drei Fettkissen: zwei Brüste und der Bauch. Doch mit welcher Liebe meine kleine Enkelin sie umarmte. Für das Kind gab es nichts Schöneres, Gütigeres, Wundervolleres, Wohlriechenderes als diese Anka.

Anka war für meine Enkelin das Ideal eines Menschen. Ihre erste Liebe.

 

Aber meine Beziehung zu Anka blieb nicht stehen, sie entwickelte sich weiter. Die nächste Etappe war: Anka hörte auf, für mich mitzukochen. Ich kam aus dem Atelier, war hungrig und müde. Auf dem Herd köchelte Fleischbrühe mit Haferflocken vor sich hin – für den Hund. Und dann stand da ein kleines Töpfchen mit Kinderbrei – für die Enkelin.

Ich nahm mir einen Teller und tat mir von der Hundemahlzeit auf. Es schmeckte gar nicht schlecht. Es war gutes Fleisch dabei, und Haferflocken mag ich in allen Varianten.

Ich hatte mich also satt gegessen. Aber was aß eigentlich Anka?

Ich fing an, die Vorratsregale zu durchstöbern, und fand zugedeckte Kohlrouladen und sogar Pilaw. Für sich kochte sie also extra. Und mich ließ sie außen vor.

Ich rief meine gute Freundin Sweta an. Sie hörte mir zu und fragte: »Wer wohnt eigentlich bei wem? Sie bei dir oder du bei ihr?«

»Na ja, sie eigentlich bei mir.«

»Also dann schaffe mal Ordnung.«

Aber Ordnung schaffen hätte geheißen, sie rauszuwerfen. Und eine Neue finden zu müssen. Und wo findet man eine neue Haushälterin? Und wie würde diese andere sein? Vielleicht eine Alkoholikerin oder die Helfershelferin einer Diebesbande? Wenn die dann Diebe ins Haus ließe, dann würde viel mehr verschwinden als eine Wurst aus dem Kühlschrank.

Ich beschloss, mit meiner geliebten Tochter zu sprechen, aber ihre Stimme war sofort hart wie Bronze.

»Was heißt denn da ›rauswerfen‹?«, fragte sie streng. »Und was wird mit Sascha?« (So heißt meine Enkelin.) »Willst du mit ihr herumexperimentieren? Kommt nicht in Frage.«

»Aber ich bin doch schließlich auch ein Mensch«, erinnerte ich sie.

»Und wie alt bist du?«

»Achtundvierzig.«

»Und Sascha?«

»Drei.«

»Na bitte …«

Ich seufzte. Ich bin nun mal der pflegeleichte Typ. Von mir braucht man keine großen Aufrechnereien zu erwarten, ich bin nicht nachtragend.

Ich rief meinen Mann in Los Angeles an. Ihm gefiel es dort und mir nicht.

»Sie spucken auf mich«, sagte ich zu meinem Mann. »Ich darf hier bloß bezahlen.«

»Dann komm zu mir«, sagte mein Mann.

»Und was soll ich bei dir machen?«

»Dasselbe wie zu Hause. Bilder malen.«

Ich schwieg. In Amerika kann ich nicht malen. Etwas verändert sich da in meinem Gehirn. In Amerika male ich wie ein Zombie, als wenn das nicht ich wäre, sondern sonst wer, der den Pinsel führt …

»Ich kann sie doch nicht im Stich lassen«, sagte ich.

Und das ist das Wesentliche. Ich bin ein verantwortungsvoller Mensch. Ich stehe zu meinen beiden Mädchen, zu dem kleinen wie zu dem großen. Wenn ich sie im Stich ließe, würde ich mich ja genau wie der Vulkanologe aufführen.

Anka begriff wohl, dass ihre Stellungen gesichert waren, und machte sich daran, die Burgtore zu stürmen. Ich fing langsam an, sie zu fürchten. Es kam mir vor, als könnte sie mich jederzeit beschimpfen, ja sogar schlagen.

Mein Blutdruck stieg immer mehr. Die Ärzte sagten, das sei die Reaktion der Gefäße auf ständigen Stress. Man müsse den Stress beseitigen, dann würde sich auch der Blutdruck normalisieren.

Den Stress beseitigen hieße Anka beseitigen, und Anka beseitigen hieße meine Enkelin schädigen. Und wenn ich zwischen meiner Enkelin und mir wählen müsste … Aber niemals würde ich es auch nur zu dieser Wahl kommen lassen. Meine Enkelin war wichtiger, denn sie war noch klein, hilf- und schutzlos. Und ich war groß, eine reife Frau und selbstgenügsam. Mir blieb nichts übrig, als zu warten. Worauf, wusste ich nicht, aber ich wartete. Fügsam stand ich einfach da, wie ein Pferd im Regen.

TANKA

Tanka ist die Frau meines Vaters, Igor Konstantinowitsch Wolkow.

In meiner Kindheit sah ich ihn selten. Mein Vater war mit der Wissenschaft beschäftigt. Das Thema Unsterblichkeit trieb ihn um. Der Mensch lebt von Anfang an nach einem Programm: Er wird geboren, entwickelt sich, bildet sich vollständig aus – das ist die erste Phase. Dann erblüht er, blüht und verblüht – die zweite Phase. Und dann – wird er älter und stirbt.

Mein Vater wollte im Organismus ›die Uhr des Lebens‹ finden und die Leitung kappen, die die zweite Phase mit der dritten verbindet, das Erblühen mit dem Alter. Und so eine Leitung gibt es. Und wenn man sie rechtzeitig unterbräche, würde sich die Blüte des Lebens bis in die Unendlichkeit ausdehnen. Das wäre dann die Unsterblichkeit. Und wer weiß, ob es sie nicht schon früher einmal gegeben hat. Moses, der die Juden durch die Wüste führte, soll vierhundert Jahre alt geworden sein. Und Sarah soll ihren Erstgeborenen mit neunzig bekommen haben. Vielleicht ist das ein Mythos. Aber vielleicht war es doch Realität.

Mein Vater kam diesem Rätsel immer mehr auf die Spur, doch dann ließ er sich vom Ruf der Liebe ablenken. Er flog seiner Familie davon, wie ein Vogel, und baute sich ein neues Nest. Aber auch aus dem neuen Nest flog er aus, oder er fiel hinaus, oder er wurde hinausgestoßen, wonach er zu trinken anfing und sein menschliches Antlitz verlor.

So, ohne Antlitz, griff ihn Tanka auf, wärmte ihn, wusch ihn und deckte ihn mit ihrem Rock zu.

Unter Tankas Rock kam mein Vater wieder zu sich, machte sich an seine Doktorarbeit und bekam einen Staatspreis verliehen. Der Präsident unseres Landes steckte ihm ein Abzeichen ans Revers seines Jacketts. Mein Vater lächelte zerstreut und hielt eine Dankesrede. Er dankte dem Präsidenten und seiner Frau Tanka.

Tanka bekam die Zeit des Ruhmes schlecht, und sie wurde hochnäsig. Vielleicht war sie aber auch schon immer so gewesen, ich kann es ja nicht wissen.

Ihre Hauptaufgabe im Leben war, meinen Vater und mich so weit wie möglich voneinander fernzuhalten, bis wir das Gesicht des anderen am besten ganz vergessen hätten.

Wenn ich anrufe, fragt sie immer: »Was ist denn jetzt? Was willst du?«

»Mit meinem Vater sprechen.«

Aber Tanka glaubt mir nicht. Sie glaubt, dass ich ihrer beider Geld will, ihre Datscha oder Zugriff auf die Privilegien, die er inzwischen durch den Staatspreis hat: Zutritt zu einem bestimmten Krankenhaus etwa oder einen Gutschein für einen Kuraufenthalt in einem Sanatorium.

Mir ist klar, dass ich um Tanka nicht herumkomme.

»Wie geht es ihm?«, frage ich.

»Dem Alter entsprechend«, antwortet Tanka.

Das bedeutet, dass es meinem Vater nicht gelungen ist, die Drähte zum Altwerden zu kappen. Er ist in die dritte Phase eingetreten.

»Die Ärzte sagen, er hat eine Ischämie«, berichtet Tanka.

»Und was ist das?«, frage ich erschrocken.

»Eine Gefäßverengung. Ein Infarkt droht.«

»Vielleicht sollte ich zu ihm kommen?«

»Wozu?«

»Um ihn zu sehen.«

»Wieso?«

»Na ja, ich bin schließlich seine Tochter«, erinnere ich sie.

»Na und?«

Tja, da fällt mir nun wirklich nichts mehr ein.

Es gab eine Zeit, in der Tanka bei meinem Vater Punkte sammeln wollte. Damals versuchte sie, mir zu gefallen, und gab mir einen selbstgestrickten Schal samt Mütze. Sie schenkte mir etwas. Es war ein Zeichen der Freundschaft. Ich meinerseits suchte aus meinen frühen Bildern die Pusteblumen heraus und brachte sie ihr als Geschenk. Ich male überhaupt gern Pusteblumen, diese durchsichtigen Sphären. Es ist eine Art von Vollkommenheit, die mich fasziniert.

Ich nahm damals das Bild und fuhr zu Tanka. Was ich da sah, beeindruckte mich ein für alle Mal: Mitten im Wohnzimmer lag eine Partie Schafswolle. Daneben stand ein Spinnrad aus vergangener Zeit. Hinter dem Spinnrad saß Tanka. Sie saß da und spann wie Arina Rodionowna, Puschkins Amme.

Wozu das denn? Gab es in den Geschäften nicht fertig gesponnene Wollknäuel? Aber dann reimte ich mir zusammen: Die Wolle kostete im Geschäft zehnmal so viel.

Nach einer gewissen Zeit zogen mein Vater und Tanka in eine neue Wohnung. Wieder lag der Wollhaufen in einer Ecke, und das Spinnrad stand daneben. Viele Leute dachten, das hätte was mit Dekoration zu tun. Niemandem kam in den Sinn, dass ein antikes Spinnrad ein echtes Produktionsmittel war, für ein landwirtschaftliches Produkt. Hätte bloß noch gefehlt, dass Tanka auf dem Balkon Schafe gehalten und sie selbst geschoren hätte …

Während der Perestroika-Zeit verdiente mein Vater nichts. Wissenschaftler waren damals überflüssig.

Mein Mann reiste schleunigst nach Amerika. Dort arbeitete er in aller Ruhe und wurde adäquat bezahlt. Und er musste niemandem etwas beweisen.

Mein Vater konnte sich von seinem Labor nicht losreißen. Und wollte es auch nicht. Es gab da diese große Gemeinschaft von Herzen und Hirnen. Sie verfolgten eine gemeinsame Sache und dienten ihr. Eine gemeinsame Sache, das ist ein Lebenssinn. Und wer wirft schon den Sinn seines Lebens weg? Das wäre ja dasselbe, wie seinen Glauben über Bord zu werfen.

Tanka spann Wolle, was das Zeug hielt, Flusen schwebten im Raum umher. Tanka hustete.

Mein Vater bekam eine Art Sozialhilfe. Tanka spann Wolle zu dicken Fäden und strickte Mützen und Schals.

Als Künstlerin sah ich, dass sie zweifellos Geschmack und Stil hatte. Aber wer trägt heutzutage solche schweren Wollschals und -tücher. Und vor allem, wo?

»Die Ausländer kaufen es«, sagte Tanka. »Ich verkaufe diese Dreieckstücher an einen Kunstgewerbesalon. Wenn du willst, gebe ich dir … dieses hier.«

Tanka zeigte mir ein graues, locker gehäkeltes Dreieckstuch, das einem Fischernetz ähnelte, mit gelben und rostfarbenen Blumen darauf. Jede Blüte war einzeln aufgehäkelt.

»Schön«, bemerkte ich.

»Hundert Dollar«, sagte Tanka.

Ich erstarrte und schwieg. Ich trage keine Wolltücher, ich bin nicht groß genug dafür. Und außerdem: In Anbetracht unserer Beziehung hätte sie es mir billiger verkaufen können. Oder sogar schenken.

Mein Vater trat ins Zimmer.

»Schau mal, wie schön«, sagte Tanka.

Ich stand da, das Tuch um die Schultern.

»Nein, das steht dir nicht«, sagte mein Vater. »Du siehst damit aus wie Asutschena.«

»Wer ist denn das?«, fragte Tanka.

»Eine alte Zigeunerin«, erklärte ich, »aus der Oper Aleko, nach Puschkin.«

»Wie bitte?«, fragte Tanka verständnislos.

»Der Zigeuner lärmende Schar durch Bessarabien zieht …«, zitierte mein Vater. »Es spielt in Bessarabien«, sagte er und steckte sich eine Pfeife an.

Mein Vater raucht einen ganz bestimmten Tabak, mit Whisky- und Kirschduft. Ich atmete ihn genüsslich ein. Dieser Geruch ist für mich der Geruch meines Vaters.

»Wovon sollen wir leben, wenn du einen Infarkt bekommst?«, fragte Tanka sinnierend.

»Wieso soll ich einen Infarkt bekommen?«, fragte mein Vater leicht beleidigt. »Vielleicht bekommst du ja einen?«

»Bei mir wäre das nicht schlimm«, sagte Tanka. »Ich bin gesund. Aber deine sämtlichen anderen Organe sind schon angegriffen.«

Mein Vater zuckte die Achseln.

An der Wand hing eine Fotografie von Tanka als junge Frau. Sie sah damals aus wie Marilyn Monroe, nur besser. Strenger, nicht so süßlich. Sie war auch jetzt noch schön, wenn man genau hinsah. Das einzig Störende war ihr Gesichtsausdruck. Auf ihrem Gesicht lag ständige Besorgnis: Würde er einen Infarkt bekommen oder nicht? Würde jemand ihre Schals kaufen oder nicht?

Mein Vater dachte über die Unsterblichkeit nach. Sein Kopf war in den Wolken. Was auf der Erde geschah, interessierte ihn nicht. Alles Irdische ruhte auf Tankas Schultern.

Manchmal bewirtete mich Tanka. Aber ich aß nichts. Ich hatte Angst, mich zu vergiften. Tanka setzte einem nur vor, was man schon hätte wegwerfen müssen. Zum Beispiel schlecht gewordene Wurst. Sie holte ein Stück heraus, betrachtete es und roch daran. Dann schnitt sie die äußere grünliche Schicht ab, und die nächste Scheibe, schon weniger grünlich, aber genauso glitschig, bot sie mir an.

Ich schämte mich für sie – nicht für die Wurst, sondern für Tanka – und überlegte mir Ausreden, um nichts essen zu müssen. Zum Beispiel, ich sei auf Diät. Oder: Ich hätte schon gefrühstückt (oder zu Abend gegessen). Obwohl ich eigentlich hätte sagen sollen: ›Iss du mal zuerst selbst davon. Und ich schaue, ob du’s überlebst oder nicht.‹

Ich sah mir Tanka genauer an. Was sie umtrieb, war nicht einfach Geiz. Sie diente vielmehr einer Idee. Die Idee war: die Sparsamkeit der Mittel. Tanka stand immer wie ein Soldat auf Posten, stand Wache für jede einzelne Kopeke.

Es ist meine Überzeugung, dass jemanden zu bewirten ein großes Vergnügen ist, für beide Seiten. Für den, der isst, und ganz besonders für den, der bewirtet, für den, der gibt. Geben ist seliger denn nehmen. Aber Tanka hatte andere Prioritäten. Bloß nichts geben. Niemandem. Niemals. Sie hatte dafür ein Motto: »Wieso bin ich denen was schuldig?«

Sie war nie jemandem was schuldig. Alle waren ihr was schuldig. Wofür? Dafür, dass sie eine Marilyn Monroe war, und sogar noch schöner? Dafür, dass Wolkow ein vom Staat ausgezeichneter Preisträger war. Und überhaupt …

 

Es wurde Sommer. Tanka und der Vater reisten in den Süden. Nach Jalta. Meine Tochter Lisa wollte auch dorthin. Sie fuhr gemeinsam mit einer großen Gruppe von Studenten.

Aber ich wollte nicht, dass Lisa in einem Zelt hauste und auf der Erde schlief. Ich hatte Angst um ihre Nieren.

»Aber alle haben doch Nieren, und alle schlafen auf dem Boden«, entgegnete Lisa vernünftig.

»Fremde Nieren interessieren mich nicht. Und deine sind schon angeschlagen.«

»Wieso?«, fragte Lisa erstaunt.

»Du warst als Kind krank. Die Nieren sind dein Schwachpunkt.«

»Dann wohne ich im Hotel. Besorge mir ein Zimmer.«

»Das ist unmöglich. Wie soll ich dir, hier in Moskau sitzend, ein Zimmer in einem Hotel in Jalta besorgen?«

»Soll Opa das machen. Vielleicht will er ja mal was für seine Enkelin tun?«

Ich überlegte. Den Vater bitten hieß Tanka bitten.

Und Tanka macht mich fertig. Nach einem Gespräch mit ihr bin ich eine Zeitlang völlig neben der Spur, renne von einer Zimmerecke zur anderen, rede mit mir selbst und ziehe wütende Grimassen. Tanka kostet mich meine eigene Gesundheit.

Tanka hat eine stehende Wendung: »Wolkow muss man schonen und schützen.« Und sie schützt ihn – hauptsächlich vor Lisa und mir. Wie ein Hund bewacht sie seinen Freiraum und verbellt alle außerhalb. Insbesondere mich.

»Ruf deinen Großvater selbst an«, schlug ich vor.

Lisa fing an zu weinen. Sie weint unschön, genau wie ich. Ihr Gesichtchen verzog sich nach allen Richtungen. Ich schaute ihr zerknautschtes, liebes, noch halb kindliches Gesicht an – und ergab mich.

»Na gut, ich versuche, dir ein Zimmer zu beschaffen.«

Also rief ich in den Kinostudios von Jalta an. Dort war eine Bekannte von mir Redakteurin.

»Inna, du musst mir im August ein Hotelzimmer ergattern.«

»Na, hör mal, was redest du da! Wie soll ich dir mitten in der Hauptsaison ein Zimmer beschaffen?«

»Mach, was du willst. Geh hin, verführ jemanden, bestich, lüge, ganz egal. Ich brauche ein Einzelzimmer. Verstehst du?«

Inna schwieg einen Moment. Vielleicht ging sie in Gedanken ihre Möglichkeiten durch. Dann sagte sie finster: »Ich kann’s versuchen, aber nicht versprechen.«

Am nächsten Tag kam ein Anruf aus Jalta.

»Du wirst lachen«, sagte Inna, »aber ich hab dir tatsächlich ein Einzelzimmer ergattert.«

»Wie hast du denn das gemacht?«

»Ein Schauspieler ist nicht zu Dreharbeiten gekommen. Das Zimmer ist frei geworden.«

»Und wieso ist er nicht gekommen?«

»Er ist gestorben.«

»A-ach so«, sagte ich und wiegte den Kopf.

Es war natürlich schrecklich, dass jemand gestorben war. Aber andererseits war das Zimmer nun wirklich frei. Der Schauspieler hätte auch später kommen können, und in diesem Fall hätten sie das Zimmer besetzt gehalten.

»Ich wusste doch, dass du einen Ausweg findest«, sagte ich. Ich war die Dankbarkeit in Person.

Am selben Abend rief Tanka an, und ohne auch nur ›guten Tag‹ zu sagen, wechselte sie sofort in die oberen Tonlagen.

»Dass Lisa sich bloß nicht einfallen lässt, bei uns im Hotelzimmer zu wohnen …«

Ich wollte ihr sagen, dass Lisa sowieso nicht daran dachte, aber ich kam gar nicht zu Wort. Tanka war wie ein gebrochener Staudamm.

»Bei uns wohnt bereits die Witwe Magamba, von ihm hast du wahrscheinlich schon gehört, das war der Direktor des Hirnforschungsinstituts, der Himmel sei ihm gnädig. Er ist gestorben, wir können seine Witwe nicht im Stich lassen. Deshalb haben wir sie nach Jalta eingeladen. Sie hat schon zugesagt, und sie wird in unserer Suite mit uns wohnen. Und wir sind sowieso schon zu dritt. Unsere Haushälterin Raja fährt mit. Wolkow hat es nicht gern, wenn Außenstehende …«

Tanka verschluckte sich an ihren eigenen Worten und hustete. Ich nutzte die Sekundenpause und fragte: »Woher weißt du überhaupt, dass Lisa nach Jalta fährt?«

Tankas Hustenanfall zog sich hin. Sie wollte ihr Agentennetz nicht offenlegen.

»Lisa hat ein eigenes Einzelzimmer«, verkündete ich.

Tanka hustete noch ein paarmal, dann fuhr sie fort: »Tschemberdshi hat so viel für uns getan, wir können seine Witwe doch unmöglich im Stich lassen, das wäre nicht richtig.«

»Magamba«, korrigierte ich.

Tanka verschluckte sich. Sie hatte sich verhaspelt: Wessen Witwe war es nun? Ich begriff, dass es gar keine Witwe gab. Aber das war ja auch schon egal.

»Du bist wohl taub geworden«, sagte ich. »Lisa will ja gar nicht bei euch wohnen. Sie hat ein Einzelzimmer.«

»Wie denn das?«, beeilte sich Tanka nun, meine Quellen herauszubekommen.

»Einfach so. Weil ich es ihr besorgt habe.«

»Kannst du mir nicht auch eins besorgen? Wolkow arbeitet nachts, und ich sehe dann fern. Das ist sehr unbequem …«

»Na, dann soll Wolkow dir doch eins besorgen«, schlug ich vor.

»Er hasst es, jemanden um etwas zu bitten, sich zu erniedrigen … Und dir macht es doch nichts aus.«

Wolkow war also ein stolzer Mensch. Aber an mir konnte man sich ja die Füße abtreten. Ich hätte gern den Hörer hingeknallt, nachdem ich ihr noch ein paar besonders nette Worte gesagt hätte, aber mein Vater tat mir leid. Tanka würde sich bei ihm beschweren, seine Nerven in ihrer Faust zerkrümeln, und mein Vater hatte schon ein krankes Herz. Besser, ich schluckte es runter. Meinetwegen sollte er nicht sterben.

»Ich überlege es mir«, sagte ich.

Eine Wischiwaschi-Antwort. Ich würde darüber nachdenken, ob ich jemanden darum bat oder nicht. Wolkow war ein stolzer Mensch, aber sicher doch, und ich, so stellte sich heraus, war ein unentschlossener Mensch. Ich würde darüber nachdenken – und nichts tun. Es war genau dasselbe, wie zu sagen »geh doch zum Teufel«, nur ohne Streitereien und Verluste.

Tanka ist im Jahr des Pferdes geboren. Des Feuerpferdes. Sie muss immer über jemanden hinwegtrampeln. Vor Wolkow hat sie Respekt, andere gibt es nicht, die stehen zu weit weg, außerhalb ihrer Reichweite.

Bleibe nur noch ich. Ich hätte mich natürlich hinter meinem Mann verstecken können. Aber mein Mann ist in Amerika.

In Georgien gibt es den Ausdruck ›ohne Patron‹, das bedeutet so was wie: ohne Hausherr. Eine Frau ›ohne Patron‹ ist wie ein herrenloser Hund. Jeder kann einen Stein nach ihr werfen.

Lisa und ihr Vulkanologe fuhren nach Jalta, verbrachten dort den ganzen August, und im Herbst trennten sie sich dann endgültig.

Der Vulkanologe verteidigte seine Interessen und war nicht imstande, an etwas anderes zu denken als an sich selbst. Aber eine Familie, das sind viele ›Selbste‹, und man muss an jedes einzelne Selbst denken.

 

Eines Tages rief mein Vater an und bat mich, zu ihm zu kommen.

»Ist Tanka zu Hause?«, fragte ich.

»Tanka kommt in ein, zwei Stunden.«

Mir war klar, dass ich mich dann in zwei Stunden wieder verziehen würde.

Ich fuhr also hin. Die Tür wurde von Raimonda geöffnet, so nannte ich ihre Haushälterin Raja. Raimonda liebte es, ihre Zahnprothese zur Schau zu stellen, indem sie sie herausnahm und sagte: »Da, schau her, ich, die Nachfahrin eines Leibeigenen, habe so etwas …«

»Na, da hast du aber was gefunden, um anzugeben«, kommentierte ich.

Raimonda liebte mich mit ihrer ganzen ergebenen, aufrichtigen Seele, und sie bewirtete mich immer mit Toast und Marmelade. Tanka hatte ihr verboten, irgendwelche Lebensmittel aus der Küche zu nehmen. Die Marmelade brachte Raimonda von zu Hause mit, sie hatte sie selbst aus eigenen roten Johannisbeeren gekocht. Es war ihre ureigene Marmelade.

Ich meinerseits hatte ihr einmal indischen Schmuck geschenkt, aus günstigen, aber echten Steinen. Raimonda fiel fast in Ohnmacht vor so viel Schönheit.

Mein Vater rief mich in sein Arbeitszimmer und sagte: »Mein Liebes, ich bereite mein Testament vor.«

»Wieso?«, fragte ich.

»Ich muss ins Krankenhaus.«

»Und weiter?«

»Operation am offenen Herzen.«

»Solche Operationen sind jetzt Routine. Wie ein Blinddarm«, sagte ich sorglos, obwohl mir innerlich ganz kalt wurde.

»Ich weiß. Aber für alle Fälle … Kurz gesagt, ich will dir die Datscha vermachen.«

»Und was ist mit Tanka?«, fragte ich, denn jetzt wurde mir nicht wegen meines Vaters, sondern wegen Tanka ganz kalt.

Die Datscha meines Vaters war inzwischen zusammen mit dem Land auf dem sie stand, eine riesige Summe wert. Tanka hatte diese Datscha umgebaut, ausgebaut, verschiedene Innenarchitekten engagiert, ihre ganze Seele da hineingelegt.

»Tanka wird durchdrehen«, sagte ich.

»Ich hinterlasse ihr die Stadtwohnung und Geld. Das reicht für sie.«

Die Wohnung in einer ruhigen Gegend des Stadtzentrums, in einem soliden stalinistischen Gebäude, war heutzutage auch fast eine Million Dollar wert. Aber Tanka würde das eine wie das andere wollen. Sie würde alles wollen.

»Du stirbst sowieso nie«, sagte ich mit Überzeugung. »Du warst immer da und wirst ewig bleiben.«

»Schön wär’s«, lachte mein Vater.

»Und wozu eine Operation? Du lebst ja, also leb doch einfach weiter.«

»Ein Herzinfarkt droht. Man muss es noch vor dem Infarkt schaffen.«

Also war Tankas Angst doch berechtigt gewesen.

Wir schwiegen einen Moment.

»Ich habe eine Datscha«, erinnerte ich ihn. »Was soll ich mit zwei?«

»In einer wohnst du, und die andere vermietest du«, sagte mein Vater. »Du musst doch von was leben …«

»Aber ich arbeite doch …«

»Du sollst nicht arbeiten, sondern etwas erschaffen. Und nicht an Geld denken müssen …«

Raimonda kam ins Zimmer geschwebt, ein Tablett in den Händen. Sie stellte alles ab, sah uns an und ging verständnisvoll hinaus.

»Es ist noch zu früh zum Weinen«, sagte mein Vater. »Vielleicht geht ja alles gut.«

Plötzlich merkte ich, dass ich weinte.

»Tanka bringt mich um«, sagte ich. »Sie heuert einen Killer an. Der wird mich erschießen.«

»Sie bringt dich nicht um. Sie ist besser, als du denkst. Ich bin ihr für alles sehr dankbar. Und ich sag dir noch etwas: Ich liebe sie. Aber dich liebe ich noch mehr. Du bist mein eigen Fleisch und Blut. Und Blut ist stärker als Wasser.«

Also hatte Tanka ganz umsonst versucht, mich abzuwerten. Sosehr sie Wolkow auch umsorgte, er sah doch in eine andere Richtung.

Wir tranken schweigend Tee.

Schließlich stand mein Vater auf. Er nahm das Testament hervor.

»Steck es ein«, sagte er.

»Hast du Angst vor Tanka?«, hakte ich nach.

»Nein. Ich will sie bloß nicht kränken.«

»Sie wird es ja doch erfahren.«

»Irgendwann schon, natürlich.«

Ich nahm das Testament und steckte es in die Tasche. Im nächsten Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür. Tanka war zurückgekommen.

Sie trat ins Arbeitszimmer und betrachtete uns lauernd, mit einem Blick wie ein Marder. Ich habe noch nie einen Marder gesehen, aber mir schien, dass sie genau so schauen: zielgerichtet, durchdringend und raubtierartig.